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I. Die historischen Grundlagen

[1]
Die geschichtliche Funktion des alten Österreich
Universitätsdozent Dr. Otto Brunner (Wien)

Sinn der geschichtlichen Existenz des alten Donaustaates • Ihre Bedeutung für die politische Problematik der Gegenwart • Die Ostmark bayrisches Grenz- und Kolonialland • Die Auseinandersetzung mit den Ostvölkern des mitteleuropäischen Raumes • Das "Haus Habsburg" • Das Zweifrontenproblem • Österreichs deutsche Stellung • Karls V. universelles Machtstreben • Vormachtstellung des Hauses Habsburg im Deutschen Reich • Die Idee eines mitteleuropäischen Imperiums • Aufgabe der Stellung am Rhein • Die Türkenkriege • Werden der "Donaumonarchie" • Niederlegung der deutschen Kaiserkrone durch Franz I. • Das österreichische Kaisertum • Auseinandersetzung mit Preußen • Die Monarchie auf den Donauraum zurückgeworfen • Die nationale Bewegung und die Idee eines übernationalen Staates •Zusammenfassung.

Altösterreich ist zerfallen. Mit dem Wollen der Gegenwart ist der Sinn seiner geschichtlichen Existenz nicht mehr so greifbar verknüpft, daß uns die Wandlungen seines Daseins unmittelbar als Werden unseres Selbst verständlich werden könnten. Und doch ist unser Schicksal so eng mit der Geschichte dieses dahingegangenen Staatswesens verbunden, daß wir auf tiefere Erkenntnis der geschichtlichen Grundlagen unseres Daseins verzichten müßten, wollten wir die Geschichte Altösterreichs etwa nur im Rahmen der europäischen Geschichte betrachten, wie die Geschichte anderer Staaten auch. Vielmehr ist gerade in der österreichischen Geschichte um die Lösung von Problemen gerungen worden, die heute wieder brennende Fragen der Gegenwart sind.

Diese Fragen sind beschlossen in dem Problem der deutschen Staatsbildung in Mitteleuropa und der Auseinandersetzung des deutschen Volkes mit seinen östlichen Nachbarn. Denn diese Fragen des Zusammenlebens der mitteleuropäischen Völker sind Schicksalsfragen für uns alle. Einmal weil nur die innere Einheit Mitteleuropas Festigkeit gewährt gegen den Druck mächtiger und andersartiger Völker und Staaten in West und Ost. Für die Deutschen besonders, weil sich ihr Siedlungsgebiet über seine Staatsgrenzen hinaus über das ganze östliche Mitteleuropa erstreckt und für die nichtdeutschen Völker Mitteleuropas, weil nur eine friedliche, dauernde Ordnung ihrer gegenseitigen Beziehungen die Möglichkeit einer Entfaltung ihrer politischen und kulturellen Individualitäten schaffen kann.

[2] Von diesem Blickpunkt aus gesehen, wird die Geschichte Altösterreichs zu der wichtigsten Lösung dieses Problemkreises, die bisher versucht wurde und auch zu jener, der die längste Dauer innewohnte. So wird man erwarten dürfen, daß die Erforschung der tragenden Kräfte der österreichischen Geschichte uns tiefer hineinführt in die Grundprobleme unseres eigenen Daseins.

Das Kernland Österreichs ist bayrisches Kolonial- und Grenzgebiet. Die kolonisatorische Kraft des Bajuwarenstammes ist schon früh von der Donauebene her in die Becken- und Tallandschaften der Ostalpen gedrungen. Nur die Randlandschaften, die nach Osten zu offen sind, hat seine Kraft nicht mehr erreicht. Erst als die alten politischen und kulturellen Bande, die den Bayernstamm mit dem Frankenreich verknüpften, bis zur Einverleibung verdichtet worden waren, da haben die Avarenfeldzüge Karls des Großen (seit 791) die politischen Grenzen bis in den pannonischen Raum hinein vorgeschoben und die östlichen Randlandschaften der Siedlungsarbeit erschlossen. Die Organisierung der Grenzgebiete als Marken schuf zugleich die Form politischer Organisation, innerhalb derer sich fortan das politische Schicksal dieser Gebiete in hervorragendem Maße abspielen sollte. Diese Vorgänge sind für die Zukunft durchaus bestimmend. Wohl liegen die Anfänge der österreichischen Geschichte in der Kolonisation der Donau- und Alpengebiete durch den bayrischen Stamm. Daß aber dieses südostdeutsche Gebiet vorgeschoben wurde gegen Osten, daß es bestimmend eingreifen konnte in dessen Geschick, eine Tatsache, für die die Beherrschung des Wiener Beckens von besonderer Wichtigkeit wurde, dazu reichte die Kraft des Bayernstammes allein nicht hin, dazu bedurfte es der militärischen Kraft des ganzen Frankenreiches. Daß es sich hier nicht um einen Zufall handelt, sondern um das erste Hervortreten eines stets wirksamen Kräfteverhältnisses, sollte die Geschichte der ersten Jahrhunderte nach der Begründung der karolingischen Ostmark beweisen.

