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Süddeutschland - Eberhard Lutze

Im Rheingau und am Mittelrhein

Heinrich von Kleist hat unter dem frischen Eindruck einer Rheinreise im Mai 1801 in einem Briefe die Stärke dieses Erlebens zum Ausdruck gebracht: "Der schönste Landstrich von Deutschland, an welchem unser größter Gärtner sichtbar con amore gearbeitet hat, sind die Ufer des Rheines von Mainz bis Coblenz, die wir auf dem Strome selbst bereiset haben. Das ist eine Gegend, wie ein Dichtertraum, und die üppigste Phantasie kann nichts Schöneres erdenken als dieses Tal, das sich bald öffnet, bald schließt, bald blüht, bald öde ist, bald lacht, bald schreckt." Man glaubt in der Tat zwei sehr verschiedene Ströme vor sich zu haben, wenn man die weingrüne, offene, sonnendurchglühte Rheingaulandschaft und die enge, felsengefaßte, die schönste Rheinstrecke im Sinne der Romantik zwischen Bingen und der Lahnmündung nacheinander genießt.

Von dem Dörfchen Nieder-Walluf an der Mündung des Baches Walluf bis zum Städtchen Lorch am Einfluß der Wisper dehnt sich der Rheingau, dessen südlichster Punkt, Bingen mit der Nahemündung, dem mächtig vorstoßenden und den Strom in Nordwestrichtung drängenden Rheingaugebirge gegenüberliegt. Eigenartig und seltsam wie das Gesicht dieser Landschaft ist ihre Geschichte. Wie die berühmtesten Weine der ganzen Welt aus diesem kleinen gesegneten Landstrich kommen, wie hier Sonne und Gestein und Menschen am glücklichsten zur Züchtung der edelsten Gewächse abgestimmt zu sein scheinen, so eifersüchtig war der Gau von jeher darauf bedacht, seine Freiheit und Selbständigkeit nach außen, seine Geschlossenheit nach innen zu wahren. Die Kultur des reichen Weinsegens hat es bewirkt, daß sich 60 Adelsgeschlechter und 12 Klöster, daß sich außer den stadtartigen Dörfern 20 Burgen miteinander vertragen haben, daß erzbischöfliche Ansprüche von Mainz, daß Orden und weltliche Herren diesen Gau zuschlossen wie ein Haus und ihn nach außen zu einer einzigen Burg machten. Eine undurchdringliche, natürliche Wehr, das aus Baumzweigen und Buschwerk zusammengeflochtene "Gebück", über dessen Unantastbarkeit ein eigenes Haingericht wachte, umgab einst den Rheingau. Wie dieser Schutz waren auch "Wald, Weide, Wasser, Weg und Steg" Gemeinrecht, hütete die Gemeinschaft aller nutznießenden Stände Durchführung, Beginn und Ende der Weinlese und die Dauer des Arbeitstages; altgermanische Feldgemeinschaft hat in dieser Landschaft am Rhein, die alle Gaben des von unseren Vorfahren immer wieder heißersehnten Südens in verschwendendem Reichtum bescherte, durch das ganze Mittelalter hindurch lebendig weitergelebt. 1631 wurde das Gebück zum ersten Male durchbrochen und nach und nach der Ausrodung preisgegeben. Die festen Schlösser sind verfallen, die alte Freiheit des Gaues hat längst ihren politischen Sinn verloren, und doch haben sich noch Reste jener alten Gemeinrechte und ‑bräuche im rheingauischen Volksleben erhalten, dessen stolzestes Sonderrecht in dem Spruch gipfelt: "Im Rheingau macht die Luft frei."

