SucheScriptoriumBuchversandArchiv IndexSponsor


Bd. 9: Das Deutsche Reich
und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Erster Teil


Hermann Oncken, ord. Professor an der Universität Berlin

Kapitel 1: Das alte Reich
und die Begründung des neuen Reiches
  (Forts.)

[27] 3. Zusammenbruch und Erhebung.

Der Zusammenstoß zwischen der französischen Revolution und den beiden deutschen Vormächten war nicht einem ausgesprochen schuldhaften Kriegswillen der einen oder der andern Seite zuzuschreiben, sondern er erhob sich mit innerer Notwendigkeit aus der Tiefe der Gegensätze. Der Anlauf von Österreich und Preußen, die alte Ordnung in Frankreich gegen die Revolution zu stützen, auf der einen Seite, die Übergriffe der Revolution in die Rechtssphäre des Deutschen Reichs auf der andern Seite, beides vereint führte zu einer Entfesselung der neu erwachten Urkräfte der französischen Nation, die nunmehr die im 17. Jahrhundert begründete, aber niemals ganz erloschene Rheinpolitik des alten Königtums mit verdoppelter Vehemenz wieder aufnahm.

Die beiden deutschen Mächte zusammen würden zur Abwehr stark genug gewesen sein, aber als in kritischen Situationen ihr eifersüchtiger Egoismus sie gegeneinandertrieb, als dann weiter ihre Ostpolitik infolge der polnischen Teilungen eine zweite Front der widerstrebenden Interessen fand, da konnte es nicht ausbleiben, daß das Deutsche Reich in die größte Krisis, die Europa bisher erlebt hatte, mit einem gespaltenen und von innen gelähmten außenpolitischen Willen eintrat. So führte der Rückzug auf der ganzen Linie, zu dem die deutschen Mächte allen Koalitionen zum Trotz genötigt wurden, in den Friedensschlüssen von Basel (1795), Campoformio (1799) und Lunéville (1801) zu dem Einsturz der ganzen deutschen Westfront, zu dem Verlust der Rheinlinie, die von den Franzosen als ihre "natürliche Grenze" beansprucht wurde. Hier war die überlegene französische Nationalkraft auf die überlebtesten und widerstandsunfähigsten Gebilde unseres ancien régime gestoßen und hatte die militärisch weichsten Stellen unseres Grenzsystems der härtesten Probe ausgesetzt - als die deutschen Großmächte nacheinander den Kampf am Rheine aufgaben, war für das Reich die ganze Stellung nicht mehr zu halten, sondern eine Beute der triumphierenden Nachbarn. Das war mehr als der Verlust einer Grenzprovinz. Damit wurden die ältesten Kulturgebiete Deutschlands aus dem Körper des Reiches herausgerissen, in früheren Jahrhunderten die geistig und politisch führenden Landschaften, von denen einst Otto von Freising sagte: ubi maxima vis regni noscitur - wo bekanntlich die stärkste Kraft des Reiches beruht. Von Speyer, der Grabstätte der salischen Kaiser, bis nach Mainz, dem Sitz des Primas Germaniae, von dem heiligen Köln bis zu der von karo- [28] lingischen Erinnerungen geweihten Krönungsstadt Aachen - es war, als wenn die stolzeste Vergangenheit der Deutschen mit einem Male versänke und uns nicht mehr angehörte. Und es war mehr als nur Vergangenheit, es war wirklichste Gegenwart. Das goldene Mainz wurde nicht mit Unrecht als der Schlüssel des Reiches gepriesen, und die ganze Rheinlinie mit den Brückenköpfen auf der andern Seite eröffnete ein System von militärischen Einmarschstraßen in das innere Deutschland.

