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Unser Recht auf Kolonien   (Teil 1)
[9]

Notwendigkeit deutscher Kolonialpolitik
Gouverneur a. D. Dr. Theodor Seitz

Jede koloniale Betätigung hat ihrem Wesen nach drei Seiten, eine wirtschaftliche, eine politische und eine kulturelle. Wie im gesamten Leben der Völker sich Politik, Wirtschaft und Kultur nicht durch scharfe Grenzlinien trennen lassen, so greifen auch auf kolonialem Gebiet diese drei Momente dauernd ineinander, wenn auch je nach den Bedürfnissen und Anschauungen einer Zeit bald das eine, bald das andere Moment in den Vordergrund tritt.

In unseren Tagen wird, da das Leben der modernen Welt in einer früher nie gekannten Weise von wirtschaftlichen Fragen beherrscht ist, auch bei Behandlung des kolonialen Problems überall in erster Reihe die wirtschaftliche Seite behandelt. Für uns Deutsche liegt das um so näher, als wir durch den verlorenen Weltkrieg und seine Folgen unter dem auf der ganzen Welt lastenden wirtschaftlichen Tiefstand von allen Völkern am schwersten zu leiden haben.

Man hat, als sich die ersten Anzeichen der sogenannten Weltwirtschaftskrise bemerkbar machten, vielfach geglaubt, daß es sich lediglich um Konjunkturschwankungen handle, um eine vorübergehende Störung der wirtschaftlichen Funktionen, die, wie es in der Zeit vor dem Weltkrieg so oft der Fall war, die Mittel der Heilung in sich selbst finden werde. Heute spricht kein Mensch mehr von Konjunkturschwankungen, heute hat man allgemein einsehen müssen, daß es sich bei der jetzigen Krise um eine vollständige Umstellung in der Struktur der Wirtschaft handelt. Diese Umwälzung wurde durch den Weltkrieg beschleunigt und verstärkt, die Ursachen aber gehen bis weit in die Zeit vor dem Kriege zurück.

Greifen wir die Hauptmomente heraus!

Erst in unseren Tagen ist es der Welt mit voller Klarheit zum Bewußtsein gekommen, daß eine nicht geregelte, allein auf Profit ausgehende Wirtschaft zwangsläufig führen muß - zu Überproduktion und Arbeitslosigkeit. Früher war es den Industriestaaten der westlichen Zivilisation möglich, für ihre Überproduktion immer neue Absatzmärkte zu finden und die an einer Stelle freiwerdenden Arbeiter an anderer Stelle einzusetzen. Heute liegen die Dinge anders. Neue Absatzgebiete sind für die alten Industriestaaten eigentlich nur noch im Innern Afrikas und in einzelnen Gegenden Südamerikas zu finden; in der übrigen Welt ist die Möglichkeit der wirtschaftlichen Expansion für die alten Industriestaaten zu Ende, ja, es droht, von dem einst beherrschten Gebiet ein Teil nach dem anderen verloren zu gehen. Denn neben der Rationalisierung und Mechanisierung der alten Industrie- [10] staaten ging unaufhaltsam her die Industrialisierung von Ländern, die bisher rein oder ganz überwiegend agrarischen Charakter hatten.

Wir denken dabei immer zuerst an Ostasien, an Japan, China und Indien. Wie die Industrialisierung Japans vor sich gegangen, wissen wir nicht nur, wir fühlen es an der Art, wie die japanische Konkurrenz auf dem Weltmarkt immer weiter nach Westen vordringt. Nicht nur Ostafrika hat sie erreicht und gerade uns Deutsche dort schon überflügelt, sie greift heute schon bis nach Europa selbst herüber. Aber auch in China geht trotz dauernder innerer Wirren die Industrialisierung, wenn auch langsam, doch sicher ihren Weg.

Nicht anders liegt es in Indien. Betriebe, die ursprünglich von Engländern mit englischem Kapital gegründet wurden, sind in indische und japanische Hände übergegangen, und sicherlich liegt für die Engländer das Bedenkliche an der Freiheitsbewegung Indiens nicht zuletzt in der Befürchtung, daß mit dem Wachsen der politischen Selbständigkeit Indiens aus dem Abnehmer für den englischen Markt mehr und mehr ein Konkurrent wird.

