SucheScriptoriumBuchversandArchiv IndexSponsor


Bd. 2: Der deutsche Landkrieg, Zweiter Teil:
Vom Frühjahr 1915 bis zum Winter 1916/1917

Kapitel 2: Die militärischen Grundlagen
für die Entschlüsse der Obersten Heeresleitung
vom Frühjahr 1915 bis zum Herbst 1916
  (Forts.)

Oberst Gustav v. Bartenwerffer

3. Die Kämpfe im Westen und der Abschluß des Kriegsjahres 1915.

Die Überzeugung, daß die deutsche Westfront jedem Angriff der vereinigten Franzosen und Engländer standhalten werde, hatte dem Chef des deutschen [77] Generalstabes seinen Entschluß, zuerst durch eine Offensive im Osten dem österreichisch-ungarischen Heer wieder auf die Beine zu helfen, sehr erleichtert. Allerdings gab es genug Anzeichen für Angriffsabsichten der Entente im Westen, wo die Feinde schon damals dem deutschen Westheer zahlenmäßig um mehr als 600 Bataillone überlegen waren. Kaum hatte der Durchbruch bei Gorlice seine zunächst unübersehbaren Folgen für die russische Front gezeitigt, als denn auch im Westen schon (9. 5. 15) die Entlastungsoffensive einsetzte. Diesmal fochten die beiden Alliierten fast Schulter an Schulter: die Engländer südwestlich von La Bassée, die Franzosen an der Loretto-Höhe nördlich von Arras unter Einsatz weit überlegener Kräfte. Unter diesen Umständen konnte eine Abgabe deutscher Divisionen, die das k. u. k. Armee-Oberkommando gerade in diesem Augenblick verlangte, um die Durchbruchsfront nach Norden zu erweitern, zunächst nicht in Frage kommen. Die deutsche Oberste Heeresleitung mußte wenigstens die Krisis, die bei solchen Einbrüchen immer entsteht, zuerst überwinden.

Es war kein schlechter Plan Joffres, zu einem Zeitpunkt, in dem die Masse der deutschen Reserven zu einer entscheidenden Offensive im Osten festgelegt war, zwischen La Bassée und Arras durchzustoßen und die deutsche Westfront nach Norden und Süden aufzurollen. Aber trotz überwältigenden Artillerie-Vorbereitungsfeuers und des Einsatzes von Massen hinter Rauchwolken auf engem Raum konnten die Franzosen nur in der Mitte ihres Angriffsfeldes einige Kilometer gewinnen, während die englischen Truppen bei Loos eine schwere Schlappe erlitten. Eiligst herbeigeführte deutsche Reserven stellten bis zum 11. Mai auch im französischen Angriffsstreifen die frühere Lage wieder her. Wiederholte Angriffsversuche der Entente-Truppen an beiden Stellen vermochten nichts zu ändern; die Offensive Joffres war und blieb gescheitert. An der von den Franzosen gewählten Durchbruchsstelle hatte die deutsche Oberste Heeresleitung ihre Kräfte unter dem Befehl des Generals v. Lochow fest zusammengefaßt, dessen einheitliche Führung unter dem Armee-Oberbefehl des Kronprinzen Rupprecht von Bayern sehr bald die Gewähr gab, daß an dieser Frontstelle nichts mehr zu befürchten war. Das zeigte sich auch Mitte Juni, als die Franzosen (16. Juni) nach einer Artillerie-Vorbereitung von bisher noch nicht dagewesenem Umfange die Gruppe Lochow erneut angriffen, sich aber mit einem Geländegewinn von wenigen hundert Metern begnügen mußten, während die diesen Angriff begleitenden Engländer nördlich des La Bassée-Kanals eine schwere Abfuhr erlitten.

Diese blutigen Niederlagen genügten, um die Unternehmungslust der Entente im Westen während des Sommers lahm zu legen. Kleine Unternehmungen deutscherseits an den übrigen Frontteilen im Westen waren fast immer erfolgreich; sie hatten ihr taktisches Ziel, waren gut vorbereitet und kosteten verhältnismäßig geringe Verluste. Ganz untätig blieben allerdings auch die Entente-Truppen nicht; besonders in den Vogesen machten sie fast andauernd Versuche, die deutschen Landwehrtruppen allmählich aus dem Gebirge herauszudrücken [78] und den Ostrand zu erreichen; aber bei den deutschen Gegenangriffen Anfang September büßten sie die zuerst errungenen Vorteile wieder ein.

Die Ruhe auf der Westfront gerade zu der Zeit, als die Russen schwer litten und aus dem Gebiet ihrer westlichen Gouvernements allmählich verdrängt wurden, ließ auf Vorbereitungen größerer Angriffe für einen bestimmten Zeitpunkt schließen. Sowohl die 6. als auch die 3. Armee stellten im August umfangreiche Sappenarbeiten vor ihrer Front fest, die bei der 6. Armee beiderseits der Scarpe, bei der 3. Armee vor der Strecke Souain - Massiges besonders auffallend waren. Hinter der Engländerfront wurden zudem die Reservelager vergrößert und vermehrt, so daß auf Heranführung erheblicher Kräfte (eines großen Teiles der Kitchener-Division) geschlossen werden mußte. Die Engländer dehnten ihre Front vom La Bassée-Kanal weiter nach Süden aus, machten also französische Truppen zu anderer Verwendung frei.

Mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgte die deutsche Oberste Heeresleitung die Angriffsvorbereitungen des Feindes. Die Fliegeraufnahmen zeigten ausgedehnte Sappen und Anmarschgräben von mehreren Kilometern nach der Tiefe, die bevorstehende gewaltige Anstrengungen der Feinde vermuten ließen. Das Verschwinden einer ganzen Reihe kampferprobter französischer Divisionen, die Aussagen Gefangener, daß diese Truppen in Ruhequartieren lägen, deuteten ebenfalls auf die Absicht ihrer besonderen Verwendung. Die Masse der für den Westen in Aussicht genommenen deutschen Reserven war noch in der Ost-Operation festgelegt; es war schwer, den richtigen Zeitpunkt zu ihrer Herauslösung ohne Nachlassen des Druckes auf die Russen zu finden, nachdem sich die Oberste Heeresleitung entschlossen hatte, über den Bug hinaus nachzustoßen. Eine wenigstens kurze Erholungszeit und Gelegenheit zu gründlicher Auffrischung mußte schließlich den in der Offensive stark mitgenommenen Truppen gegönnt werden. Daneben war noch die Bereitstellung von Truppen für die Offensive gegen Serbien zu erledigen, die nach dem Mißglücken der österreichischen Rowno-Offensive erweiterte Anforderungen an die deutsche Oberste Heeresleitung stellte. Dem Chef des deutschen Generalstabes waren also die Hände ziemlich gebunden; sein Verantwortungsgefühl mußte in vielen entscheidenden Frage allein den Ausschlag geben, ob er auch die Kritik seiner Armeeführer, die ja meist nur die Interessen ihres eigenen Befehlsbereichs verfolgen und das große Ganze naturgemäß nicht so übersehen konnten, oder das Nörgeln der Zivilstrategen in der Heimat mit seinen Maßnahmen mehr oder weniger herausforderte. Nachträgliches Besserwissen ist sehr billig. Angesichts der Lage, wie sie sich dem Generalstabschef damals darstellen mußte, war schon sein Vertrauen auf das Festhalten der Westfront während des ganzen Sommers 1915 allein an sich anerkennenswert. Als aber dann die Anzeichen für eine Kraftanstrengung von bisher nicht gesehener Ausdehnung bei den Westfeinden immer deutlicher wurde, war es eine [79] Tat des Generals v. Falkenhayn, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen und unbeirrt das durchzuführen, was er für richtig und notwendig hielt.

Die lange Ruhepause auf der Westfront ließ hier und da an maßgebenden Stellen Zweifel auftauchen, ob die Franzosen und Engländer überhaupt noch in diesem Jahr eine Westoffensive beabsichtigten, nachdem die Russen niedergeworfen waren und eine Entlastungs-Operation für diese keinen Zweck mehr hatte; die Angriffsvorbereitungen der Entente wurden deutscherseits verschiedentlich schon als Täuschungsversuche angesehen. Im September aber war kein Zweifel mehr möglich, daß eine Offensive großen Umfanges im Westen noch bevorstände. Trotz der bisherigen Mißerfolge der Entente bei Durchbruchsversuchen sollte offenbar eine noch massigere Angriffsform den Sieg bringen. Strategisch hielt die französische Heeresleitung an den alten Angriffsstellen fest, an dem Zangenansatz, mit dem Joffre die ganze Frontstrecke von Arras bis Reims abzukneifen hoffte. Der Durchstoß mit der Masse seiner Kräfte in der Champagne sollte das deutsche Heer ins Mark treffen, der Durchstoß der Engländer (denen Joffre allerdings nie viel zutraute) sollte die durch Belgien zur deutschen Front führenden Bahnen durchschneiden. In sicherer Erwartung des Sieges zogen die Franzosen mit feuriger Begeisterung in diesen Kampf, der ihnen endlich die Befreiung ihres Heimatbodens bringen sollte.

Am 21. 9. begann im Artois, am 22. 9. in der Champagne das Trommelfeuer. Die kärglichen deutschen Reserven der Westfront rückten an die bedrohten Stellen; das Trommelfeuer wütete vor der 3. Armee bis zum 24., vor der 6. Armee bis zum 25. 9., dann begann der Sturm. Die Engländer, die ihren Angriff in breiter Front mit Gas einleiteten, drangen bei Loos, nördlich Lens, in 12 km Breite in die deutschen Stellungen, aber deutsche Gegenstöße verhinderten den Durchbruch, und französische Begleitangriffe beiderseits der Scarpe hatten nur bei Souchez Erfolg, wo die Franzosen auf 4½ km Breite in das vorderste deutsche Grabennetz einbrachen.

Kritisch wurde die Lage in der Champagne. Wie Joffre im Angriffsbefehl selbst sagte, standen dreiviertel der französischen Streitkräfte in der allgemeinen Schlacht, 22 französische Divisionen waren für die erste Linie der eigentlichen Durchstoß-Operation bestimmt. Sie setzten am 25. ihren Angriff, der am 24. keinen wesentlichen Erfolg gehabt hatte, mit gesteigerter Wucht fort; das bis zu diesem Tage klare Wetter schlug um, unaufhörlicher Regen strömte hernieder, der Angriff stockte. Über die erste und zweite Linie der Deutschen hinweg waren die Franzosen dank ihres zermalmenden Artilleriefeuers gekommen - "ins freie Gelände", in dem ihre Kavallerie-Divisionen den Deutschen den Rest geben sollten, konnten sie nicht durchstoßen. Das Material hatte 75 Stunden gewirkt, die Masse hatte trotzdem versagt! Die auf ganz schmalen Gefechtsstreifen von 1000 bis 1200 m Breite tief gegliederten Divisionen ließen sich schwer führen, bei dem geringsten Stopp ballten sie sich zu dichten Knäueln und boten der deutschen [80] Artillerie leichte Ziele. An den Stellen, an denen die französische Artillerie wirklich allen Widerstand beseitigt hatte, schoben sich die Divisionen so eng zusammen, daß eine Führung ausgeschlossen war. Der Befehl Joffres "ohne Ruhe Tag und Nacht durchstoßen bis ins freie Gelände" wurde nicht ausgeführt.

Immerhin erwog das Oberkommando der 3. deutschen Armee, ob nicht mit Rücksicht auf die tiefen Einbruchsstellen die ganze Front zurückgenommen werden sollte. Doch unterblieb schließlich diese Maßnahme, die dem Feinde nur Luft und Gelegenheit zur Ordnung seiner Reihen verschafft hätte, sehr zum Vorteil auch der deutschen Anschlußfronten, die sonst in taktisch schwierige Lagen gekommen wären. Als die deutsche Oberste Heeresleitung am 25. 9. im Westen eintraf, war diese Frage schon ausgeschaltet; sofort wurden die soeben aus dem Osten eintreffenden verfügbaren Heeresreserven und eine für die Offensive gegen Serbien bestimmte Division an die bedrohten Frontstellen gesandt. Die Wiederholung des Sturmes am 27. 9., der die Entscheidung doch noch bringen sollte, führte den Feind seinem Ziele nicht näher. Der erforderliche Artillerieaufmarsch war noch nicht beendet, die Einheitlichkeit des Angriffs fehlte; die eingesetzten deutschen Heeresreserven taten ihre Schuldigkeit. Leicht aber war der Stand der 3. Armee nicht; die Artilleriemassen des Feindes zeigten allmählich ihre Wirkung, die deutschen Truppen brauchten Ruhe und Auffrischung; an ruhigen Frontabschnitten stehende Divisionen wurden herausgezogen und durch abgekämpfte Champagne-Truppen ersetzt, bis das Eintreffen von Kräften aus dem Osten einen unmittelbaren Austausch ruhebedürftiger gegen ausgeruhte Truppen zuließ. Die Kämpfe in der Champagne zogen sich noch bis in die zweite Hälfte des Oktober hin, ohne daß die Franzosen wesentliche Vorteile erringen konnten. Der "sichere Erfolg, für den alle Vorbedingungen gegeben waren", wie Joffre am 21. 9. in seinem Heeresbefehl gesagt hatte, war ausgeblieben, der Angreifer hatte im Gegenteil eine schwere Niederlage erlitten. Der Gewinn einiger Grabenlinien auf verhältnismäßig schmalem Raum, der die Systeme der Nachbargruppen nirgends in Mitleidenschaft zog, war das einzige Ergebnis der "größten Schlacht aller Zeiten"!

Der anfängliche örtliche Erfolg der Engländer bei Loos wurde durch deutsche Gegenstöße teilweise wieder wettgemacht; die englische Infanterie wich allmählich wieder hinter die Straße La Bassée - Lens zurück, obwohl General French immer wieder neue Divisionen an der Einbruchsstelle einsetzte und schließlich noch französische Hilfskräfte erbitten mußte. An beiden Angriffsstellen der Westfront hatten sich die deutschen Truppen glänzend geschlagen; durchdrungen von der Notwendigkeit, seinen Platz zu behaupten und den Nachbarn nicht in Verlegenheit zu bringen, hielt der deutsche Grabenkämpfer im schwersten Feuer tagelang aus, um im Augenblick des feindlichen Ansturms seinen Mann zu stehen und, soweit er vermochte, den Durchbruch zu verhindern. Truppe und Führer haben ihre Schuldigkeit bis zum äußersten getan und gemeinsam die Abwehrschlacht gewonnen. Nach wiederholten Teilangriffen, an denen sich zeitweilig mehrere [81] Divisionen beteiligten, flaute die Gefechtstätigkeit in der zweiten Oktoberhälfte ab und Kämpfe um einzelne Geländepunkte bildeten nunmehr die Regel an der Westfront. Die stark mitgenommenen Angriffsdivisionen der Franzosen wurden zur Auffrischung zurückgezogen; die Engländer verhielten sich nach der ersten großen Kraftanstrengung ihrer Kitchener-Divisionen ruhig und zogen weitere Divisionen ihrer Heeresvermehrung zur Ausbildung aufs Festland, an deren Stelle sie bewährte Truppen dieses Kriegsschauplatzes nach Saloniki schoben. Der Plan der deutschen Oberste Heeresleitung, die Entente auf dem Balkan zu beschäftigen und den Bulgaren, die auf anderen Kriegsschauplätzen nicht verwendbar waren, die Verteidigung ihres eigenen Besitzstandes im allgemeinen allein zu überlassen, erwies sich also als richtig. Die Entente legte nach und nach auf dem Balkan eine große Armee fest, die auf dem westlichen Kriegsschauplatz ausfiel und deren Nachschub außer mit erheblichen Schwierigkeiten auch mit großen Kosten und Gefahren verbunden war.

Im Osten ließ die Kampftätigkeit nach dem Eingreifen der Heeresgruppe Linsingen allmählich nach. Im Dezember machten sich Anzeichen für eine russische Unternehmung gegen den äußersten rechten Flügel des k. u. k. Heeres bei Czernowitz bemerkbar. An der Dauerfront der Heeresgruppen Prinz Leopold und Hindenburg stellten die Russen ihre Angriffe gegen die empfindlichen Frontstellen nach und nach ein. Der Versuch der Njemen-Armee, im Herbst noch den Brückenkopf bei Dünaburg zu besetzen, mußte schließlich wegen Nachschubschwierigkeiten aufgegeben werden.

Damit ging das Jahr 1915 zur Neige. Eine Entscheidung im Osten war zwar nicht erreicht, wohl aber war die Bezwingung der Russen ganz bedeutend fortgeschritten. Große Gebiete des russischen Reiches waren von den Mittelmächten besetzt; die Gefahr für die Grenzen Preußens war beseitigt, Galizien bis auf einen Landstreifen jenseits des Sereth wieder in österreichischem Besitz. Die Dardanellen waren gehalten; Rußland blieb also bei seiner Zufuhr immer noch ausschließlich auf die sibirische Bahn angewiesen, wodurch auch die Ausrüstung des russischen Heeres immer schwieriger wurde. Der Großfürst Nikolai Nikolajewitsch mußte zurücktreten; der Zar übernahm offiziell den Oberbefehl, während dem Großfürsten die russische Südfront anvertraut wurde, an der im Jahre 1915 so gut wie nichts geschehen war, an der die Russen sogar im August in Armenien eine Niederlage erlitten hatten!

Die Kampfkraft des k. u. k. Heeres, zu deren Hebung die Gorlice-Offensive hatte dienen sollen und die dadurch auch tatsächlich gesteigert worden war, hatte durch die gescheiterte Rowno-Offensive wieder einen bedenklichen Stoß erlitten. Die deutsche Oberste Heeresleitung richtete daher nach Möglichkeit ihr Augenmerk auf Hebung des Kampfwertes der nicht zuverlässigen k. u. k. Truppen durch Führerwechsel, Unterweisungen verschiedener Art und besserer Ausnutzung der Hilfsmittel des Landes.

[82] Auf dem Balkan waren klarere Verhältnisse geschaffen; die Wünsche der Bulgaren nach der Eroberung von Mazedonien erfüllt, und ihre Armee entlastete die Mittelmächte einem nicht unerheblichen Teil der hier stehenden Entente-Streitkräfte gegenüber. Deutscherseits geschah alles, um die Bulgaren instand zu setzen, den Anforderungen des Stellungskrieges zu genügen. Die bulgarischen Bundesgenossen brachten den Deutschen großes Vertrauen entgegen; nur die Schwierigkeiten der sprachlichen Verständigung behinderten den Verkehr ungemein.

Die Entente-Truppen bei Saloniki hatten nach Schätzung der deutschen Nachrichtenabteilung eine Stärke von 160 000 Mann erreicht und konnten jederzeit schnellstens von Gallipoli her weiter verstärkt werden. An baldige Angriffsabsichten der Entente auf dem Balkan glaubte das deutsche Große Hauptquartier nach den feindlichen Mißerfolgen im Vardar-Tal nicht, hielt es indessen für wahrscheinlich, daß die Entente sich für künftige Unternehmungen auf dem Balkan eine Basis schaffen wolle, und daher für ausgeschlossen, daß sie sich vom Festlande wieder zurückziehen würde. Die griechische Grenze war von den Mittelmächten nicht überschritten worden - sehr zum Leidwesen des k. u. k. Armee-Oberkommandos.

Österreich-Ungarn war mit der Westhälfte des durch die im Morawa-Tal aufwärtsführende Eisenbahn geteilten serbischen Gebiets abgefunden worden. - Deutschland hatte sich seinen Einfluß auf dem Balkan dadurch gewahrt, daß es die Eisenbahn Semendria - Nisch - Veles in eigener Verwaltung behielt und an dieser Strecke deutsche Etappenkommandos einsetzte.

Das k. u. k. Oberkommando war mit der südlichen Abgrenzung seines Interessengebietes nicht zufrieden; es forderte die Fortführung der Operation, stellte sich aber den Angriff auf Saloniki leichter vor, als er wirklich war. Der Feldmarschall v. Mackensen sprach sich dahin aus, daß eine Offensive zur Vertreibung der Entente-Truppen aus Saloniki angesichts der Nachschubschwierigkeiten nicht vor Mitte April 1916 durchgeführt werden könne. Eine gewisse Berechtigung hatte der Wunsch des k. u. k. Oberkommandos allerdings; es wollte auf dem Balkan ganz reinen Tisch machen, wozu ihm die Anwesenheit deutscher Truppen äußerst gelegen kam, da die Deutschen zusammen mit den Bulgaren die Arbeit gegen Saloniki verrichten konnten, während Österreich-Ungarn dadurch vollkommen freie Hand für die Verfolgung seiner eigenen Interessen hatte und der serbischen Operation die Besetzung von Montenegro anschließen konnte, auf welche die Besetzung Mittelalbaniens folgte.5 Hierdurch erhielt Österreich-Ungarn eine gute Flankenstellung an der Adria für die Offensive gegen Italien, auf die der k. u. k. Generalstabschef sein ganzes Sinnen und Trachten konzentrierte. Die Österreicher hatten am Isonzo weiter die Oberhand behalten. Der Wunsch der italienischen Armee, wenigstens den Brückenkopf von Goerz der italienischen [83] Kammer bei ihrer Eröffnung als Frontgabe zu überreichen, war auch in der Novemberoffensive fehlgeschlagen.

An den Dardanellen hielten sich die Türken6 standhaft, bis sich die Engländer im Dezember 1915 selbst zur Einschiffung ihrer bei Anaforta gelandeten Truppen entschlossen und damit offen ihre Unfähigkeit kundtaten, dem russischen Bundesgenossen den Weg zu sich freizumachen. Auch in Mesopotamien waren die Türken nach Eintritt der für Operationen geeigneten Jahreszeit erfolgreich. Es gelang ihnen im November, die bis nahe an Bagdad vorgestoßenen Engländer bei Ktesiphon zu schlagen, auf Kut el Amara zurückzuwerfen und sie im Dezember dort einzuschließen.

Die Kämpfe im Westen hatten die Kräfte des deutschen Heeres stark in Anspruch genommen. Ruhe war nötig; das wurde bei einer Chef-Besprechung am 30. 11. 15 festgestellt. Bei keiner Armee des Westens bestand indessen ein Zweifel darüber, daß die Truppen bis zum Siege durchhalten könnten. Die Westfront hatte nach dem Eintreffen der auf den anderen Kriegsschauplätzen entbehrlich gewordenen Truppen eine Stärke gewonnen, wie sie sie lange nicht mehr besessen. Die Stimmung war gehoben; Weihnachtsurlaub ohne Beschränkung konnte, soweit es die Verhältnisse irgend zuließen, erteilt werden. Im übrigen galt als Hauptaufgabe die Erhaltung des Angriffsgeistes. In keiner Beziehung zeigte sich Mangel, nur der Gummi wurde knapp. Munition war jetzt reichlich vorhanden, nachdem die anerkennenswerte Arbeit des Kriegsministeriums in Verbindung mit der sich ganz auf Kriegsmateriallieferungen einstellenden Industrie alle Not in dieser Hinsicht beseitigt hatte.7

Der uneingeschränkte U-Boot-Krieg aber hatte Ende August eingestellt werden müssen. Amerika hatte den Druck, den es in dieser Beziehung auf Deutschland ausübte, anfangs allerdings an die Bedingung geknüpft, daß England Lebensmittel für die nicht kriegführende Zivilbevölkerung nach Deutschland durchließe, wobei sich Amerika für die richtige Verwendung verbürgen wollte. Als England aber auf nichts einging, vielmehr die Blockade gegen Deutschland verschärfte, indem es alle Waren deutscher Herkunft für vogelfrei erklärte und sich damit über alle Rechte der Neutralen und über jedes Völkerrecht hinwegsetzte, sah Amerika sich durch dieses Verhalten nicht veranlaßt, England auf seine Völkerrechtswidrigkeiten gegenüber Deutschland und den Neutralen hinzuweisen. Vielmehr beantwortete es die ohne Warnung erfolgte Versenkung der "Lusitania" durch ein deutsches U-Boot mit der Drohung an Deutschland, daß im Wiederholungsfalle Amerika sich gezwungen sähe, auf die Seite der Entente zu treten. Daraufhin entschloß sich Deutschland zur Beschränkung des U-Boot-Krieges auf die Form des U-Boot-Kreuzerkrieges - auch in der Überzeugung, daß die [84]U-Boot-Waffe noch nicht wirksam genug wäre, um zu einem sicheren Erfolge führen zu können.8

Die Oberste Heeresleitung mußte damit ein beträchtliches Maß von Hoffnungen begraben; hatte sie doch damit gerechnet, daß es der Marine gelingen könnte, den Nachschub des englischen Heeres zu stören und die Überführung der Kitchener-Division nach dem Festland erheblich zu verzögern. Diese Hoffnung war nun fehlgeschlagen. Die Entente-Streitkräfte im Westen hatten im Jahre 1915 trotz bedeutender Verluste bei ihren Offensive durch Neuaufstellung der Kitchener-Division gewaltig zugenommen. Brauchten auch diese Neuformationen bei dem Mangel an ausgebildeten und erfahrenen Führern und Unterführern zunächst in ihrer Kampfkraft noch nicht allzu hoch bewertet zu werden, so konnte die Entente doch immerhin diese Truppen an weniger gefährdeten Stellen einsetzen und dadurch kampfgeübte Divisionen für besondere Unternehmungen freimachen. Die Franzosen halfen außerdem ihrem Mannschaftsmangel durch stärkere Heranziehung von Farbigen und Schwarzen ab. Demgegenüber drang die deutsche Oberste Heeresleitung darauf, daß überall nach Möglichkeit Truppenteile aus den Fronten herausgezogen und als Heeresreserven bereitgestellt, dafür die Stellungen immer stärker ausgebaut und alle Gelegenheiten zur Schädigung des Feindes ausgenutzt wurden.

Mit fester Siegeszuversicht trat die deutsche Wehrmacht in das neue Kriegsjahr, stark vor allem im Bewußtsein ihrer Kraft- und Wertüberlegenheit gegenüber den auch im Westen seit Kriegsbeginn weitaus zahlreicheren Truppen der Feinde. Und in festem Vertrauen blickte die deutsche Heimat auf ihr Heer, entschlossen, auch ihrerseits durchzuhalten, trotz aller infolge der niederträchtigen völkerrechtswidrigen englischen Blockade schon merklich gesteigerten Nahrungssorgen9 und noch vollkommen gewappnet gegen den Einfluß der im Spätherbst 1915 auftauchenden ersten Gärungen im sozialistischen Lager.


5 [1/82]Vgl. hierzu Band 5: Der österreichisch-ungarische Krieg. ...zurück...

6 [1/83]Vgl. hierzu Band 4, Abschnitt: Die Kampfhandlungen in der Türkei. ...zurück...

7 [2/83]Vgl. hierzu Band [6], Abschnitt: Die Versorgung des Heeres mit Waffen und Munition. ...zurück...

8 [1/84]Vgl. hierzu Band 4, Abschnitt: Der Seekrieg. ...zurück...

9 [2/84]Vgl. hierzu Band 9, Abschnitt: Die Heeresverpflegung. ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte