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Der deutsche Volksboden und das deutsche
Volksrecht (Teil 1)
Es gibt heute drei deutsche Staaten: das Reich, Österreich
und den Freistaat Danzig. Das Reich hat zwischen
62 und 63 Millionen Einwohner, Österreich zwischen 6 und 7
Millionen, Danzig etwas über 0,3 Millionen. Zusammen sind es gegen
70 Millionen. Von Danzig ist vielfach die Meinung verbreitet, es sei staatlich
eine Dependenz von Polen. Das ist nicht der Fall. Es steht zu Polen in einem
gewissen Abhängigkeitsverhältnis, aber der Bürger von
Danzig ist Bürger eines deutschen Gemeinwesens. Österreich ist
von Rechts wegen ein souveräner europäischer Staat. Seine
Bevölkerung bildet den stärksten deutschen Block außerhalb
der Reichgrenzen. Die
Österreicher wie die Danziger aber besitzen die
Eigenstaatlichkeit gegen ihren Willen. Ihr Wille ist auf den
Zusammenschluß mit Deutschland gerichtet. Heim ins Reich! So lautet ihre
nationalpolitische Losung.
Die drei deutschen Staaten umfassen aber nicht den ganzen geschlossenen
Volksboden in Mitteleuropa. Um sie herum legt sich noch ein grenzdeutscher
Gürtel: deutscher Volksboden, der unmittelbar an die durch das Versailler
Diktat bestimmten deutschen Staatsgrenzen anstößt und
von Deutschen bewohnt wird, aber unter dem Verbot steht, mit Deutschland
vereinigt zu werden.
Zu den deutschen Staaten und zu den politisch für sie verbotenen Teilen des
zusammenhängenden deutsch-mitteleuropäischen Wohngebiets
kommen als dritter deutscher Faktor in Europa diejenigen Deutschen, deren
Vorfahren sich in früheren Jahrhunderten in größerer oder
geringerer räumlicher Trennung von der ursprünglichen deutschen
Heimaterde, auf den Ruf auswärtiger Fürsten, in deren Gebiet als
Kolonisatoren inmitten fremden Volkstums niedergelassen haben. Dies sind die
echten deutschen Minderheiten. Die Grenzdeutschen dagegen, die von
Natur und nach dem Recht der freien Selbstbestimmung nicht zu einer fremden
Staatsangehörigkeit gezwungen werden, sondern Freiheit erhalten sollten,
sich zu entscheiden, welche Staatlichkeit sie besitzen wollen, sind nur
künstlich und gewaltsam zu Minderheiten in den Staaten gemacht worden,
zu denen man sie, entgegen allen Verkündigungen über die
Grundsätze des Friedens nach dem Weltkriege, hinzugeschlagen hat, ohne
sie zu befragen.
Beginnen wir mit dem grenzdeutschen Gürtel im Osten, so gab es
in den verlorengegangenen Teilen von Posen und
Westpreußen 1,1 Millionen Deutsche, von denen heute der
größere Teil verdrängt, vertrieben oder
abge- [11] wandert ist. In dem
Stück von
Oberschlesien, das durch die ungerechte und
unrechtmäßige Entscheidung des Völkerbundes Deutschland
genommen wurde, leben gleichfalls noch mehr als 300 000 Deutsche. Das
mächtigste Stück Grenzlanddeutschtum sind die
Sudetendeutschen in Böhmen, Mähren und dem
früheren Österreichisch-Schlesien. Sie zählen 3½
Millionen, wovon gut 3 Millionen auf die geschlossen an Schlesien,
Sachsen, Bayern und Österreich angrenzenden deutschen Gebiete kommen;
der Rest auf eine Anzahl zerstreuter Sprachinseln. Ein Stück des
zusammenhängenden deutschen Volks- und Sprachbodens im Osten, Teile
vom Burgenland mit einigen Nachbargebieten, gehört noch zu
Ungarn.
Im Süden gehören zum grenzdeutschen Gürtel einige
kleinere, von der deutschen Steiermark abgerissene und zu Jugoslawien
geschlagene Gebiete und der deutsche Teil von Südtirol, der mit
dem kärntnerischen Kanaltal an Italien übergeben wurde.
Die Zahl der Deutschen beträgt dort zusammen über
¼ Million.
Im Westen wohnen 1½ Millionen deutsche Elsässer
und Lothringer. Wir lassen sie außerhalb unserer Rechnung, bis sich
entscheidet, wohin diese Bevölkerung, die dem Blute nach teils zum
alemannischen, teils zum fränkischen Stamme des deutschen Volkes
gehört, endgültig ihre politische Orientierung nehmen will.
Unmittelbar nach dem Ausgang des Krieges hatte es den Anschein, als ob sie ohne
Vorbehalt sich auf die Seite Frankreichs zu schlagen gewillt war. In den wenigen
Jahren, die seit dem Friedensschlusse vergangen sind, sind aber unter den
Elsaß-Lothringern so starke Regungen deutschen Kulturbewußtseins
und eines - politisch noch undefinierten - Autonomieverlangens
gegenüber Frankreich offenbar geworden, daß man zweifelhaft sein
kann, wohin ihre Erfahrungen im französischen Staatsverbande sie
schließlich treiben werden. Auf jeden Fall ist unter den
Elsaß-Lothringern selber schon das Wort gefallen, sie seien eine
deutschsprachige "Minderheit" in Frankreich, wollten als solche anerkannt und
behandelt werden und würden ihr Recht gegebenenfalls beim
Völkerbund suchen. In Belgien lebten in der Provinz Luxemburg
von alters her, angrenzend an die deutsche Bevölkerung im
Großherzogtum Luxemburg, einige 30 000 Deutsche. Dazu kommen
50 000, die mit Eupen und Malmedy durch den Versailler Frieden
von Deutschland losgerissen wurden.
Im Norden hängt zunächst in Nordschleswig ein
Teil der durch die Abstimmung nach dem Versailler Diktat an Dänemark
gekommenen deutschen Minderheit von 25 000 Seelen räumlich mit
dem Volksboden innerhalb der Reichsgrenze zusammen. Ferner wurden mit dem
Memelgebiet
über 70 000 Deutsche gegen ihren Willen
von Deutschland getrennt. Sie, und nicht weniger auch ihre 70 000
litauischen Nachbarn, fühlen sich im Innern als zu Deutschland
gehörend.
Im ganzen gibt es, ohne Elsaß-Lothringen, zwischen 4 und 5 Millionen
Grenzlanddeutsche, die auf ihrem angestammten Grund und Boden sitzen und
unmittelbar über die Grenze, ohne ein fremdnationales trennendes
Zwischenstück, die Hand ihren deutschen Brüdern im Reiche, in
Österreich und im Danziger Freistaat reichen können.
[12] An echten deutschen Minderheiten lebten im
früheren russischen Reiche etwa 2 Millionen deutsche Bauern,
und im früheren Ungarn ebensoviel. Der Weltkrieg, die russische
Revolution und der Bolschewismus haben den Deutschen in Rußland
große Verluste gebracht. Immerhin gibt es in
Sowjet-Rußland, in der Ukraine und im
Kaukasus noch sicher über eine Million Deutsche, und reichlich
eine halbe Million gibt es im sogenannten Kongreßpolen, das früher zu
Rußland gehörte, und in dem polnisch gewordenen Teile von
Wolhynien. In Rest-Ungarn sind es noch über
500 000; an Rumänien sind gegen 800 000
gekommen; an Jugoslawien beinahe 700 000. 50 000
Deutsche leben in Litauen, 70 000 in Lettland; beinahe
30 000 in Estland. Diese beiden letzteren Zahlen sind
äußerlich nicht groß, kulturell aber sind sie gewichtig.
Rechnet man alles zusammen, so sind es, wie gesagt, zunächst die drei
deutschen Gemeinwesen, die Anteil an deutschem Volksboden haben;
außerdem aber noch acht fremde: Litauen, Polen, die
Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien, Italien, Belgien,
Dänemark. Die Schweiz, Luxemburg, Liechtenstein bleiben dabei
selbstverständlich außer Betracht; auch
Elsaß-Lothringen. Nimmt man auch noch diejenigen Staaten hinzu, in
denen Deutsche ohne Zusammenhang mit dem ursprünglichen deutschen
Volksboden als echte Minderheiten leben, so zeigt sich, daß außer den
drei deutschen Staaten - dem Reich, Österreich und Danzig -
noch zwölf fremde Staaten Teile des deutschen Volkes in Europa
mit ihren Grenzen umschließen. Elffach zerstückelt ist allein der
naturhaft gewachsene, zusammenhängend ausgebreitete Körper des
deutschen Volkes, zu dem im ganzen gegen 75 Millionen Menschen
gehören, und 4 Millionen Deutsche leben im Osten und im Südosten
von Europa in der Zerstreuung.
Auf der Höhe des Mittelalters kämpften in ganz Europa die Idee
der Staatseinheit und der territorialen Zersplitterung miteinander. Spanien wurde
im 14. Jahrhundert ein geschlossener Nationalstaat, Frankreich im
17. Jahrhundert. Um dieselbe Zeit wuchsen England und Schottland zum Vereinigten
Königreich von Großbritannien zusammen. Im 18. und
19. Jahrhundert griff Rußland erobernd sogar weit über die russischen
Volksgrenzen hinaus. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erreichten
die Italiener in der Hauptsache ihr nationales Ziel, aber sie verfolgten es im
Weltkrieg noch weiter, zäh bis aufs letzte. Diese Dinge sind dem
allgemeinen Urteil geschichtlich bekannt, und es erscheint ihm
selbstverständlich, daß es für jene Völker ihr "geheiligtes
Recht" war, Volksgrenzen und Staatsgrenzen in eins zu
setzen - soweit sie nicht noch darüber hinaus nach der Unterwerfung
fremden Volkstums strebten.
Was aber jenen recht ist, das ist den Deutschen billig. Wo steht es geschrieben,
daß dem deutschen Volke der Anspruch verwehrt sein soll, in seiner
Gesamtheit einen Staat zu bilden? Die Geschichte der Deutschen fing so
großartig an wie die keines [13] zweiten Volkes. Noch heute sind Frankreich und
England, Norditalien und Südspanien nach deutschen Stämmen
benannt. Das deutsche Kaisertum des Mittelalters scheiterte an der Riesenaufgabe,
zugleich aus den eigenwillig widerstrebenden deutschen Stämmen einen
Staat aufzubauen, die Idee des abendländischen Imperiums zu behaupten
und sich mit dem Anspruch der Kirche auf Autorität über den Staat
auseinanderzusetzen. Von da aus wurde die politische Zersplitterung
Deutschlands ein halbes Jahrtausend lang immer stärker. Zuletzt, vom
Dreißigjährigen Kriege bis zur Völkerschlacht bei Leipzig,
luden Franzosen, Schweden, Spanier, Dänen, Engländer und Russen
sich gegenseitig dazu ein, ihre Interessenkämpfe auf deutschem Boden
auszufechten und ihr Streben nach Land und Macht mit einem Stück
Deutschland zu befriedigen.
Endlich erhob sich aus dem Aufschwung des deutschen Geistes am Ende des 18.
und aus den Befreiungskriegen am Anfang des 19. Jahrhunderts die Idee der
deutschen Einheit. So lange die Habsburgische Monarchie mit einem
Teil ihres politischen Gesamtkörpers in Deutschland steckte, konnte sich
der Einheitsgedanke unmöglich staatlich verwirklichen. Heute ist dieses
Hindernis beseitigt. Trotzdem scheint es, äußerlich betrachtet, als ob
unter den heutigen Verhältnissen wenig Aussicht bestände, daß
der deutsche Nationalstaat zur Wirklichkeit wird. Warum aber sollten diese
heutigen Verhältnisse dauernder sein, als die Verhältnisse in
irgendeinem Abschnitt der Weltgeschichte seit viertausend Jahren? Haben nicht
die Gegner Deutschlands im Weltkriege selbst die Waffe und das Werkzeug
geschmiedet, mit dem es möglich sein wird, den deutschen Nationalstaat zu
erbauen? Es gibt politische Ideen, die in dem Augenblick lebendig und wirksam
werden, wo sie aus dem Unterbewußtsein der Völker hervorspringen
und als bestimmender Grundsatz verkündet werden. Wenn je die
Führer großer Nationen nicht gewußt haben, was sie taten, so
waren es jene alliierten und assoziierten Politiker, die als Kriegswaffe gegen
Deutschland die Parole vom freien Selbstbestimmungsrecht der
Völker erhoben. Mit ihm haben sie das Zeichen aufgerichtet, in dem
fortan jedes unterdrückte Volk die Verheißung seiner Freiheit besitzt.
Diese Verheißung gilt den Entwaffneten nicht minder, als den in
Waffenmacht Starrenden. Sie ist selber eine Waffe, die ohne Krieg und
Blutvergießen, allein durch die ihr innewohnende ungeheure moralische
Kraft, zu wirken imstande ist. Das Selbstbestimmungsrecht wird den töten,
der ihm auf die Dauer widerspricht, und es wird den lebendig machen, der
unerschüttert daran glaubt.
Der großdeutsche Gedanke bedeutet keine Vergewaltigung Anderer,
sondern er bedeutet nur die Verwirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung
für alle Deutschen - sei es im Sinne einer Willenserklärung
über die staatliche Zugehörigkeit, sei es der Zugehörigkeit zur
gesamtdeutschen Kulturgemeinschaft. Die Vorstellung ist absurd, als ob das
deutsche Volk Länder für Deutschland zurückfordern wollte,
die früher einmal deutsches Reichsgebiet waren, in denen sich aber seit
Jahrhunderten ein selbständiges Volksgefühl gebildet hat, wie in
Holland und der deutschen [14] Schweiz, oder als ob Gebiete beansprucht
würden wie die alte Ordenskolonie zwischen dem
Memel- und dem Narwafluß. Kein Deutscher mißgönnt den
Letten, Esten oder Litauern ihren nationalen Staat. Nur fordert er, daß dieser
auch ihm nicht mißgönnt werden möge. Was für die
Grenzdeutschen verlangt werden muß, ist Freiheit der Entscheidung, wohin
sie staatlich gehören wollen. Das Recht aber, auf das die echten deutschen
Minderheiten in der Zerstreuung einen Anspruch haben, ist die Freiheit, ihre
Sprache, ihre Sitte, ihre Schule, ihre Presse und alles das zu bewahren, was sie zur
Erhaltung ihres Deutschtums brauchen. Dafür ist ihre Gegenleistung
Loyalität gegen den Staat und das Volk, in dessen Grenzen sie leben, und
Gebrauch ihrer materiellen und geistigen Arbeitskraft für den Fortschritt
des Gemeinwesens, dem sie als nationale Minderheit angehören.
Da wir uns auf den folgenden Blättern mit dem Begriff der Minderheiten,
vor allen Dingen der deutschen Minderheiten fortdauernd werden zu
beschäftigen haben, so sei auch hierüber noch eine kurze
grundsätzliche Erörterung vorangestellt. Auf die Frage nach dem
Wesen der Minderheit lesen wir bei einer Autorität wie dem Grazer Juristen
Lenz (Dr. Adolf Lenz, Die deutschen Minderheiten in
Slowenien, Graz 1923, S. 24 ff.) die folgenden, durch ihre
Kürze und Klarheit ausgezeichneten Sätze:
"Aus dem politischen Anspruch eines
Volkes, sein Schicksal selbst zu bestimmen, würde in positiver Hinsicht
folgen, daß jedes Volk seine Selbständigkeit in einem eigenen
Staatswesen erlangen muß, und in negativer Hinsicht, daß kein Teil
des Volkes unter fremder Staatsgewalt zu leben braucht. Dies alles, wenn und
soweit ein darauf gerichteter völkischer Wille gegeben ist. Dieser
völkische Anspruch muß als in seiner Reinheit unrealisierbar erkannt
werden, wenn man bedenkt, daß die historisch überkommenen
Wohnsitze der Völker nicht das Produkt ihres eigenen Willens, sondern
vielfach der Gewalt eines stärkeren Nachbarn sowie der geographischen
und wirtschaftlichen Notwendigkeiten sind. Dazu kommt noch, daß die
Besiedlung eines Staatsraumes mit einem Volke nicht überall erfolgt ist und
vielfach wegen gemeinsamer Kolonisation nicht erfolgen konnte. So sind
Mischzonen entstanden, in denen entweder bereits die erste Besiedlung von
mehreren Völkern gemeinsam erfolgte oder doch eine spätere
Nachbesiedlung durch ein anderes Volk geschah. Derart finden sich selbst im
sonst geschlossenen Siedlungsgebiet des einen Volkes Sprachinseln des anderen
Volkes. Es entsteht mit Notwendigkeit die völkische Minderheit als das
Ergebnis historischer Entwicklung und geographischer wie wirtschaftlicher
Notwendigkeiten. In neuerer Zeit hat insbesondere der Zug aller Völker
zum Meere mit seiner unbegrenzten Möglichkeit des wirtschaftlichen
Aufschwunges zur Völkermischung und zu Wirtschaftswegen über
fremdes Staatsgebiet geführt und damit die Entstehung von Minderheiten
gefördert. Das Vordringen der Völker mittels militärischer
Gewalt hat die Staatsgrenzen vielfach ohne Rücksicht auf die
Volkszugehörigkeit der Randbevölkerung zu strategischen, das
heißt den Erfordernissen der Verteidigungsfähigkeit entsprechenden,
gemacht.
Derart entsteht für eine rechtliche Ordnung im
national gemischten Staate mit Notwendigkeit das Problem des
Minderheitenrechtes. Es ist die Frage nach Wahrung der Eigenart des
zahlenmäßig dem Mehrheitsvolk unterlegenen Minderheitsvolkes.
Die demokratische Regierungsform hat dieses Problem zu einem brennenden dort
gestaltet, wo die Minderheit [15] kulturell und insbesondere wirtschaftlich der
Mehrheit überlegen ist. Hier kann die Eigenart der Minderheit zu einem
steten Kampfe gegen die bevorrechtete Mehrheit führen...
Der Minderheitenschutz in national gemischten Staaten
kann zunächst innerpolitisch dadurch gelöst werden,
daß es zu einer einverständlichen Regelung des
Rechtsverhältnisses unter den mehreren Volksstämmen des Staates
kommt. Derart ist die Schweizerische Eidgenossenschaft zu einer Einheit
geworden, bei der eine Irredenta weder im deutschen noch im französischen
noch im italienischen Teile entstand.
Eine solche Lösung kann aber dort nicht erfolgen,
wo von vornherein nur ein Teil der vielen im Staate lebenden
Völker oder Volksteile zur Staatsgründung und Staatserhaltung
herangezogen wurde (so in Jugoslawien, Rumänien, in der
Tschechoslowakei, Polen)... Der Minderheitenschutz ist den auf dem Boden der
österreichisch-ungarischen Monarchie entstandenen Nachfolgestaaten
sowohl im Interesse des allgemeinen Friedens, wie im Verfolge der
französischen Politik, Klientelstaaten gegen die deutsche
»Expansion nach Osten« zu schaffen, auferlegt worden. Sollten die
Tschechoslowakei und Südslawien die ihnen politisch zugedachte Rolle der
»kleinen Entente« gegenüber Deutschland und
Österreich erfüllen, so mußten sie durch die Gewährung
des Minderheitenschutzes derart lebensfähig erhalten werden, daß
nicht innere Unruhen und eine Sprengung der Neugebilde durch eine
irredentistische Bewegung der Minderheiten zu gewärtigen war. Nach
Ansicht der alliierten und assoziierten Hauptmächte sollte die
Stabilität der Tschechoslowakei und Südslawiens durch
den Minderheitenschutz gestärkt werden. Nach Anschauung der
herrschenden Mehrheitsvölker in beiden Staaten (und ebenso in
Rumänien und Polen. R.) aber wird der Minderheitenschutz als eine
auferlegte, ungern gewährte Belastung eines
Nationalstaates empfunden."