Der Verlust des linken Rheinufers bedingte fast automatisch den Zusammenbruch der deutschen Reichsverfassung. Die nunmehr unaufhaltsame Zerstörung der geistlichen Staaten, der Reichsstädte und aller kleineren Elemente wirkte wie die Entfernung alles verbindenden und lückenfüllenden Mörtels aus einer Feldsteinwand. Was übrigblieb, waren nur die unverbundenen Blöcke einer Fürstenföderation, in der das partikulare Interesse der Selbsterhaltung souverän entschied. So gab das Haus Habsburg die Kaiserkrone preis, indem es sie auf seine Erblande übertrug, und sah ohne Widerspruch zu, daß Napoleon in Aachen als Erbe Karls des Großen die alte Kaisertradition übernahm. Das deutsche Fürstentum aber war in der neuen strategischen Lage, die durch die Rheinstellung der Franzosen geschaffen war, zumal in Süddeutschland dem militärischen Drucke von außen preisgegeben und genötigt, sich der politischen Führung Frankreichs zu unterstellen. Die seit dem Westfälischen Frieden lebendige politische Idee der Franzosen, ein "drittes Deutschland", eben dieses außerpreußische und außerösterreichische Restdeutschland, unter eigener Führung politisch-militärisch zu organisieren und, wie früher dem Habsburgischen Kaisertum, jetzt den beiden deutschen Großmächten entgegenzuwerfen, sah sich endlich am Ziele; die alte Spekulation auf die "libertés germaniques" war so gründlich gelungen, daß von einer Freiheit deutscher Nation kaum noch die Rede war. Der Rheinbund von 1806, der jedem Verhältnis gleichberechtigter Staaten Hohn sprach, erschien den Franzosen als das letzte Wort einer tausendjährigen Geschichte. Die falschen Prätensionen der Geschichte haben oft ein zäheres Leben als ihre tiefsten Lehren. So war es möglich, daß die Franzosen auch dann noch in den Phantasien dieses rheinbündischen Zwischenspiels fortlebten, als die deutsche Nation sich wieder auf sich selbst besonnen hatte, und daß sie jene Wendung von 1866, in der Preußen an ihrer Stelle an der Spitze dieses dritten Deutschlands in einem Bunde gleichberechtigter Glieder auftrat, als eine unerhörte Verlagerung der Macht und eine frevelhafte Verletzung des historischen Rechts nicht ertragen wollten.

Selten begegnen wir in der Geschichte einem Vorgange, in dem wie in diesem Beispiel ein einziger Stoß von der Außenfront eines Staatskörpers her so vernichtend und auflösend auf dessen gesamte Innenorgane übergreift, daß schließlich das ganze von ihnen umschlossene Leben der Nation an der Wurzel getroffen wird. Aber was hier zusammenbrach, war nicht nur das äußere Gehäuse eines Staatskörpers, der seit Jahrhunderten der Entleerung verfallen [29] war und sich nur durch die Rivalität seiner einzelnen Glieder am Leben erhielt, es war auch das innere Zusammensinken einer Gesellschaftsordnung, die gegenüber einer neuen Zeit keine Daseinsberechtigung mehr besaß und die Nation niemals wieder in die Höhe zu führen vermochte.

So konnte die Politik Napoleons Schritt für Schritt daran gehen, der deutschen Nation ein den Polen vergleichbares Schicksal zu bereiten. Die Versuche Österreichs in den Jahren 1805 und 1809, Preußens in den Jahren 1806/07, sich dem drohenden Sturz in den Abgrund mit den Mitteln des alten Staates entgegenzuwerfen, endeten mit der Zertrümmerung ihrer eigenen Machtstellung. Und nun erst schienen die deutschen Entscheidungen unwiderruflich. Nach dem alten Reiche stürzten auch die deutschen Einzelmächte, von denen einst eine Erneuerung des Ganzen zu hoffen war; nach der Macht des habsburgischen Kaiserhauses, die seit Jahrhunderten die glorreiche Doppelrolle für sich selbst und das Reich gespielt hatte, nun auch die führende Macht der reichsfürstlichen Opposition. Die Summe jener staatlichen Energien, die seit dem Großen Kurfürsten auf preußischem Boden zusammengerafft war, auch sie schien vergebens und sinnlos geworden. War es zu verwundern, daß die Menschen von damals an dem Sinn ihrer ganzen Geschichte zu zweifeln begannen und diesen Ausgang meinten als unabänderlich hinnehmen zu müssen? War es nicht das Ende und letzte Wort der Geschichte?