Aber diese Entwicklung ist nicht auf den Fernen Osten beschränkt, wir sehen sie fast überall in der Welt, in Südamerika ebensogut wie in Südafrika. Es handelt sich um eine Umwälzung, die durch den Weltkrieg zwar mächtig gefördert, aber nicht hervorgerufen wurde. Schon vor dem Weltkrieg trat in einer an sich ganz natürlichen Entwicklung in den Agrarstaaten das Bestreben hervor, die natürlichen Schätze des Landes selbst auszunützen und alles im Lande herzustellen, was im Lande hergestellt werden kann. Und so hat sich überall da, wo nicht nur die Rohmaterialien vorhanden, sondern auch die erforderlichen Arbeitskräfte zu beschaffen waren, der Satz: "Die Industrie zieht den Rohstoff an" umgewandelt in den Satz: "Der Rohstoff zieht die Industrie an". So hatte z. B. für die Engländer in Südafrika bis dahin die Theorie von Cecil Rhodes gegolten: Südafrika mit seinem ganzen Hinterland bis hinauf zum Nil sollte im wesentlichen Rohstofflieferant und Abnehmer für die Industrie Kleinenglands sein und bleiben. In der Tat waren damals neben den Diamant-, Kohlen- und Goldminen in dem ganzen weiten Gebiet nur wenige, ganz unbedeutende industrielle Betriebe vorhanden. Aber kaum war die Union mit dem Ministerium Botha gegründet, so erhob sich der Ruf nach Industrialisierung. Die Zahl der Fabriken stieg vom Jahre 1911 bis zum Jahre 1917 von 500 auf 2500 und auf 4500 im Jahre 1924. Die Burenregierung hat sich an der Industrialisierung mit staatlichem Kapital beteiligt, sie hat die großen Eisen- und Stahlwerke bei Pretoria gegründet und weiter versucht, die Diamantschleiferei von Belgien und Holland nach Südafrika hinüberzuziehen, sie begünstigt auf allen Gebieten die Einführung neuer Industrien, und auch die Weltwirtschaftskrise hat diese Entwicklung nicht zum Stehen gebracht.

Mit dieser fortschreitenden Industrialisierung ist ein zweiter Vorgang verbunden, der schon längst vor dem Kriege begonnen hatte, den man aber in Deutschland nicht sah oder aus theoretischem Dogmenglauben nicht [11] sehen wollte: die Bildung großer, geschlossener Wirtschaftskörper, deren Bestreben dahin geht, sich wirtschaftlich vom Ausland möglichst unabhängig zu machen. Wir sehen dieses Bestreben seit Jahrzehnten bei der nordamerikanischen Union, bei dem zaristischen Rußland, dessen Politik in dieser Beziehung von den Sowjets sogar bis zum äußersten Extrem getrieben wird, bei Frankreich mit seinem gewaltigen Kolonialgebiet und neuerdings bei dem Britischen Weltreich. Es nützt gar nichts, wenn man diese Entwicklung für falsch hält. Wir tun besser daran, uns die Lage Deutschlands zwischen diesen gewaltigen Wirtschaftskörpern klarzumachen.

Die nach dem Deutsch-Französischen Kriege einsetzende Entwicklung Deutschlands zum Industriestaat, mit der eine beispiellose Zunahme der Bevölkerung Hand in Hand ging, nahm in den achtziger Jahren ein rasendes Tempo an. Die Gefahren, die in dieser Entwicklung lagen, wurden nur von wenigen gesehen, denn die politische Macht des Kaiserreichs bot der Wirtschaft einen starken Rückhalt. Wir müssen Waren exportieren oder Menschen, so faßte der Reichskanzler Caprivi Anfang der neunziger Jahre die Situation zusammen. Wollte man Menschen exportieren, ohne daß sie dem deutschen Volkstum verloren gingen, so mußte man die Kolonialpolitik Bismarcks fortsetzen, die vorhandenen Kolonien nach jeder Richtung hin entwickeln und womöglich neue Siedlungsgebiete erwerben.

