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III. Die Volksgruppe im Zuge der Ereignisse
(26. 1. 1934 - 31 .8. 1939)

1. Im Schatten des Nichtangriffspaktes
(26. 1. 34 - 14. 7. 37)

a. Unmittelbare Auswirkungen des Paktes

Aus der bisherigen Schilderung der behördlichen Maßnahmen der deutschen Volksgruppe gegenüber war schon zu erkennen, daß der deutsch-polnische Nichtangriffspakt vom 26. Januar 1934 keinen grundlegenden Wandel in der Einstellung der maßgebenden polnischen Kreise herbeigeführt hat. Die seit Entstehen des polnischen Staates wirksam gewordenen polnischen Verdrängungstendenzen und Assimilierungsbestrebungen, die wir bisher bei Darlegung der einzelnen Sachgebiete kennengelernt haben, hielten weiterhin an, wenngleich sie vielleicht hier und da eine Modifizierung erfuhren. Um nun das Verhalten sowohl der polnischen Behörden als auch der deutschen Volksgruppe in dem uns besonders interessierenden Zeitabschnitt richtig beurteilen zu können, seien hier die für das Deutschtum bedeutungsvollen Geschehnisse dieser Jahre geschildert. Die chronologische Darstellung soll die bisher erfolgten thematischen Darlegungen ergänzen und dadurch zu einem möglichst vollständigen Überblick über die Lage der Volksgruppe verhelfen.

Es muß anerkannt werden, daß der Nichtangriffspakt als solcher dem Deutschtum wenigstens für die ersten Monate eine gewisse Entspannung gebracht hat. Es war dies aber mehr eine seelische Entlastung, da die Volksgruppe glaubte, von dem Pakt eine Beseitigung der gerade im Vorjahre unerträglich [213] gewordenen Spannung erhoffen zu können. Wir erinnern daran, daß die politische Entwicklung des Jahres 1933, die anfängliche Zuspitzung des deutsch-polnischen Verhältnisses nach der Übernahme der Kanzlerschaft durch Adolf Hitler, die polnischen Präventivkriegsbestrebungen (Westerplatte März 1933)1 zu einem verschärften antideutschen Kurs in Polen und zu verschiedenen blutigen Ausschreitungen in verschiedenen deutschen Siedlungsgebieten geführt hatten. Im April 1933 hatten doch die Deutschen von Lodz (am "schwarzen Palmsonntag") und die von Graudenz eine große Boykotthetze und schwere Ausschreitungen erlebt. Im Oktober war es in Ostoberschlesien zu Überfällen auf die Volksbundheime und zu Verprügelungen von Deutschen auf der Straße gekommen.2 Bei den Vorbereitungen zu den Stadtverordnetenwahlen in Graudenz im November 1933 wurden erneut Deutsche überfallen, wobei zwei Familienväter, Erich Riebold und Adolf Krumm, unmittelbar danach den erlittenen Verletzungen erlagen. Die Deutschen ganz Polens glaubten, sich in einer hoffnungslosen Lage zu befinden, aus welcher sie das deutsch-polnische Abkommen zu erlösen schien. Daß die Volksgruppenfrage im Pakt nicht erwähnt war, störte sie nicht. Daß das Reich Mühe gehabt hatte, bei den Polen eine Formulierung zu erwirken, die die Volksgruppe nicht gerade ausschloß, wußten sie nicht, das gewonnene Gefühl der Erleichterung war z. T. mit einem solchen der Dankbarkeit dem Manne gegenüber verquickt, der diese unerträgliche Belastung von den Deutschen in Polen genommen zu haben schien. Auch diesem Umstande ist u. a. die Aufgeschlossenheit großer Teile der Volksgruppe für die aus dem Dritten Reich herübertönenden Parolen zuzuschreiben.

