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Bd. 2: Teil 2: Die politischen Folgen des Versailler Vertrages

II. Politische Aufgaben des Völkerbundes   (Teil 5)

B) Das Abrüstungsproblem   (Teil 4)

4) Die Luftfahrt

Professor Dr. E. Everling
Technische Hochschule zu Berlin, Referent im Reichsverkehrsministerium


Auszug aus dem Versailler Vertrag.

Artikel 42.

      Es ist Deutschland untersagt, auf dem linken Ufer des Rheines und auf dem rechten Ufer westlich einer 50 km östlich des Flusses verlaufenden Linie Befestigungen beizubehalten oder anzulegen.

      Ebenso ist in der im Artikel 42 bezeichneten Zone die ständige oder zeitweise Unterhaltung oder Ansammlung von Streitkräften untersagt. Das gleiche gilt für jedwede militärischen Übungen und die Beibehaltung aller materiellen1 Vorkehrungen für eine Mobilmachung.

      Polen verpflichtet sich, dem Personen-, Waren-, Schiffs-, Boots-, Eisenbahnwagen- und Postverkehr zwischen Ostpreußen und dem übrigen Deutschland durch das polnische Gebiet einschließlich der Hoheitsgewässer völlige Durchgangsfreiheit zuzugestehen und ihm hinsichtlich der Verkehrserleichterungen oder -beschränkungen sowie in jeder anderen Hinsicht zum mindesten dieselbe günstige Behandlung zuteil werden zu lassen, wie dem Verkehr von Personen, Waren, Schiffen, Booten, Wagen, Eisenbahnwagen und Postsendungen, die polnischer Nationalität, polnischen Ursprungs, polnischer Herkunft, polnisches Eigentum sind oder von einem polnischen Abgangsort kommen; wird einer anderen Nationalität eine noch günstigere Behandlung als der polnischen gewährt, so ist diese Behandlung maßgebend.
      Die Durchgangsgüter bleiben von allen Zoll- oder ähnlichen Abgaben frei.
      Die Durchgangsfreiheit erstreckt sich auf den Draht- und Fernsprechdienst unter den Bedingungen, wie sie in dem im Artikel 98 vorgesehenen Übereinkommen festgelegt sind.


Bestimmungen über Landheer, Seemacht und Luftfahrt.

      Um die Einleitung einer allgemeinen Rüstungsbeschränkung aller Nationen zu ermöglichen, verpflichtet sich Deutschland, die im folgenden niedergelegten Bestimmungen über das Landheer, die Seemacht und die Luftfahrt genau innezuhalten.

      Die Einfuhr von Waffen, Munition und Kriegsgerät jeder Art nach Deutschland ist ausdrücklich verboten.
[160]   Dasselbe gilt für Anfertigung und Ausfuhr von Waffen, Munition und Kriegsgerät jeder Art für fremde Länder.

      Die Unterrichtsanstalten, Universitäten, Kriegervereine, Schützengilden, die Sport- oder Wandervereine, überhaupt Vereinigungen jeder Art, ohne Rücksicht auf das Alter ihrer Mitglieder, dürfen sich nicht mit militärischen Dingen befassen.
      Es ist ihnen namentlich untersagt, ihre Mitglieder im Waffenhandwerk oder im Gebrauch von Kriegswaffen auszubilden oder zu üben oder ausbilden oder üben zu lassen.
      Diese Vereine, Gesellschaften, Unterrichtsanstalten und Universitäten dürfen in keinerlei Verbindung mit dem Kriegsministerium oder irgendeiner anderen militärischen Behörde stehen.

      Alle Mobilmachungsmaßnahmen oder solche, die auf eine Mobilmachung hinzielen, sind untersagt.
      In keinem Falle dürfen bei Truppenteilen, Behörden oder Stäben Stämme für Ergänzungsformationen vorhanden sein.

      Deutschland darf Luftstreitkräfte weder zu Lande noch zu Wasser als Teil seines Heerwesens unterhalten.
      Deutschland darf längstens bis zum 1. Oktober 1919 eine Höchstzahl von 100 Wasserflugzeugen oder Flugbooten unterhalten, die, ausschließlich zur Aufsuchung von Unterseeminen bestimmt, zu diesem Zweck mit der nötigen Ausrüstung versehen sind und in keinem Fall Waffen, Munition oder Bomben irgendwelcher Art mitführen dürfen.
      Außer den in den vorgenannten Wasserflugzeugen oder Flugbooten eingebauten Motoren darf für jeden Motor eines jeden dieser Apparate ein einziger Reservemotor vorgesehen werden.
      Kein Lenkluftschiff darf beibehalten werden.

