Mitteldeutschland - Hermann Goern
Die Anhaltischen Lande und
Magdeburg
Vom Unterharz über die Elbe hinweg bis zum Fläming reichend,
breiten sich um die letzten Talstrecken der Saale und Mulde die Anhaltischen
Lande aus als Übergangsgebiet zwischen Obersachsen und
Niedersachsen mit der Mark. Laubwälder der Harzberge, Romantik des
steilwandigen Saaletales um Bernburg herum, ausgedehnte Auen mit uralten
Eichenbeständen im Überschwemmungsgebiet des Elbstromes,
Kultursteppe auf dem fetten Boden schwarzerdiger Lößschicht und
weite Kiefernheide auf kargem märkischen
Sand - so vielfältig auch das Gesicht der einzelnen Landschaften ist,
sind sie doch durch die fast 1000jährige Geschichte des Hauses Askanien
miteinander verbunden, dessen Glieder bis in die jüngste Vergangenheit
hier regiert haben. Ursprünglich rein niederdeutsches Sprachgebiet, wird es
seit dem 14. Jahrhundert allmählich von der
obersächsisch-thüringischen Mundart erobert und die Sprachgrenze
mit dem zurückweichenden niedersächsischen Bauernhaus immer
weiter nach Norden hinauf verlegt. Damit wird auch jene bis in die Vorgeschichte
zurückreichende Stammesgrenze verwischt, die mit dem Vorkommen der
auf schwedischen Granitfindlingen beruhenden Megalithkultur der großen
Steingräber zugleich den Südrand der Eiszeitausdehnung bezeichnet.
Seit der Jungsteinzeit ist der fruchtbare und schon immer waldfreie Boden
besiedelt gewesen und hat durch die reiche Hinterlassenschaft der
aufeinanderfolgenden und hier sich oft genug kämpferisch begegnenden
Kulturen besonders das Bernburger Gebiet zu einem wichtigen Revier der
Vorgeschichte gemacht, dessen bedeutendste Fundorte (Bernburg, Latdorf,
Walternienburg) zu Leitnamen geworden sind. Ging es in diesen Zeiten
frühester Kulturen der Illyrer, Kelten und Germanen vor allem um die
Auseinandersetzung zwischen Norden und Süden, so wendet sich seit der
Völkerwanderungszeit die Front nach Osten hin, wo die den fortziehenden
Germanen nachdrängenden Slawen sich inzwischen bis zur
Elb-Saale-Linie festgesetzt hatten. Nach der karolingischen Gründung der
Sorbischen Mark wird die Offensive jenseits der Ströme vorgetragen. Aus
den Heervölkern dieser größten Kolonisationskriege deutscher
Geschichte ragt drohend und gewaltig die Gestalt des Markgrafen Gero hervor,
dessen starker Hand Kaiser Otto I. die gesamte Ostmark unterstellte.
Zwischen Saale und Bode begütert, steht er am Beginn der Geschichte des
Landes. Seine Nachfolgeschaft tritt das Haus Askanien an, das mit Albrecht dem
[527] Bären die
Höhe seiner Macht erreichte und im 13. Jahrhundert Anhalt die bis
heute bewahrte Ausdehnung gab.
Die von Westen nach Osten vordringende Erweiterung des Landes
läßt sich deutlich genug am Alter der Siedlungen und der Art ihrer
Gründung ablesen. Drei monumentale Bauwerke als Stiftungen des
sächsischen Hochadels sind aus der Kaiserzeit des frühen Mittelalters
erhalten. Nah beieinander im Westen sind sie gelegen, und nur eins erreicht die
Saalelinie. Am Anfang steht in Gernrode (Geronisroth) am Harzrand im
Schutze des Ramberges über einem lieblichen Waldtal die Cyriakuskirche
als ehrwürdige Stiftung des Markgrafen Gero. In diesem stolzen Bau,
dessen abweisend ernste Außenseite den Formenreichtum im Innern
verbirgt und wie kaum ein anderer den machtvollen Geist der Ottonenzeit zum
Ausdruck bringt, wurde der große Heerführer 965 nach seinem
Willen beigesetzt. Unweit davon hat Ballenstedt den Ruhm,
Geburts- und Begräbnisstätte Albrechts des Bären zu sein, der
hier nach der Germanisierung der Mark Brandenburg 1170 sein tatenreiches
Leben beschloß. Am Zusammenfluß von Saale und Bode steht in
Nienburg als Rest der gegen die Jahrtausendwende gegründeten
Benediktinerabtei eine weite Hallenkirche aus dem Ende des
13. Jahrhunderts. Das Kloster war als Lieblingsstiftung der Sachsenkaiser
mit riesigem Grundbesitz im Wendenlande ausgestattet und hat hervorragenden
Anteil an der Christianisierung dieses Gebietes gehabt. Die hohe lichte Kirche,
eins der vollendetsten Werke reifer Gotik auf deutschem Boden, bot dem
sächsischen Hochadel die letzte Ruhestätte. Im benachbarten
Hecklingen aber steht mit die schönste und am besten erhaltene
romanische Basilika des ganzen Harzgebietes. An ihren Pfeilern und Säulen
entfaltet die Schmuckfreudigkeit des 12. Jahrhunderts ihren ganzen
Reichtum, der seine Krönung in dem feierlichen Reigen der
flügelumrauschten Engelsfiguren mit den Seligpreisungen an den
Mittelschiffwänden erhält.
Als nach der Wiedereroberung die deutsche Macht im Slawenlande
endgültig gesichert war, setzte während des
13. Jahrhunderts - hauptsächlich mit flämischen
Kolonisten - die planmäßige Gründung von Städten ein,
die auch heute noch in Anhalt die bedeutendsten sind. Unter ihnen hat sich
Zerbst am treusten sein mittelalterliches Gesicht bewahrt in einer
hierzulande seltenen Geschlossenheit von Türmen und Toren, Mauern und
Wehrgängen, die den Beinamen des anhaltischen Rothenburg schon
rechtfertigen. Imponierend der Marktplatz mit dem Rathaus, dessen
überreich geschmückte spätgotische Backsteingiebel daran
erinnern, daß wir hier an der Schwelle Brandenburgs, Niederdeutschlands
stehen. Davor ein mächtiger Roland und dahinter Türme und steiles
Dach der weiträumigen, lichtdurchfluteten Hallenkirche St. Nikolai,
die mit der älteren Schwester St. Bartholomäi über ein
herrlich buntes Gewürfel altertümlicher Giebelhäuser blickt.
Anders wird das Bild, wo die heiteren Rokokofronten der Kavaliershäuser
auf die Schloßfreiheit schauen, die zu dem parkumhegten Prunkbau des
fürstlichen Residenzschlosses der
Anhalt-Zerbster Linie führt. Als nach den Verheerungen des
Dreißigjährigen Krieges sich Anhalt mit dem Großen
Kurfürsten verband, Georg II. sein General und [528] Statthalter der Mark
wurde, führte er auf dessen Wunsch auch eine Oranierin nach Dessau heim.
Mit ihr kamen die holländischen Künstler ins Land, die dem
Anhalter Barock das Gesicht gaben. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts
wurde der Neubau des Schlosses und der protestantischen Trinitatiskirche
großzügig mit prunkvoller Ausstattung aufgeführt. Aber das
glänzende Hofleben ist erloschen, und das ohnehin abseitig gelegene
Städtchen hat in seinem Dornröschenschlaf den Anschluß an
die neue Zeit - zu seinem Besten möchte man hier
sagen - verpaßt. Nur einmal hat die kleine Residenz die Blicke
Europas auf sich gezogen, als eine junge Prinzessin von hier aus ihren
Schicksalsweg antrat, um Katharina II., Kaiserin von Rußland zu
werden.
Ungleich rühriger und von fernher durch die Reihen seiner Schornsteine,
besonders der Solvay-Werke, sich als Industriestadt ankündigend ist
Bernburg. Um so angenehmer überrascht die Nähe mit dem
ungemein eindrucksvollen Stadtbild, wo von der Saale aus die
Straßenzüge einen steilen Berg hinanklimmen, auf dessen felsiger
Höhe das herzogliche Schloß thront. Eine ausgedehnte malerische
Anlage bedeutender Baulichkeiten aus dem
12. - 18. Jahrhundert um einen weiten Hof mit gewaltigem
runden Bergfried gruppiert. Eulenspiegel soll sich hier oben als Türmer
manch Schelmenstücklein geleistet haben, und im Zwinger wird nach alter
Tradition eine Bärenfamilie gehalten, das anhaltische Wappentier. Vom
Altan des Schlosses bietet sich auf den breiten Fluß und die Unterstadt mit
den beiden schönen gotischen Kirchen ein Blick, wie man ihn sonst nur im
oberen Saaletal anzutreffen gewohnt ist. Mächtig im Aufbruch begriffen
aus biedermeierlicher Beschaulichkeit ist auch Köthen inmitten
unabsehbarer Zuckerrübenfelder auf fettem Bördeboden. Wäre
nicht die im Verhältnis zum bescheidenen Formate der Stadt gewaltige
Jakobskirche, eine wundervoll weiträumige spätgotische
Hallenanlage, so würde sich dem ersten Blick sonst nichts Beachtliches
weiter einprägen. Aber dann steht man unvermutet vor der in ein
Gassengewirr gezwängten katholischen Marienkirche und kann nirgends
den rechten Abstand gewinnen zu der überaus modern anmutenden
Großheit der schlichten und strengen giebelgekrönten
Pfeilerstellungen an den Schauseiten. Diese monumentale Wirkung aber wird
noch weit überboten vom Innenraum mit seiner mächtigen,
mühelos gespannten Tonnendecke auf wuchtigen dorischen Säulen
und Pfeilern. Seine unpathetisch feierliche Großartigkeit macht diesen Bau
zu einem der reifsten Werke des deutschen Klassizismus überhaupt.
