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Bd. 1: A. Der Rechtsanspruch auf Revision

Vorwort

Dr. Dr. h. c. Heinrich Schnee und Dr. h. c. Hans Draeger

Die Stürme, die in den vergangenen zehn Jahren über das deutsche Volk hinweggegangen sind, haben mehr denn einmal seinen Bestand als Staat und Nation ernstlich bedroht. Bei der Vielgestaltigkeit und dem fortwährenden jähen Wechsel der Ereignisse ist ihm vielfach die Erkenntnis verwischt und getrübt worden, daß alle die politischen Irrungen und Wirrungen, die materiellen Sorgen und Entbehrungen, die seelischen Nöte und Bedrängnisse, deren Opfer es in diesem Zeitraum gewesen, von jenem verhängnisvollen 28. Juni ihren Ausgang nahmen, an dem ihm unter Drohung und Gewalt in Versailles das Friedensdiktat aufgezwungen wurde.

Wenn wir heute, zehn Jahre nach Versailles, den Versuch unternehmen, den Verlauf dieses Jahrzehntes unter den Auswirkungen des Versailler Friedensdiktats zu schildern, so nicht in dem Wunsche, alte Wunden aufzureißen, alten Groll und alte Erbitterung neu zu beleben. Dieser Rückblick auf Vergangenes soll zunächst noch einmal den verhängnisvollen Anteil aufzeigen, den die vor zehn Jahren in Paris und Versailles sich abspielenden Vorgänge an der späteren Gestaltung der Ereignisse auf der europäischen und Weltbühne gehabt haben. Die Schlagworte vom "Unsauberen Frieden", vom "Friedlosen Europa" haben in diesen zehn Friedensjahren eine schaurige Verkörperung erlebt.

Nur aus der Vergangenheit, aus der Geschichte können Lehren für die Gegenwart und Zukunft gezogen werden. Man kann wohl nicht behaupten, daß die Väter der Pariser Verträge sich von dieser Erkenntnis haben leiten lassen. Guglielmo Ferrero, der bekannte italienische Historiker, hat dem von ihnen ins Leben gerufenen Frieden ein wenig rühmliches Denkmal errichtet, als er 1919 - in Voraussicht der kommenden Dinge - über ihr Wirken in Paris und Versailles folgende vernichtende Kritik übte:

      "Als sie den Krieg und Frieden erwogen, rechneten sie nur mit den günstigen Elementen. Wer aber wüßte nicht, daß es in allen [VI] menschlichen Dingen niemals Gutes ohne Böses, Vorteile ohne Nachteile, Aktiva ohne Passiva gibt und daß der Staatsmann verstehen muß, sie zu unterscheiden. Diese lustigen Buchführer dagegen stellten ihre Bilanz auf, indem sie nur das Haben addierten und das Soll strichen. Die Tragödie des Friedens ist nicht einmal von den Schmierenschauspielern verstanden worden, die sie gespielt haben. Dabei ist sie vielleicht schrecklicher als der Krieg. Eine Katastrophe, deren Wirkungen noch Generationen treffen werden, hat sich in wenigen Wochen, allen unbewußt, in den geheimen Konventikeln weniger Menschen vollzogen, die ein blindes Schicksal zufällig auserwählt und mit fast göttlicher Macht ausgestattet hatte, über das Wohl und Wehe der Welt zu verfügen. Sie bedienten sich dieser Macht ohne zu wissen, was sie taten. Man muß zugeben, daß die Schuster von 1815 ihr Handwerk besser verstanden als die Schuhflicker von 1919. Europa ist ein Chaos, im Vergleich zu dem die 1914 herrschende Ordnung als vollkommen betrachtet werden muß. Jene Ordnung konnte sich halten durch ein Gleichgewicht wirklicher Machtverhältnisse und durch die Geltung veralteter, aber noch nicht toter Grundsätze. Heute gibt es kein Gleichgewicht der Kräfte, und Grundsätze gelten nichts mehr. Beide sind durch die Pariser Verträge in Verwirrung gebracht oder ihrer Autorität beraubt."

Das war 1919. Und zehn Jahre später? Wohin das Auge in Europa auch blicken mag, nach Nord oder Süd, West oder Ost: überall und noch immer sehen wir die zerstörenden Kräfte jener Pariser Verträge, besonders des Versailler Vertrages am Werk, den Wiederaufbau Europas zu hemmen und zu verhindern.

Wenn wir in den vorliegenden Bänden diese Kräfte und ihr Zentrum, den Versailler Vertrag, noch einmal rückschauend in ihrem verhängnisvollen Wirken überblicken, so soll darin zugleich eine Mahnung an die heutigen verantwortlichen Staatsmänner liegen, das Werk jener Pariser Flickschuster nicht nur durch Einsetzen immer neuer Flicken, die Pariser und Versailler Urkunden hie und da nicht nur durch neue Buchstaben, Formeln und Paragraphen - totes und starres Beiwerk - zu verbessern zu suchen. Sie können nur überwunden werden durch Überwinden des Geistes, der bei ihrer Geburt Pate gestanden.