      Binnen zwei Monaten nach Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrags ist das Personal der Luftfahrt, das gegenwärtig in den Listen der deutschen Streitkräfte zu Land und zu Wasser geführt wird, demobil zu machen. Indessen darf Deutschland bis zum 1. Oktober 1919 eine Gesamtzahl von 1000 Mann, einschließlich Offiziere für die Gesamtheit der Verbände, fliegendes und nichtfliegendes Personal aller Formationen und Anstalten beibehalten und unterhalten.

      Bis zur völligen Räumung des deutschen Gebiets durch die alliierten und assoziierten Truppen sollen die Luftfahrzeuge der alliierten und assoziierten Mächte in Deutschland freie Fahrt im Luftraum sowie Durchflugs- und Landungsfreiheit haben.

      Während einer Frist von sechs Monaten nach Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrags ist die Herstellung und Einfuhr von Luftfahrzeugen und Teilen solcher, ebenso wie von Luftfahrzeugmotoren und Teilen von solchen für das ganze deutsche Gebiet verboten.
[161]       Mit Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrags ist das ganze militärische und Marineluftfahrzeugmaterial mit Ausnahme der in Artikel 198 Absatz 2 und 3 vorgesehenen Apparate den Regierungen der alliierten und assoziierten Hauptmächte auszuliefern.
      Diese Auslieferung hat an den von den genannten Regierungen zu bestimmenden Orten zu erfolgen; sie muß binnen drei Monaten beendet sein.
      Zu diesem Material gehört im besonderen dasjenige, das für kriegerische Zwecke im Gebrauch oder bestimmt ist oder im Gebrauch oder bestimmt gewesen ist, namentlich:
      Die vollständigen Land- und Wasserflugzeuge, ebenso solche, die sich in Herstellung, Ausbesserung oder Aufbau befinden.
      Die flugfähigen Lenkluftschiffe, ebenso solche, die sich in Herstellung, Ausbesserung oder Aufbau befinden.
      Die Geräte für die Herstellung von Wasserstoffgas.
      Die Lenkluftschiffhallen und Behausungen aller Art für Luftfahrzeuge.
      Bis zu ihrer Auslieferung sind die Lenkluftschiffe auf Kosten Deutschlands mit Wasserstoffgas gefüllt zu halten. Die Geräte zur Herstellung von Wasserstoffgas ebenso wie die Behausungen für Luftschiffe können nach freiem Ermessen der genannten Mächte Deutschland bis zur Auslieferung der Lenkluftschiffe belassen werden.
      Die Luftfahrzeugmotoren.
      Die Zellen (Ballonette und Tragflächen).2
      Die Bewaffnung (Kanonen, Maschinengewehre, leichte Maschinengewehre, Bombenwerfer, Torpedolanziervorrichtungen, Apparate für Synchronismus, Zielapparate).
      Die Munition (Patronen, Granaten, geladene Bomben, Bombenkörper, Vorräte von Sprengstoffen bzw. deren Rohstoffe).
      Die Bordinstrumente.
      Die Apparate für drahtlose Telegraphie, die photographischen und kinematographischen Apparate für Luftfahrzeuge,
      Einzelteile, die einer der vorstehenden Gattungen angehören.
      Das vorerwähnte Material darf nicht ohne ausdrückliche Ermächtigung der genannten Regierungen von Ort und Stelle verbracht werden.

      Der interalliierte Luftfahrt-Überwachungsausschuß vertritt die Regierungen der alliierten und assoziierten Hauptmächte in allem, was die Durchführung der Bestimmungen über die Luftfahrt betrifft.
      Dieser Ausschuß ist namentlich dazu berufen, den Bestand des auf deutschem Boden befindlichen Luftfahrzeugmaterials aufzunehmen, die Werkstätten für Flugzeuge, Ballons und Luftfahrzeugmotoren, die Fabriken von Waffen, Munition und Sprengstoffen, die von Luftfahrzeugen verwandt werden können, zu besichtigen, alle Flugplätze, Hallen, Landungsplätze, Parks und Lager zu besuchen und gegebenenfalls die Verbringung des erwähnten Materials an einen anderen Ort zu veranlassen und seine Auslieferung entgegenzunehmen.
      Die deutsche Regierung hat dem interalliierten Luftfahrt-Überwachungsausschuß alle Auskünfte und Unterlagen, deren Inhalt gesetzliche, Verwaltungs- [162] bestimmungen oder innere Dienstvorschriften bilden, sowie Unterlagen sonstigen Inhalts zu liefern, die er für nötig erachtet, um sich über die vollständige Durchführung der Bestimmungen über die Luftfahrt zu vergewissern, namentlich eine zahlenmäßige Aufstellung über das Personal im Dienste aller deutschen Flugverbände, ebenso über das vorhandene, in Fabriken befindliche oder bestellte Material, ferner eine vollständige Liste aller für die Luftfahrt arbeitenden Fabriken, ihrer Betriebsstätten, aller Hallen und Landungsplätze.

