XV. Die Angleichung
(Forts.)
Unterrichtswesen und
Volksbildung
Ministerialrat Viktor Fadrus (Wien)
Vielgestaltigkeit des reichsdeutschen Schulwesens
Verfassungsrechtliche Grundlagen des Bildungswesens
Angleichung des Schulrechtes Der
Religionsunterricht
Schulaufsichts- und Schulverwaltungsbehörden Das
deutsche Reichsgrundschulgesetz vom 28. April 1920
Das österreichische Reichsvolksschulgesetz vom 14. Mai
1869 Schultypen im Reich Das höhere
Schulwesen Berufsschulwesen
Fachschulwesen Hochschulen
Lehrerbildung Erwachsenenbildung
Volksbildung Erziehung der Jugend zur deutschen
Volks- und Staatseinheit Österreich in den
reichsdeutschen, das Deutsche Reich in den österreichischen
Lehrplänen für höhere
(Mittel-)Schulen Gesamtdeutsche
Geschichtsauffassung
Schülerbriefwechsel
Schüler- und Lehreraustausch "Ein Volk, eine Schule,
ein Reich!"
Die Vielgestaltigkeit des reichsdeutschen Schulwesens, die auf der
Verschiedenheit der historischen Entwicklung der einzelnen Staaten, auf der
Eigenart der deutschen Stämme und auf der Vielheit der [487] politischen,
religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen im deutschen
Volke beruht, erschwert eine Angleichung des österreichischen
Schulwesens außerordentlich, soweit die rechtlichen Grundlagen, die
verwaltungstechnischen Einrichtungen und die Schulorganisation in Betracht
kommen. Hingegen ist erfreulicherweise eine volle Angleichung auf erziehlichem
und unterrichtlichem Gebiete leichter zu bewerkstelligen.
Da in der alten Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 über
das Schulwesen nichts enthalten war, blieb das Bildungswesen der Gesetzgebung
der einzelnen Länder vorbehalten und erhielt daher eine mannigfache
Gestaltung. Erst in der Weimarer Verfassung vom 11. August
1919 ist im IV. Abschnitt in den
Artikeln 142–150 eine gewisse Einheitlichkeit für die
Bildungspolitik im Reiche festgelegt, die durch eine Grundsatzgesetzgebung
des Reiches und verfassungsrechtliche und gesetzliche beziehungsweise
behördliche Verfügungen der einzelnen Staaten, die auf Grund von
Vereinbarungen zwischen dem Reich und den Ländern entstehen,
verwirklicht werden soll. Die Schulabteilung des Reichsministeriums des Innern,
der bescheidene Beginn einer Reichsschulverwaltung, hat in gemeinsamer Arbeit
mit dem Reichsschulausschuß (jetzt "Länderausschuß
für das Unterrichtswesen" genannt) nicht nur die Reichsschulgesetzgebung
in die Wege geleitet, sondern auch die Schulgesetzgebung und die
Schulreformarbeit in den einzelnen Staaten des Deutschen Reiches stark
beeinflußt.
Die grundlegenden Bestimmungen über das Bildungswesen
Österreichs sind in dem Staatsgrundgesetz über die allgemeinen
Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867, in dem
Ausführungsgesetz über grundsätzliche Bestimmungen
über das Verhältnis der Schule zur Kirche vom 25. Mai 1868
und in dem Bundesverfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920 (in der Fassung
vom 7. Dezember 1929) enthalten. Nach diesen Bestimmungen obliegt die
Rahmengesetzgebung über das
Volks- und Fortbildungsschulwesen und die gesamte Gesetzgebung über
das Hochschulwesen sowie über die mittleren Lehranstalten
(Mittel- und Fachschulen) und ebenso die Gesetzgebung über die
Lehrerbildung den gesetzgebenden Körperschaften des Bundes, dem
National- und Bundesrat. Die oberste Schulaufsicht ist den zuständigen
Bundesministerien überantwortet. Das Schulwesen Österreichs ist
also seit dem Jahre 1867 nach einheitlichen Gesichtspunkten gestaltet
worden.
[488] Die im Deutschen
Reich eingeleitete Vereinheitlichung des Schulwesens
müßte mit der von beiden Reichen anzubahnenden
Angleichungsarbeit im Bildungswesen in Verbindung gebracht werden
und nach gemeinsam festgelegten Grundsätzen erfolgen. Vertreter der
Schulabteilung des Reichsministeriums des Innern in Berlin und des
österreichischen Bundesministeriums für Unterricht und der
"Länderausschuß für Unterrichtswesen", erweitert durch einen
Vertreter der österreichischen Schulverwaltung, hätten diese
Vereinheitlichungs- und Angleichungsarbeit vorzubereiten.1
Die Angleichung des Schulrechtes muß auf eine durch
vergleichende Betrachtung der in beiden Staaten bestehenden
verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Bestimmungen des Schulwesens erzielte
Feststellung der Grundsätze der Schulgesetzgebung gegründet
werden.
Im Deutschen Reich und in Österreich ist eine fortschreitende
Verstaatlichung, Verweltlichung und Demokratisierung des
Bildungswesens zu verzeichnen, wenn auch die Formen dieses Prozesses
verschieden sind. In beiden Reichen besteht die staatliche Schulaufsicht.
Im Deutschen Reiche wird sie in erster Linie von den Schulverwaltungen der
einzelnen Staaten ausgeübt; das Reich kann nach Artikel 15 der
Reichsverfassung (RV.) zur Überwachung der Ausführung der
Reichsgesetze zu den einzelnen Landeszentralbehörden und mit ihrer
Zustimmung zu den unteren Behörden Beauftragte entsenden. Bisher wurde
von diesem Rechte kein Gebrauch gemacht. In Österreich steht die oberste
Leitung und Aufsicht über das gesamte
Erziehungs- und Unterrichtswesen nach dem Artikel 102a des
Bundesverfassungsgesetzes (BV.) dem Bunde zu. Ausgeübt wird die
staatliche Schulaufsicht durch Kollegialbehörden, die
Bezirks- und Landesschulräte,2 bei denen auch die
staat- [489] lichen
Bezirksschul- und Landesschulinspektoren ihren Sitz haben. Die
zuständigen Bundesministerien fungieren als Berufungsinstanz. Das
Mittelschulwesen und die Hochschulen unterstehen dem Bundesministerium
für Unterricht. Nach Artikel 102a, Absatz 5, der BV. kann
sich der zuständige Bundesminister persönlich oder durch beamtete
Organe des von ihm geleiteten Bundesministeriums fallweise von dem Zustand
und den Leistungen auch jener mittleren und niederen Unterrichtsanstalten
überzeugen, die nicht in der unmittelbaren Verwaltung des
Bundesministeriums stehen. In beiden Reichen ist eine mindestens
achtjährige Schulpflicht festgelegt; nur Bayern und
Württemberg begnügen sich mit der siebenjährigen
Schulpflicht. Während aber das Deutsche Reich den Schulzwang
besitzt, besteht in Österreich nur Unterrichtszwang, das
heißt es ist Privatunterricht erlaubt, wenn die Erreichung des Lehrzieles der
Pflichtschule nachgewiesen wird. Die öffentlichen Schulen werden in
beiden Reichen aus öffentlichen Mitteln erhalten. Reich,
Länder und Gemeinden wirken an der Schulerhaltung zusammen.
