Bd. 8: Die Organisationen der Kriegführung,
Dritter Teil:
Die Organisationen für das geistige Leben im
Heere
[511]
Kapitel 10: Das deutsche
Volksheer
Generalleutnant Constantin v. Altrock
1. Entwicklung bis 1914.
Das deutsche Volksheer ist aus dem preußischen Heere Friedrich
Wilhelms I. und Friedrichs
des Großen hervorgegangen, dem sich die
anderen deutschen Kontingente angepaßt haben. Als einer der
größten Organisatoren Preußens hat König Friedrich
Wilhelm I. das preußische Offizierkorps und das auf scharfer
Mannszucht und peinlicher Ausbildung begründete preußische Heer
geschaffen. Er ist der Schöpfer von Staat, Verwaltung und Heer, der Vater
des nationalpreußischen Offizierkorps. Ihm ist es gelungen, den stolzen,
ungefügigen preußischen Adel für den ritterlichen
Offizierstand zu gewinnen. Er setzte diesen Adel als geschlossene
Führeraristokratie über das Soldatenmaterial Preußens, den
kantonpflichtigen Bauernstand; er erfüllte das Offizierkorps mit dem auf
strengster Pflichterfüllung gegründeten Selbstgefühl und legte
den Grund, auf dem es zu geschichtlicher Größe heranreifte. Seinem
Volke rief er das Wort zu: "Jeder Untertan wird für die Waffen geboren",
doch sah er sich noch außerstande, ein wirkliches Volksheer zu
begründen. Zunächst mußte das noch aus den Wunden des
Dreißigjährigen Krieges blutende Volk entlastet werden, was nur
durch Einstellung von Ausländern in das Heer erreicht werden konnte.
Dem Preußenheere fehlte bis zum Jahre 1806 eine straffe Organisation,
welche die Führung erleichtert oder auch nur ein schnelles
Zusammenfassen seiner vielen Einheiten gestattet hätte, wie sie z. B.
dem Napoleonischen Heere zu eigen war, wo auch Durchschnittsköpfe (wie
viele Napoleonische Generale), auf diese machtvolle Organisation gestützt,
hervorragende Waffentaten zu vollbringen vermochten. Dem Genius Friedrichs
des Großen freilich gelang es, auch mit dem unzureichend organisierten
Heere Waffentaten zu vollbringen, welche die Welt in Staunen setzten und durch
die sich das kleine Preußen gegen ganz Europa behaupten konnte. So wird
Friedrich der Große stets ein hehres Vorbild
preußisch-deutscher Kriegskunst und Waffenherrlichkeit bleiben. Wieweit
aber auch seine große Heeresschöpfung noch von einem eigentlichen
Volksheere entfernt war, beweist sein Wort, das Volk solle es gar nicht merken,
wenn die Armee sich schlüge.
[512] Unter den Nachfolgern
des Königs verknöcherte der Heeresmechanismus. In dem
Maße, wie kriegerische Erfolge ausblieben, wurde das preußische
Heer dem preußischen Volke fremder und fremder, bis das Heer
schließlich einen Staat im Staate bildete und offen angefeindet wurde durch
den Bureaukratismus und das Bürgertum, welch letzteres sich vor 1806 in
weltbürgerlichen Gedanken erging
und - unserer Zeit nicht unähnlich - erst durch die furchtbare,
über Preußen hereinbrechende Not wieder auf sein Vaterland
hingelenkt wurde.
In inner- und außenpolitischer Beziehung ähneln sich die
Niederbrüche von 1806 und dem Weltkriege in mancher Beziehung, nicht
aber in militärischer Hinsicht. 1806 hat das preußische Heer
tatsächlich versagt; im Weltkriege aber hat das deutsche Volksheer
Ungeheueres geleistet, wie es in der Weltgeschichte keinen Vergleich findet. Das
bleibt die unzerstörbare Gewißheit des deutschen Volkes, welche sich
in sittliche Kraft umsetzen wird, wenn es gilt, wiederherzustellen, was
verlorenging.
Aus dem Zusammenbruch von 1806 ging das preußische Volksheer der
Einigungskriege und des Weltkrieges zwangsläufig hervor: deshalb
müssen zum Verständnis dieses Volksheeres auch jener
Zusammenbruch und die sich aus ihm entwickelnden treibenden Kräfte
kurz betrachtet werden.