      Solange der gegenwärtige Vertrag in Kraft bleibt, verpflichtet sich Deutschland, jede Untersuchung zu dulden, die der Rat des Völkerbundes mit Mehrheitsbeschluß für notwendig erachtet.

      Die den alliierten und assoziierten Mächten angehörigen Luftfahrzeuge haben innerhalb des deutschen Gebietes und der deutschen Hoheitsgewässer volle Flug- und Landungsfreiheit und genießen dieselben Vergünstigungen wie deutsche Luftfahrzeuge, besonders in Notfällen zu Land oder See.

      Vorbehaltlich der Erfüllung der von Deutschland etwa erlassenen Vorschriften, die aber in gleicher Weise auf deutsche Luftfahrzeuge und solche der alliierten und assoziierten Länder anwendbar sein müssen, genießen die den alliierten und assoziierten Mächten angehörigen Luftfahrzeuge im Durchgangsverkehr nach irgendeinem anderen Land das Recht, ohne zu landen, das deutsche Gebiet und die deutschen Hoheitsgewässer zu überfliegen.

      Die in Deutschland angelegten und dem heimischen öffentlichen Luftverkehr offenen Flugplätze stehen auch den Luftfahrzeugen der alliierten und assoziierten Mächte offen; diese erfahren daselbst in bezug auf Abgaben jeder Art einschließlich Landungs- und Versorgungsgebühren die gleiche Behandlung wie deutsche Luftfahrzeuge.

      Vorbehaltlich der gegenwärtigen Bestimmungen ist das in den Artikeln 313, 314 und 315 vorgesehene Flug-, Durchgangs- und Landungsrecht an die Beobachtung derjenigen Vorschriften, die Deutschland zu erlassen für notwendig erachtet, geknüpft. Jedoch müssen solche Vorschriften unterschiedslos auf deutsche Luftfahrzeuge und solche der alliierten und assoziierten Länder angewandt werden.

      Die Staatsangehörigkeits- und Flugsicherheitsbescheinigungen, Befähigungszeugnisse und Lizenzen, die von einer der alliierten und assoziierten Mächte ausgestellt oder als gültig anerkannt sind, werden auch in Deutschland als gültig und den von Deutschland ausgestellten Bescheinigungen, Zeugnissen und Lizenzen gleichwertig zugelassen.

      Im inländischen Handelsluftverkehr genießen die den alliierten und assoziierten Mächten angehörigen Luftfahrzeuge in Deutschland gleiche Behandlung wie die meistbegünstigte Nation.
[163]       Deutschland sagt zu, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, daß jedes über deutschem Gebiet fliegende deutsche Luftfahrzeug die Vorschriften, betreffend Lichter und Signale, die Flugvorschriften und die Luftverkehrsbestimmungen für Flugplätze und deren Umgebung, beachtet, wie sie in dem von den alliierten und assoziierten Mächten abgeschlossenen Übereinkommen über die Luftfahrt festgelegt sind.

      Die durch die vorstehenden Bestimmungen auferlegten Verpflichtungen bleiben bis zum 1. Januar 1923 in Kraft, sofern nicht Deutschland zu einem früheren Zeitpunkt in den Völkerbund aufgenommen ist oder von den alliierten und assoziierten Mächten die Zustimmung zum Beitritt zu dem von ihnen abgeschlossenen Übereinkommen über die Luftfahrt erhalten hat.


1. Versailles und die Luftfahrt3

Die deutsche Luftfahrt kommt in der Versailler Urkunde unmittelbar oder mittelbar an sieben Stellen vor:

Artikel 42 und 43, die Befestigungen und Mobilmachungs-Vorkehrungen links des Rheins und in der 50km-Zone auf seinem rechten Ufer verbieten, sind von der Botschafterkonferenz erweitert dahin ausgelegt worden, daß in diesem Bereich auch Flughäfen nicht angelegt werden dürften.