[756] Wir lassen Mainz hinter uns und Wiesbaden, die beiden Städte, die den Segen des Gaues in städtischer Fülle bergen, Mainz als Handelsplatz, Wiesbaden in herrlicher Lage, als Weltbad am Fuße des Taunus, von wo täglich die Autobusse die zur Kur weilenden Fremden in die Waldeshöhen und Talgaue hinausfahren. Südlich des Taunusbades Schlangenbad fällt die Landschaft, der Wallufbach rauscht zu Tal, mit ihm in paralleler Äderung sechs andere Bäche. Die ganze schimmernde Schönheit des Rheingaues öffnet sich, dunstig in feuchtem Schleier, der auch an heißen Tagen von der Wasserfläche emporsteigt. Fern im Südosten, von Rauchfahnen umwölkt, Mainz mit den Wahrzeichen der Domtürme, weiter drunten, in genauer Südachse, die Hauptstadt des Rheingaukreises, Eltville; im Westen steigen die grauen kahlen Felsen bei Rüdesheim empor. In majestätischer Ruhe, in feenhafter Breite - bis zu 1000 Metern breit - zieht der Rhein seines Weges, dessen Strömung man kaum inne wird. Flimmernd liegt sein Spiegel, grüne Eilande silbrig umfangend, von schreienden Möwen und einfallenden Wildenten überflogen. Behäbig keuchen gewaltige Schiffszüge in Berg- und Talfahrt auf der breiten Fahrrinne dahin; Flaggen vieler europäischer Länder wehen von ihren Masten über diese deutsche Landschaft.

Wellig steigt und fällt die Hanglandschaft, von Walluf aus wie ein riesiges Amphitheater der Südsonne entgegengebreitet, auf dem Rücken der Höhen von dunklen Laubwäldern gegen schädliche Winde geschützt. So glüht der Schieferboden unter der Sonne, deren Strahlen vom Spiegel des Stromes doppelt und dreifach zurückgeworfen werden. Überall wächst Wein, ein in Jahrhunderten veredelter Riesling, der Nachkomme der einst wild im Rheingau wachsenden Rebe, der man seit nicht viel mehr als hundert Jahren die höchste Leistung der edlen und feurigen Ausleseweine abzugewinnen weiß. Der Wein ist der Lebensinhalt von Land und Leuten, die lieber nach Weinjahren als nach Kalenderjahren zu rechnen gewohnt sind. Wir wissen, daß schon die Franken die begnadete Lage für den Weinbau ausnutzten, von kundigen Mönchen wohlberaten. Die Sage aber läßt Karl den Großen die Reben segnen. In seiner Pfalz zu Saalburg bei Oberingelheim auf der jenseitigen Stromseite habe er, auf der Höhe des Söllers die Aussicht genießend, bemerkt, daß nirgends die Schneeschmelze früher und schneller begönne als am Rüdesheimer Berg, worauf er die Bestockung mit Reben versucht habe. Auch zwei Heilige helfen den Winzern, der mit Wein taufende Hl. Goar, dessen von Karl dem Großen geschenktes Faß nie leer wurde, und St. Theonest, der auf einer Weinkufe den Rhein entlangschwamm, bei Caub landete und dort nach der Legende die ersten Reben pflanzte.

Das liebliche Rauenthal liegt inmitten des Weingebietes, über dem ein schwerer Duft von Fruchtbarkeit und Sonne zu blühen scheint. Auf halbem Wege nach Eltville - weltbekannt durch seine Sektkellereien - liegt Kiedrich, mit seiner St. Valentinuskirche und der zierlichen St. Michaelskapelle inmitten der Weinberge eine Perle gotischer Baukunst am Rhein. Im Kloster Eberbach stehen wir nicht nur an einem Hauptweinort, wo die Preußische Staats- [757] domäne ihre großen Auktionen abhält und man den Steinberger Cabinett in einladender Gaststätte proben kann, sondern in dem wichtigsten Kulturmittelpunkt der Landschaft überhaupt. Eberbach ist eine Zisterzienserniederlassung, deren herbe dreischiffige romanische Kirche kürzlich wieder in würdigen Zustand versetzt wurde. Die noch gut erhaltenen Baulichkeiten, das herrliche Refektorium, ein schöner Barocksaal, ein weihevoller stiller Klostergarten geben eine anschauliche Vorstellung von der Bedeutung der Niederlassung. Seit 1135 von den Zisterziensern bezogen, stand Eberbach bereits hundert Jahre später an erster Stelle unter allen deutschen Gründungen dieses Ordens. Zollfreiheiten halfen dem Weinhandel zu stolzer Blüte, Klosterschiffe trugen die Erträgnisse des 250 Hektar großen, von einer 1100 Meter langen Mauer umhegten Steinberges in eine eigene Niederlassung nach Köln.