Mit der Zerstörung des letzten Restes gemeinsamer staatlicher Lebensformen im Reiche, mit dem Sturze von Österreich und Preußen, an dem das rheinbündische Truppengefolge Napoleons schon seinen Anteil hatte, verband sich eine immer weiter über den Rhein hinweg greifende Abreißung deutschen Bodens. Sie fraß sich im Jahre 1810 um die ganzen Nordseeküsten herum und erreichte in Lübeck sogar den innern Winkel der Ostsee und die Grenzen des Kolonialbodens. Eine fremde Weltpolitik holte aus den deutschen Bereichen soviel sie wollte in ihren Dienst. Schon das erste Aufgebot Pfälzer Rekruten war französischen Truppenteilen zugeordnet, die auf einer überseeischen Expedition nach der Negerinsel Martinique mit Mann und Maus zugrunde gingen, und Pfälzer Landsoldaten waren als seeunkundige Besatzung auch auf den französischen Schiffen verpackt, die bei Trafalgar von der englischen Flotte vernichtet wurden; von den Zehntausenden bayerischer, württembergischer und badischer Truppen, die im Jahre 1812 mit in den russischen Feldzug geschleppt wurden, sind nur wenige Hunderte zurückgekehrt. Während derselben Zeit hatte eine fremdnationale Kultur am linken Rheinufer längst begonnen, sich den geistigen Bedürfnissen der "Zukunfts-Franzosen" aufdringlich zu empfehlen; im Jahre 1810 glaubte man schon so weit zu sein, in Aachen alle deutschen Zeitungen zugunsten eines offiziellen Journal de Roër zu verbieten; niemand konnte wissen, ob nicht eine allmähliche Französierung der Sitten, wie im Elsaß, auch in das rheinische Volkstum einschleichen würde. Der Ausgang mußte das Ende der [30] Nation sein - woher sollte man nur den Glauben nehmen, den ehernen Gang des Geschickes aufzuhalten?

Welche Umkehr aber in dem tausendjährigen Völkerschicksal, das hier entrollt wird. Einst die führende Universalmacht des Mittelalters, schienen die Deutschen mit Blut und Seele fremder Botmäßigkeit verfallen und in Gefahr, selbst die Trümmer ihres Nationalbestandes und die letzten Reste ihrer Selbstbestimmung zu verlieren.

Wie aber nahm die geistige Nation den Tod der staatlichen Nation auf? Die französische Revolution war ein tiefes Erlebnis für den deutschen Geist geworden, so wenig er in seinem öffentlichen Zustande darauf vorbereitet war. Diese Deutschen, politisch unfertig und zusammenhangslos, gesellschaftlich rückständig und auf das rein Geistige abgedrängt, hier eher auf das Allgemeine, Überstaatliche, Weltbürgerlich-Philosophische gerichtet, erwiesen sich den französischen Ideen gegenüber in unglaublichem Maße empfänglich und zur Weiterbildung berufen. Wie aber gestaltete sich diese Wirkung, als auf die Invasion der französischen Ideen die Invasion der französischen Waffen folgte und die ganze Gemeinschaft öffentlichen Staatslebens zerschlug?

Es bleibt immer denkwürdig, wie die erlesensten Köpfe noch gegen die Wende des Jahrhunderts, als die entfesselte revolutionäre Nationalkraft der Franzosen schon über alle Dämme hinwegspülte, über die Lebensfragen des Staates und der Nation dachten. Wenn Kant in seiner Schrift "Zum ewigen Frieden" (1795) das Bild einer zukünftigen besseren Staatengesellschaft der Menschheit entwarf, verwandte er kein Nachdenken auf die Frage, unter welchen Bedingungen etwa ein deutscher Staat in seiner Weltföderation Platz finden werde - es war immerhin im Jahre des Friedens von Basel, der den Rückzug Preußens vom linken Rheinufer und die innere Auflösung des Reiches einleitete. Und als Novalis vier Jahre später - während der Rastatter Verhandlungen, in denen schon die Abtretung des linken Rheinufers auf der Tagesordnung stand - in seiner Schrift "Das Christentum oder Europa" (1799) die magna charta einer europäischen Friedensordnung aufstellte, gipfelte sie in der Idee: Es gibt nur einen Gott und Du sollst keine nationalen Götter neben ihm dulden. Noch herrscht ein Universalismus, der, ob rationalistisch oder romantisch, sich der Menschheit angehörig fühlt und zu dem Besonderen der Nation kein Verhältnis findet. Selbst ein so realpolitisch empfindender Kopf wie Friedrich Gentz wußte im Jahre 1801, zur Bekämpfung des Franzosen d'Hauterive und seines Programms einer von Frankreich geführten europäischen Föderation, doch nur die Wiederherstellung des alten Gleichgewichts des 18. Jahrhunderts zu empfehlen.