In diesen Ausführungen ist bereits Bezug darauf genommen, daß in
den Friedensverträgen nach dem Weltkriege etwas einem Schutz der
Minderheiten ähnliches verordnet ist. Wir fügen zu den Sätzen
von Lenz noch hinzu, daß insbesondere der Anspruch der
deutschen Minderheiten in den Staaten, die durch den Weltkrieg
entweder geschaffen oder durch Gebiete mit deutscher Bevölkerung
vergrößert wurden, geschichtlich und moralisch auf zwei
unbestreitbaren Tatsachen beruht. Die erste dieser Tatsachen ist, daß
die deutsche Bevölkerung, um die es sich handelt, entweder auf altem
deutschen Volksboden sitzt, der vom Ganzen abgerissen und einem fremden
Staate überliefert wurde - oder auf einem Boden, wohin ihre
Vorfahren von den früheren Herrschern des Landes eingeladen wurden, um
ihn zu besiedeln, zu kultivieren und zu schützen. Die zweite Tatsache
aber ist, daß die Deutschen diese Kulturaufgabe an allen in Betracht
kommenden Stellen mit dem größten Erfolg und zum
unbezweifelbaren Nutzen des Landes, in das sie berufen wurden, gelöst
haben.
Diese beiden Sätze sind für unsere Auffassung des Rechts
der deutschen Minderheiten in den verschiedenen europäischen
Ländern, wo sie entweder auf gewaltsamem und unnatürlichem
Wege, durch Zerreißung des gewachsenen deutschen Volksverbandes, oder
auf natürlichem geschichtlichen Wege entstanden sind, durchaus
grundlegend. Der Leser wird bemerken, daß durch das ganze folgende
Werk [16] hindurch die Linie der
Beweisführung auf Grund des geschichtlichen und des durch
Kulturleistungen bewährten nationalen Rechts festgehalten ist. Die
deutschen Minderheiten, die jetzt verfolgt und bedrückt werden, sind
nirgends Eindringlinge, sondern der Grund und Boden, auf dem sie sitzen und den
sie verteidigen, ist ihr geheiligtes, nach dem natürlichen wie nach dem
formalen Recht ihnen zustehendes Erbe. Weil das so ist, darum hat auch niemand
das Recht, sie von diesem Boden zu verdrängen oder sie durch
Entnationalisierung in ihrem Volkstum zu bedrohen. Volkstum und nationales
Kulturbewußtsein sind die höchsten irdischen Güter, die ein
Mensch besitzen kann. Aus ihm quellen, direkt oder indirekt, seine
Befähigung und sein Wille zu allem Großen und Guten. Darum ist es
ein Verbrechen, ihn darin zu bedrohen oder zu berauben.
Das natürliche und das geschichtliche Recht nicht nur der Minderheiten auf
die Bewahrung ihres Volkstums, sondern überhaupt der Völker auf
Unversehrtheit und auf Selbstbestimmung über ihre staatliche
Zugehörigkeit ist auch während des Krieges von den späteren
Siegerstaaten in bestimmter und verbindlicher Form anerkannt, ja
ausdrücklich als eine Grundlage des zu schließenden Friedens
proklamiert worden. Das hierauf sich beziehende Material ist im
Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie (Verlag
von Walter de Gruyter & Co., Berlin und Leipzig 1923, 3. Lieferung,
S. 82 ff.) von Laun zusammengefaßt worden. Im
Abschnitt IV dieses Artikels heißt es gleich zu Beginn:
"Während in beiden Lagern und
in neutralen Ländern führende Geister untersuchten, wie die
nationale Frage im künftigen Frieden und im künftigen
Völkerbund einer Lösung zuzuführen sei, haben die Sieger, in
deren Händen nun alles lag, feierliche Versprechen zur Lösung dieser
Frage gemacht. Die Grundlage bildet die Formel »Selbstbestimmung der
Völker«. Die Formel war schon vor dem Kriege nichts Unbekanntes.
So hat z. B. die deutsche Sozialdemokratie Böhmens bereits im Jahre
1908 gegen die Übergriffe der tschechischen Mehrheit und der
»volksfremden Bürokratie« das
»Selbstbestimmungsrecht der deutschen Nation in Böhmen«
gefordert (Manifest: An das deutsche Volk in Böhmen, vom 31. Oktober
1908). Die oben geschilderte nationale Propaganda der gegnerischen
Mächte während des Krieges wußte zunächst kein
anderes Schlagwort als die »Unterdrückung« und
»Befreiung« der »kleinen Nationen«. In der
russischen Revolution wurde nun plötzlich die Formel von der
»Selbstbestimmung der Völker« zum Gemeingut. Diese
Formel wurde von der bürgerlich-pazifistischen Strömung, die in den
national gesättigten Weststaaten eine große Bedeutung hatte und auch
jetzt hat, aufgegriffen und propagandistisch gegen die Zentralmächte
verwertet und wurde schließlich zum Gegenstand formeller Zusagen der
alliierten und assoziierten Mächte.
Durch diese Zusagen sind die bekannten Kundgebungen
des Präsidenten Wilson nachträglich zu rechtsverbindlichen, alle
alliierten und assoziierten Mächte verpflichtenden
Willenserklärungen geworden. Diese Kundgebungen haben unter anderem
die Verwirklichung der Selbstbestimmung der Völker versprochen. Die
hierher gehörigen Erklärungen Wilsons sind namentlich die vier
Punkte der Kongreßrede vom 11. Februar 1918, Punkt 2
der Mount-Vernon-Rede vom 4. Juli 1918 und
Punkt 1 der Rede in New York vom 27. September 1918.
Besonders hervorzuheben sind Punkt 2 der an erster Stelle
und Punkt 2 der an zweiter Stelle genannten Rede. Der erstere fordert, daß
Völker und Provinzen nicht von [17] Staatshoheit zu Staatshoheit herumgeschoben
werden wie Gegenstände oder wie Steine in einem Spiel ("that peoples
and provinces are not to be bartered about from sovereignty to sovereignty as if
they were mere chattels and pawns in a game"); der zweite verlangt unter
anderem die Regelung aller Gebiets- und Souveränitätsfragen auf der
Grundlage der freien Annahme dieser Regelung seitens des unmittelbar betroffenen
Volkes ("the settlement of every question, whether of territory, of sovereignty...
upon the base of the free acceptance of that settlement by the people immediately
concerned"). Was immer diese beiden Erklärungen sonst bedeuten
mögen, jedenfalls schließen sie gewaltsame Annexionen
aus."
Laun berührt hiernach noch die berühmten vierzehn Punkte, notiert die logischen Fehler, an
denen sie kranken, namentlich in bezug auf
Elsaß-Lothringen, und fährt dann fort:
"Alle diese Erklärungen Wilsons
haben beide Parteien bereits in den Vorverhandlungen zum
Waffenstillstandsvertrag mittels beiderseitig erklärter
Willensübereinstimmung als Voraussetzung des Abschlusses des
Waffenstillstandes angenommen, so insbesondere die alliierten und assoziierten
Mächte in den Noten des Staatssekretärs Lansing vom 23. Oktober
und 5. November 1918. Daher waren diese Kundgebungen in
rechtsgültigen einer Ratifizierung nicht bedürftigen
Kriegsverträgen rechtsverbindlich zu den Grundlagen der bei Beendigung
des Krieges zu schaffenden neuen Ordnung, zu
»Friedensbedingungen« ("terms of peace", Note Lansings
vom 23. Oktober) des zu schließenden Friedens gemacht. Beide
Parteien waren völkerrechtlich verpflichtet, das darin enthaltene nationale
Programm durchzuführen und auch gegen sich gelten zu lassen... Was
endlich Punkt 1 vom 27. September anbelangt, so kann in dem Zusammenhang
des Wilsonschen Programms unter »equal rights«
unmöglich die rein formale »Gleichheit vor dem Gesetze«,
d. h. im Völkerrecht die gleiche Anwendung aller beliebigen,
inhaltlich etwa noch so verwerflichen Verträge auf alle gleicherweise
betroffenen Staaten gemeint sein, was übrigens auch sprachlich schlecht
ausgedrückt wäre, sondern der Punkt erhält nur dann einen
Sinn, wenn man unter equal rights die vollkommene Gegenseitlichkeit
versteht. Dies ist namentlich für den Schutz nationaler Minderheiten von
Bedeutung."
Laun zieht nunmehr aus diesen ebenso klaren wie unbezweifelbaren Tatsachen und
Argumenten die Schlußfolgerung, daß mit der Unterzeichnung des
Vertrages über den Waffenstillstand eine "den weitaus größten
Teil der Völkerrechtsgemeinschaft verpflichtende" völkerrechtliche
Norm in Kraft getreten ist, nach der die Gebietsfragen nur auf Grund der freien
Annahme ("free acceptance" nach Wilson) der unmittelbar betroffenen
Bevölkerung gelöst werden dürfen, und ferner Fragen des
Schutzes der nationalen Minderheiten nur nach dem Grundsatz der "equal
rights", der vollen materiellen Gegenseitigkeit, für alle beteiligten
Völker. Im folgenden Abschnitt V werden die Friedensverträge nach
der Richtung hin geprüft, ob und wie weit sie den vorher gemachten
verpflichtenden Zusagen entsprechen. Es heißt:
"Die alliierten und assoziierten
Mächte haben jedoch ihr bei den Waffenstillstandsverhandlungen gegebenes
Wort nicht eingelöst. In Paris haben tatsächlich Unrichtigkeiten und
Irrtümer über die feierlich übernommenen
völkerrechtlichen Verpflichtungen gesiegt. Wie weit und aus welchen
Beweggründen hierbei die ursprünglichen Absichten geändert
worden sind [18] und wie weit schon die
ersten Versprechungen nicht so gemeint waren, wie sie gelautet hatten..., dies
vollkommen klarzustellen, muß der geschichtlichen Forschung der Zukunft
überlassen werden. Aber was wir schon heute mit Sicherheit wissen,
genügt, um die ungeheure Bedeutung der nationalen Frage für das
Verständnis der Friedensverträge darzutun. So wissen wir
beispielsweise aus dem berühmt gewordenen Buche von John Maynard
Keynes, Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages, daß die
Behandlung der deutsch-österreichischen Frage in den
Friedensverträgen auf eine Irreführung Wilsons durch Clemenceau
zurückzuführen ist... Die Regierung Clemenceau hat aber für
ihre Haltung in der deutsch-österreichischen Frage keine andere
Begründung angeben können, als die »Rechte über die
Besiegten«... Ebenso kennen wir das
»Memoire III« der tschechoslowakischen Delegation
auf dem Friedenskongreß, das mittels einer ganzen Reihe
außerordentlich weitgehender tatsächlicher Unrichtigkeiten, die in der
neuen Geschichte der Völkerbeziehungen ihresgleichen suchen, und durch
Verschweigung alles dessen, was den Deutschen ein Recht der Selbstbestimmung
im Sinne des Wilsonschen Programms gewährt hätte, die Annexion
deutschen Sprachgebietes mit weit über drei Millionen Deutschen durch die
Tschechoslowakei herbeigeführt hat (das »Memoire III«
ist zuerst in der Prager deutschen Zeitung Bohemia vom
10. - 19. Oktober 1920 abschnittsweise veröffentlicht
worden...)."
In den Friedensverhandlungen versuchten Deutschland und Österreich, den
unter Bruch des Vorvertrages über den Frieden erklärten
Annexionszielen der Gegner ein nationales Programm der Selbstbestimmung,
Gleichheit und Gegenseitigkeit entgegenzusetzen. Deutschland schlug in einem
von ihm eingebrachten Völkerbundsentwurf den folgenden Punkt (54)
vor:
"Den nationalen Minderheiten
innerhalb der einzelnen Völkerbundsstaaten wird ein nationales Eigenleben,
insbesondere in Sprache, Schule, Kirche, Kunst, Wissenschaft und Presse
verbürgt. Über die Durchführung dieses Grundsatzes
entscheidet ein besonderes Abkommen, das vornehmlich bestimmt, in welcher
Weise das Recht der Minderheiten vor den Organen des Völkerbundes
geltend gemacht werden kann."
Die deutsche Friedensdelegation in Versailles hat in ihrer Note vom 29. Mai 1919
in dem Abschnitt "Territoriale Fragen" verlangt, daß das
Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht nur zuungunsten Deutschlands
Anwendung finden dürfe, es müsse vielmehr in allen Staaten
gleichmäßig gelten. Im einzelnen wurden genauere Vorschläge
gemacht, wie z. B. daß in Abstimmungsgebieten bei der Festsetzung
der Grenze nicht mehr deutsche Angehörige unter die Herrschaft des
erwerbenden Staates gelangen sollten, als Angehörige dieses Staates unter
deutsche Herrschaft. Mit Recht bemerkt Laun, daß Deutschland den Ruhm
hat, der erste Staat zu sein, der für eine allgemeine Lösung der
nationalen Frage im Völkerrecht auf der Grundlage der vollkommenen
Gleichheit und Gegenseitigkeit eingetreten ist. Auch Österreich machte
ausführlich und bis ins einzelne begründete Vorschläge. Alle
Noten und Denkschriften der Mittelmächte, die in Versailles wie die in
St. Germain vorgelegten, wurden von den Gegnern unbeachtet gelassen. Es ist
unmöglich, Laun die Zustimmung zu versagen, wenn er die auf Gewalt,
Irrtümer und Unrichtigkeiten gestützten Friedensbedingungen, die fast
in allen Punkten den Grundsatz der
Selbst- [19] bestimmung
verhöhnen, die nur durch die äußersten Drohungen zum Inhalt
von Vertragsurkunden geworden sind, unter denen erzwungene Unterschriften
stehen, als innerlich nicht verpflichtend ansieht. Die Gebietsfragenwaren
völkerrechtlich bereits grundsätzlich im Sinne der "freien Annahme
durch die betroffene Bevölkerung", der Minderheitsschutz durch den
Grundsatz der Gegenseitigkeit, geregelt.
"Daher war der durch jene Drohungen
ausgeübte Zwang ein rechtswidriger. Es war nicht mehr die
völkerrechtlich zulässige Gewalt einer kriegführende Partei
gegen die andere, sondern die vollkommen unzulässige Gewalt eines
Kontrahenten gegen den anderen, der sich im Vertrauen auf das im
Waffenstillstandsvertrag gegebene Wort seiner letzten, ihn noch
schützenden Waffen entäußert hatte. Wollte man
Nachtragsforderungen des Stärkeren für rechtmäßig
halten, so käme man folgerichtig zu dem Ergebnis, daß jeder
siegreiche Staat auch nach unterzeichnetem und ratifiziertem Friedensvertrag nach
Belieben immer wieder mit neuen Ansprüchen an den Besiegten herantreten
darf, kurz, daß jeder völkerrechtliche Vertrag nur den
Schwächeren bindet...
Nichts anderes haben die alliierten und assoziierten
Mächte getan, als sie die bindende Kraft der von ihnen unterzeichneten
Kriegsverträge zwar für Deutschland, nicht aber für sich
anerkannten. Mit der Androhung des Zwanges, durch welche Deutschland zur
Unterfertigung des Friedensvertrages von Versailles genötigt worden ist
und die weiter besteht, solange Deutschlands Abrüstung den
Rüstungen seiner Gegner gegenübersteht, haben die alliierten und
assoziierten Mächte den Zweck verfolgt, sich selbst Vorteile zu verschaffen,
auf welche sie nach Völkerrecht keinerlei Rechtsanspruch hatten. Es liegt
unerlaubte vis compulsiva (Vergewaltigung) vor. Damit sind
nicht nur die moralischen, sondern auch die juristischen Grundlagen des
Friedensvertrages vollständig erschüttert... Die Menschheit ist
vor die Wahl gestellt, entweder diesen »Friedensvertrag« und die auf
ihn gebauten späteren Verträge und sonstigen Akte zu beseitigen und
zu den Grundsätzen der Selbstbestimmung, Gleichheit und Gegenseitigkeit
zurückzukehren, oder einen Zustand der Machtverteilung weiter zu dulden,
der immer wieder nur durch neue Gewalt und neue Unwahrhaftigkeit
aufrechterhalten werden kann."
