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I. Die historischen Grundlagen   (Forts.)

 
Der großdeutsche Gedanke in der österreichischen Geschichte
Universitätsprofessor Dr. Wilhelm Bauer (Wien)

Österreichs Verzicht auf seine deutsche Vormachtstellung • Der Josefinismus • Großdeutsch und Großösterreichisch • Austroslawismus • Die deutschen Abgeordneten Österreichs in der Frankfurter Nationalversammlung • Neuabsolutismus und Zentralismus • Reichsdeutsche in Österreich • Scherer und Brunner • Die öffentliche Meinung Österreichs nach 1866 prodeutsch • Wandlungen des großdeutschen Gedankens • Georg Schönerer • Zwiespältige Lage der Deutschen Österreichs durch das österreichisch-deutsche Bündnis • Die Schicksalsgemeinschaft im Weltkriege.

Die erste Einbuße erlitt die deutsche Sendung Österreichs durch den Verzicht Franz II. auf die deutsche Kaiserkrone. Dazu kam auf dem Wiener Kongreß der zweite Verzicht. Die Habsburgermonarchie überließ damals Preußen die Stellung am Rhein und damit die Sorge um die Sicherheit der Nation gegen Westen hin, übertrug ihr damit ein Stück der Anwartschaft auf die Führerrolle innerhalb der Deutschen. Nur die kluge, vorsichtige Politik Metternichs, die auf ein gutes Einvernehmen mit Preußen größtes Gewicht legte, im übrigen alle volkstümlichen nationalen Regungen niederhielt, nur sie vermochte das Aufbrechen der auseinanderstrebenden Völkertendenzen in Österreich zu verhindern. Sobald die Märzrevolution des Jahres Achtundvierzig das Papagenoschloß der Zensur zerbrach und allen Stimmungen breitester Volksschichten freien Lauf gewährte, da wurden nach kurzer Atempause auch schon alle Dissonanzen laut, die von da an mit geringerer oder größerer Stärke durch das Gebäude [12] dieses Vielvölkerstaates gellen sollten. Zunächst vereinte die gemeinsame Gegnerschaft gegen das allen nationalen Strömungen feindliche Regime Metternichs die Vertreter aller Nationalismen mit den Wortführern des liberalen wie demokratischen Kosmopolitismus zu einer Kampfesgemeinschaft, die die inneren Gegensätze für kurze Zeit verdeckte. Man hängte schwarz-rot-goldene Fahnen aus und trug Kokarden in diesen Farben, aber viele sahen darin mindestens ebenso das Sinnbild der Freiheit vom bisherigen Geistesdruck, wie das der deutschen Einheit. Überdies muß man sich vergegenwärtigen, daß bei der von der Regierung künstlich geförderten Abgeschlossenheit gegenüber dem übrigen Deutschland die Österreicher über die Grenzen ihres Staates nur selten hinauszublicken Gelegenheit hatten. Dieses Österreich aber war ein deutsch regiertes Gemeinwesen mit einem deutschen Herrschergeschlecht an der Spitze; man lebte in den Überlieferungen, die an Joseph II. anknüpften. Wenn dieser Aufklärerkaiser Deutsch als Staatssprache erklärte, so lag der Grund hiefür nicht in einem modernen Nationalismus, sondern in Erwägungen praktischer Nützlichkeit. Die Staatsräson hatte eben den Vorrang vor der völkischen Besonderheit, ein Großösterreich konnte nur in dieser Einheitlichkeit der Verwaltung bestehen. An diese Gedankengänge heftete nun der spätere Liberalismus seine Forderungen nach Pressefreiheit, Verfassung, Geschworenengerichte usw. Von da nahm die ständische Opposition eines Schmerling, Andrian, Sommaruga u. a. ihren Ausgang. Rührte somit der großdeutsche Gedanke der führenden deutschösterreichischen Politiker aus dem zentralistisch eingestellten Aufklärertum, das im Staatsbegriff das Entscheidende erblickte, so war es kein Wunder, wenn sich ihr Großdeutschtum mit dem Großösterreichertum vielfach überdeckt und man in schwierigen Lagen geneigt war, dem Staatspatriotismus den Vorrang vor dem Nationalpatriotismus zu geben. Der im deutschen Ideal aufgehende österreichische Freiheitsgedanke der Märztage des Jahres 1848 bekam den ersten Stoß, als die Einladung des Vorparlaments an die Tschechen vom 11. April 1848 wegen Teilnahme an den Wahlen in das Frankfurter Parlament Ablehnung erfuhr. Die bekannte Wendung ("Wahrlich, existierte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müßte im Interesse der Humanität sich beeilen, ihn zu schaffen"), mit der der deutschschreibende tschechische Geschichtsschreiber Franz Palatzký dies tat, war, wie so vieles andere, ein den Deutschen entlehnter großösterreichischer Gedanke, bloß daß er slawisches Vorzeichen trug. Dieser [13] Austroslawismus, der 1866 mit dem Ausscheiden Österreichs aus dem Deutschen Bunde neue Nahrung erhielt, blieb nicht von tiefer Wirkung, weil das nationale Empfinden der Slawen im Grunde romantischer Herkunft war und nicht wie das der deutschösterreichischen Liberalen aus einem ererbten Staatsnationalismus stammte. Nation war den Tschechen im modernen Sinn das volkhaft Ganze, das nicht an einen bestimmten Staat gebunden zu sein brauchte.