Erst unter dem erschütternden Erlebnis, daß mit dem Reiche, so überlebt auch Form und Inhalt waren, zugleich jede Art deutscher Freiheit für immer verloren schien, begann sich in dem deutschen Denken über den Staat jene Umbildung anzubahnen, die bis zum heutigen Tage hin das erregte Interesse aller zuschauenden [31] Völker erweckt hat. Denn es handelte sich um das höchste geistig-sittliche Problem, das sich denken ließ: den Staat, von dem die Deutschen in einer Leidensgeschichte von Jahrhunderten abgedrängt waren, gewissermaßen von der Idee her mit höchster innerer Anspannung zurückzugewinnen und seine Erweckung zu neuem Leben in der Wirklichkeit vorzubereiten. Auf dem tiefsten Grunde ihrer Staatlosigkeit, auf dem Trümmerfelde eines verspielten nationalen Daseins begannen die Deutschen über die Problematik ihrer geschichtlichen Vergangenheit, über die Fragen von Staat und Nation, von Macht und Recht, von Innen und Außen ernsthaft nachzusinnen. Selbst die innerlichsten und weltbürgerlichsten ihrer idealistischen Köpfe vermochten sich nicht der Forderung zu entziehen, die das Leben so erbarmungslos an sie stellte.

Es war kein Zufall, daß man auf dem Gipfelpunkt der napoleonischen Macht und der eigenen Ohnmacht das Wesen des Staates nicht nur als Recht, sondern auch als Macht, nicht nur als eine Lebensordnung zwischen Individuum und Gemeinschaft, sondern als einen Machtausdruck in dem Verhältnis der Staaten untereinander zu begreifen und sich in diesem Zusammenhange, wie es Fichte und Clausewitz taten, auch der Lehre Machiavellis zu öffnen wagte. Die Macht bedeutete für dieses Geschlecht nicht, wie für die übrigen großen Völker, etwas, was man stillschweigend zu üben gewohnt war und höchstens an den Forderungen des Rechtes zu messen suchte, sondern vor allem etwas, was man nicht besaß und eben darum, um nicht völlig unterzugehen, leidenschaftlich erstrebte. So sollte man im weiteren Verlaufe dazu gelangen, dieses seelische Bedürfnis in der theoretischen Form des Machtgedankens - der die eigentlichen Machtvölker in der Geschichte viel weniger als die wirkliche Machtausübung beschäftigte - gleichsam zu verabsolutieren, auf die Gefahr der Überspannung hin, die sich in solcher Lage einzustellen pflegt.

Nicht anders steht es mit dem Begriffe der Nation selbst, der, weil er aus der deutschen Geschichte der letzten Jahrhunderte kaum noch beantwortet werden konnte und fast verloren schien, nur in enthusiastischer Übersteigerung neu gewonnen werden konnte. Herder war darin vorangegangen, und die Romantiker folgten ihm nach, das Ewige und Einmalige einer Nation in ihrer urtümlichen Existenz zu schauen, in ihrer Sprache, in ihren volksmäßigen geistigen Hervorbringungen in Spruch, Volkslied und Epos, in ihrer naturhaften und ursprünglichen Kunstübung, in ihrer lebendigen Geschichte mit ihrem Reichtum an Formungsmotiven und Vermächtnissen - mit alledem setzt der deutsche Anteil, der historisch-romantische Anteil an der Ideologie der modernen Nationalitätenerweckung ein. Konnte eine solche historische Selbstbesinnung, ein solches Zurückgehen in seinen eigenen Geist, irgendeinem Volke Europas mehr Impulse geben als den Deutschen, die jetzt eine ihrem Bewußtsein fast verlorene Geschichte als ein Stück Weltgeschichte begreifen lernten? Mit feinem Nachgefühl hat man neuerdings betont, wieviel daran hing, daß auch das koloniale Deutschland den [32] geschichtlichen Traditionsreichtum des Mutterlandes damals zu ahnen und zu erleben begann. So galt es für dieses deutsche Geschlecht, ein Nationalgefühl gleichsam neu zu erzeugen, historisch in der Vergangenheit begründet, philosophisch aus den Tiefen der Sittlichkeit sich nährend, geistig von einem bewußten Lebenswillen durchflutet - wie viel Wesenszüge des Nationalismus späterer Generationen sind keimhaft in dem Ringen dieser Menschen angelegt, die alles verloren hatten und alles wiedergewinnen wollten. Nur durch Anspannung, nur durch Überhebung, so hat man mit Recht gesagt, konnte ein so unpolitisches Geschlecht zu einem nationalen Selbstgefühl erzogen werden, wie es für die Engländer und die Franzosen ein natürliches Erzeugnis ihrer Geschichte und ihres Seins ist.

Indem dieser neugeborene Nationalismus tief in eine halb verschüttete und nun wieder aufgedeckte Vergangenheit eintauchte, indem er sehnsüchtig zu den letzten Untergründen alles nationalen Seins vordrang, scheute er sich nicht, gleichzeitig ein anderes mächtiges Stück vergangenen Geschehens als einen Irrweg der Geschichte radikal abzulehnen. Jeder kennt den heroischen Auftakt von Fichtes "Reden an die deutsche Nation": "Ich rede für Deutsche schlechtweg und von Deutschen schlechtweg." Aber auch die Fortsetzung dieser Eingangsworte sollte nicht zu leicht genommen werden: "nicht anerkennend, sondern beiseitesetzend und wegwerfend alle die trennenden Unterscheidungen, welche unselige Ereignisse seit Jahrhunderten in der einigen Nation gemacht hatten". Denn was hier im Namen der Nation verworfen und verleugnet wurde, war nichts Geringeres als die Geschichte und die Staatlichkeit aller deutschen Territorien, Österreichs und Preußens voran, ihrer Tradition und ihres Ruhmes, alles dessen, was den stolzen Inhalt von Jahrhunderten bildete und was in Wahrheit auch wieder ein unentbehrliches Element jeder Erhebung war. Mit demselben Radikalismus, mit dem die nationale Revolution der Franzosen ihre ganze Königszeit auslöschte, glaubte der deutsche Denker mit einem Sprunge hinwegsetzen zu können über alles, was in dem Dasein unseres Volkes seit Jahrhunderten an staatlichen Werten erzeugt worden war.

Das Umschlagen vom Weltbürgertum zum Nationalstaat ist von einem der geistigsten Werke unserer Geschichtschreibung bis in seine feinsten Verästelungen in deutschen Köpfen durchleuchtet worden. Es ist aber nicht außer acht zu lassen, daß zwischen die beiden gegensätzlichen Welten als dritte sich das starke Element des territorialstaatlichen politischen Denkens schiebt - ob es nun im kleinsten Kreise sein Genüge findet oder einer großen Staatstradition, wie in Österreich und Preußen, sich rühmen darf. Während früher in diese reale Welt auch kosmopolitische Untertöne einströmen mochten, beginnt sie sich jetzt immer mehr dem nationalstaatlichen Denken zu öffnen. Die deutsche Landkarte war nun einmal so bunt, daß ein jeder auf anderm Wege sich seinem Ziele, das nur in unsicheren Umrissen in weiter Ferne sich abhob, zu nähern suchte.

[33] In Wahrheit war für die Reformer und Befreier doch nur in Österreich oder in Preußen der staatliche und militärische Rückhalt zu finden, den man brauchte, die Kraft des sittlichen Opferwillens für eine große Gemeinschaft aufzurufen. Der Ruhm Friedrichs des Großen war ein Bindemittel der deutschen Nationalität - und wenn auch sein Staat zusammengebrochen war und in seiner alten Gestalt nicht wieder erweckt werden konnte, so war doch der Genius des großen Königs einer der unwiderstehlichsten Antriebe der Erhebung. Diese Reformer und Befreier bildeten ja nicht eine geschlossene innerliche Einheit, sondern ihr politisches und sittliches Denken vereinigte die verschiedensten Motive in sich. Sie reichten von den reinen Borussen, die noch ganz im Geiste des Staates vor 1806 wurzelten, bis zum Freiherrn vom Stein, der, obwohl preußischer Minister, gestand: "Ich habe nur ein Vaterland, das heißt Deutschland", ja bis zu jenen Deutschen der Idee, die alle historische Wirklichkeit übersehen zu dürfen meinten. In jedem einzelnen der führenden Männer sieht man eine andere, eine höchst individuelle Mischung der Elemente der Befreiung, ob sie aus dem Arsenal der französischen Revolution die Waffen zur Gegenwehr nehmen, ob sie romantisch den Glanz und die Größe einer altdeutschen Vergangenheit zu erneuern suchen, ob sie für den Neubau des Staates und die politische Erziehung eines neuen Geschlechtes in die Ideen der Sittlichkeit, der Selbstverantwortung und der Selbstverwaltung eintauchen. Welche Fülle von Antrieben, die sich kreuzen und steigern, alle zusammengehalten durch die Glut des Willens und die Tiefe der Empfindung!

Die große Wendung in der geistig-staatlichen Wesensart der Deutschen wurde freudig überall da in Europa begrüßt, wo man im Kampf für die Freiheit der Völker gegen die französische Hegemonie stand. Erst späteren Zeiten ist es vorbehalten geblieben, die deutsche Seele in diesem Umschwung an einem verhängnisvollen Kreuzweg zu sehen, an dem wir aus einem Volke von weltbürgerlicher und unpolitischer Geisteshaltung uns leider in ein anderes Volk von nationalistischerem Gepräge und unerwarteten Machtbedürfnissen zu verwandeln begonnen hätten. Noch ein neueres französisches Buch über den Ursprung des Pangermanismus erinnert an jenes Volk der Dichter und Denker, das niemand so naiv und zärtlich wie Frankreich geliebt habe. Daß die bekannte Antithese, in der auch das Deutschland Goethes und das Deutschland Bismarcks oder auch kurzweg Weimar und Potsdam einander gegenübergestellt werden, schon logisch unzulässig ist, bedarf keiner Erörterung - wer würde das Frankreich Racines und Molières und das Frankreich Ludwigs XIV. in einen inneren Gegensatz zueinander zu bringen wagen. Aber es lohnt sich, das Spiel der Argumente, das immer von neuem in den Geschichtsbüchern und in der Publizistik gespielt wird, auch von innen her aufzudecken.

Das Deutschland der Dichter und Denker ist am inbrünstigsten nicht von denen gepriesen worden, die eben diese Dichter und Denker um ihretwillen [34] verehrten, sondern in der Regel von denen, die auch das politische Deutschland, das damals den staatlichen Hintergrund jener geistigen Welt bildete, als ein harmloses und dienendes, den Interessen der Nachbarn vortrefflich entsprechendes Glied in der europäischen Machtordnung zu schätzen wußten. Dieses Deutschland von 1770 bis 1810 umfaßte aber zugleich das Zeitalter, das den Untergang des Reiches, das Versinken in Fremdherrschaft, das Verbluten für die Machtziele anderer, die schwerste Heimsuchung unserer nationalen Geschichte erleben mußte - das alles sah sich aus dem Lager siegreicher Nachbarn viel gleichgültiger oder erträglicher an, als es dem deutschen Geschlecht erschien, das damals jenes Meer von Not und Schande zu durchschreiten hatte. Unbegreiflich wird das Spiel mit dem Schlagwort der beiden Deutschland, die sich an diesem Kreuzweg des Erlebens voneinander trennen, erst dann, wenn Deutsche, die jedes tieferen historischen Sinnes entbehren, es sich gelehrig aneignen.

Die beginnende geistige Umwälzung der Deutschen, die an der Wiege unserer neuen nationalen Geschichte steht, beflügelte die Seelen der Führer und erfüllte die Vorhut der Kämpfer mit staatlichem Sinn und mit Bereitschaft zum Opfer, aber sie konnte nicht mit einem Schlage eine Geschichte von Jahrhunderten umwälzen und ein ganzes Volk umschaffen. So rasch läßt sich die verlorene politische Freiheit nicht zurückerobern.