Weit grüßt im Westen auf gedrungenem Hügel Schloß Johannisberg ins Land, an Größe und Güte des Ertrages dem Eberbacher Steinberg ebenbürtig und wie dieses Kloster geistlichen Ursprungs. Doch scheint das um 1100 dem Hl. Johannes geweihte Benediktinerkloster weniger vom weinspendenden St. Goar begünstigt gewesen zu sein, da es 1563 verschuldet aufgelassen werden mußte. Nach häufigen Besitzerwechseln, in denen sich ein Ausschnitt des Kampfes um den Rhein widerspiegelt, wurde das Weingut, auf dem damals das prunkende Schloß des Fuldaer Fürstbischofs von Johann Dientzenhofer noch ohne den schädigenden Umbau des vorigen Jahrhunderts stand, im Wiener Kongreß 1815 dem Kaiser von Österreich zugesprochen, der es seinerseits dem Fürsten Metternich zu Lehen gab. Seither muß jährlich der Zehnt des Weinertrages an die österreichische Krone abgeliefert werden, und unbeschadet aller politischen und dynastischen Wandlungen geht wie zur Zeit des Kongresses nach wie vor die jährliche Abgabe an das Haus Habsburg: Kaiserin Zita ist die glückliche Erbin.

Wenn man auf derartig geschichtlichem Boden von der Schloßterrasse in das Land blickt und sich seiner edlen Gabe im Glase freut, bleiben auch im Genuß die Mächte der Geschichte bewußt, die nahe dem Rhein von der Gegenwart zu allen Epochen unseres deutschen Schicksals zurücklaufen.

Eine Stunde abwärts, unmittelbar am Ufer liegt Winkel, ein gemütliches Stadtbild, mit seinem anziehenden Gasthaus "Schwan". Rabanus Maurus, der erste Abt des von Karl dem Großen gegründeten Benediktinerstiftes Fulda und Erzbischof von Mainz, schloß 856 in Winkel die Augen. Wenn die Tradition recht hat, so beherbergt sein Sterbeort in dem auf Rabanus zurückgeführten steinernen "Grauen Haus" das älteste Wohnhaus, das wir in Deutschland kennen.

Die Familie des Dichters Clemens Brentano hat in Winkel ihren Sitz; noch heute wohnen Brentanos dort. Karoline von Günderode, die schwärmerische Freundin der Bettina Brentano, suchte am Gestade von Winkel in den Fluten des Rheins den Tod. Die Geschichte dieser unglücklich Verliebten und ein Besuch bei Bettina im Jahre 1815 gaben Goethe die Anregung zu seinen "Wahlverwandtschaften".

[758] Langsam, zunächst kaum merklich, dann unverkennbar wandelt sich das Landschaftsbild. Wir nähern uns dem Binger Loch, in dessen Mitte der Mäuseturm des Bischofs Hatto, überragt von Burg Ehrenfels, von den ungestümen Fluten umbrandet wird. Dort, wo sich Rüdesheim und Bingen schräg gegenüberliegen, silbrig-grau an den nackten Felsen gelehnt dieses, die Ufer der Nahemündung begleitend jenes, dort beginnt der gebirgige Rhein. Eingekeilt zwischen den Schieferfelsen wogt und schießt das brodelnde Wasser - nur noch 300 Meter breit -, das eben im breiten Bett

Niederwalddenkmal.
[693]      Niederwalddenkmal.
noch so ruhig schien, hinein in den Abschnitt seines Laufes, der wie keiner ob seiner Schönheit in aller Welt besungen ist. In ständiger, langwieriger Durchbruchsarbeit hat der Strom den Schiefer durchstoßen; sein Spiegel lag ursprünglich einmal auf der Höhe der Ufer. Deren Kamm hat sich einst nicht von der Hochfläche abgehoben, unter der der Rhein in seinem heutigen Einschnitt tief drunten dahinströmt.

Es ist geweihter Boden, den wir im Aufstieg oberhalb Rüdesheims betreten. Das Hildegardiskloster erinnert an die Hl. Hildegard von Bingen, eine der bedeutendsten Frauen des deutschen Mittelalters, die im Kloster am Rupertusberg in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts ihre ekstatischen Visionen erlebte und ihnen dichterische Form gab.