In Frankfurt war man über das Erscheinen der Österreicher, die zunächst als Abgesandte des Wiener Bürgerkomitees, der Universität und der niederösterreichischen Stände am 9. April 1848 erschienen, aufs höchste erfreut. Präsident Soiron erklärte damals, alle Deutschen seien froh, "einen so zahlreichen und edlen Volksstamm endlich wieder mit seinen Brüdern vereinigt zu erblicken". Daß dies nicht leere Worte waren, beweist die Tatsache, daß man am 28. Juni jenes Jahres Erzherzog Johann zum provisorischen Reichsverweser von Deutschland wählte. An der Spitze des Reichsministeriums stand aber ebenfalls ein Österreicher, Anton Ritter von Schmerling, der sich in gefährlichen Augenblicken als Mann der Tat erwies.

Anderseits weiß man, daß das Verfassungswerk der Paulskirche an der Frage, ob Österreich in seiner Gesamtheit oder ob es nur in seinen deutschen Teilen ("weiterer", "engerer" Bund) Deutschland angehören solle, zuschanden geworden war. Als der Gedanke, auch die deutschen Teile Österreichs auszuschließen, in Erörterung gezogen wurde, legten am 15. Jänner 1849 die österreichischen Abgeordneten feierlich Einsprache ein, "daß kein Beschluß der deutschen Nationalversammlung sie vermögen kann, aus Deutschland auszuscheiden, daß sie auf ihrem, durch das deutsche Volk ihnen angewiesenen Platz beharren und ihn nur entweder im Auftrage ihrer Wähler räumen oder der offenen Gewalt weichen werden". Voraussetzung einer Eingliederung Deutschösterreichs in einen deutschen Gesamtstaat wäre natürlich eine Föderativverfassung der Donaumonarchie gewesen. An dessen Stelle tat aber der neue Lenker des neuen, nach Niederwerfung des Wiener Aufstandes und der italienischen Revolte neu erstarkten Österreich, Fürst Felix Schwarzenberg, das Gegenteil. Am 4. März 1849 zwang er dem ganzen Reiche eine einheitliche zentralistisch gerichtete Verfassung auf, beseitigte diese aber, die immerhin liberalen Anstrich aufwies, nach Niederwerfung des ungarischen Widerstandes, durch das "Sylvesterpatent" vom 31. Dezember 1851. Mit ihm trat für das Gesamtreich ein den neuzeitlichen Forderungen [14] angepaßter Absolutismus in die Rechte. Die deutsche Politik des Kaisers und seiner Regierung war fortan von zwei Rücksichten bedingt. Die eine war eine vor allem verwaltungstechnische, die andere eine politische.

Wollte man im Sinne des Neuabsolutismus das Reich von Wien aus einheitlich verwalten, so konnte dies nur durch deutsche Beamte erfolgen. Sie waren es, mit denen der einflußreiche Minister Alexander Freiherr von Bach von 1849 bis 1859 den Zentralismus verwirklichte, sie waren es aber auch, die wertvolle deutsche Kulturarbeit selbst in die entferntesten Winkel der Monarchie trugen. "Auch da, wo die deutsche Sprache nicht ausschließlich Unterrichtssprache sein kann, ist der Unterricht in allen Gymnasien in dem Maße, als es gründlicher Bildung dienlich ist und daher jedenfalls in den höheren Klassen vorherrschend in deutscher Sprache zu erteilen, welche ohnehin an allen obligater Gegenstand sein muß", bestimmte ein allerhöchstes Handschreiben vom 9. Dezember 1854. In dieser Richtung bewegte sich die gesamte innere Politik, die im absolutistisch regierten Staate stets in erster Linie Verwaltungspolitik sein wird, bis zum Jahre 1860. Endgültig Schluß mit ihr ward freilich erst 1867 gemacht.

