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Der deutsche Volksboden und das deutsche Volksrecht (Teil 1)

Es gibt heute drei deutsche Staaten: das Reich, Österreich und den Freistaat Danzig. Das Reich hat zwischen 62 und 63 Millionen Einwohner, Österreich zwischen 6 und 7 Millionen, Danzig etwas über 0,3 Millionen. Zusammen sind es gegen 70 Millionen. Von Danzig ist vielfach die Meinung verbreitet, es sei staatlich eine Dependenz von Polen. Das ist nicht der Fall. Es steht zu Polen in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis, aber der Bürger von Danzig ist Bürger eines deutschen Gemeinwesens. Österreich ist von Rechts wegen ein souveräner europäischer Staat. Seine Bevölkerung bildet den stärksten deutschen Block außerhalb der Reichgrenzen. Die Österreicher wie die Danziger aber besitzen die Eigenstaatlichkeit gegen ihren Willen. Ihr Wille ist auf den Zusammenschluß mit Deutschland gerichtet. Heim ins Reich! So lautet ihre nationalpolitische Losung.

Die drei deutschen Staaten umfassen aber nicht den ganzen geschlossenen Volksboden in Mitteleuropa. Um sie herum legt sich noch ein grenzdeutscher Gürtel: deutscher Volksboden, der unmittelbar an die durch das Versailler Diktat bestimmten deutschen Staatsgrenzen anstößt und von Deutschen bewohnt wird, aber unter dem Verbot steht, mit Deutschland vereinigt zu werden.

Zu den deutschen Staaten und zu den politisch für sie verbotenen Teilen des zusammenhängenden deutsch-mitteleuropäischen Wohngebiets kommen als dritter deutscher Faktor in Europa diejenigen Deutschen, deren Vorfahren sich in früheren Jahrhunderten in größerer oder geringerer räumlicher Trennung von der ursprünglichen deutschen Heimaterde, auf den Ruf auswärtiger Fürsten, in deren Gebiet als Kolonisatoren inmitten fremden Volkstums niedergelassen haben. Dies sind die echten deutschen Minderheiten. Die Grenzdeutschen dagegen, die von Natur und nach dem Recht der freien Selbstbestimmung nicht zu einer fremden Staatsangehörigkeit gezwungen werden, sondern Freiheit erhalten sollten, sich zu entscheiden, welche Staatlichkeit sie besitzen wollen, sind nur künstlich und gewaltsam zu Minderheiten in den Staaten gemacht worden, zu denen man sie, entgegen allen Verkündigungen über die Grundsätze des Friedens nach dem Weltkriege, hinzugeschlagen hat, ohne sie zu befragen.

Beginnen wir mit dem grenzdeutschen Gürtel im Osten, so gab es in den verlorengegangenen Teilen von Posen und Westpreußen 1,1 Millionen Deutsche, von denen heute der größere Teil verdrängt, vertrieben oder abge- [11] wandert ist. In dem Stück von Oberschlesien, das durch die ungerechte und unrechtmäßige Entscheidung des Völkerbundes Deutschland genommen wurde, leben gleichfalls noch mehr als 300 000 Deutsche. Das mächtigste Stück Grenzlanddeutschtum sind die Sudetendeutschen in Böhmen, Mähren und dem früheren Österreichisch-Schlesien. Sie zählen 3½ Millionen, wovon gut 3 Millionen auf die geschlossen an Schlesien, Sachsen, Bayern und Österreich angrenzenden deutschen Gebiete kommen; der Rest auf eine Anzahl zerstreuter Sprachinseln. Ein Stück des zusammenhängenden deutschen Volks- und Sprachbodens im Osten, Teile vom Burgenland mit einigen Nachbargebieten, gehört noch zu Ungarn.

Im Süden gehören zum grenzdeutschen Gürtel einige kleinere, von der deutschen Steiermark abgerissene und zu Jugoslawien geschlagene Gebiete und der deutsche Teil von Südtirol, der mit dem kärntnerischen Kanaltal an Italien übergeben wurde. Die Zahl der Deutschen beträgt dort zusammen über ¼ Million.

Im Westen wohnen 1½ Millionen deutsche Elsässer und Lothringer. Wir lassen sie außerhalb unserer Rechnung, bis sich entscheidet, wohin diese Bevölkerung, die dem Blute nach teils zum alemannischen, teils zum fränkischen Stamme des deutschen Volkes gehört, endgültig ihre politische Orientierung nehmen will. Unmittelbar nach dem Ausgang des Krieges hatte es den Anschein, als ob sie ohne Vorbehalt sich auf die Seite Frankreichs zu schlagen gewillt war. In den wenigen Jahren, die seit dem Friedensschlusse vergangen sind, sind aber unter den Elsaß-Lothringern so starke Regungen deutschen Kulturbewußtseins und eines - politisch noch undefinierten - Autonomieverlangens gegenüber Frankreich offenbar geworden, daß man zweifelhaft sein kann, wohin ihre Erfahrungen im französischen Staatsverbande sie schließlich treiben werden. Auf jeden Fall ist unter den Elsaß-Lothringern selber schon das Wort gefallen, sie seien eine deutschsprachige "Minderheit" in Frankreich, wollten als solche anerkannt und behandelt werden und würden ihr Recht gegebenenfalls beim Völkerbund suchen. In Belgien lebten in der Provinz Luxemburg von alters her, angrenzend an die deutsche Bevölkerung im Großherzogtum Luxemburg, einige 30 000 Deutsche. Dazu kommen 50 000, die mit Eupen und Malmedy durch den Versailler Frieden von Deutschland losgerissen wurden.