300 Meter über dem Strom steht auf dem Niederwald das Nationaldenkmal "zum Andenken an die einmütige siegreiche Erhebung des deutschen Volkes und an die Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches 1870/71". Auch wenn die akademisch gleichgültige, aus Kanonenmetall gegossene Germania als Denkmal versagt, auch wenn sie viel zu klein ist, um sich als Einzelfigur in der Größe dieser Landschaft irgendwie durchzusetzen, so begeistert doch der Blick von hier oben auf den deutschen Rhein, unweit der von den Franzosen zerstörten Lieblingspfalz Karls des Großen in Ingelheim, des Gründers des Ersten Reiches.

Aßmannshausen.
[692]      Aßmannshausen.

Bad Münster am Stein.
[690]      Bad Münster am Stein. Salinen.
Der Abstieg führt nach Aßmannshausen, wo man beim ruhigen oder spritzigen Aßmannshäuser Roten zum ersten Male all den Zauber erlebt, der nun einmal die Rheinromantik umgibt, allerdings auch die Verkitschung, die seit der Vorliebe des vorigen Jahrhunderts für diese Gegend um sich gegriffen hat, nicht zuletzt durch mäßige Musik, süßliche Operetten und Filmsentimentalitäten. Man vergißt aber all das kleinliche Drum und Dran, das Dampfschiffahrt, Eisenbahn, Autostraße und häßliche Einbauten der gewaltigen Natur aufgezwungen hat, wenn man einmal den Dampfer verläßt und auf den Höhen wandert, von hier aus in die schönen alten Nester und Burgen einfällt und auch die Nebentäler nicht ausläßt. Dazu zählt vor allen anderen die Nahe, die idyllische, von steilen Ufern mit guten Weinlagen umsäumte kleine Schwester des Rheins. Nach Bad Kreuznach in reizender Insellage, mit malerischen Winkeln und herrlicher Stadtbrücke, nach Münster am Stein am Rheingrafenstein und der wuchtig aufsteigenden Ebernburg, dem Stammsitz des Reichsritters Franz von Sickingen, mag gehen, wem der Fremdenverkehr und die lärmende Fröhlichkeit zur Reisezeit an den Ufern des Rheins zuviel ist, oder nach Sobernheim und Kirn, Oberstein und Idar. Landschaftliche Reize, [759] treffliche Weine, alte Stadtbilder und heilkräftige Wässer bietet die Nahe nicht weniger als der Rhein.

Bad Kreuznach. Partie an der Nahe.
[691]      Bad Kreuznach. Partie an der Nahe.

Mit dem Eintritt in das Gebirge beginnt die stolze Reihe der vom Schicksal gezeichneten Burgen. Ihre zerfallenen, düster-grauen Umrisse sind nicht wegzudenken aus dem Bilde des Rheinstroms. Bei jeder Wendung des kurvenreichen Laufes tauchen neue auf: sie sind, zu Ruinen niedergebrannt, wieder ein Stück Natur geworden, bald von dichten Wäldern umrauscht, bald jähe Felsen kühn bekrönend. Wir lieben die ragenden, noch immer gewaltigen Trümmer mehr als die von bürgerlicher Romantik "stilgerecht" wieder ausgebauten Schlösser, deren es genug gibt. Man wird ihnen auch nicht gerecht, wenn man nur die Vorliebe ihrer Erbauer für die Schönheit der landschaftlichen Lage rühmt. Sie sind sehr mit Absicht im engen Tal, in schwer zugänglicher, aber leicht zu verteidigender Lage getürmt, um den Handel auf dem Strom zu beherrschen, Zoll und Tribut vom Schiffer zu erpressen. Ursprünglich war der Wasserzoll ein Privileg der vier rheinischen Kurfürsten, als Abgabe gedacht für die Freihaltung der Wasserstraße und Unterhaltung der Treidelwege. Die Eintreibung durch kleinere Herren geschah ohne Recht und ohne Gegenleistung. So sind der Mäuseturm und die Pfalz bei Caub entstanden, von den Vorbeiziehenden die Maut (Zoll) zu fordern. Die Bannbulle, die dem Gründer der Pfalz, Ludwig dem Bayern, 1327 vom Papst zuging, vermerkt ausdrücklich, "daß er einen überaus festen Turm auf der Rheininsel bei jener Burg (d. i. Caub) zu erbauen begonnen hat, um die mit dem Fluch belegten Steuern und Zölle in Zukunft noch härter eintreiben und besser verteidigen zu können". Die beiden Stromfesten liegen an den gefährlichsten Stromschnellen und Felsriffen, dem Binger Loch und dem Wilden Gefähr (zwischen Bacharach und Caub). Bis zum 13. Jahrhundert sperrte eine Felsbarre im Binger Loch für größere Schiffe die Durchfahrt. Im 18. Jahrhundert gewann man durch Sprengungen eine Rinne von 14 Metern Breite im Spiegel und 4 Metern auf der Sohle. Heute passieren die Schleppzüge in zwei nebeneinander geführten, je 100 Meter breiten Fahrrinnen die Stelle, und der einst nicht weniger als die Stromschnelle gefürchtete Mäuseturm ist zur helfenden Signalwarte geworden, von wo die Wahrschauer durch Hissen von Fahnen den Schiffern die durch Tonnen markierte freie Durchfahrt in Berg- und Talrichtung anzeigen.