Der andere Grund, der Kaiser Franz Joseph bewog, die Deutschheit seines Reiches zu betonen und zu bewähren, lag in dem Bestreben, die Vorherrschaft in Deutschland zu erringen. Sieht man von dem Grafen Bernhard von Rechberg ab, der sich bemühte, in den Jahren seiner Ministerschaft (1859–1864) die österreichische Außenpolitik in das Bett der Metternichschen zurückzuleiten und mit Preußen Hand in Hand zu gehen, blieb doch die Gegnerschaft gegen den Rivalen im Norden ausschlaggebend. Ein erleuchteter Kopf, wie Graf Leo Thun, erkannte als Unterrichtsminister, daß es im Kampfe um die Führerstellung unter den Deutschen gelte, auf geistigem Gebiete den Wettbewerb aufzunehmen. Schon 1849 berief man den Philologen Hermann Bonitz vom Gymnasium in Stettin an die Wiener Universität, damit er mit Exner den "Organisationsentwurf für die österreichischen Gymnasien" ausarbeite. Die Historiker Ludwig von Ficker und Theodor von Sickel, Grauert und Aschbach und so mancher andere Gelehrte aus Deutschland wurde damals an österreichischen Hochschulen willkommen geheißen. Fast nicht minder wichtig war es, daß der ganze Aufbau des Hochschulwesens mit seiner Lehr- und Lernfreiheit aus Deutschland übernommen wurde. Bald wanderten österreichische Forscher, wie der berühmte Rechtsgelehrte Heinrich Brunner, der [15] Literaturhistoriker Wilhelm Scherer, der Physiker Boltzmann usw., an reichsdeutsche Universitäten ab und ermöglichten damit einen lebendigen Austausch zwischen Deutschland und Österreich, einen Austausch von Männern und Ideen. Und dieses geistige Band überdauerte alle politischen Krisen, denn es war fest verankert in der elementaren Zusammengehörigkeit Deutschösterreichs und der übrigen deutschen Kulturgebiete. Symbolisiert wurde dies z. B. auch durch die Schaffung eines Zweigvereines der Deutschen Schiller-Stiftung (6. Februar 1859).

Auch an führende Stellen im Staate rief man hervorragende Deutsche aus dem Reich. Freiherr Ludwig von Bruck, Sohn eines Buchbinders in Elberfeld, erblickte als österreichischer Finanzminister ein Hauptziel in Anbahnung möglichst enger Beziehungen zu dem übrigen Deutschland. Und Franz Joseph, der sich bemühte sein Land zur Vormacht innerhalb der deutschen Staaten zu machen oder es als solche zu erhalten, unterstützte diese Bestrebungen. "Ich bin vor allem Österreicher", sagte er zu einer Deputation des Deutschen Juristentages im September 1862, "aber entschieden deutsch, und wünsche den innigsten Anschluß Österreichs an Deutschland". Begreiflicherweise war sein Verhältnis zur deutschen Frage durch die Untätigkeit, mit der man 1859 Österreich im Kampfe gegen Piemont und Napoleon III. sich selbst überließ, einigermaßen abgekühlt. Nichtsdestoweniger hielt er an seinen Plänen in bezug auf Deutschland fest, noch ahnte überdies niemand, welch gefährlicher Gegenspieler in der Person Bismarcks, der am 23. September 1862 an die Spitze des preußischen Kabinetts trat, dem Habsburgerreich erstehen sollte. Im Wiener Ministerium saß als scharfer Preußenhasser der aus Hessen stammende Freiherr von Biegeleben und arbeitete an einem Plane, den Deutschen Bund zu reformieren und dadurch in das österreichische Fahrwasser herüberzulenken. Die ungewohnte Aktivität Wiens, die sich in der Einberufung des Frankfurter Fürstentages und in dem Erscheinen Franz Josephs auf diesem Tage August 1863 kundtat, löste in weiten Kreisen Deutschlands helle Begeisterung aus. Damit hat das offizielle Österreich sich zum letztenmal in großdeutschem Sinne unmittelbar betätigt. Drei Jahre hernach, und es wurde aus dem Verbande der deutschen Staaten ausgeschieden.

Trotz manchen Auswüchsen beweist gerade die öffentliche Meinung in Österreich, soweit sie den Krieg von 1866 begleitet, daß die Deutschen in der Donaumonarchie weit davon entfernt waren, die [16] Gefühle des Hasses zu pflegen. Mag der Kaiser auch aus Sachsen den Preußenfeind Beust geholt und zu seinem Berater gemacht haben, mochten militärische und Adelskreise noch so laut einem rein österreichischen Patriotismus das Wort geredet haben, die Intelligenz, das Bürgertum und die Arbeiterschaft, die sich an der Schwelle politischen Erwachens befand, sie hielten an dem Bekenntnis Bauernfelds fest: "Wir gehören... dem Besten nach, dem Geist und Herzen nach, zu Deutschland!" Zunächst waren es vor allem akademische Kreise an der Wiener Universität, die den Gedanken des Zusammenhanges nicht ersterben ließen. So schrieb die Wiener Burschenschaft Silesia am 6. November 1866 an den Eisenacher Burschenbund: "Wir haben uns nie verhehlt, daß ein Provisorium, leidig wie jedes, dem oder jenem Staate die Führerschaft leihen werde, aber, was wir immer glaubten, war, daß, wenn politische Rücksichten die einstweilige stramme Einigung und Organisation eines Teiles als vorläufig genügend erscheinen lassen, binnen kurzem doch der Tag kommen müsse, wo die 8 Millionen Deutsche südlich vom Erzgebirge und den Sudeten an eure Tore klopfen und – der Geist, der uns zu Euch naturnotwendig gravitieren läßt, muß uns öffnen."

Der alte großdeutsche Gedanke, der im Gegensatz zu Preußen Anhang gewonnen hatte, wandelte sich in den Zirkeln des heranwachsenden akademischen Geschlechtes zu einem gesamtdeutschen. Um Heinrich Brunner und Wilhelm Scherer herum, die beide 1872 an die Straßburger und dann an die Berliner Universität berufen wurden, scharte sich eine vorerst kleine Gruppe von Österreichern, die die alten Vorurteile von sich warfen und erkannten, daß die Deutschösterreicher nun früher oder später ihre bisherige Vormachtstellung im Habsburgerstaate aufzugeben gezwungen sein würden. Eine solche Umstellung nicht des Denkens, aber doch des Fühlens hatte stärker von den Donaudeutschen Besitz ergriffen, als es die Machthaber wahr haben wollten. Mochten der Kaiser und Beust auch der in Bildung begriffenen Einigung der Deutschen außerhalb Österreichs alle möglichen Hindernisse in den Weg legen, mochten sie an die Schaffung eines Bundes mit Frankreich und Italien glauben und Bismarcks Annäherungen (Defensivabkommen) höhnisch zurückweisen, als der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich ausbrach, fielen Beust nicht nur die Magyaren, sondern auch die Deutschösterreicher in den Arm. Die Presse, soweit sie nicht die Interessen des klerikal-konservativen Flügels oder der Militärs vertrat, stand geschlossen auf Seite der [17] Deutschen. Mit den Erfolgen wuchs noch die besonders von Ferdinand Kürnberger angefeuerte Begeisterung für das neue Deutsche Reich.

Man kann vielleicht behaupten, daß in der Zeit zwischen Königgrätz und 1871 das einstige großdeutsche Ideal zu Grabe getragen wurde. Wenigstens wußte die neu aufsteigende Generation nicht mehr viel von ihm. Sie sah das siegreiche Emporkommen des Bismarckschen Reiches, das Zurückweichen der deutschen Macht in Österreich. Schon hatten sich 1867 die Magyaren die staatliche Selbständigkeit erkämpft. Würden nicht die Slawen folgen? Inzwischen hatte aber das reiche selbstzufriedene Großbürgertum, der bisherige Träger deutscher Politik, in dem wirtschaftlichen Zusammenbruch des Jahres 1873 an allgemeinem Vertrauen eingebüßt. Die Not der Industriearbeiter, der kleinen Handwerker und Gewerbetreibenden schuf den Nährboden für Unzufriedenheit aller Art. Ihr gesellte sich jetzt auch das Gefühl nationaler Zurücksetzung hinzu. Was Männer, wie Brunner und Scherer, in kleinstem Kreise vertraten, tat von nun an Georg von Schönerer mit der ganzen Gewalt seiner suggestiven Taten- und Bekenntnisfreudigkeit, indem er die kleindeutsche Ideologie mit ihrer Verherrlichung des Preußentums, der Hohenzollern usw. herübernahm, zugleich aber auch Wortführer sozialer Arbeitergesetzgebung war.

Zu ungefähr gleicher Zeit schuf der mit dem Deutschen Reiche 1879 geschlossene Bündnisvertrag so etwas wie die Verwirklichung des "weiteren Bundes", von dem in der Paulskirche die Rede war. Der Österreichisch-Ungarischen Monarchie fiel die im ehemalig großdeutschen Sinne gestellte Aufgabe zu, das Deutsche Reich gegen Osten hin zu schützen, nur waren in der Zwischenzeit die anderen Nationen groß und die deutsche außerhalb Österreich mächtig geworden. Während Italiener und Tschechen Irredentapolitik trieben, zehrte es an der Kraft der Deutschösterreicher, daß sie um der deutschen Bundesgenossenschaft willen helfen mußten, den Staat zu stützen, der in steigendem Maße seine Liebe den anderen Nationalitäten zuwandte. Das "Linzer Programm" (1882), an dem auch die späteren Sozialisten Engelbert Pernerstorfer und Dr. Viktor Adler, aber auch Heinrich Friedjung mitgearbeitet hatten, litt unter diesem Zwiespalt. Das Verlangen nach Personalunion mit Ungarn, die Sonderstellung Bosniens, Dalmatiens und Galiziens (beziehungsweise deren Vereinigung mit Ungarn) war doch gleichbedeutend mit der Schwächung des Partners, mit dem das Deutsche Reich ein Schutzbündnis eingegangen war. Auf der anderen [18] Seite verlangte es Zollunion mit Deutschland und Festigung des Bündnisses. Daneben erklärte Schönerer: "Wir, ich und meine Parteigenossen, wir gravitieren nicht nach Wien, sondern überall dorthin, wo Deutsche sind." Diese Kampfansage an den Staat war unter den gegebenen Verhältnissen gefühlsmäßig zu verstehen, entstammte sie doch jenem neuen Nationalbewußtsein, das nicht an den Staat, sondern an das Volk gekettet war. Das Geschlecht, das an den Auseinandersetzungen um Großdeutschland und Großösterreich im Jahre 1848 nicht mehr teilgenommen, wohl aber den Kampf mit Tschechen, Slowenen usw. erlebt hatte, verstand nicht die Ideale der Altliberalen und fand in ihnen auch keine Unterstützung, wenn es galt, sich wider die Gegner zu wehren. Schönerer tat im Grunde nichts anderes, als was die Führer der Slawen und Italiener taten, was eben dem im Geiste der Zeit ruhenden Streben nach nationalstaatlicher Einheit entsprach. Begreiflich anderseits, wenn die Dynastie hinter Schönerer die Annexionsgelüste Bismarcks vermutete und ihn und seine Anhänger als "Hochverräter" verfolgte. Noch bildeten seine Parteigenossen freilich ein [19] kleines Häuflein, aber die Stichworte, die sie in bezug auf das Verhältnis von Nation und Staat ausgaben, wirkten über ihren Kreis hinaus und wurden Gemeingut aller nationalgesinnten Deutschösterreicher, als 1897 Badeni mit Sprachenverordnungen für Böhmen und Mähren herauskam, die zum Kampfe herausforderten und schließlich auch die bis dahin abseits stehenden deutschen Politiker zu schärferer Betonung ihres Nationalbewußtseins zwangen.

Indem die Deutschen in den Jahren vor dem Kriege zu positiver Arbeit am Staate sich bereit hielten, ebneten sie der nahen Zukunft die Wege, bedeutete doch der Ausbruch des Weltkrieges für sie eine Synthese ihrer einstigen großdeutsch-großösterreichischen Ideale mit jenen eines gemeindeutschen Schaffens und Fühlens. Hatte die Geschichte auch Schönerer, der den Habsburgerstaat verneinte, Recht gegeben, so konnte diese Verneinung dem Volksempfinden nicht genügen. Den bedrohten Volksgenossen zu Hilfe zu eilen und ihnen Dienste leisten zu dürfen, das bedeutete doch unendlich mehr. Was Großdeutsch einst von Kleindeutsch trennte, ging jetzt unter in der gemeinsamen Not, löste sich in dem Gefühl der Schicksalsgemeinschaft auf.


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Die Anschlußfrage
in ihrer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bedeutung

Friedrich F. G. Kleinwaechter & Heinz von Paller