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[XI-XII=Trennseiten] [1]
Bd. 1: A. Der Rechtsanspruch auf Revision

I. Die Rechtsgrundlagen der Pariser Friedensverhandlungen
und ihre Verletzung durch den Vertrag von Versailles

Dr. Wilhelm Marx
Reichskanzler a. D.

Wenn das deutsche Volk auch heute noch, nachdem 10 Jahre seit der Unterzeichnung des Vertrages von Versailles verflossen sind, den durch ihn geschaffenen Frieden so unendlich drückend empfindet, so liegt der Grund hierfür nicht nur darin, daß dieser Vertrag über alles Erwarten und Verstehen hinaus unser Ehrgefühl verletzt und demütigt, uns politisch entrechtet, militärisch entmannt, wirtschaftlich ausbeutet und damit den Grundbegriffen der Völkermoral zuwiderhandelt, sondern namentlich auch darin, daß er den elementarsten Regeln des Völkerrechts über Beendigung von Kriegen und Wiederherstellung des Friedens ins Gesicht schlägt.

Es ist viel über die Praxis beim Abschluß früherer Friedensverträge gewettert worden, bei denen der Hegelschen Geist atmende Grundsatz "Die einzige Grundlage des Friedens ist das Recht des Stärkeren" Pate gestanden hat. Der Abschluß des Weltkrieges sollte ja auch eine Abkehr von diesem Prinzip bringen, eine Wandlung des bisher geltenden Völkerrechts herbeiführen, den Beginn einer neuen Ära im Zusammenleben der Völker bedeuten. Ein auch nur oberflächlicher Blick in die Pariser Verträge vom Jahre 1919 zeigt leider, daß diese nicht nur von jenem Hegelschen Geist durchdrungen sind, sondern, daß sie in der Handhabung der Maxime: Macht geht vor Recht! weit über deren Anwendung bei früheren Verträgen hinausgehen.

Namentlich Frankreich stand Gedankengängen, wie sie in dem Friedensprogramm Wilsons und seinen reformistischen Idealen enthalten waren, völlig fremd gegenüber. Man kann die französische Einstellung zu den Pariser Verhandlungen und ihren Zielen nicht treffender charakterisieren, als es der danach allein handelnde Vorsitzende dieser Verhandlungen, Clemenceau, getan hat: "Wir sind angegriffen worden. Wir sind die Sieger. Wir vertreten das Recht und wir haben die Macht."

Frankreich nahm an den Verhandlungen nicht teil auf Grund einer [2] Delegation des Völkerrechts, als Mandatar der Völkergemeinschaft, sondern als Verkörperung der absoluten Macht, als Siegerstaat allein auf Grund des Sieges. Der Gedanke unbedingter Rechtsgebundenheit, den Wilson und die Amerikanische Delegation vertraten, war für Frankreich nie etwas anderes gewesen, als Mittel zum Zweck. Es war daher natürlich, daß ihn seine Führer in dem Augenblick aufgaben, in dem der Sieg gesichert war. Die traditionelle Politik Frankreichs, die seit Ludwig XIV. ihr Ziel in der Ohnmacht Deutschlands erblickte, forderte die rücksichtslose Auswertung des Sieges. Friedensverträge sind Völkerrechtsverträge, d. h. sie stehen unter denselben völkerrechtlichen Rechtsregeln wie jeder andere Staatsvertrag, materiell und formell, nach ihrem räumlichen, persönlichen und sachlichen Geltungsbereich, hinsichtlich ihrer Auslegung usw.

Die Pariser Verträge haben es selbst schamhaft vermieden, die bisher übliche "Friedensklausel" zu gebrauchen. Sie erklären zwar zunächst im Eingang ihrer Präambel als ihr Ziel den Frieden. Am Schluß derselben aber gehen sie, statt positiv von diesem erstrebten Endziel zu sprechen, vom Kriegsende aus und erklären: "Mit dem Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrages nimmt der Kriegszustand ein Ende."

Auch die in bisherigen Friedensverträgen übliche sogenannte "Amnestie- oder Vergessenheitsklausel" fehlt. Es war im Gegenteil den Verbandsmächten vorbehalten, durch den Mund Clemenceaus am 7. Mai 1919 der deutschen Delegation die Worte ins Gesicht zu schleudern: "Die Stunde der Abrechnung ist gekommen." Es war ihnen vorbehalten, von deutschen Kriegsverbrechern zu sprechen und sie zur Aburteilung vor ihren eigenen Richterstuhl ziehen zu wollen.

Eine endgültige Vereinbarung über die Höhe der Kriegsentschädigung wurde nicht getroffen. An Stelle einer solchen, die durch die Wilsonschen Grundsätze ausgeschlossen war, wurde ein ganzes Netz von Restitutionen, Reparationen und sonstigen Schadloshaltungen entworfen, ohne einen festen Betrag zu nennen.

Damit war gleichzeitig die Grundlage gegeben, die Dauer der sonst zur Sicherung der Leistung üblichen Territorialgarantie durch völlige oder teilweise kurze Besetzung des dem Besiegten verbleibenden Gebietes auf Jahrzehnte hinaus auszudehnen und sonstige militärische Sicherungen - durch Wiederaufleben und selbst Überbieten napoleonischer Vorbilder - durchzusetzen.

Für die Wiederanknüpfung wirtschaftlicher Verbindungen hätten die Pariser Verträge angesichts der katastrophalen Wirkungen ungezügelten Wirtschaftskrieges das weiteste und dankbarste Feld der Betätigung gehabt. Statt dessen haben sie eine Bereinigung nur in der Belastung und Benachteiligung der Besiegten versucht.

Endlich haben die Pariser Verträge weit über das bisher übliche [3] bescheidene Maß hinaus ein System zur Kontrolle und Überwachung der Durchführung und Erfüllung geschaffen, bei dem die "Geißel der Sanktionen" eine verhängnisvolle Rolle spielt, indem sie gegen einseitig festgestellte Verstöße gegen die Verträge mit schweren eigenen Verstößen gegen das Recht erwidern.

So hat das Völkerrecht, das unter den Stürmen des Weltkrieges schon bedenklich ins Wanken geriet, den schwersten Stoß erst durch die Pariser Verträge erlitten, die sich in der Art des Zustandekommens und vielfach auch inhaltlich von dem entfernten, was bisher als Recht angesehen wurde.

Wenn auch eine Gruppe von Bestimmungen in diesen Verträgen über deren unmittelbare Ziele und Zwecke hinausreichendes, auf die Dauer gewolltes Völkerrecht grundsätzlicher Tragweite, namentlich die Schaffung internationaler Organisationen, die Verankerung des internationalen Schiedsgerichtsgedankens usw. zum Inhalt haben, so stellt doch die überwiegend große Menge ihrer Bestimmungen einfach die mehr oder weniger vollkommene Verwirklichung rein egoistischer und machtpolitischer Siegerwünsche und Interessen dar, die sich in der Absicht völliger Ausschaltung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Geltung der Besiegten äußert.

Der internationale Rechtsgedanke hat durch die Pariser Verträge einen um so schwereren Schlag erlitten, als sie seinen eigentlichen Kern, den Grundsatz der Gerechtigkeit, zu dem in erster Linie Gleichberechtigung und Gleichbehandlung gehören, dauernd mißachten. Dies wiegt um so schwerer, als internationale Gerechtigkeit ausdrücklich zur Grundlage der Friedensregelung proklamiert worden war. Die Verletzung dieses Prinzips hatte auch zur Folge, daß die großen internationalen Reformpläne, wie Kriegsverhütung und Kriegsverhinderung, Abrüstung, Mandatsgedanke, Minderheitenschutz, Selbstbestimmungsrecht, Weltwirtschaft usw. bis jetzt noch nicht zu internationalen Rechtssätzen ausgestaltet bzw. mit allgemeinen völkerrechtlichen Schutznormen umgeben werden konnten. Hat bisher die Zeit nicht den Atem gefunden, um auf oder neben den Trümmern des Völkerrechts, wie sie der Weltkrieg hinterlassen, Neues zu schaffen, so liegt dies zum wesentlichen daran, daß die Arbeit der Kabinette sich an der beinahe unlösbaren Aufgabe abmüht, auf Grund der Pariser Verträge und in ihrer Verwirklichung einen erträglichen Rechtszustand zu schaffen.

Ist demnach die Bedeutung der Pariser Verträge für die Geschichte des objektiven Friedensvertragsrechts außerordentlich gering, so steht es in anderen ihrer Bereiche nicht besser. Insbesondere auf dem Gebiete der Ethik, in diesem wichtigen Bereich des internationalen Lebens, haben sie in ihrer Zerstörungsarbeit geradezu Erstaunliches geleistet. Ihren Nachwehen ist es zuzuschreiben, wenn wir auch [4] heute von der Verwirklichung des Kantschen Ideals noch besonders weit entfernt sind, wonach die wahre Politik keinen Schritt tun darf, ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben.

Was hier für die Pariser Verträge allgemein gesagt ist, gilt für den Vertrag von Versailles in ganz besonders erhöhtem Umfange. Nicht nur hat er sich über alle ethischen und moralischen Hemmungen, über die Grundsätze objektiven Völkerrechts in kaum mehr zu überbietender Weise hinweggesetzt. Er hat dieses Recht an seiner empfindlichsten Stelle getroffen, an der Vertragstreue. Was im deutschen Volke den Willen zum Kampf gegen Versailles nicht erlahmen läßt, ist das Gefühl, daß die feierlichen Versprechungen, die seitens der Alliierten und Assoziierten Mächte vor der Waffenstreckung gegeben wurden, und diese mitverursacht haben, im Vertrage von Versailles nicht erfüllt worden sind.

Die von Deutschland gegen den Vertrag von Versailles immer wieder erhobenen Einwände fußen auf dem Satz der ersten deutschen Antwortnote vom 9. Mai 1919 auf den Vertragsentwurf.