Der deutsche Volksboden in Vergangenheit und Gegenwart.
[18]      Der deutsche Volksboden in Vergangenheit und Gegenwart.      [Vergrößern]

Als sich im Laufe des 9. Jahrhunderts der Zusammenhalt des Frankenreiches lockerte, konnte der auf seine eigene Kraft angewiesene Bayernstamm die östlichen Grenzgebiete vor dem Ansturm der Magyaren nicht halten. Erst die unter den Königen aus dem sächsischen Haus geeinte Kraft aller deutschen Stämme vermochte die alte Machtstellung an der Donau und am Alpenrand wieder aufzurichten. Wie die Symbole zukünftigen Geschehens erscheinen uns [3] unter diesem Gesichtspunkt die zwei blutigen Schlachten des 10. Jahrhunderts, die über den Fortgang der Dinge entschieden: Die schwere Niederlage des bayrischen Heerbannes bei Preßburg am 5. Juli 907 und der Sieg des deutschen Heeres unter König Otto I. bei Augsburg am 10. August 955. Die Folgen dieses Sieges für den Osten waren groß: Er zwang die Magyaren zur Umbildung ihrer Stammesverfassung zum großräumigen Flächenstaat, zur dauernden Seßhaftigkeit und in wesentlichem Zusammenhang mit der Umbildung der sozialen und staatlichen Struktur zur Annahme des Christentums. Dadurch aber, daß sich König Stephan der Heilige um das Jahr 1000 zur lateinischen Kirche des Westens, nicht zur griechischen des Ostens bekannte, hat der große König die Zugehörigkeit seines Volkes zum Abendland und damit zu Mitteleuropa entschieden. Allerdings bedeutete diese kulturelle Zugehörigkeit zum Westen, zum deutschgeführten Mitteleuropa noch keineswegs das Aufgeben des eigenen kulturellen und politischen Selbstbehauptungswillens. Ganz analog wie die anderen staatsgründenden Völker dieser Ostzone, die Tschechen und Polen, haben auch die Magyaren das Eigenrecht ihrer politischen und kulturellen Entwicklung zu behaupten gewußt gegen eine deutsche Hegemonie. So entsteht hier ein Spannungsverhältnis zwischen dem deutschen Führervolk und seinen östlichen Nachbarn, das immer wieder neu überwunden und geordnet werden mußte. Im hohen Mittelalter hat sich allerdings dieses Verhältnis noch in dem Ringen des Reiches mit seinen östlichen Nachbarn vollzogen; von einem spezifisch österreichischen Problem kann man hier noch nicht sprechen. Auf altösterreichischem Gebiet liegt der entscheidende Fortgang der Ereignisse vielmehr in der inneren Entwicklung, in dem Zerfall des bayrischen Stammesgebietes, in der Umbildung der Amtsbezirke zu Unterstaaten des Reiches, zu Territorien, wie wir sie zu benennen pflegen. Hier ist nun die Ostmark, das Herzogtum Österreich vorangegangen, in der relativ frühen Herausbildung einer gefestigten Staatsgewalt, in dem Ausgreifen seines Herzogsgeschlechtes, der Babenberger, nach der benachbarten Steiermark (1192). Das frühe Ende dieses Hauses (1246) schien den Aufstieg einer südostdeutschen Territorialmacht, der schon eine Königskrone winkte, zu unterbrechen. Schicksalsvoll vollzieht sich zu gleicher Zeit der Untergang der alten Kaisermacht; die Schwäche des Reiches erlaubt es daher zum erstenmal den Staaten des östlichen Mitteleuropa, in die Geschichte der österreichischen Länder einzugreifen: Ungarn, wie auch [4] dem wohl halbdeutschen Böhmen. Aber der Versuch des Böhmenkönigs Ottokar II., einen Sudeten- und Alpenländer umschließenden Staatsbau aufzurichten, zerbrach an der neuen Königsmacht Rudolfs von Habsburg. Dauer hätte diesem Versuch nur beschieden sein können, wenn aus dem Böhmenkönig ein deutscher König geworden wäre. So fehlt die Rechts- wie die Machtgrundlage zur dauernden Behauptung seiner Position.

König Rudolf hat die österreichischen Länder seinem Hause zuwenden können (1282) und sie sind der bevorzugte Kern der Machtstellung des habsburgischen Hauses geworden, so daß es bald als "Haus Österreich" erscheint. Freilich haben die Probleme des deutschen Südostens die Politik des Hauses allein nicht bestimmt. Wohl ist ihm gelungen, bis zum Ausgang des Mittelalters die meisten Territorien des deutschen Südostens in seiner Hand zu vereinigen. Neben einigen geistlichen Territorien von geringerer Bedeutung wie Salzburg, hat es die Macht im Südosten des Reiches nur mit Bayern dauernd teilen müssen, ein Dualismus, der die Machtstellung des Hauses im Reich dauernd beengte und trotz mannigfacher Bemühungen in den neueren Jahrhunderten nicht überwunden werden konnte. Das mußte für die Zukunft des Hauses verhängnisvoll werden, für die Reichspolitik, wie für die Beziehungen zum Osten, da auch seine Machtstellung in Südschwaben durch das Aufstreben der schweizerischen Eidgenossenschaft in Trümmer geschlagen wurde. So mußte es seine Vorrangstellung mit anderen Herrscherhäusern teilen, ja es schien, als ob es den Luxemburgern von Böhmen aus gelingen sollte, ein großes mitteleuropäisches Reich aufzubauen, da sich in der Hand dieses Hauses das mächtigste Territorium des deutschen Nordostens, Brandenburg, mit der Kaiserkrone und den Kronen von Böhmen und Ungarn vereinigte. Doch das luxemburgische Geschlecht versank (1437) und Habsburg wurde der Erbe seiner Prätensionen. Dies allerdings in einem Augenblick, da sich allerorts im Osten eine scharfe nationale Reaktion gegen das Deutschtum erhob, in Böhmen und Polen wie in Ungarn. So bleibt die böhmische und ungarische Herrschaft König Albrechts II. und seines Sohnes Ladislaus ein kurzes Zwischenspiel. Nationale Herrscher lösen sie in Böhmen und Ungarn ab und es scheint, als sollten diese angesichts der Schwäche des Reiches entscheidenden Einfluß auf ganz Mitteleuropa gewinnen. Wenn auch das Streben des Böhmenkönigs Georg von Podiebrad nach der deutschen Krone scheiterte, so reißt doch König Matthias Corvinus von [5] Ungarn Schlesien, Mähren, beträchtliche Teile der österreichischen Länder an sich. Schließlich vereinigte dann das Haus Jagiellos, das im 15. Jahrhundert dem Deutschtum im Nordosten so schweren Abbruch getan hatte, die Staaten des östlichen Mitteleuropa in seiner Hand. Einer tiefer eindringenden Betrachtung, die den Gesamtkomplex der Beziehungen des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn ins Auge faßt, enthüllt sich der Geschichte des ausgehenden Mittelalters eine Fülle verschiedener Möglichkeiten einer Organisierung der mitteleuropäischen Staatenwelt und damit auch der Blick auf die besonderen Bedingungen, unter denen die österreichische Großmacht entstanden ist.

War das Haus Österreich so auf seine Erbländer beschränkt, von entscheidenden Eingriffen in die Verhältnisse des Ostens ausgeschlossen, so hat es doch auf Grund seiner deutschen Machtstellung die deutsche Königskrone behauptet und damit, mochten die realen Machtmittel noch so gering sein, die ihm daraus erwuchsen, eine unerhörte Steigerung politischen Ansehens gewonnen. Dann aber brachte ihm das burgundische Erbe neue europäische und deutsche Aufgaben. Dieses Erbe machte das Haus Österreich zum Grenzhüter des deutschen Westens gegen den französischen Expansionsdrang, in demselben Moment, da auch im Osten durch das Vordringen der türkischen Macht ein steigender Druck auf Mitteleuropa fühlbar wurde. So schien es, daß dem Hause eine große geschichtliche Mission zufiele, die Behauptung der Mitte des Erdteiles gegen den Druck von West und Ost. Es sollte nicht ganz so kommen. Einmal weil die Struktur des deutschen Staatswesens einer solchen Politik notwendig mehr Hemmungen als Antriebe gab, dann weil die habsburgische Politik hinausdrängte in weitere europäische, imperiale Bahnen. War der Kampf Maximilians I. gegen die französische Expansion in Italien noch durchaus vom Machtstandpunkt Deutschlands und Mitteleuropas natürlich, so steht die Erwerbung der spanischen Krone mit diesem Ausgangspunkt der habsburgischen Politik nicht mehr unmittelbar in Zusammenhang.

Das zeigt schon die Teilung des ererbten Machtkomplexes durch die Brüder Karl V. und Ferdinand I. (1521/22), vor allem aber das tragische Scheitern Karls V. in seinem universalen Machtdrang. Ferdinand I. aber war im wesentlichen auf die Kraft der deutschen Erbländer allein angewiesen, als ihm der türkische Sieg von Mohács die Kronen von Ungarn und Böhmen darbot (1526). Man wird die Kräfte, [6] die ihm in den folgenden Jahrzehnten aus dem Reich zugeflossen sind, nicht unterschätzen; um aber in einem entscheidenden Stoß die türkische Macht aus Mitteleuropa zu verdrängen, dazu reichten sie nicht hin. So blieb Ungarn jahrhundertelang zerrissen, so wie in späterer Zeit Polen, weil die innere Zerspaltung des deutschen Staates die Verwendung der Kräfte für einen Aufbau der mitteleuropäischen Staatenwelt aus eigenen Kräften nicht zuließ.

Man darf hier die Frage aufwerfen, ob die Politik des Hauses Österreich und hier wieder zuerst seiner deutschen Linie beschlossen war, schon seit der Erwerbung der böhmischen und ungarischen Krone, in dem Aufbau eines in sich geschlossenen und möglichst einheitlich organisierten Donaustaates, wie ihn die "Donaumonarchie" des 18. und 19. Jahrhunderts repräsentiert. Ob die anderen politischen Aufgaben, die dem Hause Österreich erwuchsen, etwa nur peripher waren, die es von der Erreichung dieses Hauptzieles abhielten? Ich glaube nicht, daß dieser Aspekt, der doch – zum Teil wohl nur halb bewußt – einer überlieferten Form österreichischer Geschichtsbetrachtung entspricht, den Blick auf die wirklichen Zusammenhänge gewährt. Die Ziele der habsburgischen Politik waren größere, europäische, mitteleuropäische und deutsche. Erst im Rahmen dieser größeren Ziele gewinnt auch das Streben nach Beherrschung des geopolitisch einheitlichen Donauraumes seinen Sinn, einen tieferen geschichtlichen Sinn auch die dynastische Politik des Herrscherhauses, deren Ausgreifen in Europa von dem engeren Ziele des Donaustaates her nicht zu begreifen wäre. Einmal darf darauf hingewiesen werden, daß neben der römischen Kaiserkrone und den Kronen von Ungarn und Böhmen auch die Erwerbung der polnischen Krone oder wenigstens eine engere politische Verbindung mit diesem Staat ein lockendes Ziel schien. Die Bemühungen um die Krone Polens sind bekannt, sie tauchen in den verschiedensten Formen seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf und reichen bis zum Versuch einer "austropolnischen" Lösung des polnischen Problems, der in den letzten Jahren des Bestandes der Monarchie unter freilich ganz veränderten Voraussetzungen unternommen wurde.

Wesentlicher ist das Streben, die Vorrangstellung im Reich zu behaupten und zu einer wirklichen Vormachtstellung auszubauen. Die territoriale Position des Hauses Österreich im Reich war ja durch die Erwerbung Böhmens und seiner Nebenländer unerhört gesteigert worden. Bezeichnenderweise knüpft sich an die Niederwerfung der [7] ständischen Revolution in Böhmen (1618 bis 1620) der am weitesten vorgetriebene Stoß zur Steigerung der Kaisermacht im Reich. Daß er zerbrach, liegt an vielen Ursachen, der im konfessionellen Zeitalter unentrinnbaren Verflechtung politischer und religiöser Gegensätze, an der alten Verbindung der tief verwurzelten Fürstenmacht mit auswärtigen Gegnern, mit Schweden und Frankreich.

Wir möchten nicht behaupten, daß die Idee eines mitteleuropäischen Imperiums in seinen ausgebildeten Formen jemals die reale Politik der Wiener Hofburg bestimmt habe. Die einzelnen Teilziele sind aber immer wieder vor ihrem Horizonte aufgetaucht. Daß auch diese schon unüberwindlichen Widerstand hervorriefen, mag gewiß die Annahme nahelegen, daß ein solches Gesamtziel eine Utopie von absoluter Unverwirklichbarkeit gewesen sei. Wie dem immer sei, der staatsmännische Genius ganz hohen Ranges ist dem habsburgischen Geschlecht in den entscheidenden Schicksalstunden seines geschichtlichen Wirkens nicht erstanden und so wurde auch der Versuch, der vielleicht scheitern mußte, nicht unternommen. Aber – und dies wird auch dem Zweifler zu denken geben – im politischen Denken der Gegner tauchen diese hohen Ziele wie Angstträume immer wieder auf, auch noch zu einer Zeit, da ihre Verwirklichung längst unmöglich schien. Man lese darauf hin einmal die politischen Testamente Friedrichs des Großen durch!

Der westphälische Friede (1648) setzte allen Bestrebungen, die deutsche Fürstenmacht zu brechen, ein Ende. Er legte auch Bresche in die Stellung Österreichs am Rhein, im Elsaß und tat damit den ersten Schritt auf einer Bahn, der Österreich von der für seine deutsche Stellung so wichtigen Aufgabe der Verteidigung der deutschen Westgrenze schließlich ganz lösen sollte. So vollzieht sich fast gleichzeitig der Aufstieg der österreichischen und der brandenburgisch-preußischen Macht im Kampf mit dem Osten in wenn auch zeitweise sehr getrübter gemeinsamer Abwehr der französischen Expansionspolitik im Westen.

Der große Türkenkrieg von 1683 bis 1699 bedeutete die Eroberung Ungarns und damit die endgültige Besitznahme des ganzen Donauraumes. Als er zu Ende war, stand das Haus Österreich neuerlich vor dem Problem der europäischen Vormachtstellung, die sich ihr aus der Beerbung der spanischen Linie zu ergeben schien. In diesem Kampf ist die Wiener Regierung unterlegen. Auch ein völliger Sieg hätte wohl nur die Bildung einer neuen spanischen Linie bedeutet. [8] Was man errang, war bedeutend genug. Vor allem brachte Österreich der Friede die auf jeden Fall erstrebte Vormachtstellung in Italien, die fast anderthalb Jahrhunderte behauptet werden konnte, und die angesichts des Fehlens eines italienischen Nationalstaates für die Sicherung Mitteleuropas gegen französische Expansionstendenzen von großer Bedeutung war. Geringer wurde der Wert der Niederlande eingeschätzt; man wäre bereit gewesen, sie aufzugeben, so wie Lothringen, wenn dadurch eine Verstärkung des geschlossenen deutschen Territorialgebietes, vor allem durch Bayern, hätte erkauft werden können.

Dennoch dachte man nicht daran, das Schwergewicht ganz in den Donauraum zu verlegen. Die Stärkung der deutschen Machtgrundlage und die Bewahrung der trotz ihrer Machtlosigkeit für das Prestige des Hauses noch außerordentlich wertvollen Kaiserkrone schien nicht minder wichtig. Auch erhob sich gegen eine schrankenlose Expansionspolitik an der unteren Donau und auf dem Balkan, wie sie die Feldzüge des Prinzen Eugen einzuleiten schienen (1716 und 1718), das Aufkommen einer osteuropäischen Großmacht, Rußland, deren Druck bald auf das stärkste fühlbar sein sollte. Zudem geriet die deutsche Machtgrundlage des Hauses ins Wanken. In dem erbitterten Ringen Maria Theresias mit Preußen ist eine große, fast rein deutsche Provinz, Schlesien, verloren gegangen (1740 und 1763); und jeder Versuch einer Expansion nach Süddeutschland wurde unmöglich gemacht. So ist die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts so richtig der Moment, in der die letzte Form österreichischer Staatsgestaltung, die "Donaumonarchie", sich ausgeprägt hat. Auf den verfassungsrechtlichen Grundlagen, die schon die "Pragmatische Sanktion" (1713) gelegt hatte, wurde eine einheitliche Staatsorganisation aufgebaut und auch zu einem wirtschaftlich einheitlichem Gebiet wuchs der Staatsraum der Monarchie zusammen. Eine neue österreichische Staatsgesinnung ist im Werden; mochte sie sich auch vielfach auf die führenden Schichten des Adels, der Bureaukratie, des an der politischen und wirtschaftlichen Einheit interessierten Bürgertums beschränken und gerade mit deutschem Fühlen auch bei starker Steigerung eines österreichischen Sonderbewußtseins immer in Bindung bleiben.

Freilich Ungarn ist ausgenommen von diesem Vereinheitlichungsprozeß. Es vermag seine Eigenstaatlichkeit im Rahmen der Donaumonarchie zu bewahren bis zu einem Augenblick, da ihm als dem [9] großräumigsten und politisch zielstrebigsten Glied des Gesamtstaates der Anspruch auf Führung erwuchs.

Im Reich hat man mit Preußen die Führerstellung teilen müssen. Und im Osten hat gerade das unentrinnbare Schicksal des deutschen Dualismus den Einfluß Rußlands auf Mitteleuropa befördert. Weniger noch auf dem Balkan als in Polen, wo man für die Erwerbung Galiziens (1772) das Hereingreifen dieser osteuropäischen Macht nach Mitteleuropa dulden mußte.

In dieser Lage traf der Sturm der Revolutionskriege (seit 1792) den österreichischen Staat. Er entriß ihm nicht nur die italienische Machtstellung, die vorländischen Besitzungen, schließlich wesentliche Teile seines südostdeutschen Territorialbesitzes, sondern auch die Kaiserkrone. Da man sie hingab, hatte man schon ein neues, ein österreichisches Kaisertum geschaffen (1804). Es ist der Ausdruck der neuen Lage, des Sichzurückziehens auf den engeren Donauraum, der immer mehr zum geschlossenen Staatswesen ausgestaltet werden sollte. Das tritt deutlich in Erscheinung, als der Zusammenbruch des napoleonischen Empire die Wiederherstellung älterer Verhältnisse gestattete. Das Anbot einer territorialen Verankerung am Rhein, das die Übernahme der Verteidigung Mitteleuropas und Deutschlands gegen die französischen Expansionsbestrebungen bedeutet hätte, ist schließlich gegen den Rat des leitenden Staatsmannes, des Fürsten Metternich, abgelehnt worden. Man begnügte sich mit dem äußeren Vorrang im Deutschen Bund bei Teilung der tatsächlichen Führung mit der zweiten deutschen Vormacht Preußen, mit der Beherrschung Italiens. Noch immer bedeutend genug um erkennen zu lassen, wie tief die Machtstellung Österreichs in seinen deutschen und europäischen Bindungen verankert war. Die Stellung im östlichen Mitteleuropa mußten die deutschen Mächte mit Rußland teilen, mit dem sie der Ansturm revolutionärer Tendenzen zu gemeinsamer Front zwang. Das bedeutete das Fortbestehen der Teilung Polens und den Verzicht auf eine expansive Balkanpolitik. Ja, schließlich ist es Rußland gewesen, das Österreichs Herrschaft in Ungarn (1849) stützen mußte. Aber trotz der Erschütterungen ist Österreich noch immer die erste Macht Mitteleuropas. Im gegenseitigen Verhältnis bietet die Beherrschung des Donauraumes die Machtgrundlage für die deutsche und italienische Vormachtstellung, läßt diese Vormachtstellung, die einander widerstrebenden Kräfte im Innern der Monarchie leichter zusammenhalten.

[10] Das sollte sich zeigen, als die Bindungen allmählich gelöst wurden. Der Verlust der italienischen Stellung durch die Bildung des italienischen Nationalstaates (seit 1859), der Ausschluß aus dem Deutschen Bund (1866), die Begründung des neuen Deutschen Reiches (1871), sie haben Österreich nun endgültig auf den Donauraum zurückgeworfen. Es ist nicht zufällig, daß in diesem Augenblick die Existenz dieses Staatswesens selbst seinen Angehörigen problematisch wurde. An der beherrschenden Tendenz seiner Zeit, der nationalen Bewegung, mußte der alte Staat seine Schicksalsprobe bestehen; ihr Gelingen ist ihm durch den Verlust der Führung Mitteleuropas gewiß aufs äußerste erschwert worden, da der übernationale Sinn seiner Existenz zu entschwinden drohte.

Fassen wir kurz zusammen: Aus der Kraft des ganzen deutschen Volkes heraus ist der deutsche Südosten erworben und behauptet worden. Das österreichische Staatswesen, das sich hier entwickelte, die "Erbländer" boten der Politik seines Herrschergeschlechtes die Grundlage für sein Vormachtstreben im Reich. Erst von hier aus, von dieser gesamtdeutschen Machtstellung ist die Führerleistung des Hauses Österreich in Mitteleuropa zu begreifen, wurde der Anschluß, den die Klein- und Mittelvölker des östlichen Mitteleuropa vor dem Druck aus dem Osten suchen mußten, begreiflich. So ist die geschichtliche nie völlig zur Wirkung gelangte Funktion Österreichs die gewesen, den Versuch einer Organisierung der mitteleuropäischen Staatenwelt zu machen. Sein Scheitern liegt zutiefst daran, daß das Herrscherhaus auf seinen "österreichischen" Ausgangspunkt zurückgeworfen wurde und durch den unentrinnbaren Gang der Dinge seine Machttendenzen nie mit denen ganz Deutschlands identifizieren konnte, so daß jahrhundertelang unter den europäischen Mächten neben den "Staaten" Frankreich, England, Spanien, Rußland usw. das "Haus Österreich", "maison d'Autriche" figurierte. Dann erscheint die "Donaumonarchie" nicht mehr allein als die Vollendung eines lange erstrebten Zieles, sondern doch auch als Ausdruck resignierten Verzichtes auf größere darüber hinausragende Ziele. Aber auch sie zog die Wurzeln ihrer Kraft zum guten Teil aus der deutschen und europäischen Verwurzelung ihrer Existenz und der Verlust ihrer Führerstellung in Mitteleuropa schien ihr an die Daseinsgrundlage zu greifen. Was diese Spätform österreichischer Staatsgestaltungen noch immer für den in ihr wohnenden Teil des deutschen Volkes bedeutete, braucht hier nur angedeutet zu werden. Das Bündnis mit dem Deutschen Reich (seit 1879) zeigt ihre, [11] wenn nun auch sekundäre Rolle in der Behauptung des mitteleuropäischen Raumes.

Bevor die Monarchie den Versuch unternehmen konnte, eine neue Form und einen neuen Inhalt ihres Daseins zu finden, ist sie im Sturm des Weltkrieges zerbrochen.

Die Ziele, die sie erstrebte, die Form des staatlichen Lebens, die sie geschaffen, sind unwiederbringlich dahin. Was uns bleibt, ist die alte Aufgabe eines friedlichen Zusammenlebens der mitteleuropäischen Völker unter gänzlich veränderten Bedingungen und Voraussetzungen. Daß diese Aufgabe eine gesamtdeutsche ist, wollten die vorliegenden Zeilen andeuten und sie glauben gerade aus der österreichischen Geschichte den unwiderleglichen Beweis dafür ablesen zu können, daß das Ziel, dem dieses Buch dient, die erste, grundlegende Voraussetzung dazu ist, das Unrecht, das seit mehr als 10 Jahren im Herzen Europas begangen wird, wieder gutzumachen und die Grundlage zu einer dauernden friedlichen Ordnung zu schaffen.

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Die Anschlußfrage
in ihrer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bedeutung

Friedrich F. G. Kleinwaechter & Heinz von Paller