Der Gefahr des Binger Loches hat das traulich gelegene Lorch sein Aufblühen zu danken gehabt, wo im ruhigen Fahrwasser die Fracht in kleinere Schiffe umgeladen oder zu Lande weiterbefördert wurde. An der Ruine der einst erzbischöflich kölnischen Burg Fürstenberg vorüber verlassen wir in Lorchhausen den letzten zum Rheingau zählenden Ort. Schräg gegenüber auf der linken Uferseite taucht Burg Stahleck (heute Jugendherberge der HJ.) und die von der Wernerkapelle überragte Stadt Bacharach auf. Schade, daß mehrere Brände das Gestade um eine Reihe schöngeschwungener altdeutscher Häuser gebracht hat; aber auch so gibt es in Bacharach noch schöne alte Winkel genug. In kühner Schlankheit strebt die gotische Wernerkapelle - auch sie Ruine - zur Höhe. Sie wurde über den Gebeinen des in Oberwesel 1287 von den in dieser [760] Gegend damals zahlreich ansässigen Juden geschächteten Knaben Werner errichtet. Der Ritualmord hat in der ganzen Gegend eine Verfolgung der Juden nach sich gezogen. Auch in Oberwesel steht eine Wernerskirche zum Gedächtnis des unglücklichen Knaben, von dem berichtet wird, die Juden hätten ihn "in einem Gewölbe am Rhein gekreuzigt, ihm das Blut abgezapft und die Leiche in den Rhein geworfen". Am Chor der ihm am Tatort von den empörten Christen geweihten Kirche findet sich ein zeitgenössisches (wenn auch überarbeitetes) Relief, das die grausige Tat darstellt.

Der Dampfer durchfährt das Wilde Gefähr und nähert sich der wie ein Kriegsschiff im Strom liegenden Pfalz bei Caub, deren mächtige um einen Innenhof gelegte Ringmauer 1607 noch durch eine Bastion verstärkt wurde. Caub hat zu der kriegerischen Vergangenheit, die ihm schon durch seine Entstehung aus einer Zollburg anhängt, im Befreiungskrieg von 1813 mit Blüchers Rheinübergang neue, allen Deutschen unvergeßliche Bedeutung erfahren. Während, um die Franzosen zu täuschen, in der Neujahrsnacht aus allen Wirtshäusern Tanzmusik erscholl, "zog siegreich an dieser Stelle, Fürst Blücher von Wahlstatt, Feldmarschall, genannt Vorwärts, mit seinen Tapfern über den Rhein zur Wiedergeburt Preußens und des deutschen Vaterlandes" - mit diesen Worten halten ein Gedenkstein und ein Denkmal die Erinnerimg an den Beginn des siegreichen Feldzuges fest. Blücher schrieb am 1. Januar 1814 seiner Frau: "Der frühe neujahrsmorgen wahr vor mich erfreudig da ich den Stoltzen Rein Passirte, die uffer ertröhnten vor Freudengeschrey, und meine braven Truppen Empfingen mich mit Jubel, der widerstand des Feindes wahr nicht bedeutendt."

