III. 1. Im Schatten des Nichtangriffspaktes (26. 1. 34 - 14. 7. 37) (Teil 5) o) Die Änderung der Wojewodschaftsgrenzen und das Grenzzonengesetz Am 23. 6. 1937 beschlossen Sejm und Senat eine Maßnahme, die das angeblich so bedrohte Polentum in Westpreußen stärken und somit indirekt dem Deutschtum dieses Gebietes abträglich sein sollte: die Änderung der Wojewodschaftsgrenzen, die mit dem 1. 4. 1938 in Kraft trat. Von der Wojewodschaft Posen wurden die Kreise Wirsitz, Schubin, Bromberg und Hohensalza, von der Wojewodschaft Warschau die Kreise Rypin (Rippin), Lipno (Leipe), Nessau (Nieszawa) und Leslau (Wlozlawek) abgetrennt und Pommerellen zugeteilt. Die Wojewodschaft Posen wurde mit den Lodzer Landkreisen: Kalisch, Turek, Konin und Kolo entschädigt. Pommerellen wurde dadurch bevölkerungsmässig und wirtschaftlich wesentlich verstärkt, dagegen war die volkstumsmäßige Stärkung illusorisch. Daß die von Posen abgetrennten Kreise keinen geringeren deutschen Prozentsatz als Pommerellen aufwiesen, ging auch aus der polnischen Volkszählung hervor. Trotzdem wurde die Grenzänderung schon jetzt bei ihrer Beschließung und dann beim [254] Inkrafttreten als "Ereignis von größter Tragweite" für das Polentum in Pommerellen gefeiert, allem Anschein nach deshalb, weil man sich von den von der Wojewodschaft Warschau abgetrennten Kreisen eine Verstärkung des polnischen Elementes erhoffte. Dabei hatten sich in diesen vier Kreisen sogar bei der Volkszählung 1931 8% der Bevölkerung zur deutschen Muttersprache bekannt (37272 bei einer Gesamtbevölkerung von 456800), in Pommerellen 9,8%. Nach deutschen Berechnungen machte aber das Deutschtum in diesen vier Kreisen mindestens 9% aus, die gerade im ersten Halbjahr stattgefundenen Kirchenwahlen hatten die deutschen Ermittlungen mehr als erhärtet. Der Deutschenanteil Pommerellens wurde also durch die Grenzänderung gar nicht geschwächt. Die Polen wurden hier wieder einmal Opfer ihrer eigenen Volkszählungsmethoden. Da die von Lodz abgetrennten und Posen zugeteilten Kreise gleichfalls ein stattliches Deutschtum aufwiesen, wurden durch diese Grenzänderung etwa 85000 bis 88000 Deutsche Mittelpolens den Westwojewodschaften zugeteilt und konnten nun von einigen kulturellen und wirtschaftlichen, in Mittelpolen nicht zugelassenen deutschen Organisationen betreut werden.
Darüber hinaus wurden bei
dieser Gelegenheit die beim Zusammenwachsen der Volksgruppe zuweilen noch
als hinderlich angesehenen Teilgebietsgrenzen niedergerissen, so daß diese
Maßnahme vom Standpunkt des Deutschtums aus nur begrüßt
werden konnte.58 Allerdings hat sie sich in den
anderthalb in Frage kommenden Jahren nicht mehr auswirken können.
Desto nachteiliger sollte sich ein anderes, Anfang 1937 beschlossenes, am 1. 7.
1937 in Kraft getretenes Gesetz für die Volksgruppe
auswirken - das Grenzzonengesetz, das, wie in Teil II bereits
ausgeführt, Ausnahmebestimmungen für einen breiten,
willkürlich noch zu erweiternden Grenzstreifen [255] brachte und vor allem jeglichen
Grundstückverkehr, sogar im Erbgange, von behördlichen
Genehmigungen abhängig machte. Die Handhabung dieses Gesetzes zeigte,
daß die Behörden gewillt waren, durch rücksichtslose
Ausnutzung der darin enthaltenen Möglichkeiten spätestens
innerhalb einer Generation den deutschen Grundbesitz in
Posen-Westpreußen in polnische Hände zu bringen.
p) Der Kensauer Prozess in Konitz Im Juli 1937 wurde das Deutschtum Posen-Westpreussens durch den in Konitz verhandelten sogen. Kensauer Prozess erschüttert. Der Hauptvorstand der DV hatte auf dem durch die Parzellierung sehr in Mitleidenschaft gezogenen Restgut der Schwestern Wehr in Kensau, Kr. Tuchel, einen landwirtschaftlichen Arbeitsdienst durchgeführt, einen Teil des Gutsparkes in anbaufähiges Gartenland verwandelt und so zu der Intensivierung und der notwendig gewordenen Umstellung des Gutes beigetragen. Gleichzeitig war mit den beteiligten Jugendlichen politische Schulungsarbeit getrieben und deutsches Gemeinschaftsleben geführt worden. Die Aktion war angemeldet, trotzdem wurden am 22. 4. 1937 die Teilnehmer verhaftet und nach mehrmonatiger Haft am 6. 7. in Konitz vor Gericht gestellt. Den Angeklagten wurde vorgeworfen, die politische Aufklärung wäre in einem vor den Aufsichtsbehörden geheimgehaltenen, für den polnischen Staat ungünstigen Sinne erfolgt. Der betriebene Sport wurde als militärische Übungen, eine abgehaltene Feier als staatsfeindliche Verschwörung hingestellt. Bei den Teilnehmern vorgefundene, in Polen nicht verbotene Bücher wurden als Ausdruck der "revisionistischen" Gesinnung angesehen und in der ganzen Aktion eine Gefährdung der Sicherheit erblickt. Auf diese Weise wurden zwanzig Angeklagte zu Gefängnisstrafen bis zu zwei Jahren, zwei 17jährige auch hier zur Unterbringung in eine [256] Besserungsanstalt verurteilt, letztere allerdings mit 3jähriger Bewährungsfrist. Wegen einiger formaler Fehler und wegen Betätigung in sonst nicht beanstandetem Sinne wurden somit harte Urteile gefällt, obwohl die Angeklagten nur in Gemeinschaft gelebt und aus Idealismus Arbeitseinsatz in legalen Formen betrieben hatten. Die Verteidigung legte Berufung ein, trotzdem wurde dem Antrag auf Haftentlassung nicht stattgegeben, lediglich die mitverurteilte Schwester Wehr und das Hauptvorstandsmitglied der DV, Gero von Gersdorff, wurden gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt.59 Im Berufungsverfahren wurden die Strafen nur unwesentlich herabgesetzt, aber den meisten Verurteilten Bewährungsfristen bewilligt.
Fünf Wochen vor dem Konitzer Urteil
waren die Urteile im Tarnowitzer Wanderbundprozess in zweiter Instanz
bestätigt worden. So wurde in den verschiedensten Siedlungsgebieten
gerade die Jugendarbeit unterbunden.
q) Förderung der deutsch-polnischen Verständigung durch Polen? Als Beweis für ein polnisches Entgegenkommen dem deutschen Paktpartner gegenüber aber konnte polnischerseits höchstens auf die in denselben Wochen stattgefundene Konstituierung der "Polnisch-deutschen Gesellschaft" in Warschau verwiesen werden, die übrigens keine größere Tätigkeit entfaltete. Ihr Vorstand wurde am 25. 6. 1937 gewählt, das Deutsch-Polnische Institut in Berlin bestand damals schon drei Jahre. Die in der Gründung der Warschauer Gesellschaft geäußerte Absicht, das gegenseitige Verstehen und Sichkennenlernen zu fördern, bezog sich jedoch nicht auf die deutsche Volksgruppe. Da wurden noch häufig Schwierigkeiten gemacht, obwohl die Polen aus dem Reich ungehindert dem "Weltbund der Polen" mit dem Sitz in Warschau angehören und in Polen stattfindende Veranstaltungen besuchen konnten. Zum 12. Deutschen Sängerbundfest in Breslau [257] am 28. 7. - 1. 8. 1937 z. B. erteilten die polnischen Behörden zwar auf Grund diplomatischer Vorstellungen des Reiches60 ermäßigte Auslandsreisepässe an Volksdeutsche, aber von 677 aus Mittelpolen gemeldeten Teilnehmern erhielten diese nur 262, so daß das Auftreten des Auswahlchores der "Vereinigung deutscher Gesangvereine" beinahe in Frage gestellt worden wäre.61 Ein Jahr später wurden der Deutschen Turnerschaft in Polen statt der von ihr für die Teilnehmer am Deutschen Turn- und Sportfest in Breslau beantragten 2000 Pässe insgesamt nur 560 bewilligt.62
Deutscherseits war man seit 1933
bestrebt (aus was für Beweggründen heraus, sei dahingestellt), nicht
nur in der Presse, sondern auch in der Literatur, in der Wissenschaft, in der Kunst
und im Filmwesen das Trennende zurücktreten zu lassen und das
Verbindende, beiden Völkern Gemeinsame in den Vordergrund zu stellen.
Bei den Polen war es gerade umgekehrt. Beweis dafür sind u. a.
verschiedene wissenschaftliche und literarische Erscheinungen der Berichtsjahre
und der Anklang, den diese in der polnischen Öffentlichkeit fanden.
r) Deutschfeindliche Werke - die größten polnischen Bucherfolge Obwohl im Jahre 1937 ein ernsthafter polnischer Forscher, Olgierd Gorka, die Phrase vom tausendjährigen Kampf zwischen Polen und Deutschland als eine "Fiktion" bezeichnete,63 setzte sich Jozef Feldman's vom Baltischen Institut im selben Jahr herausgebrachtes Werk Der deutsch-polnische Gegensatz in der Geschichte64 allgemein durch. Dieser Titel wurde zum beherrschenden Schlagwort. Typisch für die Betrachtungsweise und das Interessengebiet der polnischen Öffentlichkeit waren ferner einige pseudowissenschaftliche, geschickt aufgemachte Reportagebände, die zu den größten polnischen Bucherfolgen dieser Jahre zählten. [258] Als erstes ist Melchior Wankowiczc's Auf den Spuren des Smentek65 zu nennen, das Ende 1936 als Reisebericht durch die masurischen Kreise Ostpreußens erschien und der dortigen Bevölkerung gewidmet war. Obwohl Wankowicz zugeben musste: "Was wir als polnische Bevölkerung ansehen, sieht sich selbst durchaus nicht als polnisch an" (S. 90) und "Von Polen wollen sie nichts wissen" (S. 21), stellte er die polnischen Ansprüche auf das Masurenland als gerecht hin, denn dahinter stünde "die Sprache der Mutter-Erde und die unerbittliche geographische Logik" (S. 29). Eingangs erklärte er, keine behördlichen Maßnahmen oder Vorfälle aus der Zeit vor der deutsch-polnischen Verständigung bringen zu wollen, brachte aber nachher doch einige, so z. B. aus dem Abstimmungskampf u. a. mehr, um so die Masuren zu einer "bedrohten nationalen Minderheit" stempeln und Polen auffordern zu können, sich zum Sachwalter dieser "bedrängten Brüder" zu machen. Das polnische Interesse an Ostpreußen weckte ferner das Buch von Jerzy Giertych: Jenseits des Nordkordons.66 Wankowicz gehörte zum Regierungslager, Giertych war ein prominenter Vertreter der jungen Nationaldemokraten; beide hieben aber in dieselbe Kerbe. Das Schlesische Institut veröffentlichte 1937 St. Wasylewski's im aggressiven Tone gehaltenes Buch Im Oppelner Schlesien.67 Darin wurde Deutsch-Oberschlesien, in dem bei der unter interalliierten Kontrolle abgehaltenen Volksabstimmung des Jahres 1921 nur 28,77% polnische Stimmen abgegeben worden waren, als überwiegend bewusst polnisch und von preußischer Gewaltherrschaft unterdrückt dargestellt. Anfang 1939 gesellte sich noch das vom Westslawischen Institut geförderte, gegen alles Deutsche Stimmung machende Werk des nationaldemokratischen Schriftstellers Jozef Kisielewski hinzu: Die Erde bewahrt das Vergängliche.68 Hier trat das polnische Interesse an ganz Ostdeutschland zu Tage, [259] da die polnischen Forderungen bis zur Elbe ausgedehnt wurden. Neben diesen erfolgreichsten und bedeutendsten Werken wären noch viele andere Schriften und Bücher zu nennen, in denen wie z. B. in Jalu Kurek's 1935 erschienenem preisgekrönten und auch ins Deutsche übersetzten Bauernroman Die Grippe wütet in Naprawa69 Deutschland als "Land des Teufels" hingestellt wird. Diese deutschfeindliche Dichtung nahm z. T. auch direkt auf die deutsche Volksgruppe Bezug, wie z. B. der Roman Angriff der Geier70 von Maciej Wierzbinski (1935), in dem während eines erdichteten deutsch-polnischen Krieges der Senator Lautenbach (Anspielung auf Senator Hasbach), der als guter polnischer Staatsbürger gilt, als Anführer der 5. Kolonne entlarvt wird. In einem anderen Roman von Helena Boguszewska und Jerzy Kornacki Deutsches Heim wurden die Deutschen in Westpreußen als lauter Verbrecher, staatsfeindliche und charakterlose Gesellen hingestellt.
