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VII. Die großdeutsche Kultureinheit   (Forts.)

 
Die großdeutsche Kultureinheit in den Wissenschaften
Staatsbibliothekar Dr. Alois Jesinger (Wien)

Entstehung der Ostmark • Bayern und Franken • Bedeutung der Klöster für das Geistesleben der Ostmark • Gründung der deutschen Universitäten in Prag und Wien • Der Humanismus • Reformation und Gegenreformation • Einfluß der Ingolstädter und Nürnberger Schulen in Österreich • Maximilian I. • Maria Theresia und Josef II. • Aufbau des österreichischen Schulwesens • Reichsdeutsche auf österreichischen, Österreicher auf reichsdeutschen Hochschulen • Geschichtswissenschaft • Deutsche Sprach- und Literaturgeschichte • Klassische Philologie und Altertumskunde • Romanistik • Anglistik • Orientalistik • Rechts- und Staatswissenschaften • Theologie • Medizin • Naturwissenschaften • Technische Wissenschaften • Zusammenarbeit der reichsdeutschen und österreichischen Akademien, Institute und Bibliotheken.

Daß Österreich im geistigen Leben und in der Wissenschaft mit dem übrigen Deutschland immer eine Einheit gebildet hat, kann im folgenden nur kurz angedeutet werden. Der Kulturzusammenhang der beiden deutschen Gebiete, die sich zueinander verhalten wie der Bruchteil zum Restganzen und die neben der natürlichen, sprachlichen und geistigen Gleichheit auch noch ein Jahrtausend durch [303] Staatsrecht und Politik verbunden waren, bedarf auch weniger des Beweises als der Erinnerung.

Bayern und Franken schufen die deutsche Ostmark und brachten ihre Kultur mit ins Land. Altehrwürdige Klöster sind noch heute geweihte Zeugen. In Salzburg, in den Tälern der Enns und des Inn, an den Ufern der Donau erinnern die Stifte St. Peter, Admont, Wilten, Melk, Göttweig, Klosterneuburg und Zu den Schotten in Wien an die frühen Stätten deutscher Wissenschaft in Österreich. Die Namen der Klöster, die von Mönchen aus Bayern, Oberfranken oder aus dem Schwarzwald besiedelt wurden, drängen sich förmlich zum Aufruf. Die guten Irimberte oder Isenricke, die hier der Wissenschaft dienten, sind heute freilich vergessen, allein auch sie waren Meister oder Kärrner am Bau unserer Wissenschaft. Der Geschichtschreiber und der Literarhistoriker aber nennt noch heute mit Dank die Handschriften aus Vorau, St. Paul, St. Lambrecht oder Mondsee. Den fleißigen Mönchen verdankt Österreich nicht zuletzt die Ehre, eine jener drei Bibliotheken sein eigen zu nennen, die den Hauptschatz unserer altdeutschen Literatur bergen. Nur drei Namen aus der Höhe des Mittelalters sollen genannt sein, welche die geistige Bedeutung der Ostmark und ihre innere Verbundenheit mit dem Reiche dartun mögen: der gelehrte Chronist Bischof Otto von Freising, der Sohn Leopolds des Heiligen und Enkel Kaiser Heinrichs IV., Walther von der Vogelweide und Ottokar von Steier, einer der Meistererzähler deutscher Geschichte. Auch die Schulen weisen immer wieder aufs Reich zurück, von der Salzburger Schule des Erzbischofs Arno bis zur spätmittelalterlichen Domschule bei St. Stephan in Wien, die in der Zeit ihrer Blüte von dem vielgelehrten Franken Konrad von Megenberg geleitet wurde. Aus seiner Heimat führte ihn das Schicksal über Erfurt und Paris nach Wien und von da wieder ins Reich zurück nach Regensburg. Ähnliche Straßen zog dann mancher Gelehrte, als die ersten deutschen Universitäten zu Prag und Wien begründet waren. Der Hesse Heinrich von Langenstein, berühmt als Mathematiker und Astronom wie als Theologe, machte sich um die erste Einrichtung und Ausstattung der Hohen Schule zu Wien verdient; sein Freund Heinrich von Oyta, ein Friese, begründete hier die theologische Fakultät; Nikolaus von Dinkelsbühl, das Licht Schwabens zubenannt, war auch eine Leuchte und Zier des Wiener studium generale. Auch die ersten Mediziner wandern der Universität aus dem Reiche zu. Hermann Lurz, der erste Dekan, ist ein Nürnberger; aus [304] Breslau stammt Johann Gallici, aus Darmstadt Konrad Schiverstadt; ein Hesse ist Hermann von Treysa. Auch die Heimat stellt bald führende Männer und sendet würdige Vertreter zu den großen Konzilien. Thomas Ebendorfer von Haselbach, ein Oberösterreicher, bewährt sich ebenso als vielseitiger Gelehrter, Chronist und Theologe wie als Diplomat. Johann von Gmunden und Georg von Peuerbach genießen hohen Ruhm als Mathematiker und Astronomen; aus Linz und Gräz, aber auch aus Dörfern wie Tittmaning oder Wuldersdorf gehen gelehrte Magister hervor. Die Universität fand den gebührenden Zuspruch aus dem Reich. Unter ihren zweieinhalbtausend Immatrikulierten bis zum Ende des 14. Jahrhunderts stammen rund 1000 von dort, und am Beginn des 16. Jahrhunderts war sie die am stärksten besuchte deutsche Hochschule.

Dem neuen Geiste des Humanismus, der Leben und Wissenschaft umformen wollte, verdankt die Wiener Universität und das gesamte österreichische Geistesleben viel. War er auch eine internationale Bewegung, so haben die Hauptarbeit in Österreich doch deutsche Männer geleistet. Damals lehrte in Wien der Astronom Johannes Müller, genannt Regiomontanus, aus Franken. Sein lebensfroher Landsmann Konrad Celtis, ehedem Pickel, kam von Budapest nach Wien, schlug hier das Zelt seiner Sodalitas Danubiana auf, belebte die humanistischen Studien und hielt Vorlesungen über die Germania des Tacitus. Ein dritter Franke, Johannes Cuspinianus oder Spießhaymer, stieg in Wien zu vielerlei Ämtern und hohem Ansehen empor und empfiehlt noch heute von seinem Grabstein in der Stephanskirche humanistischen Studieneifer und starken Lebenswillen. Es war die Zeit, in der der Erfurter Humanist Eobanus Hessus es als das größte Glück erklärte, in Wien Lehrer sein zu können, und in der sich da aus allen deutschen Gauen Hörer einfanden. Es kamen aus der Schweiz Zwingli und Joachim Vadianus, der dann auch an der Universität lehrte; es kamen Ulrich von Hutten und Joh. Aventinus (Turmair), nachmals ein glänzender Stern am Gelehrtenhimmel Bayerns.

Auch von dem humanistischen Kreis am Hofe des Kaisers Maximilian I. liefen viele Fäden ins Reich hinaus: nach Nürnberg zu Pirkheimer und Peutinger, nach Augsburg, nach Freiburg zu dem Enzyklopädisten Reisch.

Die regen Beziehungen zum Reiche halfen dann der Reformation rasch zum Durchbruch, und nun ergoß sich ein Strom gelehrter [305] Wittenberger Prädikanten und evangelischer Schulmeister in die Alpenländer und ihre Nachbargebiete. Allerorten wurden evangelische Schulen aufgetan, die sich ihre Lehrer aus dem Reiche verschrieben. So wurde nach Niederösterreich und von da an die Grazer landschaftliche Stiftschule D. Chytraeus aus Rostock geholt, nach ihm wirkte in dieser Stadt als Professor der Mathematik und Moral und als Landschaftsastronom der aus Tübingen berufene Kepler, bis ihn nach fünfjähriger Tätigkeit die Gegenreformation vertrieb. In Laibach fand ein anderer Schwabe, der Philologe und Dichter N. Frischlin, eine Zeitlang sein Brot; zu Bartfeld in der östlichen Slowakei treffen wir den Lindauer V. Eck als Lehrer.

Keplers Flucht mag uns den Abstrom deutscher Wissenschaft aus Österreich versinnbildlichen, der mit der Gegenreformation einsetzte und nicht nur die fremden Prediger und Lehrer hinwegriß. Mancher berühmte Mann der deutschen Wissenschaft und Kunst fände seine Ahnen in unseren Alpenländern; die Namen Schiller und Kerner mögen als andeutende Beispiele genügen. Die Gegenreformation hat zwar einen tiefen Grenzgraben zwischen Österreich und den evangelischen Reichsteilen gezogen, aber der schloß nicht jede Wechselwirkung aus. Gerade aus dem katholischen Süden des Reiches und aus jenen habsburgischen Besitzungen, die man Vorderösterreich nennt, holte sich Österreich zunächst für die Gegenreformation, aber auch noch späterhin wertvolle Kräfte. Nur einige Beispiele. Der Wiener Bischof Faber, einer der heftigsten Gegner Luthers, ein Mann der Wissenschaft, der seine wertvolle Büchersammlung einer großzügig gedachten Studentenstiftung hinterließ, stammte aus Leutkirch im Allgäu. Graf J. v. Windhag, ein harter Feind der Evangelischen in Ober- und Niederösterreich, war der Sohn des Lehrers Enzmüller zu Bebenhausen in Schwaben und hatte seine Ausbildung in Ingolstadt erhalten. Auch er stiftete ein Studienstipendium und vermachte seine umfangreiche Bibliothek zum öffentlichen Gebrauch, wodurch die Studierenden Wiens für ein Jahrhundert ihre einzige Bibliothek erhielten.

Groß war im 16. und 17. Jahrhundert der Einfluß der Ingolstädter Schulen. Dort hatte auch Ferdinand II. seine Erziehung genossen, von dort kam später der Mediziner Wolfgang Höfer nach Wien, der den besonderen pathologischen Verhältnissen der österreichischen Alpenländer seine Aufmerksamkeit widmete. Doch auch zurück lief der Faden; die Ingolstädter theologische Fakultät z. B. richtete der [306] Wiener G. Zingl ein. Was Ingolstadt für die Katholiken war, bedeutete Nürnberg für die adeligen protestantischen Kreise. Von den Jesuiten, die schließlich Österreichs Schulwesen beherrschten und unter denen viele rührige Gelehrte waren, stammten nicht wenige aus dem Reiche. Michael Denis, um nur zwei Beispiele zu nennen, war ein Bayer, Petrus Canisius war in der alten deutschen Reichsstadt Nimwegen geboren, hatte seine Bildung zum großen Teil in Köln empfangen und in Ingolstadt gelehrt, ehe er nach Wien kam. Auch sonst fanden immer wieder bedeutende Männer ihren Weg nach Österreich, unter ihnen der Hamburger Polyhistor P. Lambeck, der Unvergängliches für die Erschließung der Schätze der Hofbibliothek geleistet hat. Auch was die Habsburger seit der Renaissance für Kunstsammlungen und Büchereien taten, gehört zur Geschichte der geistigen Beziehungen zum Reich, denn von Maximilian I. bis auf Franz Joseph I. lebte in ihnen immer wieder das Bewußtsein einer deutschen Kulturverpflichtung auf. Man wollte die Kaiserstadt auch als geistigen Mittelpunkt des Reiches emporheben. Das hören wir aus den Akademieplänen von Leibniz heraus, das hallt im Ehren-Ruff Teutschlands wieder, den der kaiserliche Historicus und Prinzeninstructor H. J. Wagner von Wagenfels 1691 erhob, und den man als eines der deutschesten Bücher preisen durfte.

War es bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts den Fürsten überwiegend um den Prunk zu tun, so hat es damit bei Maria Theresia ein Ende. Zeit und Not drängen nun dazu, den Anschluß an die deutsche Geisteskultur wirklich herzustellen. Die Männer der Feder im Reich wittern Wiener Morgenluft, und als Nachfahren von Leibniz erscheinen Gottsched, Lessing, Winckelmann u. a. in der kaiserlichen Residenz. Sie haben wenig Glück, aber Gottsched gewinnt doch gelehrige Schüler, Lessing laute Verehrer. Ungern beruft die Kaiserin Gelehrte von "auswärts", unlieb sind ihr die Protestanten, aber der Sache wegen überwindet sie alle Abneigung. Zum Aufbau des Schulwesens, das als Politikum dem Klerus entwunden werden soll, muß sie über die Grenze langen, und sie entleiht sich den schlesischen Abt Felbiger von ihrem Gegner Friedrich dem Großen zur Einrichtung der unteren Schulen. Für die Universitäten beruft sie Gelehrte aus dem Reich und aus den österreichischen Niederlanden. Nach Prag kommt der Sachse K. H. Seibt als Professor der Philosophie, Ästhetik und Moral und findet einen weiten, bis nach Wien reichenden Schülerkreis; ihm folgt mit ähnlichem Lehrauftrag sein Landsmann A. G. [307] Meißner. An die Wiener Universität zieht van Swieten den Mediziner A. Störck aus Schwaben, der die Arzneimittellehre in Österreich einführt. Auf die Mittelschulen und Hochschulen gewinnt für Jahrzehnte J. M. Birkenstock, geboren zu Heiligenstadt im Eichsfeld und ausgebildet an der Göttinger Universität, einen großen und segensvollen Einfluß. Daß man sich die damals beste deutsche Universität, die Göttinger, ernstlich zum Vorbilde nahm, ist zum großen Teil ihm zuzuschreiben. Der Göttinger Historiker und Publizist Schlözer ist das Gewissensorakel der Kaiserin; "Was wird Schlözer dazu sagen?" fragt sie bei wichtigen Entschlüssen.

So vollzog sich also der ganze Theresianische Schulaufbau und mehr mit reichsdeutscher Hilfe. Als man dann, infolge der französischen Revolution mißtrauisch gegen alles Fremde, Wissenschaft und Schule scharf unter Aufsicht nahm, waren, ähnlich wie bei der Gegenreformation, auch wieder reichsdeutsche Männer dazu behilflich. So war der einflußreiche Hofkanzler Graf Rottenhan ein gebürtiger Bamberger, der seine Erziehung im Reiche genossen hatte. Der gemeinsame Kampf Österreichs und Preußens gegen Napoleon jedoch öffnete den reichsdeutschen Gelehrten und Schriftstellern wieder die Grenze, und die Gedanken der Romantik fanden nun Eingang nach Österreich. Jetzt halten A. W. Schlegel (1808) und sein Bruder Friedrich (1810 und 1812) in Wien ästhetische und geschichtliche Vorlesungen und Friedrich gibt 1812 bis 1813 hier sein Deutsches Museum heraus, um mit tüchtigen Mitarbeitern von hüben und drüben die Wissenschaft im deutschen Geiste zu fördern. Der Berliner Adam Müller schreibt in Wien staatswissenschaftliche Arbeiten und hält ebenfalls Vorlesungen; er erörtert die Vorteile einer Nationalbank und empfiehlt die Errichtung eines staatswirtschaftlichen Seminars. Der Historiker J. v. Müller, der Geburt nach zwar Schweizer, aber von Jugend auf im Reiche lebend, steht 12 Jahre in kaiserlichen Diensten und schafft emsig an seinen historischen Werken, gefördert durch die reichen Wiener Behelfe; jungen österreichischen Talenten, wie Hammer v. Purgstall und Hormayr, ebnet er den Weg zum Erfolg.

Rasch kam jedoch die böse Zeit der Reaktion herauf, in der sich das junge Kaisertum Österreich streng vom Ausland absperrte, bis der Sturm des Jahres 1848 die Dämme brach. Daß übrigens auch im Vormärz die geistige Einheit unversehrt erhalten blieb, lehrt die öster- [308] reichische Literaturgeschichte und zeigt die völkische Begeisterung des Jahres 1848.

Mochten später auch zeitweise die Rivalität mit Preußen, schwankende Außenpolitik und gehässige Umtriebe in der Monarchie die geistige Einheit des deutschen Volkes bedrohen, sie blieb dennoch erhalten und erstarkte.

Abermals vollzog sich der Neuaufbau des Schulwesens mit reichsdeutscher Hilfe. Für die Volks- und Bürgerschulen belegen das Dittes, Vernaleken und Willmann, für das Gymnasium H. Bonitz, für die Realschule, deren ersten Keim schon im 18. Jahrhundert der Badenser J. G. Wolf nach norddeutschen Vorbildern gelegt hatte, Lotheissen, für die Universitäten neben Bonitz eine lange Reihe von Professoren, die nach Österreich hereinberufen wurden. Immer reger wurde der Austausch der Lehrkräfte, immer genauer die Angleichung der Vorschriften und Einrichtungen, lebhafter endlich auch der Hochschulenwechsel der Studenten. Österreichs Wissenschaft, deutsch von jeher, empfing stets aus dem Reiche die fruchtbarsten Anregungen und gab gerade dorthin häufig ihre tüchtigsten Männer ab. So kommt es, daß die Österreicher in dem soeben erschienenen Werk Aus 50 Jahren deutscher Wissenschaft eine würdige Stellung einnehmen. Es ist weder notwendig noch möglich, hier die berührten Tatsachen in alle Einzelheiten zu verfolgen. Ein flüchtiger Überblick über einige Gebiete mag uns genügen.

Von Historikern wurde zuerst der Rheinländer Grauert aus Münster an die Wiener Universität berufen. Ihm folgten der Rheinländer Aschbach, der Sachse Sickel, der den hohen Ruf des Instituts für österreichische Geschichtsforschung und seiner Mitteilungen sowie des Institute Austriaco in Rom begründete, dann der großdeutsch gesinnte Westfale Ficker, schließlich der in Kassel geborene und aus Zürich berufene Universalhistoriker Büdinger. Diese Anregungen aus dem Reiche trugen die schönsten Früchte, und an die hervorragenden Historiker älterer Schule, wie A. v. Arneth und A. Jäger, der 1854 das Institut für österreichische Geschichtsforschung einrichtete und damit in Österreich vor anderen deutschen Ländern nach französischem Vorbild der historischen Quellenforschung eine besondere Lehrstätte schaffen half, schließt sich nun eine lange Kette bekannter Geschichtsforscher aus Österreich, von denen nur Alphons Huber, Ottokar Lorenz, Krones, v. Zeißberg, Mühlbacher, Pastor und Fournier ge- [309] nannt seien, von den lebenden Vertretern des Faches zu schweigen. Die Kunstgeschichte erhielt in dem Deutschmährer Eitelberger 1852 zu Wien den ersten akademischen Lehrer an einer deutschen Universität und fand in Thausing, v. Wickhoff und Dvořak, der, dem Ruf seiner Heimat widerstehend, zum wahren Professor deutscher Wissenschaft und ihrer werbenden Kraft geworden ist, erfolgreiche Bahnbrecher.

Auch die deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft dankt den Österreichern wichtige Fortschritte. Wilhelm Scherer, geboren zu Schönborn bei Wien, daheim und im Reiche lernend, lehrend in Wien, Straßburg und Berlin, gehörte zu den Größten seines Faches, auch wenn er uns nur seine Geschichte der deutschen Literatur und nicht auch noch eine Fülle ergebnisreichster philologischer, literar- und kulturhistorischer und ästhetischer Arbeiten geschenkt hätte. Wenn wir Gelehrte, wie Heinzel, Seemüller, Minor, Sauer, Schönbach, Hauffen, Wolkan, Wackernell, Nagl, Schröer, Khull, Prem, dazu aus älterer Zeit Diemer, K. Tomaschek, I. v. Zingerle und den der deutschen Forschung hingegebenen Griechen Th. v. Karajan nennen, ferner der Mitarbeiter gedenken, die Kürschners Deutsche Nationalliteratur, die Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart, in jüngerer Zeit das große Volksliedwerk und ähnliche Unternehmungen in Österreich fanden, so haben wir nur einen Teil von Österreichs germanistischen Leistungen erwähnt. Das vor zwei Jahren begonnene Sammelwerk Deutsche Literatur ist in Stoff und Behandlung, durch die Herausgeber und Mitarbeiter wie durch seinen ersten Doppelverlag wieder ein schönes Zeugnis vereinter deutscher Arbeit.

Österreich empfing auch Beträchtliches aus dem Reich. Der Schlesier Weinhold kam 1851 nach Graz und weckte den Sinn für Volkskunde und deutsches Altertum wie für die Mundarten, während um dieselbe Zeit in Wien der Heidelberger Hahn die Kenntnis der älteren deutschen Sprache lehrte und ein wenig später Pfeiffer aus Stuttgart erschien, der seiner Wissenschaft neue Wege zu erschließen strebte und die bedeutsame Zeitschrift Germania herausgab. Ähnlich seinem Lehrer Scherer war auch der geistvolle Meister der Textgestaltung und der biographischen Charakteristik, Erich Schmidt, beiden Ländern zugehörig. Gebürtiger Thüringer, kam er mit seinem Vater, dem Zoologen Oskar Schmidt, nach Graz, studierte hier und im Reiche, wurde in Straßburg Professor, ging 1880 nach Wien und wandte sich nach fünf Jahren über Weimar nach Berlin. Durch seine Wiener Lehr- [310] tätigkeit sowohl als auch durch seine Schriften hat er die österreichischen Germanisten stark in seinen Bann gezogen.

Das gleiche Her- und Hinüber zeigen die anderen Sprachwissenschaften. Der klassischen Philologie und Altertumskunde kamen von draußen Bonitz, Hoffmann, Grysar, Vahlen, F. Marx, Conze, O. Hirschfeld, Benndorf, Bormann und andere. Bonitz wurde um die Mitte des Jahrhunderts der glückhafte Erwecker unseres humanistischen Gymnasiums, dem er durch die Zeitschrift für österreichische Gymnasien auch den wissenschaftlichen Nährboden zu bereiten verstand. Seine österreichischen Erfahrungen konnte er später für die Neuordnung der höheren Schulen Preußens verwerten. Österreichs jüngeren Anteil an der klassischen Philologie und Archäologie mögen nur die Namen v. Hartel, K. und H. Schenkl, Th. Gomperz, Studniczka, Gurlitt und W. Klein dartun sowie die ergebnisreichen Ausgrabungen, die in Ephesus, am Schwarzen Meer, in Carnuntum oder sonstwo nah und fern veranstaltet wurden.

Früher als andere deutsche Universitäten erhielt die Wiener (1860) eine Lehrkanzel für romanische Philologie; ihr zweiter Inhaber, Lotheissen, war ein Darmstädter. Aber schon vorher hatte sich der Wiener Ferd. Wolf durch hispanologische Arbeiten zum Mitbegründer der Romanistik gemacht. Die Anglistik zweigte in Österreich der aus Preußisch-Schlesien stammende J. Zupitza von der nordgermanischen Philologie ab und seine Arbeit setzte der Oldenburger Jakob Schipper ausbauend fort. Heute kann diese junge Wissenschaft ganz hervorragende Vertreter aus Österreich aufweisen. Auch die Orientalistik und die vergleichende Sprachforschung, in denen der alten Monarchie durch ihre Lage und bunte Bevölkerung, durch geschichtliche Beziehungen und große Sammlungen eine bedeutende Rolle zugewiesen war, zeigte uns das gewohnte Bild fruchtbarer Wechselwirkung, reichte der Raum hin, sie zu verfolgen.

Ansehnlich sind auch Österreichs Leistungen in der Rechtswissenschaft, die den Germanisten H. Brunner, den Romanisten und Papyrologen L. Mitteis, den Strafrechts- und Völkerrechtslehrer Franz v. Liszt, den Rechtsphilosophen und Soziologen Anton Menger, den österreichischen Justizminister Franz Klein – einen der ersten Schrittmacher der deutschen Rechtseinheit – H. Lammasch, den Vorkämpfer einer internationalen Rechtsordnung, zu ihren Meistern zählt. Brunner, Mitteis und Liszt gehörten in Berlin zu den Zierden [311] der Universität und Akademie wie des öffentlichen Lebens. Auf die Volkswirtschaftslehre nahm die österreichische Schule, mit Karl Menger und seiner Grenznutzentheorie an der Spitze und mit E. v. Philippovich, v. Wieser, Böhm v. Bawerk und anderen Forschern im Gefolge, einen starken Einfluß. Aus der Sturmzeit der Jahrhundertmitte sei hier noch des Rechtshistorikers E. F. Rößler gedacht, des eifrigen geistigen Vermittlers zwischen Österreich und dem Mutterlande. Von den aus dem Reiche berufenen Juristen nennen wir nur drei der bedeutendsten: den Dogmatiker und Romanisten v. Ihering, dessen bekanntes Buch Der Kampf ums Recht 1872 in Wien erschienen ist, H. Siegel, den begeisternden Lehrer der deutschen Reichs- und Rechtsgeschichte, und den Romanisten L. Arndts, von Lehrern der Volkswirtschafts- und Gesellschaftslehre L. v. Stein, A. Schäffle und Max Weber. Adam Müller, dessen Lehre heute, verjüngt und fortgeführt, von Wien aus eindrucksvoll verbreitet wird, die tragischen Gestalten des Finanzministers v. Bruck und Friedrich Lists, die großdeutschen Zielen mit volkswirtschaftlichen Mitteln zustrebten, der Hesse Georg Coch, der weitschauende Begründer der österreichischen Postsparkasse, sind hier anzureihen.

Philosophie, Pädagogik und Theologie, Mathematik und Technik, die Naturwissenschaften samt der Medizin, alle wuchsen in Österreich kräftig empor, bald von Landeskindern, bald von Meistern aus dem Reich geführt, hier empfangend, dort mit vollem Ertrage lohnend. Der Wiener K. L. Reinhold ging als eifrigster Verkünder Kants nach Kiel und Jena, während Herbart in Österreich seit Lott eine der treuesten Provinzen seines Geistes gewann und der Münchner Psychologe und Ethiker Jodl in Wien eine dankbare Gemeinde fand. Die Bedeutung R. Zimmermanns, A. Riehls, A. v. Meinongs und anderer Österreicher in der Philosophie ist allgemein anerkannt. Der Theologe A. Günther, die Physiker Petzval, Doppler und Boltzmann, der Geograph Sieger, die Botaniker Endlicher und Wiesner, die Geologen Pichler und Sueß, der Paläontologe Hoernes, die Astronomen Littrow, die Techniker Prechtl, Altmütter, Karmarsch und Redtenbacher, die reisenden Naturforscher Payer, Lenz und Poch mögen, wahllos aus dem Ehrenbuch der Wissenschaft zusammengelesen, Österreichs vielfältigen Beitrag zu den verschiedensten Gebieten dartun; in gleicher Weise sollen die Theologen Dannenmayer und Cl. Schrader, die beiden Ettingshausen – Physiker der Vater, Paläontologe der Sohn –, der Physiologe Brücke, die Zoologen Claus und Oskar Schmidt, der [312] Geologe Hochstetter und der Geograph Brückner jene Gelehrten vertreten, die den Alpenländern aus dem Reiche zugewachsen sind. Für die Medizin genügt der Hinweis auf den Weltruf der Wiener medizinischen Schule und ihre Vorblüten im Mittelalter und am Ende des 18. Jahrhunderts. Nur einer ihrer Größten, Billroth, sei hier als hochragendes Denkmal engster, für die gesamte Menschheit segensreicher Verbundenheit des Nordens und Südens herausgehoben. Ein Kind der Insel Rügen, wurde er ein Sohn Österreichs, das ihn stolz zu seinen Eigensten zählt und sein Bild auf die Münzen prägt.

Neben den großen Zusammenhängen umschlingen beide Teile unserer Nation zahllose kleine, aber herzliche Bande: der Tiroler Hormayr half den Historischen Verein für Niedersachsen gründen, der 87jährige A. v. Humboldt sandte der Wiener Akademie einen Beitrag aus seiner Feder zur Novarafahrt, Hebbel wurde der treue Nachlaßhüter und liebevolle Biograph des Wieners v. Feuchtersleben.

Planmäßige Zusammenarbeit der Schulen, wissenschaftlichen Anstalten und Sammlungen erhöht noch die Wirkung der gelehrten Personalunion. Wurden die österreichischen Schulen aller Gattungen schon seit jeher in entscheidender Stunde vom Reich aus beeinflußt, so hat vollends im letzten Jahrzehnt ein bewußtes Zusammenarbeiten und verständiges Anpassen auf beiden Seiten eingesetzt und bereits Erfreuliches gezeitigt. Größeres läßt uns noch die Zukunft erwarten. Besonders soll den Hochschulhörern durch Angleichung der Studien- und Prüfungsordnungen Freizügigkeit durchs deutsche Land eröffnet werden. Gute Anfänge zeigen schon ihre Auswirkung in den Besuchsstatistiken. Der Austausch der Hochschullehrer aber kann kaum mehr lebhafter werden, wie fast jedes Heft der Deutschen Literatur-Zeitung beweist.

Es ist nur natürlich, daß auch die Akademie der Wissenschaften in Wien mit den reichsdeutschen Akademien und gelehrten Gesellschaften in engste Fühlung und Arbeitsgemeinschaft getreten ist. Alte Zusammenhänge leiten von Arno von Salzburg und der karolingischen Akademie über den Humanistenkreis Maximilians, des Celtis Literaria sodalitas Danubiana, die österreichischen Adeligen in der Fruchtbringenden Gesellschaft, über Leibniz und die Göttingische Gelehrte Gesellschaft zur Gründung der Wiener Akademie im Jahre 1847 und endlich zum Akademiekartell herauf. Leibniz hat sich schon am Beginn des 18. Jahrhunderts bemüht, in Wien eine gelehrte Societät ins Leben zu rufen. Auch Gottsched brachte 1749 einen Entwurf für eine [313] Akademie nach Wien mit, konnte aber noch weniger damit durchdringen als der vom Prinzen Eugen geförderte Leibniz. Erst das Jahr 1847 brachte die Ausführung des oft erwogenen und oft hintertriebenen Planes.

Die Wissenschaft ist international und die Akademien betonen das mit Recht besonders nachdrücklich. Doch so natürliche Bindungen, wie es Blut, Sprache und Nachbarschaft sind, schaffen innerhalb der internationalen Gemeinschaft engeren Verband. Gerade er führt dann am leichtesten in die Weite. Mommsens Anregung zu einer Internationalen Association der Akademien gewann erst Gestalt, nachdem auf Betreiben Hartels 1893 ein Kartell von Wien mit München, Leipzig, Göttingen und Berlin zustande gekommen war, das 1906 als Verband der deutschen Akademien festere Form annahm und 1911 durch den Beitritt Heidelbergs erweitert wurde. Große gemeinsame Arbeiten konnten jetzt begonnen werden: eine Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften, der Thesaurus linguae Latinae, die Fortsetzung von Poggendorffs Handwörterbuch der exakten Naturwissenschaften, die Herausgabe der Deutschen Literatur-Zeitung u. a. Damit fand die schon bisher im internationalen Rahmen geübte Zusammenarbeit ihren planmäßigen Ausbau. Die Teilnahme der Wiener Akademie an der gemeinsamen Verwaltung mehrerer wissenschaftlicher und literarischer Stiftungen bestätigt ebenfalls brüderliche Einigkeit. Der Erforschung des deutschen Seins und Werdens widmen die Akademien vereint ihre Kräfte. An der Leitung der Monumenta Germaniae historica nimmt die Wiener Akademie gebührend teil, und das österreichische Institut für Geschichtsforschung leistet wichtige Mitarbeit. Ein großes bayerisch-österreichisches Wörterbuch wird gemeinsam von der Münchner und Wiener Akademie vorbereitet. Hatte schon die von der bayerischen Akademie herausgegebene Allgemeine deutsche Biographie Österreich in jeder Hinsicht voll berücksichtigt, so gilt das in noch höherem Maße von der durch die vereinigten Akademien herausgegebenen Fortsetzung, dem Deutschen biographischen Jahrbuch. Seit 1925 vereinigt die Deutsche Akademie in München die namhaftesten deutschen Gelehrten aller Länder zur Pflege und Erforschung sämtlicher geistigen und kulturellen Lebensäußerungen des Deutschtums und seines völkischen Bewußtseins. Gemeinsamer deutscher Arbeit verdankt die Wissenschaft eine Reihe wichtiger Jahresberichte, Grundrisse, Enzyklopädien, Lehr-, Hand- und Wörterbücher und nicht zuletzt zahlreiche Zeitschriften. Wir können darauf nicht [314] näher eingehen, wie wir es uns auch versagen müssen, die Bedeutung des deutschen Buchhandels als einigenden Bandes zu beleuchten. Ein Wahrzeichen gesamtdeutschen Kulturwillens hat er in der Deutschen Bücherei zu Leipzig, der Sammelstätte des gesamten deutschen Schrifttums seit 1913 und der Zentralstelle der deutschen Bibliographie, aufgerichtet.

Das Buch bewährt seine einigende Kraft auch im Bibliothekswesen. Die österreichischen Bibliothekare, seit einem halben Jahrhundert durch das Zentralblatt für Bibliothekswesen, seit einem Menschenalter durch gemeinsame Tagungen, die auch auf österreichischem Boden stattgefunden haben, den Kollegen im Reich innig befreundet, haben sich ihnen zuletzt im Verein deutscher Bibliothekare völlig zugesellt. Seit langem stehen die Bibliotheken beider Gebiete im Schriftenaustausch und Leihverkehr, und die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft hat wiederholt auch den österreichischen Büchereien Unterstützung gewährt. Die Angleichung der Bibliotheken hat im letzten Jahrzehnt große Fortschritte gemacht. Der Austausch von Bibliothekaren ist seit einigen Jahren im Gange, die Ausbildung der österreichischen Bibliothekare nach reichsdeutscher Weise wurde im Vorjahr eingeleitet, der Anschluß Österreichs an den deutschen Gesamtkatalog und den deutschen Leihverkehr ist im Zuge. Jahrzehntelange Einigungsbestrebungen und bis ins Mittelalter zurückreichende wechselseitige Förderung finden damit ihre Krönung.

Auch die übrigen wissenschaftlichen Anstalten, die Museen und Forschungsinstitute beider Gebiete pflegen miteinander engeren Verkehr als mit irgendeinem anderen Lande. Da die geistigen Berufe beider Staaten sich zu gemeinsamen wissenschaftlichen Vereinen und Beratungen zusammenfinden, kann das nicht anders sein. Die österreichischen Hochschullehrer, Richter, Ärzte, Schulmänner usw. haben und brauchen ihre staatlichen Berufsverbände, gleich ihren Kollegen in Bayern oder Preußen. Aber die höheren, wissenschaftlichen Fragen, die erörtern sie, in der Wahl der Orte keine Grenze kennend, auf den Deutschen Hochschullehrertagen, den Deutschen Juristentagen, in den Versammlungen deutscher Naturforscher und Ärzte oder deutscher Philologen und Schulmänner, und ebenso halten es die Techniker, die Geographen, die Historiker und Archivare und die anderen Gruppen. Man denke sich alle diese schönen Bänder gelöst, und wie traurig sieht es um die österreichische Kultur aus, um welch wertvollen Teil ist die Geistigkeit im Reiche beraubt.

[315] Auch das Ausland ist sich über die deutsche wissenschaftliche Einheit im klaren. Dem im Jahre 1916 von einer Anzahl französischer Gelehrten geschriebenen und durch G. Petit und M. Leudet herausgegebenen Buch Les Allemands et la Science kann wenigstens in dem einen Punkt, daß es die reichsdeutsche und österreichische Wissenschaft als eine untrennbare Einheit behandelt, die Ehrlichkeit und Stichhaltigkeit nicht bestritten werden.

Im ganzen wird das vorliegende Buch die Frage beantworten, die sich uns aufdrängt: Wodurch und warum unterscheidet sich die österreichisch-deutsche Kultureinheit von anderen ähnlichen? Einige Gründe konnte auch diese flüchtige Skizze andeuten. Einer jedoch muß hier betont werden: der Wille zur Einheit. In den Reihen der Wissenschaftler, hüben wie drüben, sind die Überzeugung, daß Österreich kulturell nur ein Teil des Reichsgebietes ist, und der Wunsch, daß dieser Zustand für alle Zeit erhalten bleibe und sobald als möglich unter einem staatlichen Dach geborgen werde, felsenfest verankert, und in unserer akademischen Jugend leben gleicher Glaube und gleiche Sehnsucht.

Dabei vergißt die deutsche Wissenschaft keineswegs ihre übervölkische Berufung und ihre internationalen Pflichten. Sie hat jede Gelegenheit zur Wiederanknüpfung der alten gelehrten Beziehungen freudig ergriffen und beteiligt sich eifrig an der geistigen Zusammenarbeit, die der Völkerbund eingeleitet hat. Durch das Volkstum zur Menschheit, ist die Losung der deutschen Wissenschaft.


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Die Anschlußfrage
in ihrer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bedeutung

Friedrich F. G. Kleinwaechter & Heinz von Paller