[277] Das Korridorproblem in der internationalen Diskussion (Teil 1) Ulrich Wendland
Der Korridor - Lange bevor der Korridor in Mißdeutung der von Wilson in seinem dreizehnten Programmpunkt für den neuen polnischen Staat erhobenen Forderung eines "freien und sicheren Zuganges zum Meere" greifbare Gestalt annahm, ja schon als der Gedanke an eine ähnliche Verstümmelung von Ostdeutschland auftauchte und in dem polnischen Politiker R. Dmowski einen ebenso rührigen wie beredten Anwalt in den Ententeländern fand, entbrannte darum eine lebhafte Diskussion.1 Unter den im Ausland, namentlich in Frankreich, lebenden Polen selbst wurden im Herbst 1917 entschiedene Stimmen gegen Dmowskis Forderungen laut, und gleichzeitig warnte der Engländer Brailsford, dessen Meinung sich hochstehende britische Persönlichkeiten wie der Erzbischof von Canterbury und Asquith anschlossen, die englischen Anhänger Dmowskis nachdrücklich davor, die polnische Frage in dieser Form womöglich mit Bajonetten lösen zu wollen. Nach Dmowskis eigener Darstellung (Polityka polska i odbudowanie panstwa, 2. Auflage 1926, Seite 504) erklärten sogar ausgesprochene Deutschgegner in London und Paris im Dezember 1917, "daß man nicht davon träumen könne, die deutsche Herrschaft in Danzig zu stürzen, da die Deutschen diesen Verlust nie hinnehmen würden". Noch im Frühjahr 1918 sagte "ein hochgestellter französischer Diplomat, der sich viel mit der polnischen Frage beschäftigte", zu Dmowski (a. a. O., S. 200): "Aber das wäre ja ein Wunder, mein Herr, wenn das einträte, was Sie da sagen, wenn das Territorium Ihres Staates bis an die Ostsee reichte!" Wie stark im Ententelager Polens territoriale Gestaltung und Zugang zum Meere noch unmittelbar vor dem Waffenstillstand umstritten waren, beweist ein Vorfall vom 2. November 1918: Die französische Forderung nach sofortiger Räumung aller ehemaligen Gebiete des historischen polnischen Staates einschließlich ganz Westpreußens durch das Reich wies damals der britische Staatsmann I. A. Balfour scharf zurück mit der Begründung, die Entente habe sich verpflichtet, einen wirklich aus Polen bestehenden Staat zu errichten, nicht aber das weit von dem Ziele entfernte Polen von 1772 wiederherzustellen (Mermeix, Band 5, Seite 246ff).
Männer von Versailles über den Korridor Daß an dem Problem der deutsch-polnischen Grenzziehung, namentlich an der westpreußischen und Danziger Frage, die Pariser Konferenz noch im Mai 1919 zu scheitern drohte, ist bekannt. Fast wie die Stimme des Predigers in der Wüste mutet die hellsichtige, aufrechte Äußerung an, die der Lloyd George nahestehende Burengeneral I. C. Smuts damals tat: "Ich bin überzeugt, daß wir bei der ungebührlichen Vergrößerung Polens... einen politischen [278] Kardinalfehler begehen, der sich im Laufe der Geschichte noch rächen wird. Das neue Polen wird Millionen Deutscher und Gebiete mit einer deutschen Bevölkerung oder solche, die für lange Zeit Teile Deutschlands gewesen sind, umfassen... Ich glaube, wir sind dabei, auf Flugsand ein Haus zu errichten. Angesichts dieser und zahlreicher anderer Bedenken würde ich die Grenzen Polens, wie sie im Friedensvertrag vorgesehen sind, revidieren, Oberschlesien und alle wirklich deutschen Gebiete bei Deutschland lassen, die Grenzen der Freien Stadt Danzig enger ziehen und sie, anstatt sie der Oberherrlichkeit Polens zu unterstellen, wie wir es vorgeschlagen haben, unter Deutschlands Souveränität mit einer vom Völkerbund kontrollierten Verwaltung belassen" (Baker, a. a. O., Band 3, Seite 397ff.). Zwei andere tätige Mitarbeiter der Pariser Konferenz besaßen den Mut, ihren Protest gegen das Versailler Diktat, besonders gegen die Reparationen und die östliche Grenzziehung öffentlich dadurch zu bekunden, daß sie den Friedensmachern entrüstet den Rücken kehrten: Am 7. Juni 1919 legte der als europäischer Wirtschaftskenner bekannte Engländer J. M. Keynes seine Ämter als Sachverständiger nieder und ging bald darauf in dem Buch Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages mit den Versailler Größen ins Gericht. Das Gleiche tat der lange Zeit als politischer Berater Wilsons tätig gewesene Amerikaner G. D. Herron, der in seiner Schrift Der Pariser Frieden und die Jugend Europas die Konferenz eine "salbungsvolle Aktionärversammlung für die Dividendenverteilung" nannte. Aber auch die eigentlichen Väter und Geburtshelfer des "Friedenswerks" sind - mit Ausnahme von Clemenceau und Poincaré - der Korridorschaffung nicht froh geworden. Sagte doch schon Anfang April 1919 Wilson selbst: "Das einzig wahre Interesse Frankreichs an Polen besteht in der Schwächung Deutschlands, indem Polen Gebiete zugesprochen werden, auf die es kein Anrecht hat" (Baker, Band 2, Seite 47). Ja, später erklärte Wilson dem amerikanischen Senator Johnson ("Das Erbe Wilsons" in der New Yorker Sun, 1931) sogar unumwunden, der Korridor sei ein schwerer Einbruch in Deutschlands Sprach- und Nationalgebiet. Selbst Marschall Foch bekannte nachweislich kurz vor seinem Tode einem Besucher, daß im Korridorgebiet "die Wurzel des nächsten Krieges läge". Fochs einstiger Generalstabschef Weygand, der mit den Verhältnissen von seiner Mission in Polen (1920) her vertraut war, gab über den Korridor im Oeuvre das lakonische Urteil ab: "Unnütz im Frieden, nicht zu verteidigen im Kriege." Über Lloyd George äußerte Graf Sforza, daß die Konferenzteilnehmer, "wenn es nach Lloyd George gegangen wäre, schließlich noch eine vierte Teilung Polens erlebt hätten". Später meinte der ehemalige britische Premier, daß Polen fünf Elsaß-Lothringen habe: den Korridor, Oberschlesien, Wilna, die Ukraine und Weißrußland. Winston Churchill, der sich seit je in der Rolle des unerschütterlich an die Rechtmäßigkeit des Korridors Glaubenden gefällt, entschlüpfte in seinem Buch Nach dem Kriege (1930, Seite 184ff.) das bemerkenswerte Geständnis, daß Lloyd George, als er gegen das Sachverständigengutachten über die westpolnischen Grenzen in Paris lebhaft protestierte, naturlich vollkommen im Recht war und daß die Vorschläge der Kommission, in der kein im wirklichen Sinne Sachverständiger saß, tatsächlich unhaltbar waren. Die Errichtung der Freien Stadt Danzig erscheint ihm als ein "genialer aber komplizierter und keine der beiden Parteien wirklich befriedigender Plan". Nach deutschen Zeitungsmeldungen, deren Richtigkeit leicht nachprüfbar ist, trat Churchill in der zweiten Novemberhälfte 1932 im Unterhaus sogar offen für eine Vertragsrevision ein und bezeichnete als dringlichste Probleme, die unter Englands Führung, noch ehe die Alliierten ihre militärische Überlegenheit verlören, gelöst werden müßten, Danzig, den Korridor und Siebenbürgen. Stärkste Mißbilligung drückte sich in den Reden und Schriften [279] der mittelbar oder unmittelbar an den Pariser Vorortverträgen beteiligt gewesenen italienischen Politiker aus. Der schon erwähnte frühere italienische Außenminister und Teilnehmer an vielen Nachkriegskonferenzen Graf C. Sforza hat den "fürchterlich unlogischen und hartnäckigen" Pariser Delegierten Polens, nach deren "ewigen Ansprüchen und uferlos wachsenden Forderungen halb Europa ehemals polnisch gewesen wäre und wieder polnisch hätte werden müssen", kein eben sehr schmeichelhaftes Denkmal gesetzt (Gestalter und Gestalten des heutigen Europas, 1931) und im Sommer 1927 in einer Gastvorlesung in den Vereinigten Staaten freimütig betont, daß kein ernst denkender Staatsmann an einen Dauerbestand der Korridornotlösung geglaubt habe. Schärfere Töne schlägt der frühere italienische Ministerpräsident F. Nitti an, wenn er zum Beispiel in dem Buch Der Niedergang Europas (1923) schreibt: "Der Versailler Vertrag hat den lächerlichen Zustand geschaffen, daß man, um von einem Teil Deutschlands zum anderen zu gelangen, den Danziger Korridor durchqueren muß. Die neuen Grenzen haben Deutschland in zwei Teile gerissen.... Nicht die polnische Nation hat sich als Staat konstituiert, man hat einen polnischen Militärstaat geschaffen, dessen Hauptaufgabe darin besteht, Deutschlands Zerfall zu fördern.... Danzigs Loslösung vom Reich war eine Ungeheuerlichkeit äußerster Willkür." In dieser Auswahl von Verlautbarungen der Männer von und um Versailles über die Korridorfrage darf eine Stimme nicht fehlen, die unvermutet aufklang und ein ungewöhnlich starkes Echo fand: Im Herbst 1930 gab der tschechische "Präsident-Befreier", Th. G. Masaryk, ein über den Verdacht der Deutschfreundlichkeit erhabener, zudem den Versailler Größen zu äußerstem Dank verpflichteter Staatsmann, dem Berichterstatter der Wiener Neuen Freien Presse die später auch in der englischen Sunday Review erscheinende Erklärung ab: "Es bestehen zur Zeit zwei große Gefahrenzonen für den europäischen Frieden: der polnische Korridor und Ungarn.... was den polnischen Korridor betrifft, so kann man mit Bestimmtheit sagen, daß Deutschland sich niemals mit dem heutigen Stand der Dinge abfinden wird, durch den das ostpreußische Land vom Reich abgetrennt ist."
Die internationale Diskussion 1925-1933 (Teil 1) Kurze Geschichte Die Polen sind den von Graf Sforza treffend gekennzeichneten Methoden, ihren Standpunkt der Welt einzuhämmern, unentwegt treu geblieben. Ihrer Hauptthese zufolge ist das Korridorproblem eine jeder Wirklichkeit entbehrende Erfindung der nur auf Polens Vernichtung hinarbeitenden Deutschen, und das einzige tatsächliche Unrecht an der Versailler Grenzziehung besteht darin, daß Polens Gebietsansprüche nicht voll befriedigt und insbesondere Danzig und Ostpreußen Polen nicht zugesprochen worden sind. Auf die in diesem Sinne von Polen mit allen Mitteln unternommene Bearbeitung der öffentlichen Meinung des Auslandes soll hier nicht eingegangen sondern nur festgestellt werden, daß die ebenfalls von der Betrachtung ausgeschaltete Aufklärungsarbeit deutscherseits der polnischen Propaganda zunächst stark unterlegen war. Diesem Umstand und der jeder unvoreingenommenen politischen Erörterung abträglichen Atmosphäre der ersten Nachkriegsjahre ist es zuzuschreiben, daß erst verhältnismäßig spät weitere Auslandskreise die wirkliche Bedeutung der Korridorfrage zu ahnen und zu erörtern begannen. Ein vereinzelter und ungehört verhallender Appell war die Kammerrede, in der der Franzose M. Sembat bereits am 4. September 1919 in Paris das Völkerrechtswidrige und Schwerbegreifliche der Korridorlösung darlegte. Nicht zufällig setzte mit dem Jahr 1925, das nach schweren politischen Enttäuschungen schließlich den allerdings die mitteleuropäischen Ostfragen völlig in der Schwebe lassenden [280-283=Abb.] [284] Locarnovertrag brachte, in der Presse der ehemaligen alliierten Länder eine stärkere Anteilnahme an der Korridorfrage ein. Die Anregung dazu ging vornehmlich von pazifistischen, linksgerichteten Kreisen Englands und Frankreichs aus. Bald begannen französische, englische, italienische und sogar amerikanische Bücher zu erscheinen, die dem Korridorproblem besondere Beachtung schenkten oder sogar überwiegend gewidmet waren. Dazu nahmen dann die ausländischen Blätter ohne Unterschied der Partei und auch Männer aus allen Gebieten des praktischen Lebens und der Wissenschaft Stellung. So wuchs die Zahl der in Europa und der Nordamerikanischen Union erscheinenden verschiedenartigsten Beiträge zur Korridorfrage schnell zu einer heute nur schwer übersehbaren Fülle. Der Gedanke, daß hier eine Bereinigung dringend vonnöten sei, schlug in weiten Kreisen des Auslandes Wurzel. In den Jahren 1930 bis 1933 war tatsächlich eine weltweite Aussprache über den Gefahrenherd an der unteren Weichsel in vollem Gange.
Kurze Charakteristik der Diskussion Den zahlreichen wirklich ernsthaften und sachlichen Äußerungen des Auslandes zur Korridorfrage ist der Zug gemeinsam, daß sie eine mehr oder weniger starke Unruhe, ein mit dem Wunsch nach schneller Abhilfe gepaartes Gefühl echter Besorgnis offenbaren und die gegenwärtige Verwirklichung des dreizehnten Programmpunktes Wilsons für denkbar unglücklich, wo nicht ungerecht erachten. Sonst gehen die Ansichten im großen wie im kleinen denkbar weit auseinander. Schon über den Umfang des Korridorgebiets herrscht keinerlei einheitliche Auffassung, obwohl seit 1931 die Überzeugung an Boden gewinnt, daß nicht nur Danzig und Westpreußen sondern alle alten deutschen Ostgebiete einschließlich des östlichen Oberschlesiens organisch zusammengehören. Die größte Buntscheckigkeit weisen aber besonders die Besserungs- und Lösungsvorschläge des Auslands auf. Eine nicht geringe Anzahl tritt für die Rückgabe des heutigen Pommerellen und Danzigs an das Reich ein, wobei vielfach die schon am 29. Mai 1919 von der deutschen Friedensdelegation vorgeschlagenen Erleichterungen und Vorteile für Polen in Erwägung gezogen werden. Andere billigen Polen nur den Hafen Gdingen mit einem gewissen Landstreifen und einer freien Bahnverbindung durch deutsches Gebiet zu. Wiederholt ist angeregt worden, dem Reich einen ausreichenden Gebietsstreifen oder doch wenigstens angemessene eigene Verkehrsmöglichkeiten zu geben, wenn nicht gar ein deutsch-polnisches Kondominium über den Korridor und Danzig unter neutraler oder Völkerbundskontrolle zu schaffen. Aber auch phantastische Pläne wie der Bau einer reichseigenen vergitterten Hochbahn oder die Anlegung eines Deutschland zur Verfügung stehenden Tunnels durch den Korridor wurden ersonnen. Zu diesen Lösungsvorschlägen sei nur summarisch bemerkt, daß sie zumeist entweder von vornherein indiskutabel und undurchführbar waren oder von Voraussetzungen ausgingen, die heute gegenstandslos geworden sind.
1Vgl. die
ausführliche, namentlich polnische Quellen heranziehende Darstellung bei
W. Recke, Die Polnische Frage als Problem der europäischen Politik
(1927), bes.
Seite 306-322; ferner R. St. Baker, Woodrow Wilson and world
settlement, Dtsch. Ausg, Bd. 2 und 3 (1923), und Mermeix, Fragments
d'histoire 1914-19, Bd. 5 und 6 (1921/22). ...zurück...
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