VII. Die großdeutsche Kultureinheit
(Forts.)
Der Anschluß als Ausdruck volksdeutscher
Kulturgestaltung
Universitätsprofessor D. Karl Bornhausen
(Breslau)
Wandlungen des deutschen Gemeinbewußtseins
Entwicklung des deutschen
Stammesbewußtseins Stammesbewußtsein und
staatliche Einheit Stammesindividualismen und
Volksindividualität "Europäische Kultureinheit"
und europäische Zivilisationsbestrebungen "Nation"
und "Menschentum" Sprache und Erziehung
Musik und Volksdichtung Religion trennt nicht, sie
vereint.
Das deutsche Gemeinbewußtsein ist seit der Jahrhundertwende in einer
wichtigen Umgestaltung begriffen: an Stelle des Staates tritt das Volkstum. Diese
Bewegung ist in den Nachfolgestaaten der
österreichisch-ungarischen Monarchie noch stärker hervorgetreten.
Nicht nur das Stammesbewußtsein der unter fremdstämmige
Herrschaft gekommenen Deutschen hat sich bedeutsam entwickelt: die
Sudetendeutschen, Erzgebirgler, Böhmerwäldler, Deutsche in
Südmähren, [316] in der Zips, sondern im
deutschen Österreich selbst entfaltet sich Stammeskultur zu
völkischer Kraft: Steiermärker, Kärntner, Tiroler. Die Bayern
ziehen sich mit den Oberösterreichern, von denen sie keine geographische
Grenze scheidet, zu Gemeinbewußtsein zusammen. Um den Bodensee bis
Basel sammelt sich allemannisches Stammgefühl und tritt auf Tagungen
heraus: um das Rückgrat des Sudetenkammes gruppiert sich schlesisches
Stammesbewußtsein von Nordböhmen bis Mähren und kommt
alljährlich in Lehrkursen zu überzeugendem wissenschaftlichen,
kulturellen, volkstümlichen Vortrag. Die Jugend bekennt sich zum
deutschen Stammesgefühl, das ihr aus den Wanderungen in der Heimat klar
wird; und die Alten bemerken mit Staunen, daß die Einheit eines Volkes
nicht von einer Regierung, einem Herrscher befohlen wird, sondern daß sie
aus dem Volk selbst in vielen tausend
Saft- und Kraftadern wächst.
Der Zusammenschluß zwischen Österreich und Deutschland ist in
den letzten Jahren bei den Regierungen und Politikern zurückgetreten. Mag
sein, daß äußere Widerstände dazu zwangen; aber
unerfreulich bleibt, daß dadurch innere Widerstände mehr betont
wurden. Gerade Jugend hat sich von den Alten einreden lassen, der inneren
Gegensätze seien doch zu viel; und schließlich wurden sogar Vorteile
und Nachteile beiderseits abgewogen, um den Instinkt, das Gefühl
irrezuführen. Meint man doch, eben das begrenztere Stammesgefühl
der Deutschen zeige, daß sie zum Großorganismus des Volkes nicht
taugten. Mit nichten! Gerade das Stammesgefühl der Deutschen an allen
Grenzen des Volkes führt sie zum Ganzen. Stammesgefühl
zersplittert nicht, sondern es sammelt. Aus der Stammeskultur setzt sich die
Volkskultur zusammen. Weil in Österreich so mächtiges
Stammesbewußtsein gewachsen ist, daß es über den Brenner
hinweg 250.000 Landsleute mit der Macht der Liebe festhält im
Volksganzen, deshalb erglüht auch in dem kühleren nordischen
Volksstamm die Sehnsucht zu den Deutschen, die wir nicht als politische
Bundesgenossen wie einst, auch nicht bloß als Kameraden des Krieges,
sondern als deutsche Brüder mit ganzer Seele suchen. Da ist nicht mehr
Zwecküberlegung, nicht Möglichkeitserwägung, sondern der
urtümliche Blutsinn der Gemeinschaft, der sich in der Struktur der
Stämme zwar kulturell variable Erscheinungsformen schafft, die aber in
ihrem geistigen Sein und Wesen doch übereinstimmen. Die kulturellen
Stammesindividualismen klingen zusammen in der einen deutschen
Volksindividualität.
[317] Da zeigt sich als eine
der wichtigsten Grundlagen des Zusammenschlusses von Österreich und
dem Deutschen Reich die gemeinsame Sprache. Seien wir doch wahrhaftig: eine
europäische Kultur hat es nie gegeben. Daß wir in ganzen Europa die
französische Küche bevorzugen, die englischen Herrenstoffe gern
tragen und Venedig für das schönste Ziel einer Hochzeitsreise halten,
bedeutet doch nicht europäische Kultur. Sondern es gibt europäische
Zivilisationsbemühungen, aus denen sich jedes Volk die beste und billigste
Lampe, Nähnadel, Eisenbahnlokomotive heraussucht oder gestaltet. Kultur
ist Seele und Geist; und der Europäer bleibt, trotz seiner 1500 Jahre
Leben, ein merkwürdig schemenhaftes Wesen.
Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens;
Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus.
Ein schweres Schicksal von mehr als 100 Jahren hat gezeigt, daß Schiller
recht hat. Nation ist ein aus Vernunftspekulation stammendes politisches
Gebilde, das sich zum Nationalstaat auswuchs, bloß Unfrieden und Kriege
in Europa hervorrief und der deutschen Volksart fremd bleibt. Aber wie steht es
mit dem Menschenbegriff, den Schiller den Deutschen empfiehlt? Es ist
manchmal behauptet worden, Schiller habe sich für ein charakterloses
Weltmenschentum begeistert. Das ist ein Irrtum. Denn in dem Distichon bedeutet
Mensch selbstverständlich "deutscher Mensch". Gerade Schiller
ist sich darüber klar gewesen, daß es den Humanus nur im
Volkstypus geben kann. Und Fichtes
daran anschließender Gedanke, der
wahre Mensch sei der wahre Deutsche, will nicht sagen, auf der ganzen Welt
gäbe es nur eine Sorte anständiger Leute, nämlich Deutsche.
So etwas vermag doch nur perverser Chauvinismus dem großen Denker
zuzumuten. Vielmehr behauptet Fichte, daß echtes Menschentum nur in der
Form von echtem Volkstum auftreten könne.
Schillers großartige Anweisung an die Deutschen heißt daher: Bildet
euch nicht zum Einheitsstaat im Sinne der französischen Ideologie, aber
schafft euch einheitliches
Volks- und Stammesbewußtsein. "Ihr könnt es!" In hundert Jahren
haben die Deutschen, trotz mancher Stimmungsströmungen zwischen Nord
und Süd, Ost und West, doch dieses Können bewährt; es ist
besiegelt durch die Kameradschaft im Weltkrieg.
Wenn wir über dieses eine schicksalhafte Erleben, das Österreicher
und Reichsdeutsche seit 1914 zusammenzwang, nachdenken, so läßt
es sich weder durch politische noch durch wirtschaftliche [318] Nötigungen,
nicht aus geographischen oder geschichtlichen Gründen verstehen, sondern
vornehmlich aus geistigen in der gleichlautenden Stammeskultur
begründeten Ähnlichkeiten und Anziehungen. Als entscheidend
für diese Bezogenheit aufeinander ist die Sprache anzusehen. Aber nicht
rationalistisch ist dieser Verhalt, als ob Österreich und Deutschland durch
eine Sprachgrenze umzogen in sich selbst leicht Handel und Verkehr
vereinheitlichen, verbilligen könnten. Auf solche Vorteile legt die
Volksseele keinen Wert, und die sprachlichen Abweichungen sind auch zum Teil
nicht wenig bedeutend. Vielmehr erscheint der Vorgang, daß der eine
Stamm die dialektischen Eigenarten des anderen liebt, in ihr besonders
freundliche, seelische Klänge findet, die Veränderungen im
Lautgesetz und Sprachsinn als lebensweckend, bereichernd, seelentauschend,
offenbarend erfaßt. Dabei ist nicht erforderlich, daß dieses Lauschen
auf die Sprachseele des verwandten deutschen Stammes auf Gegenseitigkeit
beruht. Die Liebe hat stets das Recht der Einseitigkeit; und der weniger
sprachklang-begabte Norddeutsche hat von je eine herzliche Liebe zu den
süddeutschen, den österreichischen Sprachlauten gehabt. Dieses sehr
alte Sprachgefühl der Deutschen spielt heute bei der
Anschlußbewegung eine ganz starke Rolle. Wenn ein Norddeutscher in
Wien ist, so kann er gar nicht anders als sich für den Anschluß
begeistern, weil die lebendigen Sprachmächte des österreichischen
Deutsch auf ihn einen solchen auflösenden, auslösenden Eindruck
machen, daß aus dem kleindeutschen Philister ein großdeutscher
Mann wird. Sitzt er aber wieder daheim, dann ergreift ihn die Angst, daß er
so groß gefühlt hat. Ich glaube, daß es einem Wiener oder
Steirer in Frankfurt am Main, in Köln ebenso geht. Daher halte ich
dafür, daß die deutsche Sprachseele die beiden
Großstämme der Deutschen zusammenzwingt; über kurz oder
lang. Eins ist gewiß: durch unsere gemeinsame Liebe zu der herrlichen
seelenkündenden Offenbarungssprache Deutsch sind wir schon lange ein
einig Volk.
Diese Einheit erfährt ihm volkstümliche Fortbildung durch die
Erziehung, die in deutscher Sprache erfolgt. "Der volle Strom der Sprache
ergießt sich kräftig und sinnvoll durch die tägliche Rede des
Volkes" (W. v. Humboldt).
Und in Wechselrede des Seelentausches
vollzieht sich die Erziehung, die die ältere Generation der Jugend
angedeihen läßt. Erst in der Sprache des Unterrichtes werden die
toten Lehrgegenstände lebendig. Hier entsteht jene gestaltenreiche
Kulturvorstellung der Deutschen, die in lebhaftem Vortrag, im Wort [319] vor dem Geist der
Jugend entsteht. Durchs Wort entzündet sich die Begeisterung, die den
Gesamtsinn des deutschen Lebens erfaßt und weitergestalten will. Deutsche
Schule und Erziehung bedeuten nicht bloß die Mitteilung von
nützlichem Wissen und schönen Künsten; sie wollen die
charakteristische Seelenhaltung der Deutschen zu allen Gegenständen des
Lebens einbilden und weiterbilden. "Bildet freier zu Deutschen euch aus" bedeutet
des großen Erziehers Schillers Wort. Denn diese urtümliche, dem
Stamm eigene, durch Jahrtausende ausgebaute Seelenhaltung eines Volkes, das
man um deswillen ganz irrig bloß für Dichter und Denker gehalten
hat, zeigt die Einheit des Volkes in der Mannigfaltigkeit der Stämme. Wenn
Friedrich Naumann, tief durchdrungen vom Anschlußgedanken, den ersten
Satz der deutschen Verfassung formuliert, "Das deutsche Volk, einig in seinen
Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und
Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen", hat er damit die Erziehung des Volkes
deutscher Sprache zur Einheit festgesetzt. Diesen Satz der deutschen Verfassung
zum Lebensgefühl der deutschen Jugend zu machen, ist der Sinn der
Erziehung.
Hat die deutsche Erziehung in Österreich und im Reich den gleichen
volksdeutschen Sinn, so könnte es scheinen, als ob der Inhalt der Erziehung
nach Sitte und Brauch in Nord und Süd doch gar verschieden sei: Der
Mensch der Tiefebene steht unter ganz anderen Naturbedingungen als der der
Berge; trotz der Gleichheit von Volksstamm und Sprachstamm ergeben sich
daraus in langen Zeiträumen erhebliche Abweichungen, die ein Volk
spalten können. Politische Differenzen haben seit dem
18. Jahrhundert die Gegensätze in der Gemütsart beider
Volkszweige überbetont. Da ist als stärkstes Gemeingut der Seele die
Musik aufgetreten. Haydn und Mozart haben die Hemmungen, die im
gegenseitigen Verstehen des Eigenlebens bestanden, hinweggesungen. Und
Schuberts
Lied hat die deutsche Dichtung Schillers und Goethes ganz
hineingeheimnist in die Landessitten und Bergwelten Österreichs.
Daß der rheinische Beethoven,
der nordische Brahms in Wien Heimat
finden konnten, wird nur der Norddeutsche fassen, der noch heute in dieser
charakteristisch deutschen Großstadt die Sinnigkeit eines
bodenständigen Volkswesens mit eigenen Sitten und Gebräuchen
erkennt. Trotz aller Überfremdung ist Wien noch heute viel bezeichnender
für deutsches Gemeinwesen wie Berlin. Es ist Musik in dieser Stadt, und
ihr Rhythmus hat sich dem Handel und Wandel der Menschen
aufgeprägt.
[320] Die andere Kunst des
deutschen Österreich, die es in Sitte und Brauch dem nordischen Wesen
nahe bringt und teuer macht, ist die Volksdichtung. Peter Rosegger hat
nicht bloß für seine Heimat, er hat für das ganze deutsche Volk
die Liebe zu Haus und Hof, Berg und Tal,
Volks- und Brauchtum, Sitte und Glaube, ja wahre, große Vaterlandsliebe
vorgetragen. Das ist die Welt, in der heute nicht der Gebildete, nein, in der das
schlichte Volk Deutschlands, die Bauersfrau, der Arbeiter, eintaucht. Roseggers
Bände sind die zerlesensten der Volksbibliotheken, aus denen, ohne
Kenntnis und wider Willen, der Kleindeutsche den großen starken Anhauch
des größeren Vaterlandes erlebt. Wer diesen Seelenzuspruch erfahren
hat, ist Anhänger des Anschlußgedankens. Und daß dieser
Vorgang die breiten Massen ergriffen hat, gibt Zuversicht.
Freilich ist damit nicht überflüssig geworden, daß das
differenzierte, hochkultivierte Geistesleben der Volksstämme, das mit viel
Bildungsressentiments belastet ist, die geschichtlichen Stimmungen und
Hemmungen erkennt und überwindet. Nur zu begreiflich, daß
Friedrich
der Große den Österreichern manchmal eine peinliche
Größe hat, ganz anders als Bismarck,
der ihnen zu eigen geworden
ist. Wenn daher Strobl in einem
Bismarck-Roman jüngster Zeit dieses preußische Ingenium den
Deutschen der Südmark verständlich machen will, so sehen wir darin
ein Zeichen von Edelsinn und Selbstüberwindung, das unsere Hochachtung,
unseren Dank verdient. Und Hohlbaums Dichtergabe fliegt wie "Raben des
Kyffhäuser" immer um die großdeutsche Einheit und schafft eine
Trilogie aus "Deutscher Passion", "Gang nach Emmaus", "Pfingsten von
Weimar", daß den deutschen Idealisten, die immer noch leben, das Herz
höher schlägt.
Denn Religion ist es, die die deutschen Volksstämme im tiefsten
eint. Während alle Vernünftler um uns behaupten, daß
gerade Religion die Einheit und den Anschluß hindere, behaupten wir,
daß Volksglaube diesen Zusammenschluß erzwinge. Der nordische
Deutsche, der in Wien die Gruft der deutschen Kaiser aus dem Geschlecht der
Habsburg-Lothringer besucht, wird mächtig erschüttert durch die
Hingabe, womit ein Volk sich vor Maria Theresia, vor Josef II., vor den
Schatten restloser frommer Hingabe und des Glaubens beugt. Und Deutsche, die
so fromm fühlen und einander achten, gehören zusammen, wenn
gleich die streitenden Kirchen und Priester sie mit ihren bloß weltlichen
Ratschlägen und Klugheiten auseinander reißen. Ich weiß von
einem treuen deutschen [321] Tiroler Priester, was er
daran zu tragen hat, daß er mich, den deutschen Evangelischen, um der
deutschen Seeleneinheit willen liebt. Und er hat es verstanden, und ist
ein deutscher christlicher Seelenklang geworden, der in alle Zukunft
tönt.
Daß die Religion in der Gegenwart sich zum Volkstum halten muß,
hat Italien überraschend gezeigt. Aber die Aufgabe der christlichen Kirchen
in Mitteleuropa ist ungleich verantwortungsvoller. Weder Nationalismus noch
Internationalismus ist von den christlichen Kirchen zu fordern, sondern
Friedfertigkeit untereinander im Dienst an der Volksseele. Und wenn die Kirchen
sich entschließen, deutschen Glauben zu lehren, deutsche Bruderliebe zu
bewähren, dann wird ein einiges Christentum uns zu einem Volk
machen.
Dann kehrt der Segen wieder eurem Land,
dann heiliger Sinn in euren Laut zurück,
dann kehrt ihr wieder in die Hallen
alt der königlichen Mutter, eures Volks:
Ein Himmel, Ein Gebet, Ein deutsches Reich.
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