Mit § 42 der Dritten Steuernotverordnung vom 14. Februar
1924 leistet die Deutsche Reichsregierung gemäß Art. 143,
Abs. 3, nur bescheidene Mittel zu Erziehungsbeihilfen, während den
gesamten Schulaufwand die Länder aufbringen müssen, die wieder
die einzelnen Gemeinden zur Beitragsleistung heranziehen. Die gesamten
Personalkosten werden in Anhalt, Baden, Bayern,3 Braunschweig und Hessen vom Staate
getragen, die Gemeinden bestreiten den Sachaufwand für das Schulwesen.
In Thüringen trägt der Staat sieben Zehntel des persönlichen
Schulaufwandes, drei Zehntel müssen von der Gesamtheit der Gemeinden
aufgebracht werden; in Sachsen trägt die Gesamtheit der Gemeinden ein
Drittel der Personalkosten; in
Mecklenburg-Schwerin muß die einzelne Gemeinde ein Viertel zu den
Gesamtlasten beisteuern; in Oldenburg ist die gesamte Schullast den Gemeinden
übertragen. In Österreich erhält der Bund das gesamte
öffentliche
Mittel- und Hochschulwesen und leistet an private Mittelschulen (vor allem an die
Mädchenmittelschulen) Staatszuschüsse, besonders durch
Verstaatlichung von Lehrern. Den Personalaufwand im Volksschulwesen tragen
die Länder, den Sachaufwand die einzelnen Gemeinden. In
Niederösterreich, Tirol und Vorarlberg leisten die Gemeinden
unbedeutende Beiträge auch zum Personalaufwand. Ein eingehendes
[490] Studium der
Schulfinanzfrage wird die realen Grundlagen einheitlicher Schulpolitik
schaffen.
Die in beiden Reichen postulierte Glaubens- und Gewissensfreiheit
findet im Schulwesen verschiedenen Ausdruck. In beiden Reichen ist der
Religionsunterricht ordentliches Lehrfach, mit Ausnahme der im
Deutschen Reich in der RV. vorgesehenen bekenntnisfreien (weltlichen) Schulen,
für die vorläufig in Preußen sogenannte Sammelschulen
eingerichtet wurden. Die Erteilung religiösen Unterrichtes und die
Vornahme kirchlicher Verrichtungen bleibt der Willenserklärung der
Lehrer überlassen; im Deutschen Reich ist aber auch die Teilnahme der
Schüler an religiösen Unterrichtsfächern und an kirchlichen
Feiern und Handlungen von der Willenserklärung der
Erziehungsberechtigten abhängig, während in Österreich nur
die Teilnahme an religiösen Übungen freigestellt und die Befreiung
vom Religionsunterrichte dagegen nur konfessionslosen Kindern
gewährleistet ist. Simultanen Charakter, das heißt
gemeinsamen Unterricht in allen weltlichen Fächern für Kinder aller
Bekenntnisse und Weltanschauungen und bekenntnismäßigen
Religionsunterricht, hat das Schulwesen in Anhalt, Baden, Bremen, Hamburg,
Hessen, Lübeck,
Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz, Sachsen,
Schaumburg-Lippe und Österreich, hingegen besteht in Bayern, Oldenburg,
Preußen und Württemberg die Bekenntnisschule; dazu
kommen in Preußen, wie oben erwähnt, solange die
Durchführung des Artikels 146 durch ein Reichsschulgesetz nicht
erfolgt, für Kinder, deren Eltern keine konfessionelle Erziehung
wünschen, und für Lehrer, die die Erteilung des
Religionsunterrichtes ablehnen, Sammelschulen ohne
Religionsunterricht. Im allgemeinen haben also im Deutschen Reiche die
Länder mit konfessionell einheitlicher Bevölkerung gleich
Österreich die simultane Schule, hingegen haben die reichsdeutschen
Staaten mit konfessionell gemischter Bevölkerung Bekenntnisschulen. Im
ganzen Deutschen Reiche ist aber die Freiheit in der religiösen und
weltanschaulichen Erziehung gewahrt, während in Österreich auf
diesem Gebiete für die einem Bekenntnisse angehörenden Kinder der
Zwang zum Besuche des Religionsunterrichtes besteht. In Anhalt, Braunschweig,
Preußen, Sachsen und Thüringen erhalten die vom
Religionsunterrichte befreiten Kinder Moralunterricht4 (Lebenskunde).