Im Norden hängt zunächst in Nordschleswig ein Teil der durch die Abstimmung nach dem Versailler Diktat an Dänemark gekommenen deutschen Minderheit von 25 000 Seelen räumlich mit dem Volksboden innerhalb der Reichsgrenze zusammen. Ferner wurden mit dem Memelgebiet über 70 000 Deutsche gegen ihren Willen von Deutschland getrennt. Sie, und nicht weniger auch ihre 70 000 litauischen Nachbarn, fühlen sich im Innern als zu Deutschland gehörend.

Im ganzen gibt es, ohne Elsaß-Lothringen, zwischen 4 und 5 Millionen Grenzlanddeutsche, die auf ihrem angestammten Grund und Boden sitzen und unmittelbar über die Grenze, ohne ein fremdnationales trennendes Zwischenstück, die Hand ihren deutschen Brüdern im Reiche, in Österreich und im Danziger Freistaat reichen können.

[12] An echten deutschen Minderheiten lebten im früheren russischen Reiche etwa 2 Millionen deutsche Bauern, und im früheren Ungarn ebensoviel. Der Weltkrieg, die russische Revolution und der Bolschewismus haben den Deutschen in Rußland große Verluste gebracht. Immerhin gibt es in Sowjet-Rußland, in der Ukraine und im Kaukasus noch sicher über eine Million Deutsche, und reichlich eine halbe Million gibt es im sogenannten Kongreßpolen, das früher zu Rußland gehörte, und in dem polnisch gewordenen Teile von Wolhynien. In Rest-Ungarn sind es noch über 500 000; an Rumänien sind gegen 800 000 gekommen; an Jugoslawien beinahe 700 000. 50 000 Deutsche leben in Litauen, 70 000 in Lettland; beinahe 30 000 in Estland. Diese beiden letzteren Zahlen sind äußerlich nicht groß, kulturell aber sind sie gewichtig.

Rechnet man alles zusammen, so sind es, wie gesagt, zunächst die drei deutschen Gemeinwesen, die Anteil an deutschem Volksboden haben; außerdem aber noch acht fremde: Litauen, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien, Italien, Belgien, Dänemark. Die Schweiz, Luxemburg, Liechtenstein bleiben dabei selbstverständlich außer Betracht; auch Elsaß-Lothringen. Nimmt man auch noch diejenigen Staaten hinzu, in denen Deutsche ohne Zusammenhang mit dem ursprünglichen deutschen Volksboden als echte Minderheiten leben, so zeigt sich, daß außer den drei deutschen Staaten - dem Reich, Österreich und Danzig - noch zwölf fremde Staaten Teile des deutschen Volkes in Europa mit ihren Grenzen umschließen. Elffach zerstückelt ist allein der naturhaft gewachsene, zusammenhängend ausgebreitete Körper des deutschen Volkes, zu dem im ganzen gegen 75 Millionen Menschen gehören, und 4 Millionen Deutsche leben im Osten und im Südosten von Europa in der Zerstreuung.


Auf der Höhe des Mittelalters kämpften in ganz Europa die Idee der Staatseinheit und der territorialen Zersplitterung miteinander. Spanien wurde im 14. Jahrhundert ein geschlossener Nationalstaat, Frankreich im 17. Jahrhundert. Um dieselbe Zeit wuchsen England und Schottland zum Vereinigten Königreich von Großbritannien zusammen. Im 18. und 19. Jahrhundert griff Rußland erobernd sogar weit über die russischen Volksgrenzen hinaus. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erreichten die Italiener in der Hauptsache ihr nationales Ziel, aber sie verfolgten es im Weltkrieg noch weiter, zäh bis aufs letzte. Diese Dinge sind dem allgemeinen Urteil geschichtlich bekannt, und es erscheint ihm selbstverständlich, daß es für jene Völker ihr "geheiligtes Recht" war, Volksgrenzen und Staatsgrenzen in eins zu setzen - soweit sie nicht noch darüber hinaus nach der Unterwerfung fremden Volkstums strebten.

Was aber jenen recht ist, das ist den Deutschen billig. Wo steht es geschrieben, daß dem deutschen Volke der Anspruch verwehrt sein soll, in seiner Gesamtheit einen Staat zu bilden? Die Geschichte der Deutschen fing so großartig an wie die keines [13] zweiten Volkes. Noch heute sind Frankreich und England, Norditalien und Südspanien nach deutschen Stämmen benannt. Das deutsche Kaisertum des Mittelalters scheiterte an der Riesenaufgabe, zugleich aus den eigenwillig widerstrebenden deutschen Stämmen einen Staat aufzubauen, die Idee des abendländischen Imperiums zu behaupten und sich mit dem Anspruch der Kirche auf Autorität über den Staat auseinanderzusetzen. Von da aus wurde die politische Zersplitterung Deutschlands ein halbes Jahrtausend lang immer stärker. Zuletzt, vom Dreißigjährigen Kriege bis zur Völkerschlacht bei Leipzig, luden Franzosen, Schweden, Spanier, Dänen, Engländer und Russen sich gegenseitig dazu ein, ihre Interessenkämpfe auf deutschem Boden auszufechten und ihr Streben nach Land und Macht mit einem Stück Deutschland zu befriedigen.

Endlich erhob sich aus dem Aufschwung des deutschen Geistes am Ende des 18. und aus den Befreiungskriegen am Anfang des 19. Jahrhunderts die Idee der deutschen Einheit. So lange die Habsburgische Monarchie mit einem Teil ihres politischen Gesamtkörpers in Deutschland steckte, konnte sich der Einheitsgedanke unmöglich staatlich verwirklichen. Heute ist dieses Hindernis beseitigt. Trotzdem scheint es, äußerlich betrachtet, als ob unter den heutigen Verhältnissen wenig Aussicht bestände, daß der deutsche Nationalstaat zur Wirklichkeit wird. Warum aber sollten diese heutigen Verhältnisse dauernder sein, als die Verhältnisse in irgendeinem Abschnitt der Weltgeschichte seit viertausend Jahren? Haben nicht die Gegner Deutschlands im Weltkriege selbst die Waffe und das Werkzeug geschmiedet, mit dem es möglich sein wird, den deutschen Nationalstaat zu erbauen? Es gibt politische Ideen, die in dem Augenblick lebendig und wirksam werden, wo sie aus dem Unterbewußtsein der Völker hervorspringen und als bestimmender Grundsatz verkündet werden. Wenn je die Führer großer Nationen nicht gewußt haben, was sie taten, so waren es jene alliierten und assoziierten Politiker, die als Kriegswaffe gegen Deutschland die Parole vom freien Selbstbestimmungsrecht der Völker erhoben. Mit ihm haben sie das Zeichen aufgerichtet, in dem fortan jedes unterdrückte Volk die Verheißung seiner Freiheit besitzt. Diese Verheißung gilt den Entwaffneten nicht minder, als den in Waffenmacht Starrenden. Sie ist selber eine Waffe, die ohne Krieg und Blutvergießen, allein durch die ihr innewohnende ungeheure moralische Kraft, zu wirken imstande ist. Das Selbstbestimmungsrecht wird den töten, der ihm auf die Dauer widerspricht, und es wird den lebendig machen, der unerschüttert daran glaubt.

Der großdeutsche Gedanke bedeutet keine Vergewaltigung Anderer, sondern er bedeutet nur die Verwirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung für alle Deutschen - sei es im Sinne einer Willenserklärung über die staatliche Zugehörigkeit, sei es der Zugehörigkeit zur gesamtdeutschen Kulturgemeinschaft. Die Vorstellung ist absurd, als ob das deutsche Volk Länder für Deutschland zurückfordern wollte, die früher einmal deutsches Reichsgebiet waren, in denen sich aber seit Jahrhunderten ein selbständiges Volksgefühl gebildet hat, wie in Holland und der deutschen [14] Schweiz, oder als ob Gebiete beansprucht würden wie die alte Ordenskolonie zwischen dem Memel- und dem Narwafluß. Kein Deutscher mißgönnt den Letten, Esten oder Litauern ihren nationalen Staat. Nur fordert er, daß dieser auch ihm nicht mißgönnt werden möge. Was für die Grenzdeutschen verlangt werden muß, ist Freiheit der Entscheidung, wohin sie staatlich gehören wollen. Das Recht aber, auf das die echten deutschen Minderheiten in der Zerstreuung einen Anspruch haben, ist die Freiheit, ihre Sprache, ihre Sitte, ihre Schule, ihre Presse und alles das zu bewahren, was sie zur Erhaltung ihres Deutschtums brauchen. Dafür ist ihre Gegenleistung Loyalität gegen den Staat und das Volk, in dessen Grenzen sie leben, und Gebrauch ihrer materiellen und geistigen Arbeitskraft für den Fortschritt des Gemeinwesens, dem sie als nationale Minderheit angehören.