      "Die deutsche Friedensdelegation hat erkennen müssen, daß in entscheidenden Punkten die vereinbarte Basis des Rechtsfriedens verlassen ist; sie war nicht darauf vorbereitet, daß die ausdrücklich dem deutschen Volk und der ganzen Menschheit gegebene Zusage auf diese Weise illusorisch gemacht wird."

Auch die deutschen Gegenvorschläge und zusammenfassenden Bemerkungen gründen auf der Überzeugung, daß der wesentliche Inhalt des Friedensvertrages schon durch seine Vorgeschichte in seinen Richtlinien bestimmt war, daß Deutschland nach der feierlichen Vereinbarung über die Friedensgrundlage ein Recht auf deren Einhaltung hat.

Dieser Ausgangspunkt wird von den Siegermächten auch gar nicht bestritten, sondern in der Antwort vom 16. Juni 1919 wird ausdrücklich hervorgehoben,

"daß die Grundlage der Verhandlungen über den Friedensvertrag sich in dem Schriftwechsel befindet, welcher der Unterzeichnung des Waffenstillstandes vom 11. November 1918 unmittelbar vorausgegangen ist. Diese Grundsätze haben die Alliierten und Assoziierten Mächte als geeignete Friedensgrundlage angesehen, diese Grundsätze sind es immer wieder, die in den Beratungen der Alliierten und Assoziierten Mächte, die zur Abfassung der Friedensbedingungen geführt haben, befolgt worden sind."

Die Kernfrage ist also die, ob die angenommenen Friedensgrundsätze Wilsons wort- und sinngetreue Beachtung wie Auslegung gefunden haben. Die deutsche Regierung hat diese Frage jederzeit verneint und mit ihr auch das deutsche Volk.

Was ist nun in diesen Vorverhandlungen, in diesen Friedensgrundlagen vereinbart worden?

[5] Am 8. Januar 1918 hat der Präsident Wilson in einer Botschaft an den amerikanischen Kongreß die Aufstellung eines ausführlichen Programms des Weltfriedens in 14 Punkten gegeben. In Kürze zusammengefaßt sollte erzielt werden:

  1. Abschaffung der Geheimdiplomatie,
  2. Freiheit der Meere,
  3. Wirtschafts- und Handelsfreiheit,
  4. Abrüstung bzw. Verminderung der Rüstungen,
  5. Unparteiische Schlichtung der kolonialen Ansprüche,
  6. Räumung der besetzten russischen Gebiete,
  7. Räumung und Wiederherstellung Belgiens,
  8. Räumung und Wiederherstellung des besetzten französischen Gebiets und Wiedergutmachung des "Unrechts" an Elsaß-Lothringen,
  9. Berichtigung der italienischen Grenzen nach den klar erkennbaren Linien der Nationalität,
10. Autonome Entwicklung der Völker Österreich-Ungarns,
11. Räumung und Wiederherstellung von Rumänien, Serbien und Montenegro,
12. Regelung der Verhältnisse der Türkei,
13. Errichtung eines unabhängig polnischen Staates unter Zusicherung eines freien und sicheren Zugangs zum Meere,
14. Schaffung eines Völkerbundes.
In der Kongreßbotschaft vom 11. Februar 1918, in der Rede am Grabe Washingtons vom 4. Juli 1918 und der Rede in New York vom 27. September 1918 ist das Problem der Liquidation des Krieges in seinen Kernfragen weiter erörtert worden. Es ergab ein großes System, das der Welt die Befriedung bringen sollte. Dieses System fordert absolute Gleichheit für alle Völker, die sich freiwillig der Idee des Völkerrechts unterordnen, kennt als Abschluß des Krieges weder Sieger noch Besiegte und verwirft grundsätzlich Annexionen, Kontributionen und Straffrieden.

Am 5. Oktober 1918 nahm die deutsche Regierung Wilsons Programm als Grundlage für die Friedensverhandlungen an, indem sie an den Präsidenten der Vereinigten Staaten eine Note sandte, in der sie ihn ersuchte, die Herstellung des Friedens in die Hand zu nehmen und den sofortigen Abschluß eines Waffenstillstandes herbeizuführen.

Der Präsident der Vereinigten Staaten griff die Anerkennung seines Programms sofort auf. Aber er suchte sich des genauen Sinnes dieser Anerkennung zu versichern und fragte am 8. Oktober zurück, ob diese Anerkennung seines Programms als Grundlage für die Friedensverhandlungen seine wirkliche Annahme in dem Sinne [6] bedeute, daß der Zweck späterer Verhandlungen lediglich der sein würde, sich über die praktischen Einzelheiten ihrer Anwendung zu verständigen. Darauf antwortete die deutsche Regierung am 12. Oktober zustimmend, aber mit dem Hinzufügen, daß sie annähme, daß auch die Regierungen der Alliierten sich auf den Boden der Kundgebung des Präsidenten stellten.