Man ist in Deutschland den anderen, für den Augenblick bequemeren Weg gegangen. Man hat entweder aus sogenannten prinzipiellen Gründen jede Kolonialpolitik bekämpft oder wenigstens (bis zum Jahre 1907 mit Erfolg) jede Entwicklung unserer Kolonien verhindert und war so gezwungen, Waren zu exportieren und immer weitere fremde Märkte zu erobern. So kam es, daß wir überall in der Welt als Konkurrenten der Engländer auftraten, nicht zuletzt in ihren eigenen Kolonien. In dieser expansiven Wirtschaftspolitik ist der letzte Grund zu suchen, der uns in dauernden Gegensatz zu England hineintrieb. Wer draußen gelebt hat, hat das von Jahr zu Jahr mehr empfunden.

Diese Politik der einseitigen wirtschaftlichen Expansion hat im wesentlichen die ungesunden Verhältnisse im Innern geschaffen, unter denen wir heute leiden: Entvölkerung des platten Landes, besonders im Osten, Zusammenballung großer Massen in den Industriezentren, Entwicklung eines industriellen Apparates, der viel zu groß ist für seine territoriale Grundlage, für die Bedürfnisse und Aufnahmefähigkeit der eigenen Bevölkerung. Unser Binnenmarkt ist im Verhältnis zur Produktionskraft unserer Industrie zu klein geworden, wir sind angewiesen auf den Export um jeden Preis, wenn wir den Apparat unserer Industrie einigermaßen in Gang halten wollen. Dazu kommt erschwerend, daß unsere gewaltige Industrie in einem Maße für den Bezug von Rohstoffen auf das Ausland angewiesen ist, wie wir es in keinem anderen großen Industriestaat, abgesehen von Japan, finden. Japan hat aus seiner Situation die Konsequenzen gezogen und durch Eroberung und Verträge Abhilfe zu schaffen gesucht. Doch nicht nur im [12] Rohstoffbezug, sondern auch im Absatz sind wir vom Ausland abhängig. Gegen dieses Übel gibt es keine Mittelchen.

Es gibt nur zwei Wege. Der eine wäre: so günstige Handelsverträge abzuschließen, daß uns für den Überschuß unserer industriellen Erzeugnisse ein dauernder Absatz zu genügenden Preisen gesichert wäre. Das ist unter den heutigen Verhältnissen, wo jeder Staat und jedes Städtchen sich vom Ausland unabhängig zu machen suchen, vorläufig nicht möglich, wenn auch der politische Einfluß, den wir in die Waagschale werfen können, ein ständig wachsender ist, nachdem wir die Gleichberechtigung auf dem Rüstungsgebiet erreicht haben.

Es bleibt uns nur der Weg übrig, auf der einen Seite unseren Binnenmarkt zu stärken, indem wir unsere Landwirtschaft retten und eine gesunde Verteilung der Bevölkerung im Reichsgebiet herbeiführen, auf der anderen Seite aber unseren Binnenmarkt erweitern, indem wir unserem Wirtschaftskörper Gebiete anschließen, die uns die Möglichkeit des Rohstoffbezugs und des vermehrten Absatzes bieten.

Fragen wir vom Standpunkt der Wirtschaft aus, welche Gebiete für diesen Zweck am günstigsten sind, so ist die Antwort: tropische und subtropische Gebiete. Sie bieten an Rohstoffen, was uns vor allem fehlt: Baumwolle, Kautschuk, Pflanzenfette und Öle. Sie geben aber auch auf lange hinaus eine sichere Absatzmöglichkeit für einen Teil unserer industriellen Erzeugnisse, weil ihre Industrialisierung, soweit sie überhaupt möglich ist, nur sehr langsam vorwärts gehen wird.

Wer die Lage unseres Vaterlandes nüchtern nach allen Seiten hin prüft, wird immer zu der Überzeugung kommen müssen: eine dauernde Gesundung der deutschen Wirtschaft ist, abgesehen von allen anderen Maßnahmen, die eine weitschauende Wirtschaftspolitik gebietet, nur möglich durch eine Ausdehnung des Lebensraumes unseres Volkes, durch Angliederung von solchen Gebieten, die geeignet sind, durch Lieferung von Rohstoffen und Abnahme von Industrieerzeugnissen unseren heimischen Wirtschaftskörper in seinen Mängeln zu ergänzen.

Ebenso bedeutend wie das wirtschaftliche Moment ist für jede Kolonialpolitik das politische. Man denkt dabei natürlich zuerst an den Zuwachs von politischer Macht. Zweifellos, jeder Kolonialbesitz bring dem Mutterland einen Zuwachs an politischer Macht, sofern die Volkskraft des Mutterlandes zu seiner gesunden Entwicklung ausreicht. Aber ebenso groß, für die Dauer vielleicht noch größer, ist die Bedeutung von Kolonialbesitz für die politische Erziehung eines Volkes. Zum vollen Bewußtsein muß das jedem kommen, der die politische Entwicklung Deutschlands in den letzten drei Jahrhunderten mit derjenigen Englands vergleicht. Während sich die Deutschen zerfleischten in allen möglichen und unmöglichen Gegensätzen und Parteien, während es eine vom ganzen Volk getragene auswärtige Politik in Deutschland nur in der kurzen Epoche Bismarcks gab, zeigt das englische politische Leben seit Cromwells Tagen eine Elastizität, die das Volk befähigte, die gefährlichsten Krisen des Staats- [13] lebens ohne große Erschütterungen zu überwinden. Jede neue Erscheinung, sei es auf wirtschaftlichem, sei es auf inner- oder außerpolitischem Gebiet, wurde von der großen Mehrheit der Engländer immer in erster Linie von dem Gesichtspunkt aus beurteilt, ob und welche Wirkungen sie auf die Stellung des Britischen Reiches ausübt.

Diese Einwirkung, diese Summe von lebendiger politischer Erfahrung kann nicht ersetzt werden durch die Schilderungen von Reisenden, die Forschungen von Gelehrten, die Berichte von Diplomaten, nicht einmal durch das Auslandsdeutschtum. Es fehlt dabei immer die Hauptsache, die tätige Mitarbeit an der Aufrichtung und dem Ausbau eines neuen deutschstämmigen Staates über See unter ganz neuen Verhältnissen, die jene erzieherische Wechselwirkung hervorbringen könnte, wie wir sie zwischen England und seinen Kolonien sehen.

Neben Macht und Wirtschaft spielt bei jeder Kolonialpolitik auch die Kultur eine Rolle. Ein Volk, das die Kraft und den Beruf in sich fühlt, Kolonialpolitik zu treiben, wird immer das Bedürfnis haben, in dem Neuland, das es kolonisieren will, auch seine Kultur zur Geltung zu bringen. Dabei ist es selbstverständlich, daß diese kulturelle Aufgabe der Kolonialpolitik von den verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten verschieden aufgefaßt wurde. Beim Beginn der modernen Kolonialpolitik im 16. und 17. Jahrhundert war es die Christianisierung der Eingeborenen in den neu entdeckten Ländern Amerikas und der Südsee, die im Vordergrund stand. In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als die deutsche Kolonialpolitik Bismarcks einsetzte, spielte der Kampf gegen die Sklaverei eine Hauptrolle. Einen stark kulturellen Einschlag hat auch der Gegensatz zwischen dem englischen und französischen System der Eingeborenenpolitik. Während die Engländer davon ausgingen, daß man die Eingeborenen nicht zu farbigen Europäern machen, sondern sich ihrer Veranlagung entsprechend eigenartig entwickeln lassen solle - ein Grundsatz, von dem auch wir Deutsche bei unserer Eingeborenenpolitik ausgegangen sind -, verfolgten die Franzosen in ihrer Eingeborenenpolitik von Anfang an bis in die jüngste Zeit das klar ausgesprochene Ziel, aus den schwarzen und gelben Eingeborenen ihrer Kolonien farbige Franzosen zu machen, die sich von den Franzosen des Mutterlandes nur durch die Hautfarbe unterscheiden.

Nun hat sich aber das Problem der Eingeborenenpolitik seit dem Weltkrieg wesentlich verschoben. Die Tatsache, daß Farbige in Massen, wie es in früheren Jahrhunderten nie vorgekommen ist, vier Jahre lang Seite an Seite mit Weißen gegen Weiße kämpften, die Versprechungen, die ihnen, ganz abgesehen von der Proklamierung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, für ihre Hilfe im Weltkrieg gemacht wurden, haben das Selbstbewußtsein der Farbigen zwar nicht erweckt - vorhanden war es schon vor dem Weltkrieg -, aber gewaltig gestärkt und häufig bis ins Groteske gesteigert. Hand in Hand gingen damit auf seiten der Weißen eine Steigerung der Achtung vor den Farbigen, [14] die manchmal in eine mit Furcht gemischte Überschätzung ausartete. Eine neue Ära der Behandlung des kolonialen Problems in Theorie und Praxis begann. Man sah ein, daß Völker mit alter Kultur, wie Inder, Ägypter u. a., überhaupt nicht Objekt einer Kolonialpolitik im eigentlichen Sinn sein können. Die Folgerung für die praktische Politik zogen die Engländer, diese Meister der Evolution. Aus den Dominions wurden gleichberechtigte Glieder des Britischen Weltreichs, aus Indien ein Zwischending zwischen dem einstigen, von London aus souverän regierten indischen Kaiserreich und einem Dominion, aus Ägypten ein Zwischending zwischen einem Protektorat und einem verbündeten Staate.

Ein Ergebnis der neuen Einstellung, allerdings ein verunglücktes, weil von vornherein mit unehrlichen Absichten belastet, war auch die Erfindung des burischen Generals Smuts, das sog. Mandatssystem, das dem Präsidenten Wilson den Raub der deutschen Kolonien schmackhaft machen sollte.

Auch für die theoretische Behandlung des Problems wurde es von Bedeutung, daß nunmehr nur noch der größte Teil von Afrika und ein Teil der Südseeinseln mit ihren auf primitiver Kulturstufe stehenden Eingeborenen als Objekte der Kolonialpolitik übrigblieben. Hier aber zeigte es sich, daß die alten Kulturvölker vor eine Aufgabe gestellt sind, die nicht nur auf politischem und wirtschaftlichem, sondern ebensosehr auf kulturellem Gebiet liegt.

Es ist dies die durch Eindringen der modernen wirtschaftlichen Methoden und der Ideen der sogenannten westlichen Zivilisation hervorgerufene Erschütterung der wirtschaftlichen und sozialen Struktur des Lebens der Eingeborenen. Mögen auch einzelne Eingeborene - die Ausnahmen bestätigen die Regel - nicht nur die Äußerlichkeiten der westlichen Zivilisation angenommen, sondern auch einen Hauch europäischer Kultur verspürt haben, die Masse der Eingeborenen befindet sich, nachdem die wirtschaftlichen, sozialen und ethischen Grundlagen ihres Daseins ins Wanken gekommen sind, in einem Übergangsstadium der gefährlichsten Art. Ihnen hinüberzuhelfen über diesen Übergangszustand, ihr ganzes Leben auf neue, aber ihrem innersten Wesen entsprechende Grundlagen zu stellen, ist die Aufgabe der europäischen Kulturvölker. So unentbehrlich auch fernerhin auf diesem Gebiet die Arbeit der christlichen Missionen ist, allein kann sie die Aufgabe nicht lösen. Es gehört dazu die Mitwirkung einsichtiger Kolonialverwaltungen, die willens und imstande sind, dem Wesen der Eingeborenen gerecht zu werden.

In dieser Aufgabe mitzuwirken, sind wir Deutsche nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet. Keines der modernen Kulturvölker ist in solchem Maße befähigt, sich einzufühlen in Wesen und Sinnesart fremder Völker wie wir Deutsche. Auf dem Gebiete der Eingeborenenpolitik ist sie ein unschätzbarer Vorteil, und nicht zum mindesten auf diese Eigenschaft ist es zurückzuführen, wenn heute noch die Eingeborenen die deutsche Herrschaft nicht vergessen haben, sondern sie wieder herbeisehnen. Hier also liegt für eine neue deutsche Kolonialpolitik nicht nur eine Notwendigkeit und Berechtigung unsererseits, sondern auch [15] ein Bedürfnis seitens der Eingeborenen vor. Im stolzen Bewußtsein unserer eigenen Kultur wollen wir diese nicht fremden Rassen aufzwängen, vielmehr ihnen helfen, ihre Kulturwerte, befreit von Verzerrungen, recht zu erfassen und zu pflegen.

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Das Buch der deutschen Kolonien
Herausgegeben unter Mitarbeit der früheren Gouverneure
von Deutsch-Ostafrika, Deutsch-Südwestafrika, Kamerun, Togo und Deutsch-Neuguinea.
Vorwort von Dr. Heinrich Schnee.