[491] Die Einrichtung der
Schulaufsichts- und Schulverwaltungsbehörden ist im Deutschen
Reiche selten durch ein Gesetz, sondern meist durch Verordnung des
Staatsoberhauptes oder der obersten Verwaltungsbehörden und
etatsrechtliche Feststellung zustande gekommen. Daher herrscht sowohl in der
Benennung als auch in der Organisation eine große Mannigfaltigkeit. Die
Zentralbehörden führen in den größeren
Staaten den Titel Ministerium, z. B. Ministerium für Wissenschaft,
Kunst und Volksbildung (Preußen), Ministerium für Volksbildung
(Thüringen, Sachsen, Braunschweig), Ministerium für Kultus und
Unterricht (Baden, Bayern), Ministerium für Kirchen und Schulen
(Oldenburg), Ministerium für Kultus und Bildungswesen (Hessen),
Kultministerium (Württemberg), in den Hansestädten die
Bezeichnung Oberschulbehörde;5 in den kleinen Ländern bestehen
nur Schulabteilungen bei den Behörden für innere Verwaltung; in
Thüringen ist die Abteilung für Volksbildung mit dem Ministerium
für Justiz vereint. In Österreich ist die Schulverwaltung gesetzlich
festgelegt. Die oberste Schulbehörde führt den Titel
"Bundesministerium für Unterricht" und verwaltet neben dem
allgemeinbildenden Schulwesen6 wie in den reichsdeutschen Staaten
auch die
Kultus- und Kunstangelegenheiten. In Bayern, Preußen und
Österreich bestehen zwischen der Zentralschulbehörde und den
Schulbehörden der unteren Verwaltung mittlere
Schulbehörden (8 Bezirksschulbehörden in Bayern,
12 Provinzialschulkollegien und 34 Abteilungen für Kirchen
und Schulwesen der Bezirksregierungen in Preußen,
9 Landesschulräte in Österreich). Dem
württembergischen Kultministerium ist je ein evangelischer und
katholischer Oberschulrat als eine Art mittlerer Instanz unterstellt. Auch für
die Schulbehörden der unteren Verwaltung sind verschiedene
Bezeichnungen vorhanden:
Kreis- und Stadtschulrat (Baden, Hessen), Kreisschulbehörde
(Preußen), Bezirksschulamt (Sachsen, Bayern), Oberamt in Schulsachen
(Württemberg), Schulamt (Thüringen), Bezirksschulrat [492] (Österreich). Die
Schulbehörden der mittleren und unteren Instanz sind entweder
Schulaufsichts- und Schulverwaltungsbehörden, die wie in Bayern mit den
Regierungs- und politischen Verwaltungsbehörden verbunden sind, oder sie
sind selbständige Ämter, wie in Thüringen, Baden, Sachsen. In
Preußen sind die Schulaufsichtsbehörden (Provinzialschulkollegien)
von den Schulverwaltungsbehörden (Abteilungen für Kirchen und
Schulwesen der Bezirksregierungen) getrennt. Die preußische
Verwaltungsreform strebt eine Unterstellung aller Schulen unter die
Oberpräsidien als Mittelinstanz an bei Aufhebung der Schulabteilungen bei
den Regierungen und Errichtung selbständiger Kreisschulämter. In
Österreich sind die Schulbehörden selbständige
Kollegialbehörden unter dem Vorsitze des gewählten Chefs der
Landesregierung (Landeshauptmann) beziehungsweise des beamteten
Verwaltungschefs der Bezirksverwaltung (Bezirkshauptmann). Die
Schulverwaltung wird von den Landesregierungen im Einvernehmen mit den
Landesschulräten besorgt.
Die Bestrebungen zur Vereinfachung der Verwaltung in beiden Reichen sollten
auch auf dem Schulgebiete zu gemeinsamen Beratungen und Beschlüssen
führen mit dem Ziele eines einheitlichen klaren Aufbaues der gesamten
Schulverwaltung und einheitlicher Bezeichnungen.
Die gleiche Mannigfaltigkeit weist die Schulorganisation in den
einzelnen Staaten des Deutschen Reiches auf. In der Weimarer Verfassung wird
gefordert, daß das öffentliche Schulwesen organisch
auszugestalten ist und daß das mittlere und höhere Schulwesen sich
auf einer für alle gemeinsamen vierjährigen Grundschule
aufzubauen hat, wobei der Aufbau sich nach der Mannigfaltigkeit der
Lebensberufe zu richten hat. Als Hauptgrundsatz wird die
"Einheitsschule" festgelegt, das heißt ein Schulorganismus, der in
allen seinen Zweigen allen Kindern des Volkes, ohne Rücksicht auf ihre
Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsklasse oder
Religionsgemeinschaft, ohne Rücksicht auf die wirtschaftliche
Leistungsfähigkeit ihrer Eltern und andere trennende Umstände,
lediglich nach ihrer Neigung und Begabung offensteht. Die Neuordnung des
deutschen Schulwesens erfolgt also im Sinne der Verfassung in der Richtung auf
Durchführung einer organischen äußeren und inneren
Vereinheitlichung. Unter diesen Gesichtspunkten ist die neue
Reichsschulgesetzgebung zu betrachten.
[493] Durch das
Reichsgrundschulgesetz vom 28. April 1920 und seine Novellen
vom 18. April 1925 und vom 26. Februar 1927 wurden im
Deutschen Reiche die Vorschulen abgeschafft und eine
vierjährige Grundschule eingeführt, zu deren Besuch alle
Kinder verpflichtet sind. Durch die Richtlinien des Reichsministeriums des Innern
vom 25. Februar 1921 und durch Maßnahmen der
Schulbehörden der Länder7 ist diese Schulart so gestaltet,
daß in allem Wesentlichen eine Übereinstimmung mit der durch das
österreichische Reichsvolksschulgesetz vom 14. Mai 1869
geschaffenen Volksschule festgestellt werden kann. Die Organisation
der Volksschulen auf dem Land ist in beiden Reichen vielfach gleich; seit dem
Hauptschulgesetze vom 2. August 1927 ist auch die Unterstufe der
österreichischen Volksschule8 gleich der reichsdeutschen
Grundschule vierjährig. Hingegen gibt es in Österreich keine
Möglichkeit für besonders leistungsfähige Kinder, die
Grundschule in drei Jahren zu absolvieren, wie dies das Reichsgesetz, betreffend
den Lehrgang der Grundschule, vom 18. April 1925 im Deutschen Reich
ermöglicht.9 An die in allen reichsdeutschen Staaten
bestehende vierjährige Grundschule schließt sich eine verwirrende
Vielgestaltigkeit von Schulbahnen an. In allen Staaten ist eine
vier- oder dreijährige (Bayern, Württemberg)
Volksschuloberstufe mit Klassenlehrersystem vorhanden; in Sachsen,
Hessen und Hamburg gibt es für tüchtige Schüler
gehobene Volksschulzüge mit Fremdsprachenunterricht, in Berlin
ist versuchsweise ein freiwilliges neuntes und zehntes Schuljahr
(Aufbauklassen) eingerichtet. Eine über die Volksschule
hinausreichende Bildung vermitteln auch die an die Grundschule
anschließenden sechsklassigen Mittelschulen in Preußen,
Thüringen, Braunschweig, Oldenburg,
Mecklenburg-Schwerin, Anhalt und Lippe. Sie sind auf die
Selbständigkeitsbestrebungen des Mittelstandes
zurückzuführen, dem das Bildungsminimum der Volksschule nicht
mehr genügte, um [494] die höheren
Leistungen im
Wirtschafts- und Staatsleben zu erfüllen. Der preußische
Unterrichtsminister umschreibt ihre Aufgabe folgend: "Die Entwicklung auf den
Gebieten des Handwerks, des Kunstgewerbes, des Handels und der Industrie, der
Land- und Forstwirtschaft erfordert eine gesteigerte Ausbildung der Knaben und
Mädchen für diese Erwerbszweige. Im Zusammenhange damit macht
sich das Bedürfnis nach einer geeigneten Vorbereitung auf mancherlei
mittlere Stellungen im Verwaltungsdienste des Staates und der Gemeinden wie
großer
Industrie- und Handelsunternehmungen geltend." .... "Ihre (der Mittelschule)
Leistungsfähigkeit hat ihren Grund nicht zuletzt in der durch
Verlängerung des Schulbesuches um zwei Jahre gesteigerten Reife der
Schüler. Die Bedeutung dieser in die Hauptzeit jugendlicher Entwicklung
fallenden Jahre für die geistige Ausbildung wie die sittliche Haltung und
Kräftigung der Schüler kann nicht leicht überschätzt
werden."10 Die Aufnahme in diese Mittelschulen
erfolgt wie an die höheren Schulen durch eine Aufnahmsprüfung.