[VII] In diesem Ringen sind es die im Weltkrieg unterlegenen, im Frieden vergewaltigten Nationen, die in vorderster Front stehen, vor allem das deutsche Volk. Ihm ist daher in erster Linie das vorliegende Werk gewidmet, in dem Bestreben, sein nationales Bewußtsein zu stärken, seine geistigen und - trotz aller Gebundenheit durch Versailles - materiellen Kräfte zu sammeln, um sie in dem internationalen Kampf um die friedliche Revision der Pariser und Versailler Verträge mobil zu machen.

Denn dieser Kampf ist erst in seinen Anfängen begriffen. Wenn es hierbei auch vielfach um internationale Probleme geht, wie Selbstbestimmungsrecht der Völker, Minderheitenrecht und Minderheitenschutz, Mandatsherrschaft, Abrüstung, Kriegsächtung und Kriegsverhinderung, Förderung der Weltwirtschaft und des Welthandels, so ist mit ihrer Lösung doch auch die Erfüllung nationaler Ziele, die Befreiung von harten Fesseln verbunden, in die Versailles das deutsche Volk, seine Brüder und Schwestern jenseits der Grenzpfähle geschlagen hat. Und wie auf diesem internationalen Gebiet müssen die Waffen des Rechts und der Moral, welche uns die durch Versailles in ihr Gegenteil verkehrten Grundlagen des Wilson-Programms und des Vorfriedensvertrages vom 5. November 1918 in die Hand gegeben, geführt werden ebenso im Kampf um unsere rein nationalen Interessen. Sie sind auf politischem, wirtschaftlichem, kulturellem und sozialem Gebiet durch die fremden Besatzungstruppen und Kontrolleinrichtungen, durch die ungerechten Grenzziehungen, durch das Reparationsproblem, durch die Internationalisierung der deutschen Ströme u. a. schwer beeinträchtigt worden. Schließlich aber gilt es dem deutschen Ansehen und der deutschen Ehre durch Beseitigung der Kriegs- und Kolonialschuldlügen wieder die Geltung in der Welt zu verschaffen, die sie ehemals besaßen.

Wenn auch heute gegenüber den ersten Jahren nach Versailles die deutsche Politik auf manchen Gebieten wieder ein gewisses Maß von Bewegungsfreiheit erlangt hat, so ist doch noch ein weiter Weg zurückzulegen bis zur restlosen Anerkennung Deutschlands als gleichberechtigter, in allen ihren Handlungen und Unterlassungen souveräner Großmacht. Ihrer Wiedererlangung liegt stets noch der schwere Block von Versailles im Wege. Ihn zu beseitigen und das Diktat von Versailles nicht durch Gewalt, sondern mit friedlichen Mitteln seiner [VIII] gröbsten Mißgriffe zu entkleiden, sind Möglichkeiten vorhanden. Schon ist im ersten Jahrzehnt die Starrheit des namentlich von französischer Seite verkündeten Grundsatzes von der ewigen Unantastbarkeit des Vertragswerkes in vielen Fällen durchbrochen worden. Diese Breschen gilt es zu erweitern, nicht nur zu unserer eigenen Befreiung, sondern auch um die in seiner Präambel von Idealismus getragenen Verheißungen für ein neues Leben zu verwirklichen. Auch Friedensdiktate sind Zeitgebilde - kein monumentum aere perennius.

Möge das vorliegende Werk allen denen ein brauchbares Werkzeug sein, die sich berufen fühlen, den eben skizzierten Bestrebungen zum Siege zu verhelfen. Die beiden ersten Bände behandeln im einzelnen die politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen des Versailler Vertrages. Aus Raumgründen mußten dabei die die wirtschaftlichen Folgen behandelnden Fragen in den ersten Band genommen werden, obwohl es logischer gewesen wäre, die politischen Folgen voranzustellen. Der dritte Band, dessen Herausgabe zum 10. Januar 1930, dem Tag der zehnjährigen Wiederkehr des Inkrafttretens des Versailler Vertrages erfolgt, wird sich mit den grenz- und volkspolitischen Aufgaben der künftigen deutschen Politik befassen.

Schließlich sei noch allen, die sich helfend und fördernd an der Herstellung dieses Werkes beteiligt haben, auch an dieser Stelle herzlichst gedankt.

Berlin, den 28. Juni 1929.                               Die Herausgeber.

[IX - X] [Anm. d. Scriptorium: im Original findet sich auf den hier folgenden Seiten die Inhaltsübersicht für Bd. 1, welche wir in diesem unserem Online-Nachdruck hier wiedergegeben haben.]

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Zehn Jahre Versailles
in 3 Bänden herausgegeben von
Dr. Dr. h. c. Heinrich Schnee und Dr. h. c. Hans Draeger