Der Notenwechsel zwischen Deutschland und Wilson lief nunmehr bis zum 23. Oktober. Die Alliierten wurden hiervon zwar vertraulich verständigt, aber offiziell nicht beteiligt. Erst vom 23. Oktober bis zum 5. November liefen die offiziellen Verhandlungen zwischen Amerika und den Alliierten. Die Stellungnahme der Alliierten, deren Zustimmung Wilson stets behauptet hatte (vergleiche z. B. die Kongreßbotschaft vom 8. Januar 1918), wurde der deutschen Regierung formell in der Note des amerikanischen Staatssekretärs Lansing vom 5. November 1918 mitgeteilt. Sie enthielt außer dem Vorbehalt der Auslegung des Begriffs der "Freiheit der Meere" eine extensive Auslegung der deutschen Schadensersatzpflicht dahin, daß "Deutschland für allen durch seinen Angriff zu Wasser und zu Lande und in der Luft der Zivilbevölkerung der Alliierten und ihrem Eigentum zugefügten Schaden Ersatz leisten soll". In der Form dieser Note hat die deutsche Regierung die Bedingungen der Alliierten, denen Wilson ausdrücklich zugestimmt hatte, angenommen. Eine Notifizierung der Annahme war nicht erforderlich, da die Note vom 5. November 1918 keine neuen Bedingungen setzte, sondern nur eine Auslegung gab.

Was war nun dieser Note vom 5. November 1918 im Lager der Alliierten vorangegangen?

Präsident Wilson hatte sich seit Beginn des Notenwechsels zwischen ihm und der deutschen Regierung in Verbindung gehalten mit den Alliierten und sie täglich vertraulich über die Vorgänge unterrichtet. Am 23. Oktober machte er seinen Assoziierten offiziell die Mitteilung von dem Notenwechsel und richtete folgende beide Fragen an sie.

"1. Bezüglich des Friedens: sind die assoziierten Regierungen nach den Zusicherungen des Reichskanzlers geneigt, einen Frieden auf Grund der bereits bekannten Bedingungen und Grundsätze zu schließen?

2. Bezüglich des Waffenstillstandes: sind die assoziierten Regierungen, im Falle, daß die Antwort auf die erste Frage zustimmend ausfällt, geneigt, von ihren militärischen Ratgebern und denen der Vereinigten Staaten "sich Bedingungen unterbreiten zu lassen, die notwendig sind, um einen solchen Waffenstillstand herzustellen, der die Interessen der beteiligten Völker unbedingt schützt und den assoziierten Regierungen die unbegrenzte Macht wahrt, die Einzelheiten des [7] Friedens, zu dem die deutsche Regierung sich bereit erklärt hat, zu sichern und aufzuerlegen - immer vorausgesetzt, daß die militärischen Berater einen solchen Waffenstillstand vom militärischen Standpunkt aus für möglich erachten?"

Es war nur selbstverständlich, daß die Alliierten zunächst eine Erklärung der zweiten Frage Wilsons herbeizuführen sich bemühten. In dieser handelte es sich um zwei Unterfragen:

1. Halten die militärischen Oberbefehlshaber es vom militärischen Standpunkt aus für empfehlenswert, einen Waffenstillstand abzuschließen oder die Feindseligkeiten fortzusetzen?

2. Wenn sie den Abschluß eines Waffenstillstandes für möglich und wünschenswert halten, welche Bedingungen müssen dann gestellt werden, um Deutschland an der Wiederaufnahme des Krieges zu hindern und den Alliierten die Auferlegung der Friedensbedingungen zu ermöglichen?

Die Antwort auf diese beiden Fragen hatten nach Wilsons Absicht die Militärs zu geben, und Clemenceau, der natürlich mit dem Präsidenten ganz übereinstimmte, übertrug als Vorsitzender des Obersten Kriegsrates der Alliierten die Entscheidung dem Marschall Foch.

Marschall Foch, der Oberkommandierende der Ententestreitkräfte, berief demzufolge am 25. Oktober 1918 den amerikanischen, den französischen, den englischen und den belgischen Oberbefehlshaber, nämlich die Generale Pershing, Petain, Sir Douglas Haig und Gillain nach Senlis. Dort berieten die Feldherren, unter denen der belgische infolge der weiten Entfernung sich nicht befand, ob sich der Abschluß eines Waffenstillstandes empfehle und welche Bedingungen in zustimmendem Falle den Deutschen aufzuerlegen seien. Über die erste Frage bestanden keine Meinungsverschiedenheiten; keiner sprach sich für die Ablehnung des Gesuches aus. Nur über die Bedingungen war man verschiedener Ansicht. General Haig, der zuerst das Wort ergriff, trat durchaus für sehr gemäßigte Bedingungen ein; die Heere der Verbündeten seien am Ende ihrer Kräfte, Deutschland aber militärisch noch längst nicht gebrochen. In den letzten Wochen hätten sich die deutschen Heere unter tapfersten Kämpfen und in bester Ordnung zurückgezogen. Wenn man daher, was wünschenswert sei, einen Waffenstillstand abschließen wolle, so müsse man Bedingungen stellen, die Aussicht hätten, angenommen zu werden. Als diese bezeichnete er die Räumung Frankreichs, Belgiens, und Elsaß-Lothringens sowie die Rückerstattung des den Franzosen und Belgiern bei Kriegsbeginn abgenommenen rollenden Materials. Das reiche aus, um den Sieg zu sichern. Mehr dürfe man nicht fordern, wenn man nicht Gefahr laufen wolle, diesen Krieg, der schon genug gekostet habe, zu verlängern. Im Gegensatz zu Haig verlangte Petain [8] so scharfe Bedingungen, daß den Deutschen jede Wiederaufnahme der Feindseligkeiten unmöglich gemacht würde und die Alliierten dann den Frieden diktieren könnten. General Haig drang mit seinem Ratschlag der Mäßigung nicht durch, Foch und Pershing schlossen sich den Ausführungen Petains an und man einigte sich auf die schweren Bedingungen, die ungefähr denen entsprachen, die am 11. November den Deutschen tatsächlich diktiert worden sind.