Da wir uns auf den folgenden Blättern mit dem Begriff der Minderheiten, vor allen Dingen der deutschen Minderheiten fortdauernd werden zu beschäftigen haben, so sei auch hierüber noch eine kurze grundsätzliche Erörterung vorangestellt. Auf die Frage nach dem Wesen der Minderheit lesen wir bei einer Autorität wie dem Grazer Juristen Lenz (Dr. Adolf Lenz, Die deutschen Minderheiten in Slowenien, Graz 1923, S. 24 ff.) die folgenden, durch ihre Kürze und Klarheit ausgezeichneten Sätze:

      "Aus dem politischen Anspruch eines Volkes, sein Schicksal selbst zu bestimmen, würde in positiver Hinsicht folgen, daß jedes Volk seine Selbständigkeit in einem eigenen Staatswesen erlangen muß, und in negativer Hinsicht, daß kein Teil des Volkes unter fremder Staatsgewalt zu leben braucht. Dies alles, wenn und soweit ein darauf gerichteter völkischer Wille gegeben ist. Dieser völkische Anspruch muß als in seiner Reinheit unrealisierbar erkannt werden, wenn man bedenkt, daß die historisch überkommenen Wohnsitze der Völker nicht das Produkt ihres eigenen Willens, sondern vielfach der Gewalt eines stärkeren Nachbarn sowie der geographischen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten sind. Dazu kommt noch, daß die Besiedlung eines Staatsraumes mit einem Volke nicht überall erfolgt ist und vielfach wegen gemeinsamer Kolonisation nicht erfolgen konnte. So sind Mischzonen entstanden, in denen entweder bereits die erste Besiedlung von mehreren Völkern gemeinsam erfolgte oder doch eine spätere Nachbesiedlung durch ein anderes Volk geschah. Derart finden sich selbst im sonst geschlossenen Siedlungsgebiet des einen Volkes Sprachinseln des anderen Volkes. Es entsteht mit Notwendigkeit die völkische Minderheit als das Ergebnis historischer Entwicklung und geographischer wie wirtschaftlicher Notwendigkeiten. In neuerer Zeit hat insbesondere der Zug aller Völker zum Meere mit seiner unbegrenzten Möglichkeit des wirtschaftlichen Aufschwunges zur Völkermischung und zu Wirtschaftswegen über fremdes Staatsgebiet geführt und damit die Entstehung von Minderheiten gefördert. Das Vordringen der Völker mittels militärischer Gewalt hat die Staatsgrenzen vielfach ohne Rücksicht auf die Volkszugehörigkeit der Randbevölkerung zu strategischen, das heißt den Erfordernissen der Verteidigungsfähigkeit entsprechenden, gemacht.
      Derart entsteht für eine rechtliche Ordnung im national gemischten Staate mit Notwendigkeit das Problem des Minderheitenrechtes. Es ist die Frage nach Wahrung der Eigenart des zahlenmäßig dem Mehrheitsvolk unterlegenen Minderheitsvolkes. Die demokratische Regierungsform hat dieses Problem zu einem brennenden dort gestaltet, wo die Minderheit [15] kulturell und insbesondere wirtschaftlich der Mehrheit überlegen ist. Hier kann die Eigenart der Minderheit zu einem steten Kampfe gegen die bevorrechtete Mehrheit führen...
      Der Minderheitenschutz in national gemischten Staaten kann zunächst innerpolitisch dadurch gelöst werden, daß es zu einer einverständlichen Regelung des Rechtsverhältnisses unter den mehreren Volksstämmen des Staates kommt. Derart ist die Schweizerische Eidgenossenschaft zu einer Einheit geworden, bei der eine Irredenta weder im deutschen noch im französischen noch im italienischen Teile entstand.
      Eine solche Lösung kann aber dort nicht erfolgen, wo von vornherein nur ein Teil der vielen im Staate lebenden Völker oder Volksteile zur Staatsgründung und Staatserhaltung herangezogen wurde (so in Jugoslawien, Rumänien, in der Tschechoslowakei, Polen)... Der Minderheitenschutz ist den auf dem Boden der österreichisch-ungarischen Monarchie entstandenen Nachfolgestaaten sowohl im Interesse des allgemeinen Friedens, wie im Verfolge der französischen Politik, Klientelstaaten gegen die deutsche »Expansion nach Osten« zu schaffen, auferlegt worden. Sollten die Tschechoslowakei und Südslawien die ihnen politisch zugedachte Rolle der »kleinen Entente« gegenüber Deutschland und Österreich erfüllen, so mußten sie durch die Gewährung des Minderheitenschutzes derart lebensfähig erhalten werden, daß nicht innere Unruhen und eine Sprengung der Neugebilde durch eine irredentistische Bewegung der Minderheiten zu gewärtigen war. Nach Ansicht der alliierten und assoziierten Hauptmächte sollte die Stabilität der Tschechoslowakei und Südslawiens durch den Minderheitenschutz gestärkt werden. Nach Anschauung der herrschenden Mehrheitsvölker in beiden Staaten (und ebenso in Rumänien und Polen. R.) aber wird der Minderheitenschutz als eine auferlegte, ungern gewährte Belastung eines Nationalstaates empfunden."

In diesen Ausführungen ist bereits Bezug darauf genommen, daß in den Friedensverträgen nach dem Weltkriege etwas einem Schutz der Minderheiten ähnliches verordnet ist. Wir fügen zu den Sätzen von Lenz noch hinzu, daß insbesondere der Anspruch der deutschen Minderheiten in den Staaten, die durch den Weltkrieg entweder geschaffen oder durch Gebiete mit deutscher Bevölkerung vergrößert wurden, geschichtlich und moralisch auf zwei unbestreitbaren Tatsachen beruht. Die erste dieser Tatsachen ist, daß die deutsche Bevölkerung, um die es sich handelt, entweder auf altem deutschen Volksboden sitzt, der vom Ganzen abgerissen und einem fremden Staate überliefert wurde - oder auf einem Boden, wohin ihre Vorfahren von den früheren Herrschern des Landes eingeladen wurden, um ihn zu besiedeln, zu kultivieren und zu schützen. Die zweite Tatsache aber ist, daß die Deutschen diese Kulturaufgabe an allen in Betracht kommenden Stellen mit dem größten Erfolg und zum unbezweifelbaren Nutzen des Landes, in das sie berufen wurden, gelöst haben.

Diese beiden Sätze sind für unsere Auffassung des Rechts der deutschen Minderheiten in den verschiedenen europäischen Ländern, wo sie entweder auf gewaltsamem und unnatürlichem Wege, durch Zerreißung des gewachsenen deutschen Volksverbandes, oder auf natürlichem geschichtlichen Wege entstanden sind, durchaus grundlegend. Der Leser wird bemerken, daß durch das ganze folgende Werk [16] hindurch die Linie der Beweisführung auf Grund des geschichtlichen und des durch Kulturleistungen bewährten nationalen Rechts festgehalten ist. Die deutschen Minderheiten, die jetzt verfolgt und bedrückt werden, sind nirgends Eindringlinge, sondern der Grund und Boden, auf dem sie sitzen und den sie verteidigen, ist ihr geheiligtes, nach dem natürlichen wie nach dem formalen Recht ihnen zustehendes Erbe. Weil das so ist, darum hat auch niemand das Recht, sie von diesem Boden zu verdrängen oder sie durch Entnationalisierung in ihrem Volkstum zu bedrohen. Volkstum und nationales Kulturbewußtsein sind die höchsten irdischen Güter, die ein Mensch besitzen kann. Aus ihm quellen, direkt oder indirekt, seine Befähigung und sein Wille zu allem Großen und Guten. Darum ist es ein Verbrechen, ihn darin zu bedrohen oder zu berauben.

Das natürliche und das geschichtliche Recht nicht nur der Minderheiten auf die Bewahrung ihres Volkstums, sondern überhaupt der Völker auf Unversehrtheit und auf Selbstbestimmung über ihre staatliche Zugehörigkeit ist auch während des Krieges von den späteren Siegerstaaten in bestimmter und verbindlicher Form anerkannt, ja ausdrücklich als eine Grundlage des zu schließenden Friedens proklamiert worden. Das hierauf sich beziehende Material ist im Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie (Verlag von Walter de Gruyter & Co., Berlin und Leipzig 1923, 3. Lieferung, S. 82 ff.) von Laun zusammengefaßt worden. Im Abschnitt IV dieses Artikels heißt es gleich zu Beginn:

      "Während in beiden Lagern und in neutralen Ländern führende Geister untersuchten, wie die nationale Frage im künftigen Frieden und im künftigen Völkerbund einer Lösung zuzuführen sei, haben die Sieger, in deren Händen nun alles lag, feierliche Versprechen zur Lösung dieser Frage gemacht. Die Grundlage bildet die Formel »Selbstbestimmung der Völker«. Die Formel war schon vor dem Kriege nichts Unbekanntes. So hat z. B. die deutsche Sozialdemokratie Böhmens bereits im Jahre 1908 gegen die Übergriffe der tschechischen Mehrheit und der »volksfremden Bürokratie« das »Selbstbestimmungsrecht der deutschen Nation in Böhmen« gefordert (Manifest: An das deutsche Volk in Böhmen, vom 31. Oktober 1908). Die oben geschilderte nationale Propaganda der gegnerischen Mächte während des Krieges wußte zunächst kein anderes Schlagwort als die »Unterdrückung« und »Befreiung« der »kleinen Nationen«. In der russischen Revolution wurde nun plötzlich die Formel von der »Selbstbestimmung der Völker« zum Gemeingut. Diese Formel wurde von der bürgerlich-pazifistischen Strömung, die in den national gesättigten Weststaaten eine große Bedeutung hatte und auch jetzt hat, aufgegriffen und propagandistisch gegen die Zentralmächte verwertet und wurde schließlich zum Gegenstand formeller Zusagen der alliierten und assoziierten Mächte.
      Durch diese Zusagen sind die bekannten Kundgebungen des Präsidenten Wilson nachträglich zu rechtsverbindlichen, alle alliierten und assoziierten Mächte verpflichtenden Willenserklärungen geworden. Diese Kundgebungen haben unter anderem die Verwirklichung der Selbstbestimmung der Völker versprochen. Die hierher gehörigen Erklärungen Wilsons sind namentlich die vier Punkte der Kongreßrede vom 11. Februar 1918, Punkt 2 der Mount-Vernon-Rede vom 4. Juli 1918 und Punkt 1 der Rede in New York vom 27. September 1918.
      Besonders hervorzuheben sind Punkt 2 der an erster Stelle und Punkt 2 der an zweiter Stelle genannten Rede. Der erstere fordert, daß Völker und Provinzen nicht von [17] Staatshoheit zu Staatshoheit herumgeschoben werden wie Gegenstände oder wie Steine in einem Spiel ("that peoples and provinces are not to be bartered about from sovereignty to sovereignty as if they were mere chattels and pawns in a game"); der zweite verlangt unter anderem die Regelung aller Gebiets- und Souveränitätsfragen auf der Grundlage der freien Annahme dieser Regelung seitens des unmittelbar betroffenen Volkes ("the settlement of every question, whether of territory, of sovereignty... upon the base of the free acceptance of that settlement by the people immediately concerned"). Was immer diese beiden Erklärungen sonst bedeuten mögen, jedenfalls schließen sie gewaltsame Annexionen aus."

Laun berührt hiernach noch die berühmten vierzehn Punkte, notiert die logischen Fehler, an denen sie kranken, namentlich in bezug auf Elsaß-Lothringen, und fährt dann fort:

      "Alle diese Erklärungen Wilsons haben beide Parteien bereits in den Vorverhandlungen zum Waffenstillstandsvertrag mittels beiderseitig erklärter Willensübereinstimmung als Voraussetzung des Abschlusses des Waffenstillstandes angenommen, so insbesondere die alliierten und assoziierten Mächte in den Noten des Staatssekretärs Lansing vom 23. Oktober und 5. November 1918. Daher waren diese Kundgebungen in rechtsgültigen einer Ratifizierung nicht bedürftigen Kriegsverträgen rechtsverbindlich zu den Grundlagen der bei Beendigung des Krieges zu schaffenden neuen Ordnung, zu »Friedensbedingungen« ("terms of peace", Note Lansings vom 23. Oktober) des zu schließenden Friedens gemacht. Beide Parteien waren völkerrechtlich verpflichtet, das darin enthaltene nationale Programm durchzuführen und auch gegen sich gelten zu lassen... Was endlich Punkt 1 vom 27. September anbelangt, so kann in dem Zusammenhang des Wilsonschen Programms unter »equal rights« unmöglich die rein formale »Gleichheit vor dem Gesetze«, d. h. im Völkerrecht die gleiche Anwendung aller beliebigen, inhaltlich etwa noch so verwerflichen Verträge auf alle gleicherweise betroffenen Staaten gemeint sein, was übrigens auch sprachlich schlecht ausgedrückt wäre, sondern der Punkt erhält nur dann einen Sinn, wenn man unter equal rights die vollkommene Gegenseitlichkeit versteht. Dies ist namentlich für den Schutz nationaler Minderheiten von Bedeutung."

Laun zieht nunmehr aus diesen ebenso klaren wie unbezweifelbaren Tatsachen und Argumenten die Schlußfolgerung, daß mit der Unterzeichnung des Vertrages über den Waffenstillstand eine "den weitaus größten Teil der Völkerrechtsgemeinschaft verpflichtende" völkerrechtliche Norm in Kraft getreten ist, nach der die Gebietsfragen nur auf Grund der freien Annahme ("free acceptance" nach Wilson) der unmittelbar betroffenen Bevölkerung gelöst werden dürfen, und ferner Fragen des Schutzes der nationalen Minderheiten nur nach dem Grundsatz der "equal rights", der vollen materiellen Gegenseitigkeit, für alle beteiligten Völker. Im folgenden Abschnitt V werden die Friedensverträge nach der Richtung hin geprüft, ob und wie weit sie den vorher gemachten verpflichtenden Zusagen entsprechen. Es heißt:

      "Die alliierten und assoziierten Mächte haben jedoch ihr bei den Waffenstillstandsverhandlungen gegebenes Wort nicht eingelöst. In Paris haben tatsächlich Unrichtigkeiten und Irrtümer über die feierlich übernommenen völkerrechtlichen Verpflichtungen gesiegt. Wie weit und aus welchen Beweggründen hierbei die ursprünglichen Absichten geändert worden sind [18] und wie weit schon die ersten Versprechungen nicht so gemeint waren, wie sie gelautet hatten..., dies vollkommen klarzustellen, muß der geschichtlichen Forschung der Zukunft überlassen werden. Aber was wir schon heute mit Sicherheit wissen, genügt, um die ungeheure Bedeutung der nationalen Frage für das Verständnis der Friedensverträge darzutun. So wissen wir beispielsweise aus dem berühmt gewordenen Buche von John Maynard Keynes, Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages, daß die Behandlung der deutsch-österreichischen Frage in den Friedensverträgen auf eine Irreführung Wilsons durch Clemenceau zurückzuführen ist... Die Regierung Clemenceau hat aber für ihre Haltung in der deutsch-österreichischen Frage keine andere Begründung angeben können, als die »Rechte über die Besiegten«... Ebenso kennen wir das »Memoire III« der tschechoslowakischen Delegation auf dem Friedenskongreß, das mittels einer ganzen Reihe außerordentlich weitgehender tatsächlicher Unrichtigkeiten, die in der neuen Geschichte der Völkerbeziehungen ihresgleichen suchen, und durch Verschweigung alles dessen, was den Deutschen ein Recht der Selbstbestimmung im Sinne des Wilsonschen Programms gewährt hätte, die Annexion deutschen Sprachgebietes mit weit über drei Millionen Deutschen durch die Tschechoslowakei herbeigeführt hat (das »Memoire III« ist zuerst in der Prager deutschen Zeitung Bohemia vom 10. - 19. Oktober 1920 abschnittsweise veröffentlicht worden...)."

In den Friedensverhandlungen versuchten Deutschland und Österreich, den unter Bruch des Vorvertrages über den Frieden erklärten Annexionszielen der Gegner ein nationales Programm der Selbstbestimmung, Gleichheit und Gegenseitigkeit entgegenzusetzen. Deutschland schlug in einem von ihm eingebrachten Völkerbundsentwurf den folgenden Punkt (54) vor:

      "Den nationalen Minderheiten innerhalb der einzelnen Völkerbundsstaaten wird ein nationales Eigenleben, insbesondere in Sprache, Schule, Kirche, Kunst, Wissenschaft und Presse verbürgt. Über die Durchführung dieses Grundsatzes entscheidet ein besonderes Abkommen, das vornehmlich bestimmt, in welcher Weise das Recht der Minderheiten vor den Organen des Völkerbundes geltend gemacht werden kann."

Die deutsche Friedensdelegation in Versailles hat in ihrer Note vom 29. Mai 1919 in dem Abschnitt "Territoriale Fragen" verlangt, daß das Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht nur zuungunsten Deutschlands Anwendung finden dürfe, es müsse vielmehr in allen Staaten gleichmäßig gelten. Im einzelnen wurden genauere Vorschläge gemacht, wie z. B. daß in Abstimmungsgebieten bei der Festsetzung der Grenze nicht mehr deutsche Angehörige unter die Herrschaft des erwerbenden Staates gelangen sollten, als Angehörige dieses Staates unter deutsche Herrschaft. Mit Recht bemerkt Laun, daß Deutschland den Ruhm hat, der erste Staat zu sein, der für eine allgemeine Lösung der nationalen Frage im Völkerrecht auf der Grundlage der vollkommenen Gleichheit und Gegenseitigkeit eingetreten ist. Auch Österreich machte ausführlich und bis ins einzelne begründete Vorschläge. Alle Noten und Denkschriften der Mittelmächte, die in Versailles wie die in St. Germain vorgelegten, wurden von den Gegnern unbeachtet gelassen. Es ist unmöglich, Laun die Zustimmung zu versagen, wenn er die auf Gewalt, Irrtümer und Unrichtigkeiten gestützten Friedensbedingungen, die fast in allen Punkten den Grundsatz der Selbst- [19] bestimmung verhöhnen, die nur durch die äußersten Drohungen zum Inhalt von Vertragsurkunden geworden sind, unter denen erzwungene Unterschriften stehen, als innerlich nicht verpflichtend ansieht. Die Gebietsfragenwaren völkerrechtlich bereits grundsätzlich im Sinne der "freien Annahme durch die betroffene Bevölkerung", der Minderheitsschutz durch den Grundsatz der Gegenseitigkeit, geregelt.

      "Daher war der durch jene Drohungen ausgeübte Zwang ein rechtswidriger. Es war nicht mehr die völkerrechtlich zulässige Gewalt einer kriegführende Partei gegen die andere, sondern die vollkommen unzulässige Gewalt eines Kontrahenten gegen den anderen, der sich im Vertrauen auf das im Waffenstillstandsvertrag gegebene Wort seiner letzten, ihn noch schützenden Waffen entäußert hatte. Wollte man Nachtragsforderungen des Stärkeren für rechtmäßig halten, so käme man folgerichtig zu dem Ergebnis, daß jeder siegreiche Staat auch nach unterzeichnetem und ratifiziertem Friedensvertrag nach Belieben immer wieder mit neuen Ansprüchen an den Besiegten herantreten darf, kurz, daß jeder völkerrechtliche Vertrag nur den Schwächeren bindet...
      Nichts anderes haben die alliierten und assoziierten Mächte getan, als sie die bindende Kraft der von ihnen unterzeichneten Kriegsverträge zwar für Deutschland, nicht aber für sich anerkannten. Mit der Androhung des Zwanges, durch welche Deutschland zur Unterfertigung des Friedensvertrages von Versailles genötigt worden ist und die weiter besteht, solange Deutschlands Abrüstung den Rüstungen seiner Gegner gegenübersteht, haben die alliierten und assoziierten Mächte den Zweck verfolgt, sich selbst Vorteile zu verschaffen, auf welche sie nach Völkerrecht keinerlei Rechtsanspruch hatten. Es liegt unerlaubte vis compulsiva (Vergewaltigung) vor. Damit sind nicht nur die moralischen, sondern auch die juristischen Grundlagen des Friedensvertrages vollständig erschüttert... Die Menschheit ist vor die Wahl gestellt, entweder diesen »Friedensvertrag« und die auf ihn gebauten späteren Verträge und sonstigen Akte zu beseitigen und zu den Grundsätzen der Selbstbestimmung, Gleichheit und Gegenseitigkeit zurückzukehren, oder einen Zustand der Machtverteilung weiter zu dulden, der immer wieder nur durch neue Gewalt und neue Unwahrhaftigkeit aufrechterhalten werden kann."

Laun führt aus, daß vom zusammenhängenden deutschen Sprachgebiet ohne Volksbefragung vom Reiche abgetrennt oder an der Vereinigung mit dem Reiche gewaltsam gehindert sind im ganzen mehr als 12 Millionen Seelen, ungerechnet die deutschen Sprachinseln und verstreuten deutschen Minderheiten. Man vergleiche diese 12 Millionen mit den etwas über 1½ Millionen, die Elsaß-Lothringen im Jahre 1871 hatte. Die Friedensverträge haben also allein in Bezug auf das deutsche Volk ein achtfaches Elsaß-Lothringen geschaffen, nur mit dem Unterschied, daß Elsaß-Lothringen ein wieder erobertes, ursprünglich deutsches, zu vier Fünfteln noch deutsch sprechendes Land war und daß Deutschland mit seiner Erwerbung 1871 keine Versprechungen brach und keine völkerrechtlichen Verpflichtungen verletzte. Auch andere Völker wurden auf ähnliche furchtbare und gewaltsame Weise durch die Friedensverträge verstümmelt wie das deutsche. Überall in Mittel- und Osteuropa lodern die nationalen Feindschaften: "Polen und Litauer, Polen und Ukrainer, Polen und Tschechen, Tschechen und Ukrainer, Tschechen und [20] Madjaren, Madjaren und Rumänen, Madjaren und Südslawen, Südslawen und Italiener, Südslawen und Albaner, Südslawen und Bulgaren, Albaner und Griechen, Bulgaren und Griechen, Griechen und Türken usw." Sie alle fühlen sich vergewaltigt oder haben andere vergewaltigt, und wenn auch die in den Friedensverträgen diktierten Grenzen äußerlich respektiert werden, "so denkt der jeweils verkürzte Teil in seiner erdrückenden Mehrheit nicht im entferntesten daran, seine Konnationalen endgültig aufzugeben". Und zu dieser ungeheuren Vergiftung Europas infolge der Friedensverträge vergegenwärtige man sich noch das dem deutschen Volkstum durch den Druck der Versprechungen für das Selbstbestimmungsrecht zugefügte achtfache Elsaß-Lothringen! Wir schließen diesen Abschnitt mit der Charakteristik der Gegenwartslage bei Laun:

      "Aber all die geschilderte Systemlosigkeit der Friedensverträge ist nur scheinbar. Man kann in ihr klar zwei leitende Gedanken erkennen: erstens den Willen, das deutsche Volk möglichst zu zerstückeln, und zweitens den Willen, die vier wichtigsten Vasallenstaaten der Entente in Mittel- und Osteuropa, Polen, die Tschechoslowakei, Rumänien und den südslawischen Staat, durch bedeutende Annexionen fremdnationalen Gebietes zu stärken. Damit haben wir auch Einblick in die Entwicklungsgesetze gewonnen, welche der europäischen Politik der nächsten Zeit den Stempel aufdrücken dürften. So wie die Mitte des 19. Jahrhunderts von der nationalen Einigung Deutschlands und Italiens beherrscht ist und die folgenden Jahrzehnte bis einschließlich zum Weltkrieg von der nationalen Liquidation der Türkei, Österreich-Ungarns und Rußlands, so werden voraussichtlich die kommenden Jahrzehnte auf nationalem Gebiet hauptsächlich von zwei Ideen bewegt werden; Vereinigung Deutschlands mit seinen 12 Millionen Auslandsdeutschen und Zerlegung jener vier Vasallenstaaten in ihre nationalen Bestandteile. Dazu treten dann die anderen noch ungelösten Probleme, wie die Vereinigung der von Italien annektierten Slowenen und Kroaten mit ihren Konnationalen. Erst wenn die nationale Idee auch in allen diesen Punkten verwirklicht ist, wird sie Europa die Ruhe geben, die es braucht."

Soviel zur grundsätzlichen Einführung in die darstellenden Kapitel dieses Buches. Ihr Gegenstand ist mit den Worten umschrieben "Deutschtum in Not". Im Zustand der nationalen Not befinden sich nicht nur die deutschen Minderheiten in fremden Staaten, sondern auch Österreich und Danzig, weil ihnen durch überlegene Gewalt verboten ist, ihrem deutschen Zuge "Heim ins Reich" zu folgen. Aus diesem Grunde gehört Österreich in unser Buch, wenn es auch nicht unsere Aufgabe sein kann, in seinem Rahmen eine österreichische Geschichte und Landeskunde zu geben, sondern nur einen zusammenfassenden Überblick, wie es entstanden ist und was es innerhalb des deutschen Volkstums bedeutet. Von den anderen Schauplätzen dagegen, wo ein "Deutschtum in Not" lebt, fordert jeder eine mehr ins Einzelne gehende Darstellung.

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Deutschtum in Not!
Die Schicksale der Deutschen in Europa außerhalb des Reiches.
Paul Rohrbach