Laun führt aus, daß vom zusammenhängenden deutschen
Sprachgebiet ohne Volksbefragung vom Reiche abgetrennt oder an der Vereinigung
mit dem Reiche gewaltsam gehindert sind im ganzen mehr als 12 Millionen
Seelen, ungerechnet die deutschen Sprachinseln und verstreuten deutschen
Minderheiten. Man vergleiche diese 12 Millionen mit den etwas über
1½ Millionen, die Elsaß-Lothringen im Jahre 1871 hatte. Die
Friedensverträge haben also allein in Bezug auf das deutsche Volk ein
achtfaches Elsaß-Lothringen geschaffen, nur mit dem Unterschied,
daß Elsaß-Lothringen ein wieder erobertes, ursprünglich
deutsches, zu vier Fünfteln noch deutsch sprechendes Land war und
daß Deutschland mit seiner Erwerbung 1871 keine Versprechungen brach
und keine völkerrechtlichen Verpflichtungen verletzte. Auch andere
Völker wurden auf ähnliche furchtbare und gewaltsame Weise durch
die Friedensverträge verstümmelt wie das deutsche. Überall in
Mittel- und Osteuropa lodern die nationalen Feindschaften: "Polen und Litauer,
Polen und Ukrainer, Polen und Tschechen, Tschechen und Ukrainer, Tschechen
und [20] Madjaren, Madjaren und Rumänen,
Madjaren und Südslawen, Südslawen und Italiener, Südslawen
und Albaner, Südslawen und Bulgaren, Albaner und Griechen, Bulgaren und
Griechen, Griechen und Türken usw." Sie alle fühlen sich vergewaltigt
oder haben andere vergewaltigt, und wenn auch die in den Friedensverträgen
diktierten Grenzen äußerlich respektiert werden, "so denkt der jeweils
verkürzte Teil in seiner erdrückenden Mehrheit nicht im entferntesten
daran, seine Konnationalen endgültig aufzugeben". Und zu dieser
ungeheuren Vergiftung Europas infolge der Friedensverträge
vergegenwärtige man sich noch das dem deutschen Volkstum durch den
Druck der Versprechungen für das Selbstbestimmungsrecht zugefügte
achtfache Elsaß-Lothringen! Wir schließen diesen Abschnitt mit der
Charakteristik der Gegenwartslage bei Laun:
"Aber all die geschilderte
Systemlosigkeit der Friedensverträge ist nur scheinbar. Man kann in ihr klar
zwei leitende Gedanken erkennen: erstens den Willen, das deutsche Volk
möglichst zu zerstückeln, und zweitens den Willen, die vier
wichtigsten Vasallenstaaten der Entente in
Mittel- und Osteuropa, Polen, die Tschechoslowakei, Rumänien und den
südslawischen Staat, durch bedeutende Annexionen fremdnationalen
Gebietes zu stärken. Damit haben wir auch Einblick in die
Entwicklungsgesetze gewonnen, welche der europäischen Politik der
nächsten Zeit den Stempel aufdrücken dürften. So wie die
Mitte des 19. Jahrhunderts von der nationalen Einigung Deutschlands und Italiens
beherrscht ist und die folgenden Jahrzehnte bis einschließlich zum Weltkrieg
von der nationalen Liquidation der Türkei,
Österreich-Ungarns und Rußlands, so werden voraussichtlich die
kommenden Jahrzehnte auf nationalem Gebiet hauptsächlich von zwei Ideen
bewegt werden; Vereinigung Deutschlands mit seinen 12 Millionen
Auslandsdeutschen und Zerlegung jener vier Vasallenstaaten in ihre nationalen
Bestandteile. Dazu treten dann die anderen noch ungelösten Probleme, wie
die Vereinigung der von Italien annektierten Slowenen und Kroaten mit ihren
Konnationalen. Erst wenn die nationale Idee auch in allen diesen Punkten
verwirklicht ist, wird sie Europa die Ruhe geben, die es
braucht."
Soviel zur grundsätzlichen Einführung in die darstellenden Kapitel
dieses Buches. Ihr Gegenstand ist mit den Worten umschrieben "Deutschtum in
Not". Im Zustand der nationalen Not befinden sich nicht nur die deutschen
Minderheiten in fremden Staaten, sondern auch Österreich und Danzig, weil
ihnen durch überlegene Gewalt verboten ist, ihrem deutschen Zuge "Heim
ins Reich" zu folgen. Aus diesem Grunde gehört Österreich in unser
Buch, wenn es auch nicht unsere Aufgabe sein kann, in seinem Rahmen eine
österreichische Geschichte und Landeskunde zu geben, sondern nur einen
zusammenfassenden Überblick, wie es entstanden ist und was es innerhalb
des deutschen Volkstums bedeutet. Von den anderen Schauplätzen dagegen,
wo ein "Deutschtum in Not" lebt, fordert jeder eine mehr ins Einzelne gehende
Darstellung.
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