Die erste Fremdsprache setzt in der 1. Klasse ein mit 6 Stunden
(sechsjähriger Lehrgang), die zweite (wahlfreie Fremdsprache) beginnt in
der 4. Klasse. In Preußen gibt es fünf Richtungen der
Mittelschule, je eine für Knaben und Mädchen allgemeinbildender
Art, dann für Knaben mit gewerblicher und kommerzieller, für
Mädchen mit hauswirtschaftlicher und kommerzieller Richtung und ein
Lehrgang mit einer zweiten Fremdsprache von der 4. Klasse an als
Vorbereitung für den Übergang an höhere Schulen, besonders
an die Oberrealschule, Deutsche Oberschule und in das Oberlyzeum in
grundständiger (neunstufige Vollanstalten) oder Aufbauform
(gekürzte sechsjährige Lehrgänge).
Die Mittelschulen in Preußen und Braunschweig gewähren die
sogenannte "mittlere Reife",11 das ist den Übergang zu den
höheren [495]
Handels-, Maschinenbau- und Baugewerbeschulen u. ä. Zur
Ausübung des Lehramtes an Mittelschulen ist die Ablegung einer eigenen
Prüfung aus zwei Fächern erforderlich. Die Erhaltung der
Mittelschulen in Preußen erfolgt durch die vom
Unterrichts- und Finanzministerium verwaltete Landesmittelschulkasse, in die die
Gemeinden, in denen Mittelschulen sind, als Einheitsstellenbeitrag für jede
männliche Lehrkraft 420 M, für jede weibliche 378 M
monatlich einzuzahlen haben. In den anderen Ländern werden die
Mittelschulen meist von den Stadtverwaltungen erhalten.
Zu den Mittelschulen gehören auch die
vier- oder fünfstufigen Rektoratsschulen in Westfalen und in der
Rheinprovinz, in Bayern, Hessen, Thüringen und Württemberg, die
hauptsächlich Vorbereitungsanstalten für die höheren Schulen
sind.
In Bayern gibt es auch noch seit 1916 dreiklassige
Mädchenmittelschulen, die an das 7. Volksschuljahr
anschließen und Fortbildungsschulen mit Vollunterricht darstellen. In
Württemberg bestehen fünfklassige
Mittelschulen, meist für Mädchen, die seit 1926 für
besonders Begabte einen dreijährigen Aufbauzug haben,
der an die 3. Mittelschulklasse anschließt und die Ziele einer
Mädchenrealschule zu erreichen hat.
Die Mittelschulen sind stark umkämpft; die Volksschullehrer
bekämpfen sie gleich wie die höhere Schule wegen der Wegnahme
der tüchtigen Schüler aus der Volksschuloberstufe, die Lehrer der
höheren Schulen treten gegen die Gewährung der "mittleren Reife"
auf, die bis vor kurzem nur von den höheren Schulen nach Absolvierung
der Untersekunda zuerkannt wurde.
In Lübeck werden die Mittelschulen vom 1. April 1929 an
jahrgangsweise abgebaut und es wird eine Neuordnung der Oberstufe der
Volksschule im Sinn einer elastischen differenzierten Einheitsschule
durchgeführt. Dieser Schulversuch soll der Überflutung der
höheren Schule, dem Rückgange der Mittelschule und der
Ausleerung der Volksschule entgegenwirken. Das Lübecker
Ausleseverfahren hat ergeben, daß die Grundschüler der
4. Klasse in drei Gruppen zu teilen sind: Die Gruppe A (etwa 25%)
kann in die höhere Schule definitiv aufgenommen werden, die
Gruppe B (etwa 60%) nur probeweise, soweit Platz ist. Die
Gruppe C (etwa 15%) ist von der Aufnahme ausgeschlossen. Die nicht in
die höhere Schule übertretenden
A- und B-Schüler erhalten im 5. Volksschuljahr nach Wunsch einen
sechsstündigen Englischunterricht, die [496]
C-Schüler zur selben Zeit einen Förderunterricht hauptsächlich
aus Deutsch und Rechnen. Die tüchtigen Fremdsprachenschüler
werden vom 6. Schuljahr an in einem höheren Schulkurs
(H-Zug) vereinigt und erlernen vom 7. Schuljahr an eine zweite
Fremdsprache (Französisch oder Schwedisch) und Mathematik nach dem
Lehrplan der höheren Schule. Der übrige Unterricht erfolgt
gemeinsam mit den anderen Schülern. Nach dem 8. Schuljahr
können die Schüler des
H-Zuges in die Obertertia (5. Klasse) der höheren Schule, mit
Ausnahme des humanistischen Gymnasiums, übertreten. Die
Schüler, die im Englischen nicht ausreichend mitkommen, werden vom
6. Schuljahr an als Mittelschulzug
(M-Zug) nach dem Mittelschullehrplan geführt und erhalten vom
7. Schuljahr an erweiterten Mathematikunterricht. Die für fremde
Sprachen ungeeigneten Schüler folgen dem Volksschulzug
(V-Zug). Während des Fremdsprachenunterrichtes der
H- und M-Zug-Schüler erhalten die
V-Zug-Schüler vermehrten Unterricht aus Deutsch und Rechnen und
Unterricht in Neigungsfächern. Die Schüler des
M-Zuges können durch Besuch eines 9. und 10. Schuljahres die
"mittlere Reife" erreichen, auch für die Schüler des
V-Zuges soll für die technisch, künstlerisch und wirtschaftlich
Begabten ein zweijähriger Aufbau eingerichtet werden, für den auch
die "mittlere Reife" geplant ist. Dieser Einheitsschulversuch ermöglicht
einerseits eine größere Berücksichtigung der einzelnen
Begabungen, anderseits dient er dem versöhnlichen Ausgleich der sozialen
Gegensätze.
In Österreich gibt es keine Mittelschulen12 im reichsdeutschen Sinne. Die
Oberstufe der Pflichtschule in den Märkten und Städten ist die mit
Gesetz vom 2. August 1927 eingerichtete vierklassige
Hauptschule, in der die verschiedenen Begabungshöhen in zwei
Klassenzüge geteilt, die verschiedenen Begabungsrichtungen durch
wahlfreie Fächer (Unterricht in Latein, Französisch oder Englisch
von der 2. Klasse an) zur Entwicklung gebracht werden. So erfüllt
die Hauptschule einerseits die Vorbereitung für den Übertritt in die
nächsthöhere Klasse der höheren Schulen, er ist jederzeit den
tüchtigen Schülern des Klassenzuges I ohne
Aufnahmsprüfung ermöglicht, anderseits auch die Vorbereitung auf
das Wirtschaftsleben. Zur Erteilung des Unterrichtes an Hauptschulen ist die
Ablegung der Lehrbefähigungsprüfung für Hauptschulen aus
einer der fünf Fachgruppen notwendig, das heißt aus zwei oder drei
Fächern. [497] Da der Lehrplan der
Hauptschule in allem Wesentlichen mit dem Lehrplan der einheitlichen Unterstufe
der höheren Schulen übereinstimmt, ist einerseits eine einheitliche
Bildungsgrundlage für alle Kinder des Volkes bis zum
14. Lebensjahre gesichert, anderseits die
Berufs- und Schulbahnwahl bis zum 14. Lebensjahr ermöglicht.13 Die Erfahrungen mit der Hauptschule
in Österreich, mit dem Lübecker Schulversuch, mit den
Aufbauklassen Berlins, mit den gehobenen Volksschulzügen Sachsens
u. a. werden dazu beitragen, die weitere Gestaltung der Schulorganisation
in beiden Reichen nach einheitlichen Gesichtspunkten im Sinn einer
differenzierten Einheitsschule durchzuführen.
Im Deutschen Reich und in Österreich sind nach dem Weltkriege
engere Beziehungen zwischen dem
Volks- und höheren Schulwesen hergestellt worden. Die Versuche zur
Durchführung der Einheitsschule, die Angleichung der Lehrpläne,
die Schülerauslese, die akademische Bildung der Volksschullehrer
u. a. haben zu dieser Annäherung wesentlich beigetragen. Auch im
höheren Schulwesen ist im Deutschen Reich eine Vielgestaltigkeit
vorhanden. In Preußen werden die vier Typen des Gymnasiums,
Realgymnasiums, der Oberrealschule und der Deutschen Oberschule sowohl als
neunstufige Vollanstalten wie auch als sechsklassige Aufbauformen
geführt. Sachsen führt neben einem Gymnasium und
Realgymnasium mit grundständigem Latein auch je eines mit
grundständigem Englisch, daneben noch gleich Preußen eine
Deutsche Oberschule und eine Oberrealschule. In Sachsen ist durch eine
einheitliche Unterstufe und möglichst einheitliche Mittelstufe und durch
Gabelung der Oberstufe mit Kursunterricht eine "gegliederte höhere
Einheitsschule" verwirklicht. Auch in Thüringen baut sich auf eine
einheitlich dreijährige Unterstufe mit einer Fremdsprache eine je
dreiklassige
Mittel- und Oberstufe des Gymnasiums, Realgymnasiums und der Oberrealschule
auf. Daneben gibt es sechsklassige Realschulen, Lyzeen und deutsche
Aufbauschulen; diese schließen an das 7. Volksschuljahr an. In
Bayern finden wir neben neunklassigen Gymnasien, Realgymnasien und
Oberrealschulen auch sechsklassige Progymnasien und Prorealgymnasien und
Realschulen und fünfklassige Lateinschulen. Von den sechsklassigen
Mädchen- [498] lyzeen ist aus der
4. Klasse der Übertritt in die fünfklassigen
Mädchengymnasien
und ‑realgymnasien und in die dreistufigen Oberrealschulen möglich. In
Württemberg finden wir Gymnasien, Realgymnasien,
Reformrealgymnasien und Oberrealschulen, in Hessen neben diesen vier
Typen noch deutsche Aufbauschulen, Lyzeen und Oberlyzeen und Frauenschulen.
Gemeinsam ist bei den Vollanstalten die Neunstufigkeit und den gymnasialen
Typen das Erlernen von drei, den Oberrealschulen und Deutschen Oberschulen
von zwei Fremdsprachen. Die sechs Typen der höheren Schule in
Österreich – Gymnasium, Realgymnasium, Type A,
B, C, Realschule und
Frauenoberschule – sind achtstufig und erfordern die Erlernung von zwei
Fremdsprachen; in der letzten Schulform ist nur eine Fremdsprache obligat, die
zweite wahlfrei. Aus einem Vergleiche der Lehrpläne ist zu ersehen,
daß – abgesehen von der dritten
Fremdsprache – die höheren Schulen in beiden Reichen gleiche
Aufgaben zu leisten haben, um die Hochschulreife zu erreichen. Es konnte daher
die beiderseitige Anerkennung der Reifezeugnisse im Jahre 1922
verfügt werden und die gleiche Behandlung der Studierenden
beider Reiche bei der Entrichtung des Schulgeldes. Leider sind die
Österreicher dabei noch immer im Nachteil; denn das Schulgeld an
höheren Schulen beträgt in Oldenburg 240, in
Hessen 210, in Preußen14 200, in Sachsen 180 und in
Baden 150, in Bayern 90 und in
Württemberg 60 M gegenüber 48 S15 jährlich in Österreich.
Die Möglichkeit der ganzen oder teilweisen Befreiung vom Schulgeld ist in
Österreich unbeschränkt, im Deutschen Reich dagegen vielfach auf
einen bestimmten Prozentsatz der Schüler eingeschränkt. Dadurch ist
die Freizügigkeit der Studierenden, vor allem aber der Austausch mit
Österreich sehr behindert.
Das Berufsschulwesen weist im Deutschen Reiche trotz des
jungen Alters große Verschiedenheiten in der Bezeichnung, im Aufbau, in
der Dauer und in seiner inneren Gestaltung auf. Der Artikel 145 der RV.
bestimmt zwar eine Fortbildungsschulpflicht bis zum vollendeten
18. Lebensjahre, aber nur Sachsen, Württemberg, Thüringen,
Hessen, Hamburg, Lippe, Lübeck und Braunschweig haben für die
gesamte männliche und einen Teil der weiblichen Jugend
Pflichtberufs- (Fortbildungs-) Schulen eingeführt. In den [499] anderen Staaten ist
entweder nur ein Teil der Jugend erfaßt oder die Fortbildungspflicht ist
geringer als drei Jahre. Neben gewerblichen und kaufmännischen gibt es
auch landwirtschaftliche und hauswirtschaftliche Berufsschulen. In
Süddeutschland sind allgemeinbildende ländliche
Fortbildungsschulen eingeführt.
In Österreich besteht die Fortbildungsschulpflicht für
Jugendliche beiderlei Geschlechtes nur in gewerblichen und
kaufmännischen Betrieben. Diese Fortbildungsschulen schließen
ihren Unterricht ganz an die Arbeit in der Lehrwerkstätte oder neuestens
auch im Übungskontor an. In letzter Zeit werden in Wien Versuche mit
Hausgehilfinnenschulen gemacht. In Tirol, Salzburg und Kärnten sind
durch Landesgesetze im Sinne der Leitsätze des Unterrichtsministeriums
aus dem Jahre 1917 ländliche Fortbildungsschulen eingeführt.
Ähnlich vielgestaltig ist auch das niedere und höhere
Fachschulwesen in beiden Reichen. Die weitere Gestaltung des
Berufs- und Fachschulwesens sollte in beiden Reichen nach einheitlichen
Gesichtspunkten erfolgen: ein gemeinsamer Ausschuß aus Fachleuten aus
diesen Schularten und ihrer Verwaltung hätte die Richtlinien dazu
auszuarbeiten.
Da die Universitäten in beiden Reichen ihre heutige
Wesensgestalt der
idealistisch-liberalen Zeit des beginnenden 19. Jahrhunderts verdanken und
die Fachhochschulen auf den Aufschwung der Naturwissenschaften im
Zeitalter des Positivismus zurückzuführen sind, ist es
verständlich, daß die Hochschulen in beiden Staaten gleiche
Wesenszüge aufweisen: Autonomie,
Lehr- und Lernfreiheit, Selbstverantwortlichkeit der Professoren, akademische
Freizügigkeit, Koalitionsfreiheit der Studierenden u. a. Die
Hochschulen sind Veranstaltungen des Staates: im Deutschen Reiche von den
einzelnen Staaten, in Österreich vom Bunde verwaltet. Die Gesichtspunkte
für die Angleichung im einzelnen müßten sich auch auf eine
Durchsicht der einzelnen Hochschulstatuten, Geschäftsordnungen der
Senate, die
Studien- und Prüfungsvorschriften, der Promotionsordnungen und der
Habilitationsnormen erstrecken. Die gleiche Behandlung der Studierenden aus
beiden Reichen und die weitestgehende Anrechnung auswärtiger Semester
ist nahezu erreicht. Die Angleichung als Problem für Vorlesungen,
Seminar- und Doktorarbeiten sollte an den einzelnen Hochschulen Pflege finden.
Die geistigen Beziehungen der Hochschulen in beiden Reichen könnten
[500] durch häufigere
gegenseitige Berufungen und durch planmäßigen Lehreraustausch
erhöht werden. Auch die Kollegiengelder müßten
vereinheitlicht werden; gegenwärtig zahlt ein reichsdeutscher Student in
Österreich ein Viertel oder ein Sechstel der in Deutschland zu entrichtenden
Gebühren; ein österreichischer Student muß aber in
Deutschland das
Vier- bis Sechsfache bezahlen.16
Besonders wichtig wäre die Angleichung auf dem Gebiete der
Lehrerbildung. Die akademische Lehrerbildung für
Volksschullehrer ist in Thüringen (seit 1922), Sachsen (seit 1923), Hessen
(seit 1925), Hamburg (seit 1926) und Braunschweig (seit 1927) in der Art
durchgeführt, daß die Ausbildung an den Universitäten oder
Technischen Hochschulen in Verbindung mit Pädagogischen Instituten in
sechs, in Hessen in vier Semestern erfolgt. In Wien ist die versuchsweise
Ausbildung nach den gleichen Grundsätzen an der Universität, im
Pädagogischen Institut der Stadt Wien und an den Schulen Wiens in vier
Semestern seit 1925 durchgeführt.17 Preußen bildet seinen
Nachwuchs für den Volksschullehrerstand in viersemestrigen
Pädagogischen Akademien aus, Baden in zweisemestrigen
Lehrerbildungskursen. In Bayern und Württemberg ist wie in
Österreich noch keine Neuordnung durchgeführt; die Bildung erfolgt
in Lehrerbildungsanstalten in mittelschulmäßiger Art. Eine
einheitliche Neugestaltung sollte in beiden Reichen erstrebt werden, wie sie
bereits auf dem Gebiete der Ausbildung der Lehrer für die höhere
Schule Tatsache ist. An den Stätten der Lehrerbildung müßte
der Nachwuchs mit dem Problem des Anschlusses und der Angleichung
eingehend vertraut gemacht werden.
Auf dem Gebiete der Erwachsenenbildung herrscht in beiden Reichen in
allem Wesentlichen Übereinstimmung. Die an ein Weltbild gebundene und
die ungebundene Volksbildung wird aus privaten Mitteln, teilweise mit geldlichen
Unterstützungen von den Staaten und Gemeinden, erhalten. Der Umfang
der freien Volksbildung im Deutschen Reiche wurde von dem Referenten des
preußischen Unterrichtsministeriums R. v. Erdberg
in folgender Weise abgegrenzt: volkstümliches Büchereiwesen,
Vertragswesen,
Volks- [501] hochschule,
Heimvolkshochschule, Arbeiterbildung, Bühne, Musik, Tanz, Volksfeste,
bildende Kunst, Pflege der Beziehungen zur Heimat, Kino, Radio.18 Der Referent im
österreichischen Unterrichtsministerium M. Mayer gibt
folgende Reihenfolge an: Bücherei, Körperkultur, rhythmisch
Bewegtes: Tanz, Reigen, Spiel; Musik, das Bild, das Fest, Kurse und
Arbeitsgemeinschaft, Volkshochschule.19 In beiden Reichen werden in eigenen
Volksbildner- und Büchereileiterkursen die in der Volksbildung
Tätigen
heran- und fortgebildet. Im Deutschen Reich ist die vom Hohenrodter Bunde mit
staatlicher Unterstützung errichtete "Deutsche Schule für
Volksforschung und Erwachsenenbildung" auch als Bildungsstätte
für Volksbildner seit dem Jahre 1927 von den einzelnen Staaten anerkannt.
Ihr Aufgabenkreis umfaßt wissenschaftliche Forschung auf dem Gebiete der
Erwachsenenbildung, Gewinnung und Schulung des volksbildnerischen
Nachwuchses, Weiterbildung der in der Volksbildungsarbeit stehenden Menschen
und Berührung und Verbindung mit den verschiedenen
Berufs- und Arbeitsgruppen beziehungsweise Gebieten des Volkslebens,
österreichische Volksbildner, namentlich aber die durch das Regulativ
für Volksbildung (vom 30. Juli 1919) in jedem Bundesland
Österreichs (mit Ausnahme Wiens) geschaffenen "bundesstaatlichen
Volksbildungsreferenten" und die Beamten der Abteilung für Volksbildung
im Unterrichtsministerium sollten sich an den Akademien, Schulungswochen,
Kursen, Freizeiten und Tagungen des Hohenrodter Bundes beteiligen, damit die
auf der gemeinsamen
österreichisch-deutschen Volksbildnertagung 1920 in Braunau am Inn
festgelegten Grundlagen in gemeinsamer Arbeit der einheitlichen Entwicklung der
städtischen und ländlichen Volksbildung in beiden Reichen
angepaßt werden. Die Vorbereitung des politischen Zusammenschlusses des
Deutschen Reiches und Österreichs durch kulturelle und rechtliche
Angleichung ist auch in der freien Volksbildung der beiden Reiche systematisch
zu behandeln. Vorträge mit Lichtbildern aus Kultur und Landschaft der
beiden Reiche, Vorträge im Rundfunk, besonders auch im Schulrundfunk
und in der pädagogischen Funkstunde, sollen auf die nationale Bedeutung
der politischen Vereinigung hinweisen. Österreichische Wochen im
Deutschen Reich und reichsdeutsche Wochen in
Öster- [502] reich sollten
alljährlich zu bestimmten Zeiten wiederkehren, um den
Anschlußwillen der Bevölkerung rege zu erhalten.
Von größter Bedeutung ist aber die Erziehung der Jugend zur
deutschen
Volks- und Staatseinheit. Die österreichischen Lehrpläne
fordern die gesamtdeutsche Auffassung. In den "Lehrplänen
für allgemeine Volksschulen" vom 16. Juni 1930 heißt es im
allgemeinen Bildungsziel für das 5. bis 8. Schuljahr aus
Erdkunde: "Ausgehend von der Heimat, Vermittlung der Kenntnis
Österreichs und Deutschlands, einige Einsicht in die gegenseitige
Abhängigkeit von Land und Leuten. Übersichtliche Kenntnis
Europas und der außereuropäischen Erdteile." Und das Bildungsziel
für Geschichte lautet: "Einführung in die Kenntnis
vergangener Zeiten durch Darbietung von Bildern aus der Geschichte der
Heimat, des Vaterlandes und des deutschen Volkes... Weckung der Teilnahme am
Schicksal der Volksgemeinschaft."
Im "Lehrplan für Hauptschulen" vom 1. Juni 1928 wird im Lehrziel der
Erdkunde gefordert: "Kenntnis Österreichs und der übrigen
deutschen Siedlungsgebiete in Europa in erdkundlicher Hinsicht", und in der
4. Klasse: "Eingehendere Länderkunde Österreichs und
des Deutschen Reiches mit besonderer Berücksichtigung des
Wirtschaftslebens. Das Auslanddeutschtum... Die Stellung
Österreichs und des Deutschen Reiches im Weltverkehr und in der
Weltwirtschaft."
Die Lehrpläne für Mittelschulen (Gymnasien,
Realgymnasien und Realschulen) vom 1. Juni 1928 verfügen
für die Unterstufe: "Die Behandlung der Länderkunde in der 2. und
3. Klasse soll den Gebieten besondere Aufmerksamkeit widmen, die
mit Österreich und Deutschland in kultureller oder wirtschaftlicher
Beziehung stehen oder die in der Weltwirtschaft eine bedeutende Rolle
spielen." Und für die 7. Klasse wird verlangt:
"Länderkunde des Deutschen Reiches und Österreichs. Das
Auslanddeutschtum." Das Lehrziel aus Geschichte für die
Oberstufe der Mittelschulen heißt: ... "Kenntnis der wichtigsten
geschichtlichen Tatsachen in ihrem ur- [503] sächlichen
Zusammenhang und in ihrer Abhängigkeit von geographischen und
wirtschaftlichen Bedingungen mit besonderer Hervorhebung der
geschichtlichen Entwicklung des deutschen Volkes und
Österreichs." In der 8. Klasse wird in der Bürgerkunde
ausdrücklich gefordert: "Verfassung und Verwaltung der Republik
Österreich und des Deutschen Reiches. Recht und Rechtspflege.
Fragen der Volkswohlfahrt."
Demgegenüber betont der Berliner Schulausschuß des
Österreichisch-Deutschen Volksbundes mit Recht, daß die
Feststellung der preußischen Richtlinien für
Lehrpläne der Volksschulen: "Für das Schicksal
Deutschösterreichs muß Verständnis und Teilnahme geweckt
werden", für die hohe nationale Aufgabe des Zusammenschlusses zu wenig
sagt. "Es handelt sich um das Gefühl der Schicksalseinheit und der
Stärkung des Willens, auch zu politischer Einheit zu kommen." Auch der
"Landeslehrplan für die Volksschulen" in Sachsen (vom
19. Mai 1928) kann vom Standpunkt der Anschlußarbeit nicht
befriedigen, wenn es dort heißt: "Die Erdkunde behandelt eingehend
Sachsen und Deutschland und führt zu einer übersichtlichen
Bekanntschaft mit den europäischen Ländern und
außereuropäischen Erdteilen. Deutsche Kulturgebiete außerhalb
der Reichsgrenzen oder Gebiete, die zum deutschen Lande in enger
wirtschaftlicher Beziehung stehen, sind zu bevorzugen. Das Auslandsdeutschtum
ist in seiner wirtschaftlichen und kulturellen Bedeutung für die
Volksgemeinschaft entsprechend zu würdigen."
In Geschichte und Staatsbürgerkunde wird allgemein gefordert:
"Die Orts-, Heimat-, Landesgeschichte und Volkskunde und die Geschichte der
wichtigsten auslandsdeutschen Gebiete müssen, wo es nur angeht, auch hier
herangezogen werden."
Diese wenigen Lehrplanbeispiele zeigen zur Genüge, daß eine
vergleichende Bearbeitung der Lehrpläne für die verschiedenen
Schularten in beiden Reichen eine unbedingte Notwendigkeit ist. Die
kleindeutsche Auffassung im Sinne Treitschkes u. a. in den
Geschichtsbüchern muß endlich einer gesamtdeutschen
Geschichtsauffassung20 weichen. [504] Richtunggebend sind
nachfolgende Ausführungen des Berliner Studienrates
Dr. B. Kumsteller in der Sitzung des Schulausschusses der
Würzburger Tagung des
Österreichisch-Deutschen Volksbundes (Mai 1930): "Dem
Geschichtslehrer müssen die Gestalten der großen Reformer 1807 bis
1813, Stadion, Erzherzog Karl, Stein, Scharnhorst, Gneisenau, Ernst Moritz von
Arndt, vor Augen stehen, wie sie zwar arbeiteten und wirkten an Österreich
beziehungsweise Preußen als den gegebenen historischen Gebilden, wie
aber im Hintergrunde ihres ganzen Handelns Deutschland stand, so soll auch der
Geschichtsunterricht über die heimatliche partikularistische Gebundenheit
hinaus zu umfassender, gesamtdeutscher Auffassung gelangen. Zu diesem Zwecke
soll der Schüler gewöhnt werden, den gesamten Lebensraum des
deutschen Volkes in Mitteleuropa zu betrachten, dessen geopolitische Grenze im
Südosten nicht bei Passati, sondern beim Preßburger Tor liegt. Die
Besiedlungsgeschichte des Donaubeckens und der Alpenländer verlangt
genau dieselbe Berücksichtigung wie die des deutschen Nordostens. Und
dann muß der Geschichtsunterricht zeigen, in welchem Umfange das, was
sich in diesem Raum abspielte, gesamtdeutsche Geschichte war, ja, wie oft hier in
der Südostmark geradezu der Schwerpunkt deutschen Wirkens gelegen hat.
Ein richtiger Geschichtsunterricht muß es die Schüler fühlen
lassen, daß der Prinz Eugen, Maria Theresia, Josef II., Erzherzog
Karl, Andreas Hofer zu
den schönsten Gestalten der deutschen Geschichte
gehören. So wenig wie Friedrich List sollte auch der Freiherr von
Bruck den Primanern unbekannt sein. Der Schüler muß
begreifen, daß die Türkenmacht, die die Stadt Wien jahrhundertelang
gehalten hat, zugleich eine deutsche Tat war, und daß die
Nationalitätenkämpfe im 19. Jahrhundert, insbesondere die
südslawische Frage, zugleich deutsches Schicksal war... Schließlich
muß dem Schüler zum Bewußtsein gebracht werden, was das
österreichische Staatsvolk in seiner Gesamtheit an Kulturwerten geschaffen
hat... Die ganze Problematik des Jahres 1848 und des Vorkampfes zwischen
Österreich und Preußen muß dem Schüler klar werden.
Er muß sehen, daß die Lösung des Jahres 1871 die damals
einzig mögliche war. Dann wird ihm auch der Sinn für die Tragik
deutscher Geschichte aufgehen."21 Jedem Geschichtslehrer möge
auch als Leitgedanke dienen, was Hugo Preuß, der die Grundlagen
zur deutschen Ver- [505] fassung lieferte,
schrieb: "In der alten Zeit gab es ein österreichisches Deutschland; das
Bismarcksche Reich war ein preußisches Deutschland. Das Deutschland der
Zukunft, das Deutschland der Republik muß ein deutsches Deutschland
sein." Die beiden Reiche müssen als eine geographische und
geopolitische Einheit22 dargestellt werden. Durch einen
ausgedehnten Schülerbriefwechsel zwischen reichsdeutschen und
österreichischen Schulklassen, durch
Schüler- und Lehrerreisen, wie sie der österreichische
"Heim-ins-Reich-Dienst" und das Zentralinstitut für Erziehung und
Unterricht in Berlin seit Jahren durchführen, durch einen
Schüler- und Lehreraustausch, durch Preisausschreiben
über das Anschlußproblem, wie es jüngst die
österreichische Gruppe des
Österreichisch-Deutschen Volksbundes an die Lehrerschaft aller Schularten
ergehen ließ, muß der Anschlußwille der Schüler und
Lehrer wach erhalten werden. In den gleichen Dienst können
gemeinsame Schulfeiern über bedeutende Ereignisse und
Personen (vgl. Schubert-, Beethoven- und Walther von der
Vogelweide-Feier) aus der deutschen und österreichischen Vergangenheit
gestellt werden. Sehr förderlich wäre der Anschlußarbeit die
Herausgabe je eines Büchleins für die Oberstufe der
Volks- und höheren Schule, das das Anschlußproblem behandelt; die
Arbeiten der Lehrer, die aus dem oben genannten Wettbewerbe
preisgekrönt hervorgingen, könnten als Grundlage dienen. Ebenso
sollte in nächster Zeit ein Geschichtsbuch in gesamtdeutscher Auffassung
von reichsdeutschen und österreichischen Fachleuten gemeinsam
verfaßt werden.23 Für die Pflege des
Anschlußgedankens im reichsdeutschen Unterrichte leistet das vom Berliner
Schulausschuß des
"Österreichisch-Deutschen Volksbundes" herausgegebene Merkblatt
wertvolle Dienste.24
[506] Eine gesamtdeutsche
Staats- und Kulturpolitik ist eine nationale Notwendigkeit; auf dem Gebiete des
Bildungswesens heißt dies: Schaffung eines einheitlichen deutschen
Schulrechtes, einer einheitlichen Schulverwaltung und Schulorganisation, einer
einheitlichen akademischen Lehrerbildung, einer umfassenden deutschen
Pädagogik, die in den Grundzügen einheitlich, aber dem
Reichtum deutschen Geisteslebens entsprechend Lehrpläne und Methoden
nach Eigenart der deutschen Stämme gestaltet. Ähnliche
Forderungen vertritt der große deutsche Lehrerverein: einheitliche
Reichsschulgesetzgebung, eine dem Reichstage verantwortliche
Reichsschulbehörde, der ein aus Fachleuten bestehender
Selbstverwaltungskörper zur Seite steht (Reichskulturbeirat). Die gesamte
Schulverwaltung ist nach den Grundsätzen der Selbstverwaltung einheitlich
für alle Schulgattungen zu gestalten.25 Die kommende Reichsreform wird
auch diese Schulprobleme im Deutschen Reiche lösen müssen; das
Deutsche Reich und Österreich müssen weitestgehende
Schulangleichung anstreben, ehe das politische Ziel des Zusammenschlusses
erreicht ist. In beiden Reichen muß die Jugend innewerden, "daß der
Anschluß eine Lebensfrage unserer ganzen Nation
ist".
"Seit dem Kriege gehört die Theorie vom
Selbstbestimmungsrecht der Völker zu den unbestrittensten Gebieten des
Völkerrechtes. Das deutsche Volk hat dasselbe Recht, das man den
nationalen Minderheiten als Selbstverständlichkeit zuerkennt. Das ist keine
Parteifrage, das ist kein Chauvinismus, das ist nichts als Naturrecht. Die Jugend
soll es begreifen lernen, es durchsetzen wollen und gegen eine Welt von
Widerständen ankämpfen, bis es erreicht ist."26 In diesem
Geiste – nationaler Selbstbestimmung und
Völkerverständigung – soll die Jugend das hohe Ziel
erkämpfen, das der Berliner Vorkämpfer des Anschlusses,
Oberstudiendirektor Dr. Karl Müller, in die Worte
gefaßt hat: ein Volk, eine Schule, ein Reich.
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