Artikel 89 und 98 dagegen, die den Durchgangsverkehr zwischen Ostpreußen und dem Rumpfreich regeln, sind von Polen eingeengt dahin ausgelegt worden, daß es den Durchgangsverkehr zur Luft nicht dulden müsse.

Artikel 170 und 171, die die Herstellung und Ausfuhr von Kriegsgerät betreffen, sind für unsere Luftfahrtindustrie hemmend, weil sie ihr die Lieferung von Kriegsflugzeugen an andere Staaten von Deutschland aus unmöglich machen.

Artikel 177 und 178 verbieten militärische, also auch kriegsfliegerische Übungen von Unterrichtsanstalten, Universitäten und Vereinen.

Artikel 198, der Luftstreitkräfte untersagt, hat durch allzu scharfe Auslegung zu den schwersten Beschränkungen der Luftfahrt geführt.

Artikel 200, der den Militärluftfahrzeugen der Besatzungsmächte für die Dauer der Besetzung Überflugs-, Einflugs- und Landerecht gewährt, durchbricht die deutsche Lufthoheit nicht nur für das besetzte, sondern für das gesamte Reichsgebiet.

Die drei letzten Abschnitte des Artikels 198 und Artikel 199 sind überholt; sie betrafen die Demobilmachung, Artikel 202 die Ablieferung des deutschen Luftfahrgerätes, Artikel 201 ein sechsmonatiges, später verlängertes Bauverbot.

[164] Artikel 203 bis 210 regeln die Befugnisse der Überwachungsausschüsse allgemein; 210 bringt die Sonderbestimmungen für den Luftfahrtüberwachungsausschuß.

Artikel 213 gibt dem Völkerbundsrat die Möglichkeit einer Untersuchung; doch ist der Anwendungsbereich dieser "Investigation" strittig.

Artikel 313 bis 320, die auch den Zivilflugzeugen der Besatzungsmächte und sämtlicher übrigen Vertragsgegner Überflugs-, Einflugs- und Landerecht verliehen, sind am 1. Januar 1923 erloschen.

Dazu kommen die allgemeinen Bestimmungen der Urkunde über das besetzte Gebiet.

Diese Artikel treffen also mit ihren Auslegungen und Auswirkungen teils die Lufthoheit, teils die Luftmacht, teils die Luftfahrtindustrie und damit unsere Wirtschaft, teils die Bodenorganisation und damit die Sicherheit auch des ausländischen Luftverkehrs im Westen des Reichs, teils den Luftverkehr selbst, auch in seiner Zusammenarbeit mit dem Auslande, teils sogar den Flugsport.


2. Versailles und die deutsche Lufthoheit

Von den beiden einander gegenüberstehenden Grundsätzen: "Die Luft ist frei" und: "Der Luftraum unterliegt der Hoheit des Bodenstaates" hat sich dieser mehr und mehr durchgesetzt. Er wird aber für das gesamte Reichsgebiet durchbrochen durch den Artikel 200, der eine Einflug-, Überflug- und Landeberechtigung für die Militärflugzeuge der Besatzungsmächte für die Dauer der Besatzung von vornherein festlegt. Das gibt diesen die grundsätzliche Möglichkeit, alle Anlagen der Landesverteidigung, der Industrie und des Verkehrs im Innern des Reiches zu erkunden. Es ist auch vorgekommen, daß ein Zivilflugzeug, als es bei einem Rekordversuch deutsches Gebiet ohne Genehmigung überfliegen wollte, sich der Militärabzeichen bedient hat.

Eine Verpflichtung deutscher Stellen, derartige Flugzeuge auf Flughäfen zu beherbergen, ihnen Betriebsstoff oder Ersatzteile zu verkaufen oder sonstige Hilfe zu leisten, besteht indes nicht. Daher hat sich bei den meisten der in Frage kommenden Staaten der Brauch herausgebildet, auch vor einem Einflug von Militärflugzeugen auf diplomatischem Wege die Genehmigung der deutschen Regierung zu erbitten.

Andererseits ist es für die Fälle offenkundigen Verfliegens bei unsichtigem Wetter international üblich geworden, notgelandete Flieger einschließlich ihrer Flugzeuge wieder freizulassen - von einigen Ausnahmen, z. B. im Weichselkorridor, abgesehen.

Viel schärfer ist die deutsche Lufthoheit im besetzten Gebiet beschränkt: Links des Rheins galt die Ordonnanz 80 der Inter- [165] alliierten Rheinland-Oberkommission vom 7. April 1921.4 Danach wurden das Überfliegen des besetzten Gebietes mit deutschen oder deutschgeführten Flugzeugen bis auf weiteres, feste Luftverkehrsanlagen dauernd verboten - mit der Begründung, daß durch unsere entwaffneten Flugzeuge die Sicherheit der Besatzungstruppen gefährdet werden könnte. Die Verordnung galt auch für den Brückenkopf Kehl, während für den 50-km-Gürtel rechts des Rheines der Botschafterrat das Fliegen bis zum 5. Mai 1921, Aufhebung des Bauverbotes, siehe unten (Abschnitt 4), untersagt hatte.

Erst im Verfolg der Pariser Vereinbarungen vom 7./21. Mai 1926 wurde diese Ordonnanz 80 aufgehoben und durch die Verordnung 309 ersetzt.5 Danach ist immer noch eine visumähnliche Einfluggenehmigung, die auch generell erteilt werden kann, erforderlich; oder praktisch ausgedrückt: man kann leichter und mit weniger Förmlichkeiten von Berlin nach Paris fliegen als von Darmstadt nach Mainz! Denn im einen Falle gelten die Luftverkehrsvereinbarungen zwischen der deutschen und der französischen Regierung, im anderen aber ist ein langwieriges Antragsverfahren bei der Interalliierten Rheinland-Oberkommission erforderlich! Die deutschen Luftverkehrsgesetze und -vorschriften, die bis 1926 im besetzten Gebiet außer Kraft gesetzt waren, gelten jetzt auch dort.


3. Versailles und die Kriegsluftfahrt

Nach der Einleitung zum Abschnitt V der Versailler Urkunde sollte Deutschlands Entwaffnung eine allgemeine Weltabrüstung ermöglichen. Auf dem Luftfahrtgebiet ist hiervon nichts zu merken: die Vertragsgegner von Versailles vermehren ihre Luftflotten beständig an Zahl und Güte; ihre Erörterungen über das Verbot der Verwendung von Giftgasen und die Abschaffung des Luftkriegs sind bisher nur akademischer Natur.

Deutschland dagegen ist es untersagt, Luftstreitkräfte zu unterhalten. Ferner ist ihm die Herstellung von Kriegsgerät, auch für den Bedarf anderer Völker, und ebenso die Ausfuhr verboten. Endlich dürfen Vereine und Schulen keine militärischen Übungen abhalten.

Man mag über Notwendigkeit und Berechtigung künftiger Kriege und über Deutschlands Haltung in solchen Fällen denken wie man will: wenn Deutschland nur das kleine Heer von 100 000 Mann mit zwölfjähriger Dienstzeit zugestanden wurde, damit es die Ordnung im Innern aufrecht erhalten und damit es seine Grenzen gegen solche Angreifer, die den Vertragsgegnern von Versailles vielleicht einmal [166] nicht genehm sein könnten, zu schützen vermöchte, so war es doch selbstverständlich, daß diese beschränkte Streitmacht die bestmögliche, neuzeitlichste Ausrüstung haben muß; dazu gehört in erster Linie die Luftwaffe.

Durch das Fehlen von Kriegsflugzeugen wird nicht nur die Absicht, die unsere Vertragsgegner mit der Belassung eines Heeresrestes verfolgten, verbogen; es wird dadurch auch unmöglich gemacht, die Zivilbevölkerung gegen Luftangriffe zu schützen.

Denn der uns in den Pariser Vereinbarungen vom 7./21. Mai 1926 ausdrücklich zugestandene und vorher nicht verbotene "Luftschutz vom Boden aus" kann, mag er nun passiv oder aktiv sein, als ein Ersatz für die von andern Völkern vorzugsweise gepflegte Luftabwehr vom Flugzeug aus nicht angesehen werden.

Wer aber auf Grund seiner politischen Einstellung oder seiner Weltanschauung einen zukünftigen Krieg für unmöglich und damit jedes Heer für überflüssig hält, der muß es füglich umgekehrt beanstanden, daß anderen Völkern eine wichtige Rüstungsarbeit erlaubt bleibt, die uns verboten ist.


4. Versailles und der Luftfahrzeugbau

Diese unterschiedliche Behandlung Deutschlands hat neben der militärisch-politischen auch eine technisch-wirtschaftliche Seite: während jenseits unserer Grenzen die Industrie von den Reihenaufträgen der Heeresverwaltung lebt und man sich nebenbei einen kleinen Zivilflugzeugbau als Ergänzung dazu und fast als Luxus leistet, müssen unsere Flugzeugfirmen auf der Grundlage der Verkehrs-, Bild- und sonstigen Nutzflugzeuge, der Schul- und Sportflugzeuge allein aufbauen, also in kleinerem Ausmaß und daher unter erschwerenden Bedingungen für den Wettbewerb auf dem Weltmarkt. Während in Deutschland die schmalen Schultern des Zivilflugzeugbaues die gesamte Last der idealen Luftfahrtaufgaben und der praktischen Weiterentwicklung tragen müssen, kommen im Auslande die Erkenntnisse und Erfahrungen, Versuche und Forschungen, Organisationen und Bodenanlagen der militärischen Luftmacht auch der Handelsluftfahrt zugute.

Außerdem ist der deutsche Zivilflugzeugbau bis zum heutigen Tag noch keineswegs frei:6 War nach Artikel 202 alles Luftfahrtgerät binnen 3 Monaten auszuliefern, so verbot Artikel 201 den Bau und die Einfuhr von Luftfahrtgerät während einer Frist von 6 Monaten nach Inkrafttreten der Versailler Urkunde; diese Frist wurde später bis zum 15. Mai 1922 verlängert, und vor ihrem Ablauf [167] erschien die Note der Botschafterkonferenz vom 14. April 1922 mit den Begriffsbestimmungen, die nach dem Londoner Ultimatum vom 5./11. Mai 1921 "die Zivilluftfahrt von der durch Artikel 198 verbotenen militärischen Luftfahrt unterscheiden" sollten.

Hier heißt es also zunächst "militärische Luftfahrt" statt der "Luftstreitkräfte" des Artikels 198 selbst, und dieser neue Begriff wird weiterhin in "Kriegsgerät" umgedeutet. Die "9 Regeln" mit den Unterscheidungsmerkmalen zwischen Zivilluftfahrzeugen und Kriegsgerät trennten aber in Wahrheit gute und weniger leistungsfähige, also wettbewerbungsunfähige Zivilflugzeuge voneinander, bedeuteten daher auch für den friedlichen deutschen Luftfahrzeugbau eine ungeheure Hemmung: beispielsweise waren Einsitzer mit mehr als 60 PS Motorleistung, Fernlenkflugzeuge, Bewaffnung jeder Art, auch für Polizeizwecke, verboten, ebenso die Höhenmotoren. Die Gipfelhöhe war allgemein mit 4 km, die Geschwindigkeit mit 170 km/h, die Flugweite mit 600 km, die Ladung mit 0,6 t begrenzt. Luftschiffe durften höchstens 30 000 m3 Gasraum haben. Der Motorenbau war unmittelbar nicht beschränkt, aber die Vorräte an Flugmotoren waren begrenzt. Außerdem wurde dem Luftfahrt-Garantiekomitee eine weitgehende, für die ausländischen Wettbewerber unserer Industrie höchst lehrreiche Kontrollbefugnis eingeräumt und durch Listenzwang erleichtert.7

Auf Grund der Schlußbemerkung, daß diese Begriffsbestimmungen alle 2 Jahre dem Stand der Technik angepaßt werden sollten, erließ die Botschafter-Konferenz am 24. Juni 1925 eine Note,8 die statt der erwarteten Erleichterungen neue organisatorische Erschwerungen brachte und, wie rechnerisch nachgewiesen wurde,9 in ihrer geringfügigen Erweiterung der technischen Grenzen dem Luftverkehr keinen Gewinn verhieß; denn die Gipfelhöhe, und damit wichtige Flugeigenschaften, blieben wie bisher beschränkt. Diese Note wurde daher garnicht beantwortet.

Die Befreiung der deutschen Luftfahrt von diesen Hemmungen, deren Folgen für die Industrie durch die Aufsichtstätigkeit des Garantiekomitees noch erschwert wurden, sollte zu den "Rückwirkungen" von Locarno gehören, gelang aber erst dadurch, daß die deutsche Regierung jahrelang die Begriffsbestimmungen auch auf den Einflug [168] und Überflug ausländischer Verkehrsflugzeuge anwandte und diesen damit fast völlig unterbinden konnte. Nach langwierigen Verhandlungen, die von der Gegenseite mit dem Ziel der Luftverkehrsmöglichkeit über Deutschland hinweg geführt wurden, glückte in den Pariser Vereinbarungen vom 7./21. Mai 1926 die teilweise Aufhebung der Begriffsbestimmungen. Doch ist unsere Luftfahrt auch jetzt noch über die Versailler Bestimmungen hinaus gehemmt.

Unserer Industrie ist der Bau bewaffneter und gepanzerter Flugzeuge auch dann verboten, wenn sie weder für Kriegszwecke noch zur Verwendung bei der Reichswehr bestimmt sind. Darf doch sogar die Polizei keine eigenen Flugzeuge halten. Fernlenkflugzeuge sind auch für Post- oder Forschungszwecke nicht zugelassen. Gewisse Rekord- und Wettbewerbsbauarten bedürfen einer Sondergenehmigung der deutschen Regierung, die nur im zahlenmäßigen Rahmen des in anderen Ländern üblichen erteilt werden soll. So ist der deutsche Flugzeugbau auch über die Bestimmungen der Artikel 170 und 198 hinaus seinen ausländischen Wettbewerbern gegenüber im Nachteil.

Dazu kommt, daß nach den Pariser Vereinbarungen auch der Flugsport aus öffentlichen Mitteln nicht unterstützt werden kann, von Wettbewerben abgesehen, daß ferner auch im rein sportlichen Fliegen nur eine ganz kleine Zahl von Angehörigen der Wehrmacht und der Polizei, jene auf eigene Kosten, ausgebildet werden darf. Das bedeutet angesichts der Wirtschaftslage, daß der Industrie das Absatzgebiet auch für kleine, leichte, nicht entfernt kampfbrauchbare Flugzeuge scharf beschränkt ist.


5. Versailles und der Luftverkehr

Der Luftverkehr im engeren Sinn ist in der Versailler Urkunde nicht erwähnt. Doch hat man ihn an zwei Stellen nachträglich hineingedeutet, und zwar beidemal zu unseren Ungunsten.

In Artikel 89 verpflichtet sich Polen zur Meistbegünstigung des deutschen Durchgangsverkehrs nach Ostpreußen. Das bedingt beim Bodenverkehr bereits eine aktive Duldung durch Freimachen und Unterhalten der Verkehrswege. Dagegen hat Polen die rein passive Duldung des Luftverkehrs in dem Abkommen vom 21. April 1921 (das auf Grund von Artikel 89 geschlossen wurde) ausdrücklich versagt; Deutschland wies demgegenüber u. a. darauf hin, daß der Postverkehr schon vor dem Kriege den Luftpostverkehr einschloß.10

Umgekehrt ist die Luftfahrt in den Artikel 43 nachträglich einbe- [169] zogen worden: die Botschafterkonferenz hat Flughäfen als "Mobilmachungsvorkehrungen" ausgelegt, obgleich sie gegen Bahnhöfe oder Hafen- und Schleusenanlagen keine entsprechenden Einwände erhoben hat. Erst nach den Pariser Vereinbarungen wurde am 22. Mai 1926 wenigstens die Errichtung von 4 bestimmten Flughäfen und 12 Verkehrslandeplätzen in der demilitarisierten Zone eingeräumt; dabei ist für die Verkehrslandeplätze nur eine ganz einfache Ausstattung zugelassen; auch dürfen sie nicht im besetzten Gebiet liegen.11

Neben diesen Beschränkungen in der Flugsicherheit durch mangelnde Bodenanlagen ist für den Luftverkehr die Schmälerung der deutschen Lufthoheit im besetzten Gebiet besonders hemmend. Sie ist um so mehr überholt, als Deutschland inzwischen mit seinen sämtlichen Nachbarstaaten - Polen, das umflogen werden kann, ausgenommen - und mit zahlreichen andern Ländern Luftverkehrsvereinbarungen geschlossen hat.

In der Versailler Urkunde findet die Benachteiligung des Luftfahrzeugs gegenüber den Bodenverkehrsmitteln jedenfalls keine Stütze.


6. Deutsche Luftfahrt und Völkerbund

Man könnte aus grundsätzlichen Erwägungen oder aus Vertragsunterlagen folgern, daß der Beitritt Deutschlands zum Völkerbund die Lage der Luftfahrt erleichtert habe. Das hat sich bisher nicht bemerkbar gemacht.

In der Versailler Urkunde war die deutsche Luftfahrt nur durch Artikel 320 mit dem Völkerbund verknüpft: Danach wären die Artikel 313 bis 320 schon vor dem 1. Januar 1923 erloschen, wenn Deutschland vorher dem Völkerbund beigetreten wäre.12

Außerdem findet sich im Pariser Luftverkehrsabkommen vom 13. Oktober 1919, das die sogenannte "Cina" ("Commission Internationale de Navigation Aérienne") begründete, in Artikel 42 die Bestimmung, daß "Staaten, die am Kriege 1914/1919 teilgenommen haben und nicht Signatarstaaten dieses Abkommens sind" (also die Kriegsgegner der Entente) "zum Beitritt nur zugelassen werden, wenn sie Mitglieder des Völkerbunds sind oder..." (folgen Bestimmungen über die Zustimmung der Entente-Staaten zum Beitritt.13 Diese Einstellung der Cina machte sie auch nach italienischem Urteil (Giannini) zu einem internationalen Zusammenarbeiten auf der Grundlage der Gleichberechtigung und Gegenseitigkeit ungeeignet.

[170] Inzwischen hat sich jedoch die Haltung auch der führenden Cina-Staaten in dieser Frage geändert. Deutschland ist wiederholt zum Beitritt aufgefordert worden, nachdem man erkannt hat, daß zahlreiche andere internationale Ausschüsse und Kongresse unter gleichberechtigter und zum Teil recht reger Beteiligung der deutschen Regierung und der deutschen Luftfahrerkreise, vor allem der Deutschen Luft-Hansa, auf zahlreichen Teilgebieten der Luftfahrt fruchtbare Arbeit leisteten.

Im Zusammenhang damit und darüber hinaus hat sich in weiten Kreisen des Auslands die Erkenntnis durchgesetzt, daß für die deutsche Luftfahrt die Fesseln von Versailles und vor allem die späteren weitergehenden Bindungen auf die Dauer unerträglich sind - nicht nur im Interesse Deutschlands, sondern auch derer, die mit ihm zusammenwirken wollen und müssen in einem Luftverkehr, der bald die Welt umspannen wird.

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1Im englischen Text statt "materiellen": "ständigen". ...zurück...

2Der englische Text weicht völlig vom französischen ab: Im französischen Text: "les cellules" (bedeutet beim Luftschiff: die Ballonette, beim Flugzeug: die Tragflächen bzw. Verbindung der Tragdecks). Im englischen Text: "Nacelles and fuselages" (bedeutet Luftschiffgondeln und Flugzeuggitterkörper). ...zurück...

3Siehe A. Wegerdt, Luftrecht, Berlin SW 48, 1927, Verlag Gebr. Radetzki, S. 152 bis 160; dort weitere Angaben. ...zurück...

4Siehe Nachrichten für Luftfahrer, Bd. 2, Nr. 27 vom 8. Juli 1921, S. 409 (NfL 21/27. 1). ...zurück...

5Siehe Wegerdt, a. a. O. S. 56 bis 64. ...zurück...

6Vgl. hierzu E. Everling, Um die Freiheit Deutscher Luftfahrt, Hannover (1926), Adolf Sponholtz Verlag G.m.b.H.; hier vor allem S. 4 bis 10. ...zurück...

7Der Wortlaut der Begriffsbestimmungen mußte des Raummangels wegen fortfallen. Vgl. Nachrichten für Luftfahrer, Bd. 3, Nr. 16 vom 23. April 1922, S. 213 bis 216 (NfL 22/16. 1), und in meiner Schrift (siehe Anmerkung 4), S. 6 bis 7. ...zurück...

8In derselben Schrift (siehe Anmerkung 4) auf S. 7 bis 9. ...zurück...

9E. Everling und Horst Müller, "Die technischen »Begriffsbestimmungen«," Zeitschrift für Flugtechnik und Motorluftschiffahrt Bd. 16, Nr. 22 vom 28. November 1925, S. 463 bis 467 (Verlag R. Oldenbourg, München und Berlin). ...zurück...

10Siehe Wegerdt, a. a. O. S. 154 bis 156. ...zurück...

11Siehe Wegerdt, a. a. O. S. 152 bis 153. ...zurück...

12Siehe Wegerdt, a. a. O. S. 160. ...zurück...

13Das Pariser Luftverkehrsabkommen usw., Verlag Gebr. Radetzki, Berlin SW 48, S. 23. ...zurück...

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Zehn Jahre Versailles
in 3 Bänden herausgegeben von
Dr. Dr. h. c. Heinrich Schnee und Dr. h. c. Hans Draeger