Ähnlich wie vor dem Weltkriege lag auch 1806 die Hauptursache zum
Mißerfolg in der schwächlichen Neutralitätspolitik
Preußens, die eine günstige Gelegenheit nach der anderen
versäumte. So hätten sich noch 1805 der preußischen
Staats- und Heerführung im Feldzuge von Austerlitz ungewöhnlich
günstige Aussichten eröffnet. Statt dessen überlieferte die
preußische Politik 1806 den Staat vereinzelt und zu unglücklicher
Stunde einem überlegenen Feinde.
1806 versagte die ganze preußische Staatsverwaltung, weil die zersplitterte
staatliche Organisation ein Zusammenfassen der Kräfte des Landes
unmöglich machte. Außer dem Kabinett des Königs gab es
keine Zentralgewalt. Verantwortliche Ressortminister fehlten. Die an der Spitze
der Provinzen stehenden Provinzialminister sorgten nur für ihre
Sondergebiete und widerstrebten den Anforderungen des Gesamtstaates.
Das Heer war im Verfall. Bekannt ist die Überalterung des Offizierkorps
und eines Teils der Unteroffiziere und Mannschaften. Sogar die Hauptleute und
Rittmeister wurden von den Leutnants mit Recht als "die alten Herrn" bezeichnet.
Die meisten hochbejahrten höheren Offiziere und Führer waren den
Kriegsnöten körperlich und seelisch nicht mehr gewachsen.
Hierdurch erklärt sich das Versagen vieler überalterter Führer,
Festungsgouverneure und -kommandanten. Angesichts der Anforderungen des
Krieges und des verwahrlosten Zustandes der Festungen versagte die Spannkraft
der alten Herren. Ein Drittel der Mannschaft bestand aus unzuverlässigen,
der Fahnenflucht verdächtigen Ausländern. Die zwei Drittel
Inländer waren infolge dauernder Beurlaubung [513] nur milizartig
ausgebildet, der seelische Zusammenhang zwischen der Truppe und den
Offizieren gering.
Der Heeresverwaltung fehlte im Frieden eine einheitliche Spitze. Der sogenannte
Kriegsminister war dem damaligen Kriegsministerium, dem
"Oberkriegskollegium", nicht übergeordnet, sondern nur auf die
Angelegenheiten der Heeresverpflegung beschränkt. Dieses
Oberkriegskollegium nennt Clausewitz
ein Kollegium des exakten Schlendrians
ohne irgendwelche Rechte, in dem die Sicherheit des Staates verfallen sei im
gewohnten Tageseinerlei und bei peinlicher Wahrung der Formen. In diesem
Kollegium und in der unter den Königen Friedrich Wilhelm II. und
III. tagenden "Immediat-Militär-Organisationskommission" wurden die
vielfachen Warnrufe der besten Köpfe der Armee rettungslos begraben.
Für Bewaffnung und Ausrüstung war 1806 schlecht vorgesorgt. Nach
Clausewitz hatte die preußische Infanterie das schlechteste Gewehr in
Europa und eine unzureichende - kaum die Blöße
deckend - Bekleidung. Nur die Hälfte der Batterien der reitenden
Artillerie waren bespannt, von der fahrenden nur zwei. Ihre Ausrüstung war
mangelhaft. Daher kam es, daß die preußische Artillerie in der
Schlacht bei Jena die steilen Hänge des Saalegebiets nur mit den
größten Schwierigkeiten zu überwinden vermochte,
während die französische sie glatt nahm.
In der Friedenseinteilung des preußischen Heeres gab es keine
Truppenkörper gemischter Waffen. Die größten
Truppenkörper waren die Regimenter, die innerhalb der Hauptwaffen zu
Inspektionen zusammengefaßt waren. Diese aber dienten nur
Besichtigungszwecken, der "Revue", für die man ausschließlich
arbeitete.
Der Kriegszweck war im Friedensdienst aus dem Auge verloren. Da man vor
1806 nur vereinzelt und gelegentlich Rekruten einstellte, fehlte
auch - wie heute wieder - die alljährliche Neuausbildung der
Truppen und damit der dauernde Anreiz zu dem dem preußischen Heere
später eigentümlichen, nie ermüdenden Pflichtgefühl.