In Posen-Westpreußen war man vielfach geneigt, die rege politische Versammlungstätigkeit seit Februar 1934 dem Nichtangriffspakt zugute zu schreiben. Jedoch hatte in dem [214] demokratisch firmierten Polen auch vorher für deutsche Organisationen, ebenso wie für die der anderen Volksgruppen und die der Opposition, grundsätzlich Versammlungsfreiheit bei Beachtung gesetzlicher Vorschriften bestanden. So hatte die Jungdeutsche Partei schon das ganze Jahr 1933 hindurch Versammlungen in Ostoberschlesien abgehalten. Wenn man ihr auch im Posenschen anfänglich, d. i. in den Jahren 1934 und 1935, keine Schwierigkeiten bei ihrer Versammlungstätigkeit bereitete, so war das einerseits den Loyalitätsbeteuerungen der JDP und andererseits ihren Angriffen auf die alte Führung der Volksgruppe zuzuschreiben, da man sich polnischerseits Hoffnungen machte, daß die Tätigkeit der neuen Partei eine Schwächung des Deutschtums zur Folge haben würde. Damit dieses gelänge, mußte man dann auch der nach dem Auftreten der JDP angemeldeten Deutschen Vereinigung die Satzungen genehmigen. Außerdem waren sich die Regierungskreise klar darüber, daß bei einer Unterbindung der deutschen Volkstumsorganisationen die aktiven Elemente von extremen Kräften gewonnen werden könnten.3

In Wirklichkeit waren daher polnischerseits nur einige wenige kleine Gesten erfolgt. So wurde die im Bromberger Pfadfinderprozeß 1930/33 erfolgte Verurteilung von deutschen Jugendführern wegen Verstosses gegen die Paßvorschriften u. a. zu harten Gefängnisstrafen durch Amnestierung der letzten zwei Verurteilten erledigt. Angehörige der Volksbundjugend, die in Königshütte wegen angeblicher Geheimbündelei angeklagt worden waren und die seit dem Sommer 1933 monatelang in Untersuchungshaft gesessen hatten, denen vor Gericht die Geheimbündelei nicht nachgewiesen werden konnte, - was einen Freispruch für die Organisation bedeutete -, wurden doch wegen angeblicher militärischer Übungen zu 6-10 Monaten Haft bei dreijähriger Bewährungsfrist verurteilt.

[215] Unter den wenigen Gesetzen ist die auf Gegenseitigkeit beruhende Ermöglichung der kulturellen Fühlungnahme mit dem Muttervolk durch Gewährung von Freipässen bei Gruppenausflügen ins Reich, so z. B. zur "Grünen Woche" Berlin und dgl. zu nennen. Aber in einigen Fällen wurde noch deutschen Künstlern die Einreise nach Polen verweigert, so im April 1934 dem Dresdener Streichquartett nach Thorn und im Oktober dem Berliner Domchor nach mehreren Städten, und zwar als Jan Kiepura in Berlin schon begeistert gefeiert und von den Spitzen des Reiches empfangen wurde, der bis dahin nie eine deutschfreundliche Haltung gezeigt hatte und der später seit 1939 - erst recht - antideutsche Propaganda betrieb.4

Besonders nachteilig war es, daß die polnische Regierung trotz des deutsch-polnischen Presseprotokolls vom 24. 2. 1934 die andauernde deutschfeindliche Pressepropaganda der meisten polnischen Blätter nur in den allerseltensten Fällen unterband. Beinahe als ein Entgegenkommen war es schon zu bezeichnen, daß die polnische Presse antideutsche Maßnahmen wie z. B. die Aufteilung des deutschen Großgrundbesitzes z. T. nicht mehr um ihrer selbst willen propagierte, sondern sie mit Billigkeitserwägungen zu begründen suchte. Daß die Behörden tatsächlich an kein Einlenken der Volksgruppe gegenüber dachten, zu diesem Schluß muß man bei einer Betrachtung der verschiedenen "Kampfgebiete" kommen.

Die im Februar 1934 erschienene Parzellierungsliste wies zwar die geringste angeforderte Landfläche auf (nur 1032 ha wurden von deutschen Besitzern gefordert), und die Wojewodschaft Posen war diesmal überhaupt nicht herangezogen worden, aber die Anforderungen aus Westpreußen allein lagen mit einem deutschen Prozentsatz von 70% über dem Gesamtdurchschnitt der 15 Jahre, der sich auf 66% deutschen parzellierten Besitz belief. Die an sich geringe angeforderte Fläche mag aber vor allem darauf zurückzuführen sein, daß [216] der Völkerbundrat die Prüfung der diesbezüglichen deutschen Beschwerde noch nicht abgeschlossen hatte. In den Jahren 1935 und 1936 war dann der deutsche Anteil mit 55 und 53% der angeforderten Fläche geringer, dafür war aber letztere mit 6197 und 8444 ha deutschen Bodenverlustes um ein Vielfaches höher als in den Jahren 1933 und 1934.

Wegen der polnischen Schulmaßnahmen lief eine deutsche Beschwerde beim Völkerbund. Die Anordnung vom 30. 5. 1933, daß auch in deutschen Privatschulen Geschichte und Erdkunde in polnischer Sprache unterrichtet werden sollte, wurde nicht auf Grund des Nichtangriffspaktes, sondern erst infolge der Forderung des Fünferkomitees zurückgezogen, das im Mai 1934 seinen Bericht erstattet hatte.

Auf kirchlichem Gebiet unternahm es gerade im Februar 1934 Generalsuperintendent Bursche - wenn auch vergeblich - die Pastorenschaft für seinen neuen scharfen, die augsburgische Kirche polonisierenden Kirchengesetzentwurf zu gewinnen. Wenn er diesen Entwurf damals noch nicht mit Hilfe des Staates durchgeführt hat, so dürfte das weniger eine Auswirkung des Nichtangriffspaktes gewesen sein, als daran gelegen haben, daß die Regierung mit der zwangsweisen Durchführung warten wollte, bis sie bzw. der Staatspräsident mehr Vollmachten erhielt, was bekanntlich erst mit der neuen Verfassung vom 23. 4. 1935 ermöglicht wurde.

Grobe Terrorfälle kamen im Jahre 1934 nicht vor, auch nicht in Ostoberschlesien, dafür wurde aber gerade dort in diesem Jahre schwerstes Geschütz gegen den Prinzen von Pleß und andere deutsche Großbetriebe aufgefahren und eine Kündigungswelle von der anderen abgelöst. Der Präsident der Gemischten Kommission, Felix Calonder, hatte schon Ende Dezember 1933 den Eindruck, daß die Provinzialbehörden sich gegen diesen Verständigungsgedanken innerlich auflehnten und daß sie versuchten, durch scharfes Vorgehen [217] gegen die Minderheit ein Gegengewicht gegen die Warschauer Politik zu schaffen oder aber faits accomplis herzustellen, für den Fall, daß die Verständigungspolitik wirklich Fortschritte mache.5

Zu Beginn des Jahres 1934 konnte übrigens Grazynski die größten Schönheitsfehler in seiner "kern- und urpolnischen" Wojewodschaft beseitigen, die bisherigen deutschen Mehrheiten in den Stadtverwaltungen von Königshütte und Bielitz, in diesen deutschesten Städten Polens. Königshütte mußte sich die Eingemeindung von Chorzow und Neuheiduk und anschließend die Umtaufe auf Groß-Chorzow, Bielitz die Einsetzung eines Kattowitzer polnischen Stadtrates als kommissarischen Bürgermeister gefallen lassen. In beiden Städten wurden kommissarische Körperschaften bestellt, in denen die deutsche Mehrheit der Stadtbevölkerung nur durch 20% (Königshütte) bzw. 25% (Bielitz) der Berufenen vertreten war.

Die deutsche Volksgruppenführung, die in den letzten Jahren auf Grund der gemachten Erfahrungen die Hoffnung verloren hatte, in Polen etwas erreichen zu können, und die daher mehrere Beschwerden beim Völkerbund eingereicht hatte, unternahm nach dem Pakt erneut den Versuch, die Lebensfragen des Deutschtums in direkter Verständigung mit der Regierung zu klären. Der damalige Innenminister Pieracki zeigte sich diesem deutschen Anliegen sowohl den Bromberger als auch den Lodzer6 deutschen Parlamentariern gegenüber durchaus aufgeschlossen. Auf seine Aufforderung hin wurde ihm im Frühjahr 1934 eine Sammeleingabe in Form einer Denkschrift überreicht, in welcher die Abgeordneten feststellen mußten: "Die deutsche Bevölkerung Polens unterliegt in ihrer Gesamtheit auf Grund ihrer nationalen Einstellung deutlich fühlbaren benachteiligenden Behandlungen. Man hat den Eindruck, als ob die... Unterbehörden aus ihrer minderheitenfeindlichen Einstellung absolut keinen Hehl machen und die [218] gegebenen Möglichkeiten benutzen, um durch direkte Rechtsverweigerung oder andererseits durch Rechtsübersteigerungen den Lebensraum der Deutschen ständig zu verengen".7 Ob Pieracki wirklich gewillt war, hier eine Änderung herbeizuführen, läßt sich nicht sagen, da er Mitte Juni 1934 einem ukrainischen Attentat erlag. Für seinen Nachfolger durfte Erwin Hasbach am 25. 3. 1935 eine neue Zusammenstellung der seit damals noch aktuellen Fragen machen, bei welcher Gelegenheit er für Posen-Westpreußen zugestand, daß "gewisse Besserungen eingetreten sind", aber gleichzeitig feststellen mußte, daß "sich in drei Punkten grundlegend noch nichts geändert hatte, und zwar:
1. in der Frage des deutschen Schulwesens und damit in der Beschränkung unseres kulturellen Lebens,
2. in der Frage der Verminderung des deutschen Grundbesitzes und damit in der Beschränkung unseres materiellen Lebensraumes,
3. in der Frage des deutschen Vereinslebens...,
und daß die Maßnahmen der Verwaltungsbehörden nicht nur auf eine Behinderung des mit der Schulfrage verknüpften deutschen kulturellen Lebens überhaupt abzielen, sondern geradezu deren Vernichtung im Auge haben".8 Für ungefähr dieselbe Zeit mußte Botschafter v. Moltke dem Minister Beck erklären, "daß derjenige, der sich zur deutschen Minderheit bekenne, häufig schwersten Nachteilen ausgesetzt sei und von den unteren Organen als illoyaler Staatsbürger angesehen würde".9



b) Ausnutzung des Paktes in deutschfeindlichem Sinne

Die polnischen Assimilierungs- und Verdrängungstendenzen hatten sich also trotz des Paktes ungehindert weiterhin auswirken können, aber es waren nicht nur für die Volks- [219] gruppe positive polnische Handlungen ausgeblieben, der Herbst 1934 brachte darüber hinaus noch einige für das Deutschtum ausgesprochene negative Folgen des Paktes. Die erste war die Kündigung des Genfer Minderheitenschutzes durch Polen am 13. 9. 1934. Schon am 10. April 1934 hatte Polen beim Völkerbund eine Verallgemeinerung der Minderheitenschutzverträge beantragt, und zwar im Sinne der schon seit 1930 von Polen und der "Kleinen Entente" aufgestellten These: Erst generalisieren, dann reformieren. Als nun Minister Beck seinen Antrag auf der Herbsttagung erneuerte und England sowie Frankreich sich wie erwartet energisch dagegen aussprachen, erklärte er, daß die polnische Regierung sich genötigt sähe, sich jeder Zusammenarbeit mit den internationalen Organen zu versagen, soweit es sich um die Kontrolle der Anwendung des Minderheitenschutzsystems durch Polen handele. Gleichzeitig unterstrich Beck, daß die Minderheiten weiterhin durch die Grundgesetze Polens geschützt seien. Letzteres stimmte zwar, aber wir haben bereits gesehen, wie sehr diese Bestimmungen umgangen wurden. Selbst der Völkerbund hatte doch die deutschfeindlichen polnischen Maßnahmen nicht zu unterbinden, sie höchstens vorübergehend etwas abzuschwächen vermocht. Seit dem Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund und dem deutsch-polnischen Nichtangriffspakt hatte die Volksgruppe den Genfer Beschwerdeweg nicht mehr beschritten, aber trotzdem verlor sie durch den einseitigen polnischen Akt, der nur dank dem Desinteressement des Reiches an Genf und vor allem dank der dem Reich durch den Pakt auferlegten Zurückhaltung Polen gegenüber möglich gewesen war, eine Rückendeckung, die im Falle einer Verschlechterung der deutsch-polnischen Beziehungen von Bedeutung hätte werden können.

[220] Gewichtige polnische Kreise entfalteten aber noch auf anderen Gebieten in demselben Jahr eine für das Deutschtum bedeutungsvolle Aktivität. Bei den deutschfeindlichen Instituten und Verbänden machten sich nämlich gewisse Umstellungen bemerkbar, die zeigten, wie polnische Kreise den Nichtangriffspakt auszunutzen verstanden. Das in Frontrichtung zum Oppelner Schlesien hin erst im Winter 1933/34 gegründete "Schlesische Institut", Kattowitz, in dessen Kuratorium u. a. Grazynski saß, nahm im Mai 1934 seine aggressive Tätigkeit auf. Das in erster Linie von Regierungszuwendungen lebende "Baltische Institut" in Thorn stellte auf seiner vom 31. 10. bis 2. 11. 1934 in Krakau stattfindenden IV. Pommerellenkundlichen Tagung in Anwesenheit der Vertreter von vier Ministerien und anderer hoher Würdenträger fest, daß infolge des angeblich zu großen deutschen Besitzstandes und des zu sehr florierenden deutschen Genossenschaftswesens in Westpreußen diese Wojewodschaft "gerade jetzt einwandfrei polnisch gemacht werden" müsse.10 Und von 1935 an dehnte dieses Institut seine Tätigkeit auf den ganzen Ostseeraum aus. Es zeigte für Pommern und Westpreußen stärkstes Interesse und verlegte im Januar 1936 seine Direktion nach Gdingen. Der "Westmarkenverband" hatte nach dem 26. 1. 1934 den Ton gegen das Reich nur vorübergehend gemildert, die Schärfe gegen die Volksgruppe aber beibehalten. So unternahm er schon im April 1934 zur Zeit der Schulanmeldungen in Ostoberschlesien eine große Agitationswelle und Beeinflussungsversuche, um die Kinderanmeldungen für die deutsche Schule zu unterdrücken. Auf seiner in Warschau am 18./19. November 1934 stattgefundenen Delegiertenversammlung wurden die Namensänderung auf "Polnischer Westverband", die Sitzverlegung nach Warschau und die Übernahme der Betreuung der Polen in Deutschland beschlossen. Diese Beschlüsse bestimmten die zukünftige offensive Haltung des Verbandes. [221] Sein jetzt auch in den Satzungen niedergelegtes Interesse an den Auslandspolen hatte der Westmarkenverband schon vorher bekundet, da er sich u. a. seit 1925 für eine Zusammenfassung der mehr als 30 verschiedenen, dem Auslandspolentum gewidmeten Vereine eingesetzt hatte. Dieses von der Regierung geförderte Unternehmen wurde bei der zweiten Tagung des "Organisationsrates der Auslandspolen" vom 6. bis 10. August 1934 in Warschau und Krakau, bei der unter 6.800 erschienenen Auslandspolen gegen 3.300 aus Deutschland gekommen waren, durch die Gründung des "Weltbundes der Polen" gekrönt. Bei dieser Gelegenheit wurde den polnischen Volksgruppen u. a. die Pfadfinderbewegung als die geeignetste Form für die Organisierung der Jugend empfohlen; der unter Führung des Wojewoden Grazynski stehende Pfadfinderverband in Polen erhielt dann auch engen Kontakt zu den auslandspolnischen Pfadfindergruppen. Den von diesem Weltbund auf seiner Gründungstagung angenommenen Appell "an die Völker der Welt", "allen Staatsangehörigen ohne Rücksicht auf ihre Volkszugehörigkeit in allen Staaten die tatsächliche, volle politische und staatsbürgerliche Gleichberechtigung ebenso zu sichern, wie die völlige Freiheit in der unbehinderten Entwicklung aller kulturellen Werte des Volkes",11 bezog der polnische Staat allem Anschein nach nicht auf sich. Vorsitzender dieser Organisation war übrigens kein Volksgruppenführer (wie es z. B. beim Verband der deutschen Volksgruppen in Europa der Fall war), sondern der derzeitige Senatspräsident und spätere Pommereller Wojewode Raczkiewicz (der Ende 1939 erster Staatspräsident im Exil wurde). Trotzdem konnte der Polenbund aus dem Reich diesem Bund ungestört angehören und eines seiner tatkräftigsten Mitglieder sein, wogegen die USA-Polen gegen einen Beitritt zu dem vom polnischen Staat aus geführten Bund Bedenken hegten.

[222] Polen verstand es also, die durch den Nichtangriffspakt bewirkte Entspannung seinen Zwecken dienstbar zu machen. Da die Regierungen der Weimarer Republik immer wieder die Korridorfrage angeschnitten und einsichtige Ausländer, Engländer und Italiener, Verständnis für die deutschen Forderungen gezeigt hatten, hatte für Polen stets das Gespenst einer drohenden Revision der Versailler Friedensbestimmungen im Hintergrund gestanden. Diese Gefahr schien jetzt zumindest für zehn Jahre gebannt zu sein. Daher konnten die nationalistischen polnischen Kreise zur Offensive übergehen. Allem Anschein nach gingen sie von der Auffassung aus, daß die Entdeutschung der vom Reich womöglich doch noch einmal zurückgeforderten Provinzen vorangetrieben werden müsse, um bis zum Ablauf des Paktes auf vollzogene Tatsachen verweisen zu können. Aber man begnügte sich nicht damit, sondern aktivierte Institute und Verbände, um polnische Ansprüche auf Ostpreussen, Pommern und auf das Oppelner Schlesien geltend machen zu können. So konnte die französische Presse herausstreichen, daß bei den deutsch-polnischen Beziehungen offenbar Polen der Hauptgewinner sei. Der Figaro meinte, daß nur "Deutschland ein Schnippchen geschlagen wurde, alle Vorteile sich aber bei Polen befinden.... Wenn Deutschland... nach 10 Jahren das Korridorproblem wieder aufrollen sollte, wer wird es dann nicht auslachen? Polen hat sich die Schwierigkeiten der nationalsozialistischen Struktur zunutze gemacht, um sich endgültig in Pommerellen und an der Ostsee festzusetzen".12 Wie zutreffend diese Feststellungen im Kern der Sache waren, kann jetzt erst ermessen werden, wenn bedacht wird, daß u. a. wohl dank der "Freundschaftspropaganda" des Dritten Reiches, d. h. dank der Unterdrückung der sogenannten "Korridorpropaganda" heute sogar die deutsche Öffentlichkeit kaum etwas davon wissen will, daß Posen und West- [223] preußen noch vor etwa knapp 40 Jahren fester Bestandteil des Deutschen Reiches waren. Auf jeden Fall war Polens Prestige zuerst schon durch Abschluss des deutsch-polnischen Paktes und dann infolge Abschüttelung der Genfer Kontrolle gestiegen. Bisher hatte sich Polen wegen der von den Minderheiten eingebrachten Klagen laufend in Genf verantworten müssen. Wenngleich sich der Völkerbundrat mit an Polen gerichteten Empfehlungen und Erklärungen begnügt hatte, war Polen doch schon die Prozedur an sich lästig gewesen. Die die Beschwerden nach Genf einreichenden deutschen Parlamentarier hatten sich daher auch besonders unbeliebt gemacht. Da nahmen die polnischen Behörden lieber eine verstärkte deutsche Organisationstätigkeit im Lande mit in den Kauf, über die sie ja stets eine Kontrolle behielten, wenn sie sich dafür nur den verhaßten Gang vor den Genfer Kadi ersparen konnten.

Daher konnte sich jetzt das polnische Selbstbewußtsein beträchtlich heben. Polen kam sich als Großmacht vor, bedachte gar nicht, daß es diese Entwicklung nur der Partnerschaft mit dem Deutschen Reich zu verdanken hatte und stellte - wenn auch zuerst nur inoffiziell - territoriale Ansprüche an eben dasselbe Reich. Diese neue außenpolitische Zielsetzung des Polentums hatte aber seine unmittelbaren Auswirkungen auf das Deutschtum in Polen. Immer, wenn die polnische Presse und die bekannten Verbände die polnische Öffentlichkeit mit Berichten über die angeblich so beklagenswerte Lage der Polen im Reich alarmierten und sie durch Geltendmachung von Ansprüchen auf die "rein polnischen" oder "urpolnischen" Gebiete wie Pommern, Schlesien oder Ostpreußen anfeuerten, entlud sich die Stimmung in Umzügen und Ausschreitungen auf die in Polen lebenden Deutschen. Polnische Behörden benutzten ferner die Beschwerden über die angebliche Benachteiligung der Polen im [224] Reich gern dazu, um der deutschen Volksgruppe irgend welche berechtigten Ansprüche im Hinblick auf die "aufgebrachte Volksseele" abzulehnen. Wenn die polnischen Behörden nach dem Nichtangriffspakt in der Form vielleicht etwas vorsichtiger in ihren Stellungnahmen gegen das Deutschtum geworden waren, ohne deswegen von dem eingeschlagenen Kurs abgewichen zu sein, so wurde dieses nur formale Entgegenkommen der Behörden mehr als wettgemacht durch die künstlich erzeugte größere Anteilnahme der polnischen Öffentlichkeit an den deutschen Ostgebieten und die damit verbundene erhöhte Reizbarkeit der polnischen Massen. Auswirkungen davon sollte die Volksgruppe bald zu spüren bekommen.

Als das erste Jahr der deutsch-polnischen Verständigungsära verstrichen war, konnte ein polnisches Wochenblatt im Hinblick auf Ostoberschlesien triumphierend verkünden, daß "1934 das Deutschtum in Polen gebrochen wurde", und die Hoffnung ausdrücken, "daß nach einem (weiteren) Jahre der Geist des kämpferischen Deutschtums beseitigt werde", vom oberschlesischen Deutschtum seien jedenfalls nur noch "Trümmer" vorhanden.13 In Übereinstimmung damit mußte der Abgeordnete von Saenger am 6. 2. 1935 im Warschauer Sejm feststellen, daß "die deutsche Minderheit immer mehr degradiert wird" und daß auf schulischem Gebiet z. B. das Gesetz für die Privatschulen durch die Praxis zu einem Gesetz gegen die (deutschen) Privatschulen geworden sei.14

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1Breyer, Richard: Die deutsch-polnischen Beziehungen und die deutsche Volksgruppe in Polen 1932-1937. S. 75ff; Diss. Göttingen 1952,
aber auch Celovsky Boris: "Pilsudskis Präventivkrieg gegen das nationalsozialistische Deutschland." In: Die Welt als Geschichte. Jg. 1954, Heft 1, S. 53-70. ...zurück...

2Eingabensammlung der deutschen Volksgruppe in Westpolen. 1936, S. 5. Hrsg. von der Deutschen Vereinigung; Bromberg 1936. ...zurück...

3Winiewicz, Jozef: Mobilizacja sil niemieckich w Polsce. (Die Mobilisierung der deutschen Kräfte in Polen) S. 132; Warschau/Posen 1939. ...zurück...

4Ostland. (Hrsg.: Deutscher Ostbund) Jg. XX, S. 386, Berlin 1939. ...zurück...

5Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges. Nr. 2 (DWB II) Dok. [41], S. 54. Hrsg. vom Auswärtigen Amt; Berlin 1939. ...zurück...

6Nation und Staat. Jg. VII, S. 708; Wien 1934. ...zurück...

7Eingabensammlung der deutschen Volksgruppe in Westpolen. 1936, S. 3f. Hrsg. von der Deutschen Vereinigung; Bromberg 1936. ...zurück...

8Eingabensammlung... S. 51. ...zurück...

9Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges. Nr. 2 (DWB II) Dok. 53, S. 65. Hrsg. vom Auswärtigen Amt; Berlin 1939. ...zurück...

10Schomacker, Joachim: Politische Wissenschaft in Polen und ihre Organisation. S. 15; Berlin 1939. ...zurück...

11Hahn, Adalbert: Polnische Kampfverbände. S. 11f; Berlin 1939. ...zurück...

12zitiert nach: Osteuropäische Lageberichte. Nr. 4, S. 4 vom 17.11.1934. Königsberg. ...zurück...

13Nation und Staat. Jg. VIII, S. 328; Wien 1935. ...zurück...

14Nation und Staat... S. 394. ...zurück...

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Die deutsche Volksgruppe in Polen 1934-1939