[755]
Süddeutschland - Eberhard Lutze
Im Rheingau und am
Mittelrhein
Heinrich von Kleist
hat unter dem frischen Eindruck einer Rheinreise im Mai
1801 in einem Briefe die Stärke dieses Erlebens zum Ausdruck gebracht:
"Der schönste Landstrich von Deutschland, an welchem unser
größter Gärtner sichtbar con amore gearbeitet
hat, sind die Ufer des Rheines von Mainz bis Coblenz, die wir auf dem Strome
selbst bereiset haben. Das ist eine Gegend, wie ein Dichtertraum, und die
üppigste Phantasie kann nichts Schöneres erdenken als dieses Tal,
das sich bald öffnet, bald schließt, bald blüht, bald öde
ist, bald lacht, bald schreckt." Man glaubt in der Tat zwei sehr verschiedene
Ströme vor sich zu haben, wenn man die weingrüne, offene,
sonnendurchglühte Rheingaulandschaft und die enge, felsengefaßte,
die schönste Rheinstrecke im Sinne der Romantik zwischen Bingen und der
Lahnmündung nacheinander genießt.
Von dem Dörfchen Nieder-Walluf an der Mündung des Baches
Walluf bis zum Städtchen Lorch am Einfluß der Wisper dehnt sich
der Rheingau, dessen südlichster Punkt, Bingen mit der
Nahemündung, dem mächtig vorstoßenden und den Strom in
Nordwestrichtung drängenden Rheingaugebirge gegenüberliegt.
Eigenartig und seltsam wie das Gesicht dieser Landschaft ist ihre Geschichte. Wie
die berühmtesten Weine der ganzen Welt aus diesem kleinen gesegneten
Landstrich kommen, wie hier Sonne und Gestein und Menschen am
glücklichsten zur Züchtung der edelsten Gewächse
abgestimmt zu sein scheinen, so eifersüchtig war der Gau von jeher darauf
bedacht, seine Freiheit und Selbständigkeit nach außen, seine
Geschlossenheit nach innen zu wahren. Die Kultur des reichen Weinsegens hat es
bewirkt, daß sich 60 Adelsgeschlechter und 12 Klöster,
daß sich außer den stadtartigen Dörfern 20 Burgen
miteinander vertragen haben, daß erzbischöfliche Ansprüche
von Mainz, daß Orden und weltliche Herren diesen Gau zuschlossen wie ein
Haus und ihn nach außen zu einer einzigen Burg machten. Eine
undurchdringliche, natürliche Wehr, das aus Baumzweigen und Buschwerk
zusammengeflochtene "Gebück", über dessen Unantastbarkeit ein
eigenes Haingericht wachte, umgab einst den Rheingau. Wie dieser Schutz waren
auch "Wald, Weide, Wasser, Weg und Steg" Gemeinrecht, hütete die
Gemeinschaft aller nutznießenden Stände Durchführung,
Beginn und Ende der Weinlese und die Dauer des Arbeitstages; altgermanische
Feldgemeinschaft hat in dieser Landschaft am Rhein, die alle Gaben des von
unseren Vorfahren immer wieder heißersehnten Südens in
verschwendendem Reichtum bescherte, durch das ganze Mittelalter hindurch
lebendig weitergelebt. 1631 wurde das Gebück zum ersten Male
durchbrochen und nach und nach der Ausrodung preisgegeben. Die festen
Schlösser sind verfallen, die alte Freiheit des Gaues hat längst ihren
politischen Sinn verloren, und doch haben sich noch Reste jener alten
Gemeinrechte und ‑bräuche im rheingauischen Volksleben erhalten,
dessen stolzestes Sonderrecht in dem Spruch gipfelt: "Im Rheingau macht die Luft
frei."
[756] Wir lassen Mainz
hinter uns und Wiesbaden, die beiden Städte, die den Segen des Gaues in
städtischer Fülle bergen, Mainz als Handelsplatz, Wiesbaden in
herrlicher Lage, als Weltbad am Fuße des Taunus, von wo täglich die
Autobusse die zur Kur weilenden Fremden in die Waldeshöhen und
Talgaue hinausfahren. Südlich des Taunusbades Schlangenbad fällt
die Landschaft, der Wallufbach rauscht zu Tal, mit ihm in paralleler
Äderung sechs andere Bäche. Die ganze schimmernde
Schönheit des Rheingaues öffnet sich, dunstig in feuchtem Schleier,
der auch an heißen Tagen von der Wasserfläche emporsteigt. Fern im
Südosten, von Rauchfahnen umwölkt, Mainz mit den Wahrzeichen
der Domtürme, weiter drunten, in genauer Südachse, die Hauptstadt
des Rheingaukreises, Eltville; im Westen steigen die grauen kahlen
Felsen bei Rüdesheim empor. In majestätischer Ruhe, in feenhafter
Breite - bis zu 1000 Metern
breit - zieht der Rhein seines Weges, dessen Strömung man kaum
inne wird. Flimmernd liegt sein Spiegel, grüne Eilande silbrig umfangend,
von schreienden Möwen und einfallenden Wildenten überflogen.
Behäbig keuchen gewaltige Schiffszüge in
Berg- und Talfahrt auf der breiten Fahrrinne dahin; Flaggen vieler
europäischer Länder wehen von ihren Masten über diese
deutsche Landschaft.
Wellig steigt und fällt die Hanglandschaft, von Walluf aus wie ein riesiges
Amphitheater der Südsonne entgegengebreitet, auf dem Rücken der
Höhen von dunklen Laubwäldern gegen schädliche Winde
geschützt. So glüht der Schieferboden unter der Sonne, deren
Strahlen vom Spiegel des Stromes doppelt und dreifach zurückgeworfen
werden. Überall wächst Wein, ein in Jahrhunderten veredelter
Riesling, der Nachkomme der einst wild im Rheingau wachsenden Rebe, der man
seit nicht viel mehr als hundert Jahren die höchste Leistung der edlen und
feurigen Ausleseweine abzugewinnen weiß. Der Wein ist der Lebensinhalt
von Land und Leuten, die lieber nach Weinjahren als nach Kalenderjahren zu
rechnen gewohnt sind. Wir wissen, daß schon die Franken die begnadete
Lage für den Weinbau ausnutzten, von kundigen Mönchen
wohlberaten. Die Sage aber läßt Karl den Großen die Reben
segnen. In seiner Pfalz zu Saalburg bei Oberingelheim auf der jenseitigen
Stromseite habe er, auf der Höhe des Söllers die Aussicht
genießend, bemerkt, daß nirgends die Schneeschmelze früher
und schneller begönne als am Rüdesheimer Berg, worauf er die
Bestockung mit Reben versucht habe. Auch zwei Heilige helfen den Winzern, der
mit Wein taufende Hl. Goar, dessen von Karl dem Großen
geschenktes Faß nie leer wurde, und St. Theonest, der auf einer
Weinkufe den Rhein entlangschwamm, bei Caub landete und dort nach der
Legende die ersten Reben pflanzte.
Das liebliche Rauenthal liegt inmitten des Weingebietes, über
dem ein schwerer Duft von Fruchtbarkeit und Sonne zu blühen scheint. Auf
halbem Wege nach Eltville - weltbekannt durch seine
Sektkellereien - liegt Kiedrich, mit seiner
St. Valentinuskirche und der zierlichen St. Michaelskapelle inmitten
der Weinberge eine Perle gotischer Baukunst am Rhein. Im Kloster
Eberbach stehen wir nicht nur an einem Hauptweinort, wo die
Preußische Staats- [757] domäne ihre
großen Auktionen abhält und man den Steinberger Cabinett in
einladender Gaststätte proben kann, sondern in dem wichtigsten
Kulturmittelpunkt der Landschaft überhaupt. Eberbach ist eine
Zisterzienserniederlassung, deren herbe dreischiffige romanische Kirche
kürzlich wieder in würdigen Zustand versetzt wurde. Die noch gut
erhaltenen Baulichkeiten, das herrliche Refektorium, ein schöner
Barocksaal, ein weihevoller stiller Klostergarten geben eine anschauliche
Vorstellung von der Bedeutung der Niederlassung. Seit 1135 von den
Zisterziensern bezogen, stand Eberbach bereits hundert Jahre später an
erster Stelle unter allen deutschen Gründungen dieses Ordens.
Zollfreiheiten halfen dem Weinhandel zu stolzer Blüte, Klosterschiffe
trugen die Erträgnisse des 250 Hektar großen, von einer
1100 Meter langen Mauer umhegten Steinberges in eine eigene
Niederlassung nach Köln.
Weit grüßt im Westen auf gedrungenem Hügel Schloß
Johannisberg ins Land, an Größe und Güte des
Ertrages dem Eberbacher Steinberg ebenbürtig und wie dieses Kloster
geistlichen Ursprungs. Doch scheint das um 1100 dem Hl. Johannes
geweihte Benediktinerkloster weniger vom weinspendenden St. Goar
begünstigt gewesen zu sein, da es 1563 verschuldet aufgelassen werden
mußte. Nach häufigen Besitzerwechseln, in denen sich ein Ausschnitt
des Kampfes um den Rhein widerspiegelt, wurde das Weingut, auf dem damals
das prunkende Schloß des Fuldaer Fürstbischofs von Johann
Dientzenhofer noch ohne den schädigenden Umbau des vorigen
Jahrhunderts stand, im Wiener
Kongreß 1815 dem Kaiser von
Österreich zugesprochen, der es seinerseits dem Fürsten Metternich
zu Lehen gab. Seither muß jährlich der Zehnt des Weinertrages an die
österreichische Krone abgeliefert werden, und unbeschadet aller politischen
und dynastischen Wandlungen geht wie zur Zeit des Kongresses nach wie vor die
jährliche Abgabe an das Haus Habsburg: Kaiserin Zita ist die
glückliche Erbin.
Wenn man auf derartig geschichtlichem Boden von der Schloßterrasse in
das Land blickt und sich seiner edlen Gabe im Glase freut, bleiben auch im
Genuß die Mächte der Geschichte bewußt, die nahe dem Rhein
von der Gegenwart zu allen Epochen unseres deutschen Schicksals
zurücklaufen.
Eine Stunde abwärts, unmittelbar am Ufer liegt Winkel, ein
gemütliches Stadtbild, mit seinem anziehenden Gasthaus "Schwan".
Rabanus Maurus, der erste Abt des von Karl dem Großen
gegründeten Benediktinerstiftes Fulda und Erzbischof von Mainz,
schloß 856 in Winkel die Augen. Wenn die Tradition recht hat, so
beherbergt sein Sterbeort in dem auf Rabanus zurückgeführten
steinernen "Grauen Haus" das älteste Wohnhaus, das wir in Deutschland
kennen.
Die Familie des Dichters Clemens Brentano
hat in Winkel ihren Sitz; noch heute
wohnen Brentanos dort. Karoline von Günderode, die
schwärmerische Freundin der Bettina Brentano, suchte am Gestade von
Winkel in den Fluten des Rheins den Tod. Die Geschichte dieser
unglücklich Verliebten und ein Besuch bei Bettina im Jahre 1815 gaben
Goethe
die Anregung zu seinen "Wahlverwandtschaften".
[758] Langsam,
zunächst kaum merklich, dann unverkennbar wandelt sich das
Landschaftsbild. Wir nähern uns dem Binger Loch, in dessen Mitte der
Mäuseturm des Bischofs Hatto, überragt von Burg Ehrenfels, von
den ungestümen Fluten umbrandet wird. Dort, wo sich
Rüdesheim und Bingen schräg
gegenüberliegen, silbrig-grau an den nackten Felsen gelehnt dieses, die
Ufer der Nahemündung begleitend jenes, dort beginnt der gebirgige Rhein.
Eingekeilt zwischen den Schieferfelsen wogt und schießt das brodelnde
Wasser - nur noch 300 Meter breit -, das eben im breiten Bett
noch so ruhig schien, hinein in den Abschnitt seines Laufes, der wie keiner ob
seiner Schönheit in aller Welt besungen ist. In ständiger,
langwieriger Durchbruchsarbeit hat der Strom den Schiefer durchstoßen;
sein Spiegel lag ursprünglich einmal auf der Höhe der Ufer. Deren
Kamm hat sich einst nicht von der Hochfläche abgehoben, unter der der
Rhein in seinem heutigen Einschnitt tief drunten dahinströmt.
Es ist geweihter Boden, den wir im Aufstieg oberhalb Rüdesheims betreten.
Das Hildegardiskloster erinnert an die Hl. Hildegard von Bingen, eine der
bedeutendsten Frauen des deutschen Mittelalters, die im Kloster am Rupertusberg
in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts ihre ekstatischen Visionen
erlebte und ihnen dichterische Form gab.
300 Meter über dem Strom steht auf dem Niederwald das Nationaldenkmal
"zum Andenken an die einmütige siegreiche Erhebung des deutschen
Volkes und an die Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches 1870/71". Auch
wenn die akademisch gleichgültige, aus Kanonenmetall gegossene
Germania als Denkmal versagt, auch wenn sie viel zu klein ist, um sich als
Einzelfigur in der Größe dieser Landschaft irgendwie durchzusetzen,
so begeistert doch der Blick von hier oben auf den deutschen Rhein, unweit der
von den Franzosen zerstörten Lieblingspfalz Karls des Großen in
Ingelheim, des Gründers des Ersten Reiches.
[690]
Bad Münster am Stein. Salinen.
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Der Abstieg führt nach Aßmannshausen, wo man beim
ruhigen oder spritzigen Aßmannshäuser Roten zum ersten Male all
den Zauber erlebt, der nun einmal die Rheinromantik umgibt, allerdings auch die
Verkitschung, die seit der Vorliebe des vorigen Jahrhunderts für diese
Gegend um sich gegriffen hat, nicht zuletzt durch mäßige Musik,
süßliche Operetten und Filmsentimentalitäten.
Man vergißt aber all das kleinliche Drum und Dran, das Dampfschiffahrt,
Eisenbahn, Autostraße und häßliche Einbauten der gewaltigen
Natur aufgezwungen hat, wenn man einmal den Dampfer verläßt und
auf den Höhen wandert, von hier aus in die schönen alten Nester und
Burgen einfällt und auch die Nebentäler nicht ausläßt.
Dazu zählt vor allen anderen die Nahe, die idyllische, von steilen
Ufern mit guten Weinlagen umsäumte kleine Schwester des Rheins. Nach
Bad Kreuznach in reizender Insellage, mit malerischen Winkeln
und herrlicher Stadtbrücke, nach Münster am Stein am
Rheingrafenstein und der wuchtig aufsteigenden Ebernburg, dem Stammsitz des
Reichsritters Franz von Sickingen,
mag gehen, wem der Fremdenverkehr und die
lärmende Fröhlichkeit zur Reisezeit an den Ufern des Rheins zuviel
ist, oder nach Sobernheim und Kirn, Oberstein und
Idar. Landschaftliche Reize, [759] treffliche Weine, alte
Stadtbilder und heilkräftige Wässer bietet die Nahe nicht weniger als
der Rhein.
[691]
Bad Kreuznach. Partie an der Nahe.
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Mit dem Eintritt in das Gebirge beginnt die stolze Reihe der vom Schicksal
gezeichneten Burgen. Ihre zerfallenen,
düster-grauen Umrisse sind nicht wegzudenken aus dem Bilde des
Rheinstroms. Bei jeder Wendung des kurvenreichen Laufes tauchen neue auf: sie
sind, zu Ruinen niedergebrannt, wieder ein Stück Natur geworden, bald von
dichten Wäldern umrauscht, bald jähe Felsen kühn
bekrönend. Wir lieben die ragenden, noch immer gewaltigen
Trümmer mehr als die von bürgerlicher Romantik "stilgerecht"
wieder ausgebauten Schlösser, deren es genug gibt. Man wird ihnen auch
nicht gerecht, wenn man nur die Vorliebe ihrer Erbauer für die
Schönheit der landschaftlichen Lage rühmt. Sie sind sehr mit Absicht
im engen Tal, in schwer zugänglicher, aber leicht zu verteidigender Lage
getürmt, um den Handel auf dem Strom zu beherrschen, Zoll und Tribut
vom Schiffer zu erpressen. Ursprünglich war der Wasserzoll ein Privileg
der vier rheinischen Kurfürsten, als Abgabe gedacht für die
Freihaltung der Wasserstraße und Unterhaltung der Treidelwege. Die
Eintreibung durch kleinere Herren geschah ohne Recht und ohne Gegenleistung.
So sind der Mäuseturm und die Pfalz bei Caub entstanden, von den
Vorbeiziehenden die Maut (Zoll) zu fordern. Die Bannbulle, die dem
Gründer der Pfalz, Ludwig dem Bayern, 1327 vom Papst zuging, vermerkt
ausdrücklich, "daß er einen überaus festen Turm auf der
Rheininsel bei jener Burg (d. i. Caub) zu erbauen begonnen hat, um
die mit dem Fluch belegten Steuern und Zölle in Zukunft noch härter
eintreiben und besser verteidigen zu können". Die beiden Stromfesten
liegen an den gefährlichsten Stromschnellen und Felsriffen, dem Binger
Loch und dem Wilden Gefähr (zwischen Bacharach und Caub). Bis zum
13. Jahrhundert sperrte eine Felsbarre im Binger Loch für
größere Schiffe die Durchfahrt. Im 18. Jahrhundert gewann
man durch Sprengungen eine Rinne von 14 Metern Breite im Spiegel und
4 Metern auf der Sohle. Heute passieren die Schleppzüge in zwei
nebeneinander geführten, je 100 Meter breiten Fahrrinnen die Stelle,
und der einst nicht weniger als die Stromschnelle gefürchtete
Mäuseturm ist zur helfenden Signalwarte geworden, von wo die
Wahrschauer durch Hissen von Fahnen den Schiffern die durch Tonnen markierte
freie Durchfahrt in Berg- und Talrichtung anzeigen.
Der Gefahr des Binger Loches hat das traulich gelegene Lorch sein
Aufblühen zu danken gehabt, wo im ruhigen Fahrwasser die Fracht in
kleinere Schiffe umgeladen oder zu Lande weiterbefördert wurde. An der
Ruine der einst erzbischöflich kölnischen Burg Fürstenberg
vorüber verlassen wir in Lorchhausen den letzten zum Rheingau
zählenden Ort. Schräg gegenüber auf der linken Uferseite
taucht Burg Stahleck (heute Jugendherberge der HJ.) und die von der
Wernerkapelle überragte Stadt Bacharach auf. Schade, daß
mehrere Brände das Gestade um eine Reihe schöngeschwungener
altdeutscher Häuser gebracht hat; aber auch so gibt es in Bacharach noch
schöne alte Winkel genug. In kühner Schlankheit strebt die gotische
Wernerkapelle - auch sie
Ruine - zur Höhe. Sie wurde über den Gebeinen des in
Oberwesel 1287 von den in dieser [760] Gegend damals
zahlreich ansässigen Juden geschächteten Knaben Werner errichtet.
Der Ritualmord hat in der ganzen Gegend eine Verfolgung der Juden nach sich
gezogen. Auch in Oberwesel steht eine Wernerskirche zum Gedächtnis des
unglücklichen Knaben, von dem berichtet wird, die Juden hätten ihn
"in einem Gewölbe am Rhein gekreuzigt, ihm das Blut abgezapft und die
Leiche in den Rhein geworfen". Am Chor der ihm am Tatort von den
empörten Christen geweihten Kirche findet sich ein zeitgenössisches
(wenn auch überarbeitetes) Relief, das die grausige Tat darstellt.
Der Dampfer durchfährt das Wilde Gefähr und nähert sich der
wie ein Kriegsschiff im Strom liegenden Pfalz bei Caub, deren
mächtige um einen Innenhof gelegte Ringmauer 1607 noch durch eine
Bastion verstärkt wurde. Caub hat zu der kriegerischen Vergangenheit, die
ihm schon durch seine Entstehung aus einer Zollburg anhängt, im
Befreiungskrieg von 1813 mit Blüchers
Rheinübergang neue, allen
Deutschen unvergeßliche Bedeutung erfahren. Während, um die
Franzosen zu täuschen, in der Neujahrsnacht aus allen Wirtshäusern
Tanzmusik erscholl, "zog siegreich an dieser Stelle, Fürst Blücher
von Wahlstatt, Feldmarschall, genannt Vorwärts, mit seinen Tapfern
über den Rhein zur Wiedergeburt Preußens und des deutschen
Vaterlandes" - mit diesen Worten halten ein Gedenkstein und ein Denkmal
die Erinnerimg an den Beginn des siegreichen Feldzuges fest. Blücher
schrieb am 1. Januar 1814 seiner Frau: "Der frühe neujahrsmorgen wahr
vor mich erfreudig da ich den Stoltzen Rein Passirte, die uffer ertröhnten
vor Freudengeschrey, und meine braven Truppen Empfingen mich mit Jubel, der
widerstand des Feindes wahr nicht bedeutendt."
Oberwesel: Unvergleichliches Bild, rebenumkränzt, von der
Schönburg überragt, tapfere, mauerumwehrte Stadt, die, mit Boppard
ihrer Reichsfreiheit beraubt, sich 1390/91 gegen den Trierer Erzbischof erhob und
dessen Belagerung fast ein Jahr lang aushielt! Wie ein Symbol solcher
Mannhaftigkeit steht der feste Turm der St. Martinskirche, ein starkes
Glied in der Kette von Türmen und Mauern. Schöne
Grabdenkmäler ritterlicher Geschlechter der Umgegend birgt die
Pfarrkirche Unser Lieben Frauen, als schönstes das des Propstes Petrus
Lutern von Hans Backofen aus Mainz.
[695]
Der Rhein bei Oberwesel.
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In Nikolaus von Cues hat
Oberwesel seine lichte Persönlichkeit, in
Gegensatz zu dem düsteren Schicksal, das durch den Tod des Knaben
Werner über seiner mittelalterlichen Vergangenheit lastet. Der seiner Zeit
weit vorauseilende Gelehrte hat für die Kalenderreform gekämpft
und bereits die Erkenntnis des kopernikanischen Weltsystems gehabt.
Während unser Schiff eben die engste Stelle des Mittelrheins passiert und
in scharfem Knick nach Osten unter Roßstein und Kammerecke
vorüberfährt, stößt ein Fels fast senkrecht gegen den
Strom vor: 132 Meter hoch, in kühnem Umriß erhebt sich das
Grauwackenmassiv der Lorelei. Echte und falsche Romantik, alles
Weichliche versinkt vor dem Eindruck seiner urtümlichen Wucht, die
dräuend, in gewaltigen Maßen, gegen alles Menschenwerk auf
Straße, Schiene und Wasser steht. Die mythische, aus panischem Schrecken
geborene [761] Unheimlichkeit
früher Sagenbildung wird im Vorbeifahren bewußt, die aus dem
Jahrhundert des Nibelungenliedes
klingende Sage, daß in dem Lurlenberge
(oder der Lurelei) der Hort der Nibelungen verborgen sei. Um wieviel
dämonischer klingt doch Clemens Brentanos Ballade von der Lorelei als
das bekannte sentimentale Lied Heines:
Zu Bacharach am Rheine wohnt' eine Zauberin,
Die war so schön und feine und riß viel Herzen hin,
Und machte viel zuschanden der Männer rings umher,
Aus ihren Liebesbanden war keine Rettung mehr!
Hingeduckt unter die Höhe begleiten die Häuser von
St. Goarshausen den Strom, gegenüber liegt
St. Goar. Der Burg Katz auf der einen Seite antwortet die
mächtige Anlage der Rheinfels von drüben, dazwischen lag ein
gefährlicher Strudel, die sogenannte Bank. Da versteht man es schon,
daß gleich zwei Burgen die Durchfahrt sperrten. Sie sind im Besitz der
fehdelustigen Grafen von Katzenelnbogen gewesen, deren Spuren man an vielen
Orten der Gegend findet.
[694]
Schloß Rheinfels am Rhein.
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1255 haben die Grafen auf Rheinfels für ein Jahr
und 14 Wochen die Belagerung des Rheinischen Städtebundes
ausgehalten, der den Burgherren den Zoll entreißen wollte.
8000 Mann Fußvolk, 1000 Reiter und 50 Schiffe
"vermochten sie doch nicht zu vertilgen oder zu gewinnen, mußten
vielmehr nach 40 Stürmen und nach dem Verlust von vielen Leuten
mit Schimpf und Spott" abziehen. Selbst angesichts der gewaltigen Befestigung
setzt ein solcher Bericht in Erstaunen und verdeutlicht schlagend die Bedeutung
dieser Rheinburg. Der letzte Katzenelnbogener († 1479) liegt in
Eberbach begraben; die Landgrafen von Hessen sind die Erben dieses
Geschlechtes gewesen, und auch die neuen Herren haben den Kriegsruhm ihrer
Vorgänger an ihre Fahnen geheftet. 1692 ist es Ludwig XIV. nicht
gelungen, die Burg zu nehmen. Erst 1758 kapitulierte sie, unrühmlich
verteidigt, um 1797 von den Franzosen geschleift zu werden. 1843 wurde die
Ruine von dem späteren Kaiser Wilhelm I. erworben.
Mit der Romantik ist neues fröhlich-geselliges Leben in das schöne
St. Goar eingezogen. Freiligrath und Geibel, Hoffmann von Fallersleben,
Justinus Kerner und Willibald Alexis haben sich in St. Goar ein
Stelldichein gegeben. Im Herbst 1843 schrieb Ferdinand Freiligrath in das
Gästebuch des "Goldenen Löwen" diese Verse zum Abschied:
Fahrwohl, von Walnußbäumen
Umrauscht, St. Goar.
Das war ein süßes Träumen
In deinem Schoß fürwahr.
Wie oft im Tal der Gründel
Ward mir die Lust Gesang,
Wenn die kristall'ne Spindel
Der Wasserfei erklang.
Abschiednehmend mag man meinen, nun den romantischen Rhein zu kennen.
Und dennoch: Bornhofen mit der trutzigen Burgengruppe der
Feindlichen Brüder, das am Beginn einer neuen, weit ausholenden
Stromwindung gelegene Boppard sind neue, überraschende
Eindrücke. Wunderbar eingeschmiegt [762] liegt dieser Ort,
über dem man von den grünen Höhen auf die Schleifen des
Rheins wie auf vier Seen herabblickt.
Am Ausgang dieses Abschnittes fängt majestätisch, die offene
Landschaft krönend, der auf 170 Meter hoher Bergkuppe zu einer
Höhe von 25 Metern emporragende Bergfried der Marksburg
über Braubach den Blick. Seit dem 13. Jahrhundert
saßen auch auf dieser wahrhaft königlich herrschenden Burg die
Grafen von Katzenelnbogen. Die Befestigung, durch ein "Gebück"
verstärkt, griff den Ort Braubach mit ein.
Versinnbildlicht diese Burg noch heute durch die Kraft ihrer Erscheinung die
ritterliche Zwingherrschaft, die auf der kurzen Strecke des Mittelrheins so greifbar
lebendig wird, so drängt sich in Rhens die ganze Tragweite,
Größe und Tragik unserer deutschen Kaisergeschichte zusammen.
Hier, wo die Besitztümer von Köln, Mainz, Trier und Kurpfalz nahe
beieinander gelegen waren, haben die Großen des Reiches deutsche
Könige gewählt. Nach dem alten Sachsenspiegel kam den
rheinischen Erzbischöfen das vornehmste Amt bei dieser Handlung zu. Hier
in Rhens gaben die Fürsten nach dem Tode Heinrichs VII. 1314 das
traurige Beispiel einer aus parlamentarischer Schwäche und
eigennützigem Partikularismus geborenen Doppelwahl, hier aber auch hat
der Rhenser Kurverein 1338 das fürstliche Selbstbestimmungsrecht gegen
päpstliche Bevormundung proklamiert, in Rhens haben die
Kurfürsten den der Krone unwürdigen König Wenzel
für abgesetzt erklärt. Die Wackelburg im Ort und der (neu errichtete)
Königsstuhl zehn Minuten vor Rhens erinnern an die denkwürdigen
Taten. Der alte Königsstuhl ist 1794 von den Franzosen zerstört
worden.
So dringen, während unser Schiff sich der Lahnmündung bei
Ober- und Niederlahnstein nähert, geschichtliche Erinnerungen von
tragischer Wucht auf uns ein. Sieg und Schmach, deutsches Schicksal, deutsches
Herzblut seit Karl dem Großen bis in unsere Tage umschließen die
strahlende Schönheit unseres heiß umkämpften, heiß
geliebten Rheins. Seine Schönheit ist nicht bloß ein Geschenk der
Natur, mit Augen schaubar, sie quillt aus unserem Herzen, auch des Deutschen,
der den Rhein noch nie mit Augen sah. Deutschlands Strom, nicht Deutschlands
Grenze: in den grünen Auen des Rheingaues, in dem felsgrauen Steiltal des
Mittelrheins ist solches Bekenntnis unvergeßliches Erleben.
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