Vor 1806 wechselten nur kurze maschinenmäßig betriebene
Exerzierperioden mit täglichem umfangreichen Wachtdienst. Felddienst
aller Art wurde kaum geübt.
Erst beim Kriegsausbruch 1806 wurde eine Kriegsgliederung nach
Truppenkörpern aller Waffen geschaffen. Anstatt sich aber mit dieser neuen
Einteilung vertraut zu machen, verbrachten die Truppen in Thüringen die
Zeit mit Garnisondienst, Paroleausgaben, Parademärschen und Ruhetagen.
Wie im tiefsten Frieden zog man mit den damals üblichen großen
Bagagemassen durchs Land. Erst der Kanonendonner von Saalfeld brachte ein
jähes Erwachen und zwang dazu, sich kriegsgemäß zu
gliedern; aber noch unmittelbar vor der Schlacht von Jena wußten einzelne
Regimenter nicht, welchen Korps sie angehörten.
[514] Die heutige Art der
operativen Befehlserteilung - Marschbefehle und kriegsgemäße
Versammlung zum Marsch - waren unbekannt. Statt dessen versammelte
man 1806 häufig alle Führer zu einer allgemeinen Befehlserteilung
und ermüdete sie dadurch zwecklos. Die Truppen selbst wurden erst auf
dem Sammelplatz weitläufig zusammengestellt, dann folgten dort:
Paroleausgabe, bogenlange Befehle, Prüfung des Anzugs auf Sauberkeit
und Strafvollzüge. Erst nach stundenlangem Warten folgte der Marsch im
pedantischen Schneckentempo, oft unterbrochen durch unnötiges Halten,
Anzugsprüfungen und andere Kleinigkeiten, bis die körperlichen und
seelischen Kräfte der Truppe nutzlos erschöpft waren.
Bei der äußerst mangelhaften Vorbildung zum Gefecht und dem
Festhalten an der alten Lineartaktik der aufrecht kämpfenden
preußischen Linien gegen die im Gelände gedeckten
französischen Schützenschwärme schmolzen die
preußischen Truppen unter dem feindlichen Feuer schnell zusammen.
Daß auch die preußische Kavallerie versagte, lag an ihrer
grundsätzlichen Zersplitterung angesichts der zusammengehaltenen
französischen Kavalleriemassen. Von den Reitergeschwadern, mit denen
einst ein Seydlitz, Zieten und Driesen die Schlachten des Großen
Königs entschieden hatten, war nichts zu bemerken. Eine solche Truppe
mußte einem Feinde gegenüber versagen, der seinen Gegner durch
Schützenfeuer und gewandten Masseneinsatz seiner überlegenen
Artillerie mürbe machte und dann durch Kolonnen die Entscheidung
brachte. Auch bei besserer Ausbildung und Führung hätte das
Preußenheer wohl gegen die kriegsgewohnten Heere und das
überlegene Feldherrngenie Napoleons auf die Dauer versagt. Daß
aber die Preußen selbst unter diesen hoffnungslosen Verhältnissen
dennoch ihre alte Tapferkeit und Todesverachtung bewahrten, bleibt ein ehrendes
Zeugnis für die Überwundenen von 1806.
Nach der Niederlage von 1806 wurde - wie heute von der Entente - das alte Heer
von den Franzosen und dem eigenen Volke völlig zerschlagen,
Stärke und Zusammensetzung von Napoleon vorgeschrieben und
kontrolliert. Dem Neuaufbau widmeten sich die besten Köpfe der Armee,
allen voran Scharnhorst
und seine Helfer. Aber nur ganz allmählich
erwachten durch den ständig steigenden Druck des Feindes auch die breiten
Schichten des Volkes. Nach den trüben Erfahrungen des
unglücklichen Feldzugs und seiner furchtbaren Folgen prägte sich
indessen dem ganzen Volke allmählich die alte unzerstörbare
Wahrheit ein, daß im Völkerleben und im Kriege zuletzt die sittlichen
Kräfte entscheiden und daß das Vaterland hoch über allem
inneren Streit stehen muß.
Zunächst galt es, Truppenkörper aller Waffen zu schaffen, um dem
überlegenen Feinde mit Aussicht auf Erfolg begegnen zu können.
Am 9. September 1808 wurde die Armee in 6 Brigaden zu je
7 - 8 Bataillonen und je 12 oder mehr Eskadrons formiert. Durch die
Mobilmachungsinstruktion vom 12. April 1809 [515] erhielt das Heer ein
festes Gefüge. Die alte Kompagniewirtschaft wurde abgeschafft, eine
geordnete Heeresverwaltung eingeführt und durch einen Etat fest
umgrenzt.
Die Fechtweise wurde völlig umgestaltet, die Lineartaktik verschwand. Das
Gefecht sollte durch Schützenschwärme eingeleitet und durch
Kolonnen entschieden werden. In der "Instruktion zum Exerzieren der Infanterie"
vom 16. Juli 1809 befahl der König: "Eine gerade ungezwungene Stellung,
ein ruhiger freier Marsch ist alles, was als Gegenstand der Übung zur
Parade zu betrachten sei." Weiterhin wird Ruhe, Gewandtheit und Schnelligkeit
bei den "Bewegungen, die im Kriege wirklich anwendbar sind", verlangt. Alle
Exerzierkünsteleien werden abgeschafft. Unter dem 15. Januar 1812 wurde
das von Scharnhorst bearbeitete Exerzierreglement für die Infanterie
endgültig eingeführt. Es gibt neben den formalen Festsetzungen
für die Ausbildung auch Grundsätze für das Gefecht aller
Waffen.
Die Ausländerwerbung, wie die bisherigen Dienstbefreiungen der
besitzenden Klassen wurden abgeschafft, die Zahl der Ausgebildeten durch das
Scharnhorstsche Krümperverfahren ständig vermehrt. Alle
entehrenden Strafen fielen weg. Die Dienstpflicht wurde auf Ehrgefühl und
Vaterlandsliebe gegründet. Für den Offizierstand sollten alle
Stände gleichberechtigt sein, welche die nötige Bildung und
Erziehung mitbrachten. Besonders der damals eingeführten "Offizierwahl"
ist es zu danken, daß das preußische Offizierkorps sich im Wechsel
der Zeiten sein Verantwortungsgefühl, sein Standesgefühl und seinen
Gemeinschaftssinn bewahren konnte. In ihm ist dadurch der kräftige
opferfreudige Zug der friderizianischen Armee bewahrt und bis auf den heutigen
Tag erhalten geblieben. Die A. K. O. vom 6. August 1808
bestimmte: "Einen Anspruch auf Offizierstellen sollen von nun an in
Friedenszeiten nur Kenntnisse und Bildung gewähren, in Kriegszeiten
ausgezeichnete Tapferkeit und Überblick. Aller bisher stattgehabter Vorzug
des Standes hört beim Militär ganz auf, und jeder, ohne
Rücksicht auf seine Herkunft, hat gleiche Pflichten und Rechte." Daß
man es hiermit ernst meinte, beweist z. B. die Tatsache, daß der
spätere Chef des Generalstabes des preußischen Heeres, Reyher, aus
dem Unteroffizierstande der Kavallerie hervorgegangen ist. Außer den
durch Prüfungen festzustellenden wissenschaftlichen Kenntnissen werden
"Geistesgegenwart, schneller Blick, Pünktlichkeit, Ordnung und
anständiges Betragen" gefordert. "Erziehung und Charakterbildung" werden
hoch bewertet. Durch Einführung von Ehrengerichten wurden ungeeignete
Elemente aus dem Offizierkorps abgestoßen. Ziel aller militärischen
Bildung waren Charakterfestigung und Entwicklung von Urteil und
Denkvermögen.
Bekannt ist es, wieviel Entsagung und Opfermut vom Volke und vom
Offizierkorps in der Zeit von 1807 bis zu den Befreiungskriegen gefordert werden
mußte. Es bedurfte des ganzen Idealismus der Zeit, der tiefen Liebe zum
[516] Vaterlande, um diese
Leiden zu ertragen und trotz des Bruches mit so mancher lieb gewordenen
Überlieferung für die heiß ersehnte Befreiung vom
unerträglichen Druck des Feindes weiterzuarbeiten.
Bis 1812 war die Reorganisation der Armee schon ein gutes Stück
vorwärts gekommen, die Stellung des Soldaten gehoben, die
Abgeschlossenheit des Offizierkorps verschwunden und ein bisher nie geahntes
Gefühl der Zusammengehörigkeit zwischen Volk und Heer
geschaffen.
Als nach der Vernichtung des französischen Heeres auf den Eisfeldern
Rußlands die Befreiungsstunde 1813 schlug, konnten die zum
Befreiungskampfe nötigen Streitkräfte bald aufgestellt werden. Die
Bataillone wurden auf Kriegsstärke gebracht, aus Krümpern und
Rekruten zahlreiche Reserveformationen gebildet. Die freiwilligen Jäger
wurden geschaffen, alle Befreiungen von der Kantonspflicht aufgehoben, die
allgemeine Wehrpflicht, zunächst für die Dauer des Krieges,
eingeführt. Am 17. März 1813 folgte die Errichtung der Landwehr.
Wer sich dem Dienste fürs Vaterland entziehen sollte, "den treffe nicht nur
die Strafe des Gesetzes, sondern die Verachtung aller, die für das, was dem
Menschen ehrwürdig und heilig ist, das Leben freudig zum Opfer
bringen". - Das ist der Geist, ohne den auch heute ein Wiederaufstieg
Deutschlands aus Schmach und Not nicht möglich ist!
Mitten im Kriege wurde am 3. September 1814 das Gesetz eingeführt, das
bis zum Weltkriege das Grundgesetz für die Wehrverfassung des
preußischen Staates und Deutschen Reiches bleiben sollte: die
"allgemeine Wehrpflicht". Beim Erlaß dieses Gesetzes war die
Schmach von Jena und Auerstädt bereits durch mehrere glänzende
Siege getilgt; aber noch schwere Kämpfe mußten durchgefochten
werden, bis der Siegeslauf nach Belle-Alliance vollendet wurde. In dieser Zeit
glänzendster kriegerischer Kraftentfaltung erfüllte glühende
Begeisterung das preußische Heer vom General bis zum Rekruten. Dieser
Geist der Hingabe an die große vaterländische Sache überwand
alle Standesunterschiede und half über die Schäden der völlig
unvorbereiteten Landwehr hinweg, welche "größtenteils nur aus
Bauern in Soldatenröcken, ohne Schule, ohne Disziplin" bestand.1 Der Gedanke Yorcks war die
allgemeine Losung: "Ein unglückliches Vaterland sieht mich nicht wieder!"
Nach Vollendung der Befreiung durch den Sieg von
Belle-Alliance konnte Blücher
dem preußischen Heere stolz zurufen:
"Nie wird Preußen untergehen, wenn euere Söhne und Enkel euch
gleichen."
Nach dieser hohen Zeit, verkörpert durch das Preußenlied: "daß
für die Freiheit meine Väter starben", folgte fast in allen deutschen
Kontingenten wieder eine Epoche des Niedergangs, tatenloser
Kleinlichkeitskrämerei und starrer Formen, bis endlich König
Wilhelm I. das Preußenvolk
und -heer wieder zu [517] neuem Leben erweckte.
Der Blutleere, die alle Völker Europas nach den Befreiungskriegen befallen
hatte, war eine ungeheuere Kriegsmüdigkeit gefolgt. Die tiefe Verarmung
Preußens forderte äußerste Einschränkung im
Staatshaushalt. Als sich aber im Lauf der Jahrzehnte Volkswohlstand und
Einwohnerzahl längst wesentlich gehoben hatten, wurde trotzdem eine
übertriebene Sparsamkeit im Heere beibehalten. Während der
zwanziger bis vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts hielten sich die
ordentlichen Ausgaben für das Heer auf annähernd gleicher
Höhe, nämlich unter jährlich 26 Millionen Talern (78
Millionen Mark).
Während nach den Befreiungskriegen die Armee noch die Hälfte
aller Staatseinnahmen beansprucht hatte, wurden 1830 nur 1/3 und 1859 sogar kaum noch
1/5 der
Gesamteinnahmen für die Armee aufgewendet. Während die
Einwohnerzahl sich von 1815 - 1859 von 11 auf 18 Millionen
gehoben hatte, wuchs das Heer nur von 130 000 auf 135 000 Mann.
Längst war man von der allgemeinen Wehrpflicht abgekommen, die
eigentlich nur noch auf dem Papier stand. Als durch die Mobilmachungen von
1830/32, 1850 und 1859 wieder die Kriegsgefahr die Gemüter in
Aufregung brachte, zeigten sich tiefgreifende Mißstände in
Preußens Heeresverfassung. Wenigstens hatten die Mobilmachungen und
die dazwischenliegenden kleineren kriegerischen Unternehmungen die
Unzulänglichkeit des preußischen Heerwesens aufgedeckt und die
Armee aus ihrem Friedensschlaf aufgerüttelt.
Mehrfach wurden die preußischen Waffen in kleineren kriegerischen
Unternehmungen erprobt. 1846 mußten polnische Aufstandsversuche in
Posen niedergeschlagen werden. Die schleswig-holsteinische Frage wurde
aufgerollt und 1852 durch den Londoner Vertrag zugunsten der Dänen und
zum Schaden Deutschlands entschieden, obwohl die preußischen und
Bundestruppen mehrfach siegreich gewesen waren. Lichtblicke für jene
Zeit wurden die siegreichen Gefechte bei Schleswig und Oeversee, der Einmarsch
nach Jütland; 1849 der Sieg bei Eckernförde, die Wegnahme der
dänischen Fregatte Gefion, die Vernichtung des Linienschiffs
Christian VIII. und die Erstürmung der Düppeler Schanzen
durch Sachsen und Bayern. Als die revolutionären Märzstürme
1848 in Preußen hereinbrachen, blieb die preußische Armee im
wesentlichen staatstreu und brachte auch die zahlreichen Revolutionen in den
kleineren deutschen Staaten zum Scheitern. Diese Revolutionen von 1848 und
1849 hatten allerdings in ihren idealen großdeutschen Bestrebungen
gänzlich andere Ziele, als die auf eine Zersetzung der Staatsform zur
Gewinnung selbstsüchtiger Parteiziele gerichtete Revolution von 1918.
Eigenartige Erscheinungen ergaben sich, als von 1851 - 1866 alle aktiven
Militärpersonen das Wahlrecht auszuüben hatten. Preußische
Offiziere wurden zu königstreuen Agitatoren oder Abgeordneten, bis das
Wahlrecht dem Soldaten wieder genommen und damit die Armee dem
parteipolitischen Treiben glücklicherweise endgültig entzogen
wurde.
[518] Als 1859 der Krieg
zwischen Österreich und Frankreich auch Preußen zur
Mobilmachung veranlaßte, zeigten sich die alten Übelstände
wiederum mit erschreckender Deutlichkeit. Ganze Truppenteile verweigerten den
Gehorsam, so daß z. B. Teile eines Gardelandwehrregiments nach
Spandau auf Festung gebracht werden mußten. Die angestrengte, nur nach
Friedenszielen strebende Friedensarbeit von 50 Jahren hatte das Kriegsziel
völlig verlorengehen lassen. Wie vor 1806 herrschten Paradedrill und
Exerzierspielereien.
Große Reorganisationen pflegen meist nur zwangläufig auf
geschichtliche Katastrophen zu folgen. Eine Ausnahme hiervon macht die
militärische Wiedergeburt Preußens 1860 unter König Wilhelm I.
Mit den Erfahrungen dreier Menschenalter
ausgerüstet, vertrat er die Erkenntnis, daß Preußen vor allem
"Macht" nottue. Sollte Preußen in den Welthändeln, deren
Vorzeichen sich bereits bemerkbar machten, bestehen, so war die Abstellung
vieler Mißstände im Heere dringlich, denn wie vor 1806 war auch
1859 das preußische Heer äußerst rückständig.
Wilhelm I. berief Moltke
am 18. September 1858 zum Chef des
Generalstabes, Roon
am 5. Dezember 1859 zum Kriegsminister und Bismarck am
22. September 1862 zum Ministerpräsidenten. Die von diesen
Männern vertretene Reorganisation brachte eine Verdoppelung der Armee;
sie konnte aber nur gewaltsam gegen den scharfen Widerstand der politisch
einseitigen Volksvertretung durchgesetzt werden. Mehrere Jahre mußte
ohne Volksvertretung und ohne Budget regiert werden. Erst zweier siegreicher
Kriege bedurfte es, um das preußische Volk von der Notwendigkeit der
Heeresverstärkung zu überzeugen und mit ihr auszusöhnen.
Auch in den Jahrzehnten vor dem Weltkriege wurde die zeitgemäße
Weiterentwicklung des Heeres nicht genügend gefördert. Da es in der
nachbismarckschen Periode vielfach an starken maßgebenden
Persönlichkeiten für die notwendige Förderung der deutschen
Heeresrüstung und die volle Ausnützung der allgemeinen
Wehrpflicht trotz der für jeden Klarblickenden erkennbar herannahenden
Weltabrechnung fehlte, gewannen schließlich die Feinde Deutschlands die
Vorhand in der Kriegsvorbereitung. Auch der Zeitpunkt des Losschlagens wurde,
wie 1806, von Deutschlands Feinden diktiert. Unter ungünstigen
politischen Voraussetzungen mußte der Weltkrieg begonnen und
durchgeführt werden. Es fehlte ferner in Deutschland und bei seinem
politischen Leiter von vornherein an dem notwendigen, sich einzig allein auf den
Endsieg richtenden Willen. Das ist wohl zu berücksichtigen, wenn man den
unglücklichen Ausgang des Weltkrieges angemessen werten will.
In der großen Werdezeit unter Kaiser Wilhelm I. stand das
preußische, später deutsche Heer auf der Höhe der Leistung.
Schrittweise ging unter der weisen Leitung der Bismarckschen auswärtigen
Politik die Entwicklung vor sich. 1864 wurde das preußische Schwert nach
langer Friedenspause zum erstenmal wieder auf seine Schärfe
geprüft; 1866 bestand es gegen die Großmacht [519] Österreich die
Probe und 1870/71 brachte die Krönung des Werkes. Der frische Geist
geschichtlicher Erkenntnis verhinderte das deutsche Heer, auf den Lorbeeren von
1870/71 auszuruhen. Vielmehr setzte eine unermüdliche Tätigkeit
ein, als deren Endergebnis das deutsche Heer von 1914 anzusehen ist, selbst nach
unseres Feindes Fochs Urteil: "die beste Armee der Welt."
Nach den siegreichen Kriegen Kaiser Wilhelms I. hatte sich die Nation wieder der
hohen verantwortungsvollen Aufgabe der Offiziere, der Führer des Volkes
in Waffen, erinnert und dem Offizierkorps ihre Söhne zugeführt.
Große Ausgestaltung erfuhren die Kadettenanstalten, von 1717 bis zum
Kriegsende 1918 Pflanzstätten des Offizierkorps. Dort wurde der Geist
gepflegt, der über 200 Jahre segensreich im preußischen Heere
gewirkt hat. Mußte auch die Kadettenerziehung im Hinblick auf ihren rein
militärischen Zweck eine gewisse Einseitigkeit in Kauf nehmen, so fordert
doch die Gerechtigkeit, festzustellen, daß die dort Erzogenen vor der
Geschichte makellos bestanden haben. Mit hohem Verständnis haben die
preußischen Könige ihr Offizierkorps gepflegt und trotz der schnellen
Entwicklung und Vermehrung desselben unter Wilhelm I. mußten
schon 1870/71 die Franzosen seine "homogénéité
admirable" anerkennen. Wahrer Korpsgeist zeigte sich im Marschieren auf
den Kanonendonner, in der Pflichttreue bis zum Tode, mit der einer für den
anderen und alle fürs Vaterland eintraten. Wie König
Wilhelm I. unermüdlich am Heere und Offizierkorps formte und
bildete, so haben auch die großen Soldaten der verschiedenen Epochen dem
Heere ihren Stempel aufgedrückt, von Scharnhorst und Boyen über
den Prinzen Friedrich Karl von Preußen, Roon, Moltke und die
hervorragenden Vertreter der neueren Zeit.
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