Die in dieser Sitzung festgelegten Bedingungen wurden in den nächsten Tagen von den in Paris versammelten Regierungschefs und den Außenministern der Alliierten durchberaten und mit einigen Zusätzen und Präzisierungen versehen. In dieser Gestalt wurden sie dann am 31. Oktober dem Obersten Rat vorgelegt, der in mehreren Sitzungen über diese und die Antwortnote an Präsident Wilson beriet. Entscheidend waren die Verhandlungen vom 1. und 2. November, in denen man sich über den endgültigen Inhalt des Waffenstillstandes und über die Antwort an Wilson auf seine Frage vom 23. Oktober einigte. Diese Antwort, die die feierliche Annahme des Friedensangebots auf Grund der Wilsonpunkte mit den bekannten zwei Vorbehalten aussprach, ist dann von dem Präsidenten in der Note vom 5. November der deutschen Regierung wörtlich mitgeteilt worden.

In dem in dieser Note enthaltenen Memorandum der Alliierten heißt es:

      "Die alliierten Regierungen haben den Notenwechsel zwischen dem Präsidenten der Vereinigten Staaten und der deutschen Regierung sorgfältig in Erwägung gezogen. Mit den folgenden Einschränkungen erklären sie ihre Bereitschaft zum Friedensschluß mit der deutschen Regierung auf Grund der Friedensbedingungen, die in der Ansprache des Präsidenten an den Kongreß vom 8. Januar 1918 enthalten sind sowie der Grundsätze, die in seinen späteren Ansprachen niedergelegt sind."

Mit diesen klaren Worten und in dieser feierlichen Form legten sich also die Alliierten auf das Wilson-Programm als Grundlage des künftigen Friedens fest.

Damit war noch vor dem Waffenstillstand eine bindende Abmachung getroffen, die die Grundlagen des künftigen Friedens so festlegte, daß die künftigen Verhandlungen sich nur noch (nach Wilsons eigenem Ausdruck) um die "praktischen Einzelheiten ihrer Anwendung" drehen konnten.

Die Verhandlungen, die dem Memorandum der Alliierten vorangingen und die uns der französische Schriftsteller Mermeix (Pseudonym für Gabriel Terrail) in seinem 1919 erschienenen Buche Les Négociations Secrètes (Paris, Librairie Ollendorff) eingehend schildert, beweisen uneingeschränkt, daß damals die Alliierten sich bewußt waren, mit dem Wilson-Programm eine wirklich bindende Grundlage übernommen zu haben.

[9] Die Rechtslage war also klar. Waren die Grundbedingungen des künftigen Friedens auch nicht in der gewöhnlichen Form eines völkerrechtlichen Vertrags vereinbart, so stellte die Note Lansings vom 5. November 1918 doch eine rechtgültige Willensbildung der Alliierten dar.

Das Friedensprogramm Wilsons war damit am 5. November 1918 aus dem Gebiet des idealistischen Sehnens herausgetreten und Teil eines Abkommens geworden, das nach Keynes ein ungewöhnlich feierliches und verpflichtendes Gepräge trug.

      "Nachdem Deutschland sich im Vertrauen auf das Abkommen wehrlos gemacht hatte, erforderte es die Ehre der Verbündeten, auch ihre Pflichten zu erfüllen, und wenn es Zweideutigkeiten enthielt, aus ihrer Lage keine Vorteile zu ziehen."

Am Tage der Unterzeichnung des Waffenstillstandes hielt der amerikanische Präsident an die beiden in gemeinsamer Sitzung versammelten Häuser des Kongresses eine Ansprache, die in den Sätzen gipfelte:

      "Die großen Nationen, die sich verbündet haben, haben sich jetzt endgültig zu dem gemeinsamen Ziel vereinigt, einen Frieden aufzurichten, der die Sehnsucht der ganzen Welt nach uneigennütziger Gerechtigkeit befriedigen wird, die auf etwas viel Besserem, Dauerhafteren beruhen wird, als auf den selbstsüchtigen konkurrierenden Interessen mächtiger Staaten."

In Versailles wurde eine Urkunde niedergeschrieben, die in ihrem Geist die 14 Punkte vollkommen, in ihrem Buchstaben zum Teil aufgegeben hat. Das Selbstbestimmungsrecht wurde, soweit deutsche Volksgenossen und deutsche Gebietsteile in Frage standen, gröblichst mißachtet. An der deutschen Ostgrenze, in den deutschen Kolonien, erfolgte in der Tat, was die Kongreßrede vom 11. Februar 1918 untersagte: "Ein Verschachern von Völkern und Ländern, als ob sie bloße Ware oder Steine in einem Spiele wären." Trotzdem hatte das Ultimatum der Sieger vom 16. Juni 1919 die Stirn zu behaupten: "Alle territorialen Bestimmungen sind nach eingehendster und gewissenhaftester Prüfung aller Gesichtspunkte der Rasse, Religion und Sprache für jedes Land besonders festgesetzt worden." Man braucht zur Illustration dieser Gewissenhaftigkeit nur auf den neuen europäischen Krankheitsherd zu verweisen, den erbitterten Kampf der 40 Millionen Angehöriger von Minderheitsvölkern gegen die Unterdrückung eben der Rasse, Religion und Sprache.

Bei dem Verlangen nach unseren Schutzgebieten haben die Siegermächte nach ihren Darlegungen in allererster Linie "die Interessen der eingeborenen Bevölkerungen" berücksichtigt, da "grausame Unterdrückungen, willkürliche Requisitionen und verschiedene Formen von Zwangsarbeit weite Strecken in Ost-Afrika und Kamerun entvölkert" hätten. Damit haben sich gerade die Staaten zum Richter über unsere [10] kolonialen Methoden aufgeworfen, die bereits lange vorher und auch später fast ununterbrochen mit den modernsten Kriegsmitteln und Kampfmethoden den, verglichen mit den Eingeborenen unserer Schutzgebiete, kulturell höher stehenden in Nordafrika und Vorderasien ihre Zivilisation aufgezwungen haben. Zur Gewissensberuhigung für den amerikanischen Präsidenten wurde das rettende Mandatssystem erfunden, das zudem noch den weiteren Vorteil hatte, daß die Kolonien genommen werden konnten, ohne ihre gewaltigen Wirtschaftswerte auf unsere Entschädigungslasten in Anrechnung bringen zu müssen.

Um die Einleitung einer allgemeinen Rüstungsbeschränkung aller Nationen zu ermöglichen, mußte Deutschland in die restlose militärische Entmannung einwilligen. Im Teil V ihres Ultimatums vom 16. Juni 1919 haben die Siegermächte Wert darauf gelegt, besonders hervorzuheben, daß

"ihre die Rüstungen Deutschlands betreffenden Bedingungen nicht nur zum Zweck hatten, Deutschland die Wiederaufnahme seiner kriegerischen Angriffspolitik unmöglich zu machen. Diese Bedingungen stellen vielmehr gleichzeitig den ersten Schritt zu der allgemeinen Beschränkung und Begrenzung der Rüstungen dar, welche die bezeichneten Mächte als eines der besten Mittel zur Verhinderung von Kriegen zu verwirklichen suchen, und die herbeizuführen zu den ersten Pflichten des Völkerbundes gehören wird."

Bis heute ist von der Durchführung dieser Absichten wenig zu spüren. Obwohl die zwangsweise Begrenzung der Rüstungen bei dem Reich, das angeblich durch Vermehrung seiner Macht in den letzten Jahrzehnten vor dem Kriege den Staaten Europas das ungeheure Wachsen der Rüstungen aufgezwungen hat, restlos durchgeführt wurde, sind die alliierten Mächte ihrem Versprechen, dann auch ihrerseits abzurüsten, untreu geworden. Das um Deutschland sich lagernde neue Europa starrt von Waffen, wie es vor dem Kriege nie der Fall war. Der Satz der Mantelnote: "Erst wenn der Angreifer den Weg gezeigt hat, können auch die Angegriffenen in aller Sicherheit ihm folgen", klingt dem Betrachter der letzten 10 Jahre wie ein Hohn.

Teil VIII bis XII des Vertrages sollen die unlösbare Aufgabe erfüllen, die Zusicherung der Verbandsmächte "keine Kontributionen!" sozusagen unsichtbar zu machen und dennoch dem Ziele einer Kriegsentschädigung nahezukommen. Sie sind weit über dieses Ziel hinausgeschossen.

Schon in der abschließenden Note vom 5. November 1918 hatte die amerikanische Regierung auf das Drängen ihrer Bundesgenossen in Hinsicht der Wiederherstellung und Wiedergutmachung den eigenen Standpunkt abschwächen müssen. Der Friedensvertrag enthält darum ein ausgeklügeltes System von Entschädigungen, ohne sich jedoch dieses Gesamtausdrucks zu bedienen: er stellt hier das Schuldbe- [11] kenntnis Deutschlands an die Spitze, als sollten durch dieses Bekenntnis alle Bedenken, die gegen die Übereinstimmung der Regelung im Vertrage mit Inhalt und Geist von Wilsons Punkten aufsteigen könnten, im Keime erstickt werden.

Um das Maß der Ersatzleistungen zu erfassen, muß man sich gegenwärtig halten, daß es sich nicht bloß um die sogenannten Reparationen handelt, sondern außerdem um eine Fülle verschleierter Reparationen: Unterhaltungskosten der Besatzungsheere, der internationalen Ausschüsse, der Rheinlandkommission und der Reparationskommission, der entschädigungslose Verlust allen Reichs- und Staatsguts, die Eisenbahnen inbegriffen in Elsaß-Lothringen und den an Belgien abgetretenen Gebieten sowie in den Kolonien. Dazu kommt die Art, wie die Wirkungen des von den Verbandsmächten geführten Wirtschaftskriegs durch Ausgleich zu Lasten Deutschlands gelöst werden.

Obwohl der Umfang der Wiedergutmachungspflicht in dem Notenwechsel vor Beginn des Waffenstillstandes genau umgrenzt war, begannen schon in diesem wie während der weiteren Verhandlungen erfolgreiche Bestrebungen Frankreichs, die nicht so sehr auf Ersatz der Zivilschäden als auf wirtschaftliche Dauerschwächung Deutschlands zielten. Sie fanden ihre Krönung in der endgültigen Fassung des Artikels 231, dessen Wortlaut die Art enthüllt, in der mit dem Schein von Recht und Moral die Gewalttat gegen Deutschland überdeckt wird. Der Widerspruch zwischen Vorvereinbarungen und Vertragstext ist den Siegerstaaten auch sehr wohl bewußt gewesen. Denn nur so ist das Bemühen zu verstehen, die in Betracht kommenden Bestimmungen aus dem Haupttext fernzuhalten und in die Anlage 1 zu verstecken. Artikel 232 nebst Anlage stellen die für Deutschlands Wiederaufbau folgenschwerste Verletzung des Vorvertrages dar.

Der Geist, der sich in allen diesen politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Ansprüchen und Forderungen in der Kriegsschuld- und Kolonialschuldlüge, in der Kriegsverbrecherfrage wie in den Zulassungsbedingungen zum Völkerbund, ja selbst in scheinbaren Nebensächlichkeiten wie der Zurückforderung von Kunstwerken, die sich seit Jahrzehnten im wohlerworbenen deutschen Besitz befanden, des Korans des Kalifen Osman und des sich überhaupt nicht in Deutschland befindlichen Schädels des Sultans Ma Kaua (Art. 246), offenbarte, entsprang neben der reinen Gier nach Beute dem Willen, Deutschland aus seiner internationalen Machtstellung auf ewig zu vertreiben und durch Untergrabung seiner Ehre und seines Ansehens seine Wiederaufnahme in die Völkergemeinschaft möglichst lange zu verhindern.

Es ist bezeichnend, daß man in Paris die Grundgedanken des Wilson-Programms, die in allen Einzelheiten materieller Inhalt der Vorverträge geworden waren, formell festzuhalten und den Übergang [12] vom Rechtsfrieden zum Machtfrieden durch Auslegung der Wilsonschen Terminologien zu verschleiern suchte. Der Grundgedanke der Vorverträge, die Gerechtigkeit, die nicht wägt nach den Normen einzelner Staaten, sondern nach dem ewigen Gesetz, unter dem die Entwicklung der Völker steht, ist in Paris zu einer Farce geworden, hinter der sich die Willkür des Siegers nur schlecht verbarg. So bedeutete es den Bruch aller Vorabmachungen, als die alliierten und assoziierten Mächte in ihrer Note zum Ultimatum vom 16. Juni 1919 erklärten:

      "Die Gerechtigkeit ist also die einzige mögliche Grundlage für die Abrechnung dieses fürchterlichen Krieges. Gerechtigkeit ist das, was die deutsche Delegation verlangt, und das, von dem diese Delegation erklärt, man habe es Deutschland versprochen. Gerechtigkeit soll Deutschland werden. Aber es muß das eine Gerechtigkeit für alle sein. Es muß das sein die Gerechtigkeit für die Toten, für die Verwundeten, für die Waisenkinder, für alle, die in Trauer sind, auf daß Europa von dem preußischen Despotismus erlöst werde. Gerechtigkeit muß den Völkern zuteil werden, welche heute unter einer Last von Kriegsschulden, die sich auf mehr als dreißig Milliarden Pfund Sterling beziffern, und die sie zur Wahrung der Freiheit auf sich genommen haben, fast zusammenbrechen."

Diese selbstgefällige Rechtfertigung des Versailler Vertrages mit dem Schein des Rechts, mit der versuchten Reinwaschung des Vorgehens der verbündeten Mächte ist mißglückt. Tatsache ist vielmehr, daß diese unter schwersten Drohungen und Bereitstellung ungeheurer Gewaltmittel die Zustimmung Deutschlands zum Vertrag von Versailles erzwungen haben, der in vielen wesentlichen Punkten über den Vorvertrag vom 5. November 1918 hinausgeht.

Die deutsche Regierung hat dies auch in ihrer Note vom 23. Juni 1919 zum Ausdruck gebracht: "Der übermächtigen Gewalt weichend und ohne damit ihre Auffassung über die unerhörte Ungerechtigkeit der Friedensbedingungen aufzugeben", hat sie die Bestimmungen des Vertrages von Versailles unter Protest und Vorbehalt angenommen. Dieser Protest gilt, so weit diese Bestimmungen die vereinbarten Friedensgrundlagen verletzten und so weit hinsichtlich einzelner derselben später nicht eine freiwillige Anerkennung wie etwa derjenigen der Westgrenzen durch den Locarno-Vertrag erfolgt ist, auch heute noch.

Die Nichteinhaltung gegebener Zusagen, Notlage des Besiegten, Drohung und Zwang der Sieger bewirken ohne jeden Zweifel eine völkerrechtliche Fehlerhaftigkeit des Versailler Vertrages. Umstritten ist jedoch in der internationalen Rechtswissenschaft, ob diese Umstände ohne weiteres Nichtigkeit und Ungültigkeit zur Folge haben und in welchem Maße die völkerrechtliche Fehlerhaftigkeit einer einzelnen Vertragsbestimmung oder einer Gruppe von solchen den ganzen Vertrag in Mitleidenschaft zieht.

Die rechtsvernichtende Wirkung des Zwanges haben die alliierten [13] und assoziierten Mächte übrigens in den Artikeln 290, 292 und 293 des Versailler Vertrages selbst anerkannt, in denen sie alle Verträge, Übereinkommen und Abmachungen, die Deutschland seit dem 1. August 1914 mit seinen Verbündeten oder mit Rußland und Rumänien abgeschlossen hatte, ohne weiteres aufhoben mit der Begründung, daß bei deren Abschluß Deutschland die von ihm selbst herbeigeführten Umstände mißbraucht und einen Druck durch die augenblickliche Gewalt seiner Waffen ausgeübt habe. Die Aufrechterhaltung dieser Verträge, die Deutschland seinen Verbündeten wie den augenblicklich niedergeworfenen Gegnern aufgezwungen habe, sei unvereinbar mit einem Frieden des Rechts, welches auch die Folgen ihrer Aufhebung für Deutschland seien.

Das heißt doch nichts anderes, als daß Staatsverträge einschließlich Friedensverträgen, die dadurch zustandekommen, daß sich der eine Teil gerade durch solche Umstände zur Vertragsannahme und Vertragsunterschrift bewegen läßt, die der andere geschaffen hat (z. B. größere Machtmittel), und auf die er hinweist, um den Partner zur Annahmeerklärung zu bewegen im Bewußtsein, daß dieser sich sonst nicht dazu verstände, im Namen des Rechts nicht, jedenfalls nicht im Sinne der Wilsonschen Proklamation zu verteidigen sind.

Das gleiche liest man in der Begründung für die Forderung nach Rückgabe Elsaß-Lothringens. Die Abtretung Elsaß-Lothringens habe Deutschland 1871 nur durch Mißbrauch der Gewalt erreicht. Jetzt, wo ein Recht höherer Ordnung, das solche Verträge nicht anerkennen kann, unter den Völkern einziehen solle, erwachse aus der neueren besseren Erkenntnis die sittliche Verpflichtung, deren Wirkung wenigstens von jetzt an aufzuheben, d. h. soweit diese Wirkung sich in einem als Unrecht anerkannten Zustande äußert, diesen Zustand zu beseitigen.

Die Wissenschaft ist, wie gesagt, nicht einig darüber, welche Rechtsfolgen die dargelegten Mängel für die Rechtsbeständigkeit völkerrechtlicher Verträge nach sich ziehen. Das gleiche gilt bezüglich der Schuldfrage, deren einseitige vorschnelle Erledigung als cause jugée zur Grundlage des Versailler Vertrages gemacht wurde und deren unparteiischer und sachlicher Nachprüfung die Regierungen unserer ehemaligen Kriegsgegner immer noch ausweichen. Inwiefern aber der heute schon feststehende Nachweis der Unrichtigkeit eine Änderung des Vertrages herbeizuführen vermag, darüber gehen die Ansichten in den berufenen Kreisen auseinander.

Es mag heute vielleicht manchem müßig erscheinen, über die Frage der Gerechtigkeit des Versailler Vertrages nachzugrübeln, um so mehr, als, wie dargelegt, der deutsche Standpunkt und derjenige unserer Vertragsgegner hierin weit auseinandergehen. Es ist weiterhin richtig, daß der Vertrag von Versailles Bestandteil des deutschen und [14] internationalen Rechts geworden ist und somit aus der Rechtssphäre wie aus der politischen Weiterentwicklung nicht mehr verschwinden kann. Notwendig ist aber trotzdem für uns und unsere Zukunft die immer wiederholte Überprüfung unter Hinweis auf die Punkte, in denen er den ihm vorhergegangenen Vereinbarungen widerspricht. Die hieraus erwachsenden Ansprüche sind unverjährbar, zumal auch ein Friedensvertrag seiner Ansicht und Form nach unbefristet ist. Ihnen wird gewiß erst nach Jahren Genüge geleistet werden. Sie müssen uns aber doch einstens wiederbringen, was uns als Volk und Nation rechtens zusteht und was wir als solche nicht entbehren können:

Freiheit und Ehre!


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Zehn Jahre Versailles
in 3 Bänden herausgegeben von
Dr. Dr. h. c. Heinrich Schnee und Dr. h. c. Hans Draeger