Oberwesel: Unvergleichliches Bild, rebenumkränzt, von der Schönburg überragt, tapfere, mauerumwehrte Stadt, die, mit Boppard ihrer Reichsfreiheit beraubt, sich 1390/91 gegen den Trierer Erzbischof erhob und dessen Belagerung fast ein Jahr lang aushielt! Wie ein Symbol solcher Mannhaftigkeit steht der feste Turm der St. Martinskirche, ein starkes Glied in der Kette von Türmen und Mauern. Schöne Grabdenkmäler ritterlicher Geschlechter der Umgegend birgt die Pfarrkirche Unser Lieben Frauen, als schönstes das des Propstes Petrus Lutern von Hans Backofen aus Mainz.

Der Rhein bei Oberwesel.
[695]      Der Rhein bei Oberwesel.

In Nikolaus von Cues hat Oberwesel seine lichte Persönlichkeit, in Gegensatz zu dem düsteren Schicksal, das durch den Tod des Knaben Werner über seiner mittelalterlichen Vergangenheit lastet. Der seiner Zeit weit vorauseilende Gelehrte hat für die Kalenderreform gekämpft und bereits die Erkenntnis des kopernikanischen Weltsystems gehabt.

Während unser Schiff eben die engste Stelle des Mittelrheins passiert und in scharfem Knick nach Osten unter Roßstein und Kammerecke vorüberfährt, stößt ein Fels fast senkrecht gegen den Strom vor: 132 Meter hoch, in kühnem Umriß erhebt sich das Grauwackenmassiv der Lorelei. Echte und falsche Romantik, alles Weichliche versinkt vor dem Eindruck seiner urtümlichen Wucht, die dräuend, in gewaltigen Maßen, gegen alles Menschenwerk auf Straße, Schiene und Wasser steht. Die mythische, aus panischem Schrecken geborene [761] Unheimlichkeit früher Sagenbildung wird im Vorbeifahren bewußt, die aus dem Jahrhundert des Nibelungenliedes klingende Sage, daß in dem Lurlenberge (oder der Lurelei) der Hort der Nibelungen verborgen sei. Um wieviel dämonischer klingt doch Clemens Brentanos Ballade von der Lorelei als das bekannte sentimentale Lied Heines:

    Zu Bacharach am Rheine wohnt' eine Zauberin,
    Die war so schön und feine und riß viel Herzen hin,
    Und machte viel zuschanden der Männer rings umher,
    Aus ihren Liebesbanden war keine Rettung mehr!

Hingeduckt unter die Höhe begleiten die Häuser von St. Goarshausen den Strom, gegenüber liegt St. Goar. Der Burg Katz auf der einen Seite antwortet die mächtige Anlage der Rheinfels von drüben, dazwischen lag ein gefährlicher Strudel, die sogenannte Bank. Da versteht man es schon, daß gleich zwei Burgen die Durchfahrt sperrten. Sie sind im Besitz der fehdelustigen Grafen von Katzenelnbogen gewesen, deren Spuren man an vielen Orten der Gegend findet.

Schloß Rheinfels am Rhein.
[694]      Schloß Rheinfels am Rhein.

1255 haben die Grafen auf Rheinfels für ein Jahr und 14 Wochen die Belagerung des Rheinischen Städtebundes ausgehalten, der den Burgherren den Zoll entreißen wollte. 8000 Mann Fußvolk, 1000 Reiter und 50 Schiffe "vermochten sie doch nicht zu vertilgen oder zu gewinnen, mußten vielmehr nach 40 Stürmen und nach dem Verlust von vielen Leuten mit Schimpf und Spott" abziehen. Selbst angesichts der gewaltigen Befestigung setzt ein solcher Bericht in Erstaunen und verdeutlicht schlagend die Bedeutung dieser Rheinburg. Der letzte Katzenelnbogener († 1479) liegt in Eberbach begraben; die Landgrafen von Hessen sind die Erben dieses Geschlechtes gewesen, und auch die neuen Herren haben den Kriegsruhm ihrer Vorgänger an ihre Fahnen geheftet. 1692 ist es Ludwig XIV. nicht gelungen, die Burg zu nehmen. Erst 1758 kapitulierte sie, unrühmlich verteidigt, um 1797 von den Franzosen geschleift zu werden. 1843 wurde die Ruine von dem späteren Kaiser Wilhelm I. erworben.

Mit der Romantik ist neues fröhlich-geselliges Leben in das schöne St. Goar eingezogen. Freiligrath und Geibel, Hoffmann von Fallersleben, Justinus Kerner und Willibald Alexis haben sich in St. Goar ein Stelldichein gegeben. Im Herbst 1843 schrieb Ferdinand Freiligrath in das Gästebuch des "Goldenen Löwen" diese Verse zum Abschied:

    Fahrwohl, von Walnußbäumen
    Umrauscht, St. Goar.
    Das war ein süßes Träumen
    In deinem Schoß fürwahr.
    Wie oft im Tal der Gründel
    Ward mir die Lust Gesang,
    Wenn die kristall'ne Spindel
    Der Wasserfei erklang.

Abschiednehmend mag man meinen, nun den romantischen Rhein zu kennen. Und dennoch: Bornhofen mit der trutzigen Burgengruppe der Feindlichen Brüder, das am Beginn einer neuen, weit ausholenden Stromwindung gelegene Boppard sind neue, überraschende Eindrücke. Wunderbar eingeschmiegt [762] liegt dieser Ort, über dem man von den grünen Höhen auf die Schleifen des Rheins wie auf vier Seen herabblickt.

Am Ausgang dieses Abschnittes fängt majestätisch, die offene Landschaft krönend, der auf 170 Meter hoher Bergkuppe zu einer Höhe von 25 Metern emporragende Bergfried der Marksburg über Braubach den Blick. Seit dem 13. Jahrhundert saßen auch auf dieser wahrhaft königlich herrschenden Burg die Grafen von Katzenelnbogen. Die Befestigung, durch ein "Gebück" verstärkt, griff den Ort Braubach mit ein.

Versinnbildlicht diese Burg noch heute durch die Kraft ihrer Erscheinung die ritterliche Zwingherrschaft, die auf der kurzen Strecke des Mittelrheins so greifbar lebendig wird, so drängt sich in Rhens die ganze Tragweite, Größe und Tragik unserer deutschen Kaisergeschichte zusammen. Hier, wo die Besitztümer von Köln, Mainz, Trier und Kurpfalz nahe beieinander gelegen waren, haben die Großen des Reiches deutsche Könige gewählt. Nach dem alten Sachsenspiegel kam den rheinischen Erzbischöfen das vornehmste Amt bei dieser Handlung zu. Hier in Rhens gaben die Fürsten nach dem Tode Heinrichs VII. 1314 das traurige Beispiel einer aus parlamentarischer Schwäche und eigennützigem Partikularismus geborenen Doppelwahl, hier aber auch hat der Rhenser Kurverein 1338 das fürstliche Selbstbestimmungsrecht gegen päpstliche Bevormundung proklamiert, in Rhens haben die Kurfürsten den der Krone unwürdigen König Wenzel für abgesetzt erklärt. Die Wackelburg im Ort und der (neu errichtete) Königsstuhl zehn Minuten vor Rhens erinnern an die denkwürdigen Taten. Der alte Königsstuhl ist 1794 von den Franzosen zerstört worden.

So dringen, während unser Schiff sich der Lahnmündung bei Ober- und Niederlahnstein nähert, geschichtliche Erinnerungen von tragischer Wucht auf uns ein. Sieg und Schmach, deutsches Schicksal, deutsches Herzblut seit Karl dem Großen bis in unsere Tage umschließen die strahlende Schönheit unseres heiß umkämpften, heiß geliebten Rheins. Seine Schönheit ist nicht bloß ein Geschenk der Natur, mit Augen schaubar, sie quillt aus unserem Herzen, auch des Deutschen, der den Rhein noch nie mit Augen sah. Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze: in den grünen Auen des Rheingaues, in dem felsgrauen Steiltal des Mittelrheins ist solches Bekenntnis unvergeßliches Erleben.

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Deutsches Land: Das Buch von Volk und Heimat, das Kapitel "Das Rheinland".

Das Buch der deutschen Heimat
Hermann Goern, Georg Hoeltje, Eberhard Lutze und Max Wocke