Vor allem aber dürfen wir uns nicht verhehlen, daß die Eigenkraft der Deutschen, materiell und moralisch genommen, damals noch nicht entfernt ausgereicht haben würde, das Schicksal, dem wir verfallen schienen, zu wenden und einen ebenbürtigen Platz im Kreise der Staatengesellschaft zurückzugewinnen. Allein im Bunde mit denjenigen europäischen Mächten, die mit uns das unerträgliche Joch der französischen Hegemonie abzuwerfen entschlossen waren, ließ sich das Werk der Befreiung von 1813 bis 1815 durchführen.

Also vollzog sich auch diese Krisis deutscher Geschichte, der erste Schritt des nationalen Wiederaufstiegs und die erste Ahnung neuer nationaler Antriebe, als ein Glied umfassender europäischer Umwälzungen. In den Befreiungsschlachten des Jahres 1813 rang auf deutschem Boden fast ganz Europa miteinander, und bis zur Völkerschlacht bei Leipzig floß - wie einst im Dreißigjährigen Kriege und in den Kriegen der friderizianischen Epoche - auf beiden Seiten deutsches Blut; auch nur ein Teil der Deutschen war in diesen Monaten an den eigentlichen unvergeßlichen Entscheidungen im Felde beteiligt, die ostelbischen Provinzen Preußens und die deutschen Erblande der österreichischen Monarchie. Dementsprechend blieb auch jede politische Entscheidung auf deutschem Boden eng mit den europäischen Machtinteressen verknüpft, die sie herbeiführen halfen, und die Stimmen von Rußland, England, Österreich hallten vernehmlich in die Angelegenheiten hinein, die der feurige Idealismus der Befreier und Reformer am liebsten der nationalen Selbstbestimmung überlassen hätte. Nicht die Nation, ein Begriff, der noch jedes Körpers, jedes Organs [35] entbehrte, konnte den deutschen Anteil am Ergebnis des Kampfes bestimmen, sondern die Gewalten, die in langem historischen Ablauf auf dem Boden dieser Nation erwachsen waren. Selbst der preußische Staat, der am tiefsten in diesen Jahren in die nationale Idee eingetaucht war, reichte mit seinen Traditionen und Lebensinteressen auch wieder über die Nation hinaus und ging seine eigenen Wege.

Unter diesem Zeichen vollzog sich auf dem Wiener Kongreß der Wiederaufbau einer staatlichen Gemeinschaft der Deutschen. Ein Gesetzgeber, der vom Himmel käme, wäre zu wünschen - so hatte der Philosoph Schelling wenige Tage vor der Leipziger Völkerschlacht geschrieben -, um den Deutschen (da das Alte doch wohl nicht wiederkommen könne) die Verfassung zu geben, die zu ihrem dauernden Glück notwendig sei. Aber die irdischen Dinge verleugnen niemals ihre irdischen Abhängigkeiten. Es war wohl unvermeidlich, daß ein Schicksal, das sich während eines Jahrtausends im Leben eines Volkes vollstreckt hatte, nicht durch eine plötzliche Gnade von oben her zum Heil gewendet werden konnte, und eine tiefe sittliche Notwendigkeit forderte, daß allein die eigene Kraft von deutschen Generationen wiederaufrichtete, was in Jahrhunderten verspielt war. Und so hatte es auch seinen guten Grund, daß die uns umgebende Welt der großen Mächte dieser Erde, soweit sie an den Entscheidungen von 1813 bis 1815 beteiligt war, für sich in Anspruch nahm, auf diese deutschen Dinge, die irgendwie sie alle angingen, einen weitgreifenden Einfluß auszuüben. Für alle diejenigen aber, die schon im Befreiungskriege aus vollem Herzen eine reinere Lösung erstrebt und in der Idee vorweggenommen hatten, war der Ausgang eine bittere Lehre - mehr als ein Menschenalter sollte dazu gehören, um den Sinn dieser Lehre den Köpfen und Seelen der Deutschen einzuprägen.

Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte