[58] Erstes Kapitel (Forts.)
Entwicklung der Deutsch-Polnischen Beziehungen
B. Deutschlands Bemühen
III. Polen entzieht sich der Minderheitenkontrolle
Nr. 48 Genf, den 7. September 1934
Aus der gestrigen Unterredung mit einem hohen Beamten Völkerbundssekretariats über polnischen Minderheiten-Antrag ist folgendes bemerkenswert: 1. Nach Auffassung Sekretariats besteht keine Aussicht, daß Polens Antrag Verallgemeinerung des Minderheitenschutzes durchdringt, weil sowohl Großmächte wie andere Staaten dagegen sind. 2. Auch Aussichten dafür, daß Polen daraufhin nach Ablehnung Generalisierung des Minderheitenschutzes mit Erfolg Forderung nach Befreiung der ihm auferlegten Minderheitenschutz-Bestimmungen stellen könnte, sind nach Auffassung Sekretariats gering. An sich könnte Polen unter Hinweis auf einseitige Belastung mit Minderheitenschutz-Bestimmungen und insbesondere darauf, daß, wie zu erwarten, Rußland bei Eintritt in den Völkerbund keine Auflagen in dieser Beziehung gemacht werden, nach Artikel 12 des polnischen Minderheiten-Vertrages29 Abänderung der Minderheiten-Vorschriften verlangen, die unter Umständen gänzlicher Abschaffung gleichkäme, wozu nach Bestimmungen Artikels einfache Ratsmehrheit genügt. Diesem Versuch würde jedoch von Großmächten entgegengehalten werden können, daß Minderheitenschutz Voraussetzung für Zuteilung großer Gebiete an Polen und Kleine Entente gewesen sei und daß durch Aufhebung Minderheitenschutz-Verträge Gesamtrevisionsfrage angeschnitten würde. Nach Auffassung Sekretariats sind sowohl Kleine Entente als Griechenland polnischer Initiative durchaus abgeneigt, da sie sich in ähnlicher Lage bezüglich Verbindung von Minderheiten- und Territorial-Fragen befinden.
Krauel
Nr. 49
Aufzeichnung eines Beamten der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amts Berlin, den 13. September 1934
Konsul Krauel telephoniert soeben aus Genf: Beck habe soeben in der Bundesversammlung eine Rede gehalten, die nahezu ausschließlich der Minderheitenfrage gewidmet war und in der er ausführte, Polen müßte auf Generalisierung der Minderheitenverpflichtungen bestehen; [59] er hätte jedoch gehört, daß verschiedene Staaten sich ablehnend verhalten würden. Er sehe sich deshalb gezwungen, mitzuteilen, daß Polen in Zukunft jede Zusammenarbeit mit den internationalen Organen bei der Kontrolle der Durchführung des Minderheitenschutzsystemes durch Polen verweigern würde.30
von Kamphoevener
Nr. 50
Aufzeichnung des Staatssekretärs des Auswärtigen Amts Berlin, den 13. September 1934
Der Polnische Gesandte sagte sich heute nachmittag dringend bei mir an und war um 3/4 7 Uhr bei mir. Er hat ein Telegramm des Außenministers Beck erhalten, mit dem Auftrag, uns eine Erklärung über die in Genf durch Herrn Beck erfolgte Aufkündigung des Minderheitenvertrages abzugeben. Der Gesandte sei beauftragt, uns mitzuteilen, daß dieser Schritt, von dem wir wohl durch die Presse bereits unterrichtet seien, die Beziehungen der Polnischen Regierung zu den deutschen Minderheiten in keiner Weise ändere, und daß die polnischen Gesetze in bezug auf die Minderheiten und deren Gleichberechtigung im polnischen Staat aufrechterhalten blieben. Ich sagte dem Polnischen Gesandten, ich nähme von seinen Erklärungen Kenntnis, müsse aber gleich bemerken, daß der zweite Teil der Erklärung uns nicht befriedigen könne, denn zahllose Beschwerden der deutschen Minderheiten in Polen und eine endlose Reihe von Prozessen hätten bewiesen, daß die polnischen Gesetze in bezug auf die Minderheiten praktisch nicht ausreichen. Infolgedessen müßte ich die Stellungnahme der Reichsregierung vorbehalten. [60] Der Gesandte erwiderte, die Erklärung des Ministers Beck sei eine Fortführung der vor zwei Jahren eingeleiteten Politik, die auf eine Verallgemeinerung der Minderheitenverpflichtungen hinziele. Polen könne sich eine Deklassierung nicht länger gefallen lassen. Ich sagte dem Gesandten, die Erklärung Herrn Becks sei für uns eine Überraschung. Aus der Presse entnähme ich, daß der Polnische Außenminister die Stellungnahme der Mächte zu seinem vor kurzem eingebrachten neuen Antrage bezüglich eines allgemeinen Minderheitenabkommens nicht abgewartet habe. Was uns anlange, so habe die Deutsche Regierung im vorigen Jahr erklärt, daß sie si omnes grundsätzlich bereit sei, ein allgemeines Minderheitenabkommen zu schließen. Hinsichtlich der Deklassierung könne ich seinen Gedankengängen nicht folgen, denn die besondere Auflage, die Polen und den anderen Staaten in bezug auf die Minderheiten auferlegt wurden, sei das Gegenstück zu der für die unterlegenen Mächte besonders ungünstigen Grenzziehung der Pariser Friedenskonferenz. Ich erinnerte ihn an die Note die Clemenceau am 24. Juni 1919 an den damaligen Polnischen Ministerpräsidenten Paderewski31 gerichtet hat. Der Polnische Gesandte hatte hierauf nichts mehr zu erwidern.
von Bülow
Nr. 51
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amts an den Deutschen Gesandten in Warschau Telegramm Berlin, den 15. September 1934
Polnischer Schritt in Minderheitenfrage wird hier wie folgt beurteilt: Obwohl Herr Beck formell nicht den Minderheitenvertrag als solchen gekündigt, sondern nur die weitere Zusammenarbeit mit den internationalen Organen abgelehnt hat, läuft sein Schritt praktisch auf Lahmlegung Minderheitenschutzsystems hinaus. Minderheitenschutzbestimmungen sind in Verträgen von 1919 zum Ergänzungsstück damaliger territorialer Regelungen gemacht worden. Dies gilt insbesondere für deutsch-polnische Grenze, wie sich aus Artikel 93 Versailler Vertrages, Präambel Minderheitenschutzvertrages und bekannten Brief Clemenceaus an Paderewski vom 24. Juni 191931 ergibt. Verpflichtung zu Minderheitenschutz war Gegenleistung neuer Staaten für den Erwerb neuer Gebiete, so daß mit Annullierung dieser Gegenleistung im Grunde die gesamten Territorialfragen neu aufgeworfen werden. Wir haben die Garantie des Völkerbundes für den Minderheitenschutz praktisch schon längst als für uns wertlos erkannt und haben auf Ausnutzung dieser Garantie durch unseren Austritt aus dem Völkerbund verzichtet. Das ändert aber nichts an der prinzipiellen Bedeutung des polnischen Schrittes und an seinem Zusammenhang mit den territorialen Fragen. Den Hauptton werden wir unter diesen Umständen auf die Tatsache zu legen haben, daß der Völkerbund, der schon in der Abrüstungsfrage vollkommen versagt hat, nun auch in der wichtigen Minderheitenfrage den Boden unter [61] den Füßen verliert. Wir werden mit größter Aufmerksamkeit verfolgen, wie sich der Völkerbund und wie sich vor allem die früheren Alliierten Hauptmächte als Signatare der Minderheitenschutzverträge zu dem Problem stellen und ihrer Verantwortlichkeit gerecht werden. Die in Genf von Simon und Barthou abgegebenen Erklärungen klingen zwar sehr energisch, schließen aber doch nicht aus, daß es sich hierbei nur um einen Theaterdonner handelt, und daß der Völkerbund nach den bekannten Genfer Gepflogenheiten sich schließlich doch in irgendeiner Form mit dem von Polen geschaffenen fait accompli abfindet. Gegenüber solchen Möglichkeiten müssen wir fortdauernd versuchen, die Verantwortung des Völkerbundes und der Signatarmächte für die Zukunft festzunageln. Ausschließlich zur persönlichen Information bemerke ich noch: Am 13. d. M. hat mir der Polnische Gesandte im Auftrage seines Ministers erklärt, daß die Beziehungen der Polnischen Regierung zu den deutschen Minderheiten durch den Genfer Schritt in keiner Weise eine Änderung erfahren und daß die polnischen Gesetze bezüglich der Minderheiten und deren Gleichberechtigung im polnischen Staat aufrechterhalten blieben. Ich erwiderte, daß diese Erklärung uns nicht genügen könne, da nach unseren praktischen Erfahrungen in der Schutzfrage deutscher Minderheiten in Polen die polnischen Gesetze sich in dieser Hinsicht als unzureichend erwiesen hätten. Ich habe die Erklärungen des Gesandten unter ausdrücklichem Vorbehalt einer Stellungnahme der Reichsregierung entgegengenommen, dabei aber schon in der oben angedeuteten Weise auf den Zusammenhang des Minderheitenschutzes mit der Territorialfrage und auf die ernste Bedeutung des polnischen Schrittes hingewiesen.
Bülow
Nr. 52
Der Reichsminister des Auswärtigen an den Deutschen Botschafter in Warschau Erlaß Berlin, den 14. November 1934
Der Vorstoß der Polnischen Regierung in Genf, wonach sie bis zum Inkrafttreten des von ihr beantragten allgemeinen internationalen Minderheitenschutz-Systems jede Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen ablehnt, läuft praktisch auf die Außerkraftsetzung des Minderheitenschutzvertrages hinaus. Es besteht deshalb die Gefahr, daß die Servitut, mit der im Jahre 1919 die Abtretung deutscher Gebietsteile belastet worden ist, beseitigt wird, und daß sich damit der ganze Stand der östlichen Grenzfragen zu Ungunsten Deutschlands wesentlich verschlechtert. Die einseitige Abänderung des bisher bestehenden Zustandes durch Polen kann daher von uns nicht einfach stillschweigend hingenommen werden. Ein solches Stillschweigen könnte nur als eine Anerkennung des durch den polnischen Vorstoß geschaffenen Zustands ausgelegt werden. Überdies erfordert auch die bedrängte Lage der deutschen Minderheit in Polen einen positiven Schritt der Reichsregierung gegenüber der Polnischen Regierung. [62] Unter Bezugnahme auf die mündliche Besprechung der Angelegenheit während Ihres letzten Besuches in Berlin bitte ich Sie daher, die Frage bei dem Außenminister Herrn Beck baldmöglichst im Sinne der nachstehenden Ausführungen zur Sprache zu bringen. 1. Die Deutsche Regierung sei der Ansicht, daß es angebracht sei, mit der Polnischen Regierung offen und vertrauensvoll eine Frage zu besprechen, die, wenn sie unerörtert und im Unklaren bliebe, leicht einmal zu Mißverständnissen und zu einer Störung der so aussichtsreich begonnenen Neugestaltung der deutsch-polnischen Beziehungen führen könne. Das sei die Lage, die in der Minderheitenfrage durch den Vorstoß der Polnischen Regierung in Genf geschaffen worden sei. 2. Die Polnische Regierung habe es ja dankenswerterweise auch ihrerseits für richtig gehalten, sich wegen dieses Vorstoßes mit der Deutschen Regierung in Verbindung zu setzen, indem sie alsbald nach der Genfer Tagung durch Herrn Lipski dem Staatssekretär von Bülow habe mitteilen lassen, daß die deutsche Minderheit in Polen auch weiterhin grundsätzlich die Gleichberechtigung genießen werde. Durch diese Mitteilung werde aber die Situation noch nicht ausreichend geklärt. Herr von Bülow habe deshalb bei der Unterredung die Stellungnahme der Deutschen Regierung vorbehalten.32 3. Sie seien beauftragt, vorweg festzustellen, daß es nicht etwa unsere Absicht sei, den von Polen gegen die Mitwirkung des Völkerbundes in Minderheitenfragen gemachten Vorstoß als solchen zum Gegenstand der Erörterung zu machen und die Behandlung dieser Fragen wieder auf das internationale Gleis zu schieben. Wir könnten uns an der Mitwirkung des Völkerbundes desinteressieren, weil wir sie längst als wertlos erkannt hätten. Außerdem sei es ja aber einer der wichtigsten Zwecke der deutsch-polnischen Vereinbarung vom Januar d. J., deutsch-polnische Fragen nicht vor internationalen Instanzen, sondern im unmittelbaren Gedankenaustausch zu erörtern. Wir hätten auch Verständnis dafür, daß sich Polen durch ein internationales Kontrollverfahren beeinträchtigt fühle. 4. Das ändere aber nichts an dem Faktum, daß in den vom Reich an Polen abgetretenen Gebieten eine große Zahl von Menschen deutschen Stammes lebe, und daß die diesen Menschen zugesicherten Minderheitsrechte ein integrierender Bestandteil der Gesamtregelung von 1919 seien. An dem Schicksal dieser Bevölkerungsteile könne sich Deutschland unmöglich desinteressieren. Ein solches Desinteressement würde im deutschen Volk keinerlei Verständnis finden. Die deutsche Presse habe zwar auf Wunsch der Reichsregierung im Interesse der deutsch-polnischen Beziehungen in der letzten Zeit die Lage der deutschen Minderheit in Polen nur wenig erörtert; das dürfe aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß uns das Schicksal der deutschen Volksgenossen und ihre Behandlung durch Staat und Volk in Polen nicht gleichgültig sein könne. 5. Dies prinzipiell zum Ausdruck zu bringen, sei der Zweck Ihres Schrittes. Um jeder etwaigen Mißdeutung dieses Schrittes vorzubeugen, seien Sie ermächtigt zu erklären, daß die Deutsche Regierung nicht daran denke, ihr Eintreten für die deutsche Minderheit in Polen in der einen oder anderen Weise zum Hebel für eine Aufrollung von Grenzfragen zu machen. Wir hofften, daß die Polnische Regierung diese Erklärung gebührend würdige. Durch sie und durch unser Desinteressement an der Frage einer Völkerbundskontrolle würden von uns Voraussetzungen geschaffen, die es ermöglichten, daß Fragen der deutschen Minderheiten zwischen Deutschland und Polen ebenso unbefangen [63] und sachlich erörtert würden, wie das z. B. zwischen Deutschland und Ungarn geschehe. Der Erörterung sei auf diese Weise von vornherein jede denkbare Schärfe genommen. Andererseits aber werde so verhütet, daß das zwischen den beiden Staaten nun einmal bestehende Problem sich eines Tages zu einem Störungsfaktor in der Entwicklung ihrer Beziehungen auswachse. 6. Wenn es Ihnen auch bei der ersten Unterredung hauptsächlich auf die grundsätzliche Seite der Sache ankomme, möchten Sie die Gelegenheit doch nicht vorübergehen lassen, ohne darauf hinzuweisen, daß gerade in letzter Zeit sehr viele Beschwerden der deutschen Minderheit in Polen bekanntgeworden seien, die doch bewiesen, daß die polnischen Gesetze nicht ausreichten und daß die Praxis der polnischen Behörden den von der Polnischen Regierung uns mitgeteilten Absichten nicht entspreche. Sollte Herr Beck in der Weise auszuweichen suchen, daß er zwar, ähnlich wie Herr Lipski, gute Behandlung der Minderheit zusichert, dabei aber betont, daß das ganze Problem ausschließlich Sache der polnischen Autonomie sei, so bitte ich ihm zu sagen, daß es uns nicht so sehr darauf ankomme, auf Grund welcher Art von Bestimmungen - d. h. ob auf Grund internationaler Vertragsbestimmungen oder auf Grund autonomer polnischer Gesetzesvorschriften - die Minderheit gut behandelt würde, sondern darauf, daß sie gut behandelt würde. Sollte Herr Beck im Laufe des Gesprächs die Rede auf das Problem der polnischen Minderheit im Reich bringen, so bitte ich darauf hinzuweisen, daß diese Frage doch auf einer anderen Ebene liege. Eine Vergleichsmöglichkeit sei schon deshalb nicht gegeben, weil die Lage der polnischen Minderheit im Reich sich durch das freiwillige Entgegenkommen deutscherseits auf einer ansteigenden Linie entwickelt habe, während im Laufe der Jahre bei der deutschen Minderheit in Polen leider eine zunehmende Verschlechterung habe festgestellt werden müssen. Getreu der wiederholten Erklärung des Führers und Reichskanzlers, wonach beim deutschen Volk die Achtung vor fremdem Volkstum der Liebe zum eigenen Volk zur Seite stehe, habe gerade der nationalsozialistische Staat diese seine Anschauung gegenüber den im Reich lebenden Angehörigen polnischen Volkstums in die Praxis umgesetzt. Einem Bericht über die Ausführung dieses Erlasses und die Aufnahme Ihres Schrittes sehe ich mit besonderem Interesse entgegen.
Frhr. von Neurath
Nr. 53
Der Deutsche Botschafter in Warschau an das Auswärtige Amt Bericht Warschau, den 19. November 1934
Ich habe heute den Vorstoß der Polnischen Regierung in der Frage der Minderheit weisungsgemäß bei dem Außenminister Herrn Beck zur Sprache gebracht. Dabei habe ich unseren Wunsch nach einer Vertiefung der deutsch-polnischen Beziehungen unterstrichen und hervorgehoben, daß auch die gegenwärtige Demarche letzten Endes diesem Ziele diene. In diesem Zusammenhang habe ich u. a. auch zu erkennen gegeben, daß der Führer und Reichskanzler für die Frage ein besonderes Interesse bekundet hat. Als Petitum habe ich im Anschluß an den Hinweis auf die ungünstige Lage der deutschen Minderheit die Bitte ausgesprochen, durch nachdrückliche Weisung an die untergeord- [64] neten Organe dafür zu sorgen, daß die praktische Behandlung der Minderheit mit dem Geiste in Einklang gebracht würde, der unserer Verständigungspolitik entspricht. Herr Beck, der bei keinem Punkte meiner Darlegungen ein besonderes Erstaunen oder Unruhe zu erkennen gab, erwiderte etwa folgendes: Er lege Wert darauf, zunächst zum Ausdruck zu bringen, eine wie große Achtung man hier in Polen dem Herrn Reichskanzler gegenüber empfinde und wie sehr man die mutige und loyale Gesinnung wertschätze, mit der er dem deutsch-polnischen Problem gegenübergetreten sei. Die Hochachtung vor dem Herrn Reichskanzler sei hier eine allgemeine, und was er mir hierüber gesagt habe, entspreche nicht nur seiner eigenen Auffassung, sondern auch - wie er erst dieser Tage wieder habe feststellen können - der des Marschall Pilsudski und des Herrn Ministerpräsidenten. Ich könne deshalb überzeugt sein, daß jede Anregung, die von dem Herrn Reichskanzler oder seiner Regierung ausgehe, hier von vornherein einer gründlichen, vorurteilslosen und wohlwollenden Prüfung sicher sei. Was nun die in Genf abgegebene polnische Erklärung über die Minderheitenfrage anbelange, so lege er Wert darauf, auch seinerseits noch einmal nachdrücklich festzustellen, daß dieser Schritt in keiner Weise gegen die deutsche Minderheit gerichtet gewesen sei. Der Schritt sei vielmehr hervorgerufen worden durch die unglaubliche Behandlung, die der Völkerbund in letzter Zeit gegenüber Polen für gut befunden habe. Im Völkerbund säßen Leute, die nichts könnten, als sich und anderen Ärger zu bereiten und die den Realitäten kein Verständnis entgegenbrächten. Schon seit einem Jahre habe er versucht, durch Worte and Handlungen dem Völkerbund zu verstehen zu geben, daß Polen sich eine solche Behandlung nicht mehr gefallen ließe und daß es so nicht weitergehen könne. Da man in Genf keine Einsicht gehabt habe, sei Polen schließlich zu seiner Erklärung gezwungen worden, und er freue sich, aus meinen Darlegungen zu entnehmen, daß wir für die polnische Auffassung Verständnis hätten. Aber all das habe nichts mit der deutschen Minderheit zu tun. Er könne versichern, daß die Minderheitenrechte auch weiterhin auf Grund der polnischen Verfassung geschützt werden würden. Diese Rechte, die zweifellos aus der alten Verfassung demnächst auch in die neue übernommen werden würden, beruhten nicht auf irgendwelchen theoretischen Erwägungen, sondern entsprächen der Auffassung, die Polen von dem Begriff des Staates und des Zusammenlebens der Bevölkerungsschichten hätte. Er glaube auch nicht, daß diese Grundsätze nur ein toter Buchstabe seien. Gewiß herrsche zur Zeit eine schwere wirtschaftliche Krisis und hierdurch würden vielleicht häufig gewisse Schärfen in die Beziehungen zwischen Staatsvolk und Minderheit hineingetragen. Aber er sei überzeugt, daß auch das sich allmählich bessern werde. Wenn bei den unteren Verwaltungsorganen noch nicht alles so sei, wie es sein müßte, so sei er gern bereit, mit seinen Kollegen zu sprechen und ihnen nahezulegen, daß sie noch einmal ihre Auffassungen, die im übrigen den von ihm dargelegten Grundsätzen entsprächen, den nachgeordneten Stellen mitteilen, und er hoffe, daß das eine gute Wirkung haben werde. Viel läge natürlich auch an der Presse und es sei nur zu natürlich, daß eine Presse, in der das jüdische Element in so starkem Maße vertreten sei wie hier, Deutschland gegenüber gewisse Ressentiments zeige. Aber er würde sich bemühen, eine Besserung herbeizuführen, und er hoffe, daß es auch in der Minderheitenfrage gelingen werde, allmählich zu einer vernünftigen Einstellung der öffentlichen Meinung zu gelangen. Der Minister schloß die Ausführungen über seine "theoretische" Einstellung zu diesem Problem mit der Frage, ob ich ihm hinsichtlich der praktischen [65] Behandlung der Minderheit einige konkrete Angaben machen könne über Dinge, die uns Grund zur Beanstandung zu bieten schienen. Ich erwiderte, daß ich heute zunächst nur Weisung hätte, die theoretische Seite des Problems mit ihm zu besprechen, und daß meine Instruktionen keine Angaben darüber enthielten, welche Einzelfälle meine Regierung bei dem Hinweis auf die unbefriedigenden gegenwärtigen Zustände im Auge gehabt habe. Ich wolle gern hierüber weitere Instruktionen einholen, sei aber auch bereit, ihm zunächst von mir persönlich auf Grund der Informationen, die ich hier gelegentlich erhalten hätte, einiges zu diesem Problem mitzuteilen. Ich habe dann zunächst die Schulfragen behandelt und hierbei auf die Schwierigkeiten verwiesen, die den Schulorganisationen hinsichtlich der Fortführung ihrer Anstalten gemacht würden, ferner auf die unverständliche Versetzung verdienter Schuldirektoren in die östlichen Provinzen und ihren Ersatz durch ungeeignete Kräfte, schließlich auch auf die Einschränkungen des deutschen Unterrichts, die, so verständlich auch das Verlangen gründlicher polnischer Sprachkenntnisse der Minderheitsangehörigen sei, mir doch starke Übertreibungen aufzuweisen schienen und die dazu führten, daß die Schulen der deutschen Minderheit kaum noch als deutsche Lehranstalten angesehen werden könnten. Ich bin dann auf die Verhältnisse in Oberschlesien näher eingegangen und habe insbesondere die zahlreichen Entlassungen von Arbeitern und Angestellten erwähnt, die größtenteils auf das freimütige Bekenntnis der Betroffenen zur Minderheit zurückzuführen seien. Überhaupt müsse man leider feststellen, daß derjenige, der sich zur Minderheit bekenne, häufig schwersten Nachteilen ausgesetzt sei und von den unteren Organen als illoyaler Staatsbürger angesehen würde, eine Auffassung, die ich wohl kaum als dem Willen der Zentralinstanz entsprechend ansehen könne. Insbesondere müsse ich ferner auf die Tätigkeit des Bundes der Aufständischen hinweisen, der in den Resolutionen, die auf seinen periodischen Versammlungen gefaßt würden, immer wieder die Forderung aufstelle, die Minderheitenschulen zu beseitigen und alle diejenigen zu verfolgen, die noch wagten, ihre Kinder in eine deutsche Schule zu schicken. Ich hätte nach allem den Eindruck, daß nicht nur in zahlreichen Organen der unteren Verwaltung, sondern auch in gewissen Kreisen der Bevölkerung von dem neuen Geist der Verständigung noch nicht viel zu spüren sei, und könne nur meinen Dank aussprechen, wenn der Minister die Absicht habe, die doch zweifellos ganz anders eingestellte Warschauer Auffassung zur Anerkennung zu bringen. Ich schloß die Unterhaltung mit meinem Dank für die verständnisvolle Aufnahme meiner Ausführungen und gab unter erneuter Unterstreichung des Wertes einer offenen Aussprache zu verstehen, daß ich mich auch bei weiteren, diese Frage betreifenden Anlässen vertrauensvoll an ihn wenden würde, was er durch ein Kopfnicken quittierte. Im übrigen scheint mir auch diese Unterredung zu bestätigen, daß, wie ich bereits ausgeführt habe, die Polen volles Verständnis dafür haben, wenn wir unser Interesse an der Minderheit bekunden, und daß die zur Zeit geübte weitgehende Unterdrückung der die Minderheitssorgen betreffenden Nachrichten in der reichsdeutschen Presse aus Gründen der Förderung der deutsch-polnischen Beziehungen nicht notwendig ist, sondern eher Mißtrauen erweckt. Ich habe auch in der heutigen Unterredung mit Herrn Beck bei dem weisungsgemäß erfolgten Hinweis auf unsere Pressepolitik zum Ausdruck gebracht, daß es immer schwerer werde, die bisherige Zurückhaltung zu bewahren, da sie mit dem Volksempfinden zu wenig im Einklang stünde.
von Moltke
29Vgl. Nr. 4. ...zurück...
30Die polnische Ankündigung,
sich in Zukunft an der Durchführung der Minderheitenschutzkontrolle
durch den Völkerbund nicht mehr zu beteiligen, wurde von den Vertretern
Großbritanniens und Frankreichs in der Völkerbundversammlung mit
formalen Einwendungen beantwortet. Hierbei erklärte der Führer der
Britischen Delegation der Staatssekretär für Auswärtige
Angelegenheiten Sir John Simon in der fünften Vollsitzung der 15
Völkerbundsversammlung am 14. September 1934:
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