Bandhauer, aus Roßlau gebürtig, hat ihn 1826 für den letzten
Anhalt-Köthener Herzog errichtet,
der - sehr zum Unwillen seiner urprotestantischen
Landeskinder - unter dem Einfluß romantischer Ideen zum
Katholizismus übergetreten war. Sonst freilich empfanden die drüben
im gräbenumzogenen Schloß residierenden Herren kerndeutsch,
wofür die vom Fürsten Ludwig im 17. Jahrhundert
gegründete "Fruchtbringende Gesellschaft" zur Reinigung der deutschen
Sprache von der überwuchernden Fremdtümelei der beste Beweis ist,
und für ihren protestantischen Geist wie ihre Kunstfreudigkeit spricht es,
daß Johann Sebastian Bach von
1717 - 1723 hier Hofkapellmeister gewesen ist.
[529-544=Fotos] [545] Wenn
Köthen über Nacht durch eine kürzlich gegründete
große Zweigniederlassung der Junkerswerke wesentlich am Aufbau
deutscher Luftfahrt beteiligt worden ist, so hat kaum einer anderen Stadt die
Flugzeugindustrie ein so entscheidendes Gepräge gegeben wie
Deutschlands jüngster Großstadt Dessau. Wie bedeutend
auch die standortgebundene Zuckerindustrie, die Maschinenfabrikation, die
Askania-Werke oder die Holzindustrie im Vorort Alten für die Stadt sein
mögen - der Name Junkers
steht über allem. Seit ihm 1915 die
Erfindung des Ganzmetallflugzeuges gelang, ist aus dem kleinen Betriebe von
1892 eine riesige Werks-Stadt mit unübersehbaren Montagehallen um das
Hochhaus der Verwaltung entstanden. Nicht eine der vielbewunderten
Verbesserungen und Neuschöpfungen, die nicht aus diesen von
Grünflächen und Blumenbeeten umgebenen lichten
Konstruktionsbüros ihren Ausgang genommen hätte. Der Ruhm des
Werkes und seines Gründers kreist mit den gewaltigen Verkehrsmaschinen
um den Erdball. Serienweise stehen die eben fertig gewordenen Maschinen auf
dem Flugplatz, um dann über der Stadt die schöngeschriebenen
Kurven ihrer Probeflüge zu ziehen. Das Singen und Knattern der Motoren
ist die Begleitmusik der Gegenwart dieser Stadt, und die stolzen metallenen
Vögel sind hier vom Bild des Himmels so wenig wegzudenken wie
nächtens die Gestirne.
Aber noch ein anderes Bild steigt bei dem Namen dieser Stadt auf. Das ist die
stille Gegenwart alles dessen, was die musenfreundlichen Fürsten einst zur
Mehrung deutschen Kulturgutes beigetragen haben, wenn die große
Geschichte auch außer dem
"Alten Dessauer" sonst keinen aus der langen
Reihe der Fürsten verzeichnen mag, die hier seit 1341 residierten. Freilich
ist es 1626 unter Wallenstein und 1806 unter Napoleon an der Elbbrücke heiß genug hergegangen, und als Schill hier seinen flammenden Aufruf "An
meine in den Ketten eines fremden Volkes schmachtenden Brüder" drucken
ließ, war die Erregung groß. Aber einmal nur tritt aus dem Schatten
der Geschichte eine überragende Persönlichkeit hervor und macht die
unbedeutende Residenz neben Weimar zum künstlerischen und geistigen
Mittelpunkt Deutschlands. War es in Weimar Karl August mit Goethe, so hier der Herzog Leopold Friedrich Franz mit Erdmannsdorff, der die künstlerischen
Pläne seines Freundes und Bauherrn verwirklichte. Als "Vater Franz" geht
noch heute der Name des 1817 gestorbenen Fürsten von Mund zu
Mund.
[464]
Dessau. Die Marienkirche.
|
Aus der mittelalterlichen Epoche der damals - im Gegensatz zu Zerbst - sehr
kleinen Stadt hat sich Nennenswertes kaum erhalten, und die spätgotische
Hallenkirche von St. Marien stammt erst aus dem 16. Jahrhundert.
Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts bestimmen Barock und Rokoko das
Stadtbild, besonders in der weiträumigen Anlage des Großen Marktes
vor dem Schlosse. Das schöne Dessau mit seinen weitläufigen Parks
und den Schlössern darin ist erst die Schöpfung des Fürsten
Franz. Aber nicht nur die Stadt allein, sondern auch ihre nähere Umgebung
und alles übertreffend - Wörlitz. Wenn Reisende an
ihm bewunderten, daß er das ganze Land zu einem Garten umgewandelt
habe, so konnte sich der Fürst damit nicht besser verstanden wissen. Wie
kein [546] anderer neben ihm hat
er, dem Geist der Zeit entsprechend, Rousseaus revolutionäre Forderung
"Zurück zur Natur" zu verwirklichen versucht. Nichts konnte daher seinem
Wesen mehr zuwider sein als die Tändelei und Verantwortungslosigkeit des
Rokoko. Wenn er seine Gärten aus der Landschaft entstehen ließ,
sich ihr fügte, so war das keine fürstliche Laune oder Willkür,
sondern das Bestreben, den Menschen und sein Haus wieder in unmittelbare
Fühlung mit der Natur zu bringen und ihn dadurch auf sich selbst zu
stellen, ihn frei und - gut zu machen. Als echtem Fürsten der
Aufklärung standen ihm die landesväterlichen Pflichten obenan, in
jedem Sinne und vor allem in der Kunst. So durfte im Wörlitzer Garten,
von ernst ragenden Pappeln bestanden, eine
Rousseau-Insel nicht fehlen. Die Inschrift auf dem Monument ist nicht nur das
Programm für die Gartengestaltung, sondern der Leitsatz für den
Fürsten selbst: "Dem Andenken J. J. Rousseaus...., der die
Witzlinge zum gesunden Verstande, die Wollüstlinge zum wahren
Genusse, die irrende Kunst zur Einfalt der Natur.... zurückverwies." Wie
modern klingt das! Wenig weiter begegnet der Kahn der "Herder-Insel"
als Denkmal für den deutschen Vorkämpfer für
freies Menschentum. Die Vorbilder zu seinen Landschaftsgärten hat der
[481]
Wörlitz. Partie im Park.
|
Fürst in England, dem damals modernsten Land Europas, gesehen, und in
Wörlitz ist der erste Englische Garten in Deutschland entstanden,
bestimmend auch für Weimar. Nicht weniger entscheidend für den
Fürsten war ein längerer Aufenthalt in Italien, wo Winckelmann
selbst die tiefe Begeisterung an der Antike in ihm weckte. Nur von hier aus ist es
zu verstehen, wenn die Landschaft seiner ausgedehnten Gärten nun
überall mit Erinnerungsmälern an das gefeierte klassische Land
ausgestattet wird. Das weiße Schloß mit der großen
Säulenhalle im Grün des Wörlitzer Parkes ist die
meisterlichste Leistung Erdmannsdorffs
und 1773 der erste rein klassizistische
Bau auf deutschem Boden.
Gleichwertig neben der Verehrung der Antike steht aber die Hinneigung zum
deutschen Mittelalter mit der Wiedergeburt der Gotik aus dem Geiste der
Romantik. Auch hierfür fand der Fürst die Vorbilder in England. So
entstehen gleichzeitig neben klassizistischen Werken in der Umgebung nicht nur
neugotische Kirchen, sondern wie in der Oberförsterei Haideburg auch
profane Bauten, bei denen sich die Nutzbarkeit in gotische Stilformen hüllt
und mit der Ruinenschwärmerei der "empfindsamen Zeit" seltsam
verbindet. Das beste Beispiel hierfür bleibt immer das "Gotische Haus" von
1786 mit seinen reichen Kunstschätzen am See vor der Koniferenwiese aus
botanischen Seltenheiten. Klassik und Romantik, die stärksten
Strömungen der Zeit, die sich in Goethe unversöhnlich befehdeten,
hier in Wörlitz in wunderlicher Harmonie vereint zu sehen, gehört
mit zu den stärksten Bildungserlebnissen, die Deutschland zu bieten
vermag. Wie billig ist demgegenüber alle geistreichelnde Witzelei
über das freilich oft gedrängte Vielerlei von künstlichen
Felsen, Grotten und Brückchen, von Obelisken, Rotunden, Tempeln und
Einsiedeleien, von Urnen, Altären und Grabmälern mit der heute nur
schwer nachfühlbaren Symbolik ihrer empfindsamen Sprüche und
tiefsinnigen Ermahnungen. Gewiß ist das alles zeitgebunden, aber
unvergänglich bleibt mit schilfumflüsterten Seen und Teichen, mit
heimlichen [547] Buchten und
Kanälen unter tiefhängenden Zweigen, mit
blumenüberschütteten Wiesen zwischen heiteren Wäldchen
und riesigen vielfarbigen Baumgruppen, mit den beglückenden
Durchblicken auf anmutige Tempel und schimmernde
Schlößchen das Märchen vom Garten zu Wörlitz.
Wie ernst es der Fürst mit seinen landesväterlichen Pflichten
wirklich nahm, beweist u. a. die Aufmerksamkeit, die er besonders dem
Erziehungswesen widmete. Der viel umhergehetzte Basedow, der "Rousseau der
Teutschen", schien ihm die geeignete Persönlichkeit zur Schulreform in
seinem Lande. Unter Leitung dieses revolutionären Pädagogen wurde
hier 1774 das berühmte und auch vom Ausland besuchte "Philanthropin"
gegründet. Nach Stoffwahl und Art des Unterrichtes, durch das
kameradschaftliche Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern, wie
überhaupt den frischen Geist, der alles beseelte, glich es unseren
Landerziehungsheimen und nahm damit Gedanken vorweg, die erst heute in der
Breite verwirklicht werden. Zusammenfassend kann das Lebenswerk dieses
großen Fürsten eines kleinen Landes nicht besser gewürdigt
werden, als es die Zeit selbst getan hat, die unter seine Büste im
"Monument" zu Wörlitz die Inschrift setzte: "Gott erbauete er Kirchen. Der
Armut Hütten. Den Künsten und Wissenschaften würdige
Tempel. Alles Schönen Freund und Kenner. Alles Guten Förderer.
Seines Volkes Vater. Seines Landes zweiter Schöpfer. Dieses Gartens
Gründer."
Seine Zeit ist dahin. Aus der Stadt an der Mulde ist durch die Gründung
von Wallwitzhafen und Eingemeindung von Roßlau die Stadt an der Elbe
mit lebhaftem Schiffahrtsverkehr
geworden - und draußen in Wörlitz parken sonntags Hunderte
von Berliner Wagen, die eine Welle sprudelnden Lebens auf die gemessenen
Pfade der Empfindsamkeit werfen.
Trotz Junkers, Kali und Braunkohle ist das Gebiet aber auch heute noch ein echtes
Bauernland geblieben, wo der stämmige Nordthüringer mit starkem
niedersächsischen Einschlag den fruchtbaren Bördeboden bestellt.
Seitdem von Schlesien her die Zuckerrübe eingeführt ist, hat sich die
Provinz Sachsen - mit einem Drittel der deutschen
Produktion - zum Hauptzuckerversorger des Reiches emporgearbeitet. Die
langen Kolonnen der Rübenwagen, die ihre Ernte zu den Zuckerfabriken
fahren, während die Dampfpflüge die endlosen Felderbreiten neu in
schwarzglänzende Schollen legen und Fasanenvölker in die
spärlichen Gehölze flüchten
lassen - sind das gewohnte herbstliche Bild. Dazu gesellen sich
überall eingestreute Braunkohlenschächte und Tagebaue, die die
Weiterverarbeitung der Rüben au Ort und Stelle begünstigen. Auch Mommsens
Wort, daß "das Schaf der Rübe nachzieht", bewahrheitet
sich hier wieder. Denn tatsächlich weist
Sachsen-Anhalt die stärkste Schafhaltung Deutschlands auf und bringt bei
der Rohstoffknappheit das Gebiet auch als Wollversorger an führende
Stelle. Schließlich reicht es im Westen in das zwischen Magdeburg und
Hannover bis zum Harzrand sich ausbreitende Revier der "Salzlinien" des
versunkenen Zechsteingebirges hinein, wo das erst 1856 gegründete
Leopoldshall zusammen mit Staßfurt den Mittelpunkt
der deutschen Kaliindustrie bildet. Ursprünglich wurden nur die gewaltigen
in vielen Hunderten von Metern Mächtigkeit
an- [548] stehenden
Steinsalzlager ausgebeutet - die Hälfte des deutschen Salzes kommt
von hier - und das darüber "hangende" Kali als Abraum auf die
Halden gestürzt. Seit 1861 die erste Chlorkaliumfabrik gegründet
wurde, entstand damit eine chemische Industrie, deren vielfältige
Erzeugnisse heute kein technischer Betrieb mehr entbehren kann. Auch um
Aschersleben herum, an den Ausläufern des Harzes, ist es das
gleiche Bild: Fördertürme mit surrenden Seilscheiben, Schlote der
salzverarbeitenden chemischen Werke und weißleuchtende,
salzausblühende Halden, die von jedem Pflanzenwuchs gemieden werden.
Die lebhafte Industriestadt mit Maschinen- und Papierfabriken war schon im
Mittelalter ein wichtiger Ort als Dingstätte des Schwabengaues, und als
Zeugen großer Vergangenheit blicken die Reste einer Burg auf die
geräuschvolle Gegenwart - die Stammburg der Askanier.
Das natürliche Zentrum des Harzvorlandes im weitesten Sinne und des
Gebietes der mittleren Elbe ist Magdeburg, mit
300 000 Einwohnern die Hauptstadt der Provinz Sachsen und
Mitteldeutschlands größter Binnenschiffahrtshafen. Eine
königliche Stadt, wenn sie auch nie Residenz eines regierenden Hauses
gewesen ist. Königlich durch den sieghaften Aufstieg aus einem
rauchenden Trümmerhaufen, in den Tillys und Pappenheims Soldateska die
heldenhaft verteidigte Hochburg der Evangelischen verwandelte. Symbolhaft
für Deutschlands Aufstieg aus vielen Untergängen steht der
Zackenkranz der doppeltürmigen Kirchen, stehen die zahllosen
Schornsteine der hämmernden Werke über dem längs des
Stromes in der grünen Ebene ausgebreiteten unübersehbaren
Häusermeer. So ist der Blick, wenn man von Westen, von den reichen
Dörfern der Bördehöhe auf die Stadt zukommt. Hier, wo der
gewachsene Felsen unmittelbar in den Strom taucht und der Besiedlung immer
eine hochwasserfreie Stätte bot, wo schon seit frühesten Zeiten die
Straßen des West-Ost-Verkehrs an der Elbfurt einen günstigen
Übergang fanden, sicherte auch eine Burganlage Karls des Großen
die östlichste Grenze des fränkischen Reiches.
Damit hebt die 1100jährige Geschichte der Stadt an, deren Wichtigkeit
für die Wiederdeutschwerdung des ostelbischen Landes sie zum
Lieblingskind Ottos des Großen
machte. War es seinem Vater Heinrich I.
gelungen, die siegreichen deutschen Waffen weit ins
Slawenland hineinzutragen, so setzte nun unter dem ersten deutschen Kaiser jene
großzügige und weitschauende Missionspolitik ein, die dem
Kolonialgebiet mit dem Christentum die deutsche Kultur brachte. Der
Ausgangspunkt hierfür war die Gründung des Moritzklosters, dessen
Kirche, zum glänzenden ottonischen Dom verwandelt, 968 zur Kathedrale
des Köln und Mainz im Range gleichen neuen Erzstiftes erhoben wird.
Wenn auch der heutige Bau, mit 114 Metern Länge der
größte Dom Mitteldeutschlands, nach dem Brande von 1207 im
wesentlichen ein Werk erst des 13. Jahrhunderts ist, so bleibt er doch auf
ewig dem Andenken des großen Kaisers geweiht, der hier mit seiner ersten
Gemahlin Edgitha bestattet liegt.
[482]
Magdeburg. Der Dom.
|
Im feierlichen Rhythmus schreiten die
gewaltigen, das turmhohe Mittelschiff tragenden Pfeiler hin zum Chor, der sich
mit dem umgürtenden Kapellenkranz und der wuchtigen Empore des
Bischofsganges darüber, mit der bis in die Gewölbe
hinaufreichenden Zone [549] der vielen Fenster zu
einer riesigen Krone für den toten Kaiser aufbaut. Bei allem Reichtum der
Formen im einzelnen - des Bilderbuches der Kapitelle und der vielfigurigen
Versammlung der heiligen Gestalten -, bei aller Weiträumigkeit steht
der Gesamteindruck des Baues unter einem tiefen wuchtenden Ernst, der
auszugehen scheint von der langen Reihe der Grabmäler all der geistlichen
und weltlichen Herren, die für die Geschicke der Stadt mitbestimmend
gewesen sind. Da stehen als älteste die berühmten Erzplatten der
heimischen Gießhütte des 12. Jahrhunderts mit den Bildern der
Bischöfe Friedrich von Wettin und Wichmann, von denen die
glänzendste Epoche des Magdeburger Kirchenstaates eingeleitet wird.
Wichmann, der Gegenspieler Heinrichs
des Löwen, aber wie er Bezwinger
der Wenden mit gefürchtetem Schwert. Da steht Mauritius selbst, der
ritterliche Heilige der Stadt, da stehen in der Vorhalle die klugen und
törichten Jungfrauen betörenden Wuchses, deren Freude und
Verzweiflung nie wieder so hinreißend dem Stein entrungen wurde. So
häufen sich aus allen großen Zeiten deutscher Kunst die Beispiele bis
hin zu den ruhmredigen Grabmälern des Barock und Rokoko. Dem Ernst
des Inneren entspricht die Wucht des Äußeren, dessen
burgähnliche Trotzigkeit von der Grenzwacht im Osten redet und ihren
zwingendsten Ausdruck in der ehernen Großartigkeit der
doppeltürmigen Westfront findet, die durch das Brusttuch ihres
Maßwerkschleiers eher erhöht als gemildert wird. Daß man den
ganzen Bau mit einem Blick und im rechten Abstand in sich aufnehmen kann, ist dem "Alten Dessauer"
zu danken, der den herrlich weiten Domplatz mit den
breiten Fronten der darumgelagerten Barockpaläste entstehen
ließ.
Still ist es im luftigen Kreuzgang des Domes, stiller noch im Kloster Unserer
lieben Frauen, dem ältesten Bauwerk Magdeburgs. Hoch steilt sich mit
zwei Rundtürmen das Westwerk seiner Marienkirche über dem
andrängenden Gassengewirr auf. Adlig abweisend und doch seltsam
anziehend, wenn das Grauwackengestein warm unter der Sonne aufleuchtet. Im
kühlgrünen romanischen Kreuzhof mit dem Rundtempel seines
Brunnenhauses unter alten Bäumen scheint die Zeit stillezustehen und
läßt den Geist des mächtigen
ehrgeizig-fanatischen Bischofs Norbert spüren, dessen
Prämonstratenser um 1200 mit diesem Kloster an der Spitze ihre
missionierende und kirchenbauende Tätigkeit bis nach Riga hinauf
ausdehnten.
[483]
Magdeburg.
Das Reiterdenkmal (1250) auf dem alten Markt.
|
Ein Gewinkel von Gassen, Steigen und Treppen mit traulich-bilderreichen Namen
wie Nadelöhr, Katzensprung, Fettehenne, Dreienbretzel, Krummer
Ellenbogen, Zeisigbauer, Schilderschlippe usw. führt zum Alten
Markt hinüber, wo vor dem Rathaus, im Angesicht
reichgeschmückter Barockfassaden, als Rechtssymbol das Reiterstandbild
eines Kaisers sich erhebt - dem Bamberger Reiter nach Art und Zeit sehr
nahe. Diesen wundervoll geschlossenen Bezirk überragt das stolze
Türmepaar der Johanniskirche mit ihrem riesigen steilen Dach. Am
eindrucksvollsten und wohl ihrer mittelalterlichen Ansicht am nächsten
zeigt sich das Bild der bürgerstolzen Stadt, die in der Hansezeit mit dem
Erzbischof erbittert um ihre Rechte kämpfte, von der Stromseite aus, wo
über dem Steilufer aus den Häuserzeilen die Türme der vielen
Kirchen gegen den Himmel stehen. [550] Als mächtigstes
Gemeinwesen im Mittelalter am Eingang zum Kolonialgebiet war sein Stadtrecht
für die meisten Neugründungen des Ostens (sogar Krakau und
Lemberg) noch bis zum Dreißigjährigen Kriege vorbildlich.
Daß sich die Stadt in ihrem Freiheitsdrange und echtem niederdeutschen
Selbstbewußtsein als erste der norddeutschen Städte der Reformation
angeschlossen hatte und gegen das vom Kaiser erlassene Interim mit einer
Vielzahl von Streitschriften anging, hat ihr zwar den Ehrennamen "unseres
Herrgotts Kanzlei" eingetragen, sie aber auch schließlich den
schwärzesten Tag ihrer Geschichte erleben lassen, jenen 10. Mai 1631, aus
dessen Verwüstung tatsächlich nur der Dom unversehrt hervorging.
Aber das gleiche Schicksal, das sie der unausdenkbaren Rache der Katholischen
auslieferte, schenkte ihr in Otto von Guericke, der als Sohn der Stadt ihre
grenzenlose Zerstörung miterlebt hatte, auch den Mann, der das Werk des
Wiederaufbaues in seine Hände nehmen konnte. Aber nicht nur als
Magdeburgs größter Bürgermeister ist er berühmt
geworden, sondern auch als großer Physiker, der die von ihm erfundene
Luftpumpe und das Experiment mit den Halbkugeln 1653 auf dem Reichstag zu
Regensburg dem Kaiser vorführte. Von entscheidender Bedeutung
für das Stadtbild wurde jedoch erst Fürst Leopold von
Anhalt-Dessau, der von 1702-1747 Gouverneur der bereits unter dem
Großen Kurfürsten gegründeten Festung war. Seiner Anregung
sind die Bauten am Domplatz, die Gestaltung des Elbufers und nicht zuletzt des
Breiten Weges zu verdanken. Jene repräsentativste Straße, die, dem
Stromlauf sich angleichend, dem Stadtplan seine klare Ausrichtung und leichte
Überschaubarkeit gibt.
Die eigentliche Hauptstraße Magdeburgs ist aber die Elbe selbst, ihr
Lebensstrom seit alters her. Denn hier, wo unmittelbar unter dem Domfelsen am
gefürchteten "Binger Loch" die langen Schleppzüge mit
Überseegut von Hamburg unter schwarzen Rauchfahnen bergwärts
keuchen und den von Böhmen und Sachsen herabkommenden begegnen,
zeigt sich mit seinen großen Umschlageplätzen am Hafen Magdeburg
am augenfälligsten als die mitteldeutsche Handelsstadt. Allerdings hat trotz
ihrer günstigen Lage und der Unterstützung noch durch das
fruchtbare, kohlen- und salzreiche Umland die 200jährige
Einschließung durch Festungsmauern die Entwicklung ihrer Kräfte
stark gehemmt, wozu noch der Nachteil kommt, daß die Hauptstrecke
Berlin - Hannover - Köln weit nördlich
über Stendal vorbeigeführt wurde. Doch die Gegenwart ist
bemüht, diesen Fehler der Wirtschaftsplanung auszugleichen. Der
Mittellandkanal, als fehlender Abschnitt der großen
Ost-West-Wasserstraße quer durch Deutschland, berührt Magdeburg
bei Rothensee. An dieser Stelle, wo der Kanal zur Elbe absteigt, überwindet
das Schiffshebewerk - eine ähnliche technische Großleistung
wie das von Niederfinow - den Gefälleunterschied von zehn Metern.
Durch den "Südflügel" wird mit dem Schlußglied des
Elster-Saale-Kanals auch Leipzig noch diesem Wasserstraßennetz
angeschlossen. Schon jetzt ist am Schnittpunkt bei Rothensee, in dessen
Nähe sich außerdem zwei Strecken der Reichsautobahn kreuzen,
Magdeburgs neuestes Industriezentrum im Entstehen, dem im Süden die
Werks-Stadt von Krupp-Gruson mit den anderen bedeutenden Firmen der
Schwerindustrie entspricht.
[551] Der Raummangel der
schnell anwachsenden Bevölkerung erforderte die Anlage ausgedehnter
Wohnbauten. Draußen in der Großsiedlung Wilhelmsstadt, wo die
vielen lichten Zeilen durchsonnter Häuserreihen, zu klaren geometrischen
Figuren vereint, ins frische Grün der Rasenflächen gezeichnet sind,
spricht sich der Bauwille der Gegenwart am selbstverständlichsten aus. Im
Reichspostgebäude und der Stadthalle im Rotehornpark erhebt er sich zu
monumentaler Größe, die neuen Erfordernissen sich fügend,
dem Wahrzeichen der Stadt, dem 700jährigen Dom, dennoch zeitlos
verwandt ist.
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