Aber auch die nicht auf die deutsche
Volksgruppe in Polen abzielenden deutschfeindlichen Werke wirkten sich auf das
Deutschtum aus, da ja, wie schon erwähnt, alle über die Lage der
Polen in Deutschland vorgebrachten Klagen bei jeder Gelegenheit den deutschen
Sprechern vorgehalten wurden. Es ergaben sich aber auch andere Auswirkungen.
Da doch Wanikowicz die schon früher in der polnischen Literatur
vorgekommene, von St. Zeromski in Wind vom Meer71 zuerst gebrachte Personifizierung
des in polnischen Augen bösen und polnischfeindlichen deutschen Geistes
als "Smentek" so populär gemacht hatte, setzte z. B. die Stadt Gdingen
für das "Aufspüren des Smentek" in ihrer Umgebung einen Preis von
12.000 Zloty aus. Der Kurjer Baltycki vom 10. 4. 1937 kommentierte
dieses Unterfangen dahingehend, zusammen mit dem Baltischen Institut
müsse eine "Treibjagd hinter dem Smentek beginnen... in den
Hütten der Kaschuben, auf den Rittergütern [260] der deutschen Junker, in den Kirchen und
Wohnungen der deutschen Pastoren, in den
Raiffeisen-Genossenschaften, Landbünden, DV, JDP und
überall".72 Daß diese "Treibjagd" trotz des
deutsch-polnischen Nichtangriffspaktes gerade in den verlangten Richtungen
längst im Gange war, und nicht nur in der Gegend von Gdingen, sondern
im ganzen Staatsgebiet, gab diese nationale Kampfzeitung allerdings nicht zu.
s) Fazit der ersten 3½ Jahre nach dem Paktabschluss
Wenn man aber den bisher geschilderten Zeitabschnitt, die ersten 3½ Jahre
nach Abschluss des Paktes übersieht, muss zumindest festgestellt werden,
daß die deutsche Volksgruppe in Polen kaum irgendwelche Vorteile gehabt
hat. Lediglich die im Jahre 1933 entstandene unerträgliche Spannung war
behoben worden, und die kulturelle Fühlungnahme mit dem Mutterland
wurde nicht mehr so rigoros unterbunden wie vorher. Aber den deutschen
Volkstumsorganisationen, die im Laufe des Jahres 1934 und Anfang 1935 im
Rahmen der allgemeinen allen Staatsbürgern
verfassungsmäßig zustehenden Rechte normal hätten arbeiten
können, wurden seit Mitte 1935 behördlicherseits immer wieder
Schwierigkeiten in den Weg gelegt. Auf allen Sachgebieten wirkten sich die
polnischen
Verdrängungs- und Assimilierungstendenzen weiterhin, z. T. sogar
(Kirche, Entlassungen) im verstärktem Maß aus. Früher war
von polnischer Seite oft betont worden, daß die Behandlung der Deutschen
in Polen sich dann grundlegend ändern würde, wenn das Deutsche
Reich keine Revisionspolitik mehr betriebe und die Volksgruppe keine
irredentistischen Bestrebungen mehr verfolge.73 Ersteres war inzwischen restlos
abgestellt worden. Letzteres hatte der Volksgruppe nie nachgewiesen werden
können; von den noch in den zwanziger Jahren eingeleiteten, groß
aufgezogenen Hochverratsprozessen gegen Organisationen
("Deutschtumsbund" Bromberg) [261] oder gegen führende
Persönlichkeiten des Deutschtums (Ulitz, Dudek), die erst 1932 oder 1933
abgeschlossen worden waren, hatte keiner auch nur den geringsten Anhaltspunkt
für eine derartige Behauptung erbringen können. In der Berichtszeit
wurde auch gegen keine der Volkstumsorganisationen oder der führenden
Persönlichkeiten ein dementsprechender ernstzunehmender Vorwurf von
offizieller oder auch nur offiziöser polnischer Seite erhoben.
t) Unvermögen oder mangelnder Wille der polnischen Regierung? Obwohl also beide von polnischer Seite geforderten Voraussetzungen gegeben waren, hatte die Unterdrückung des Deutschtums nicht nur nicht aufgehört, sondern sie war noch verstärkt worden. Dabei handelte es sich durchaus nicht nur um Übergriffe untergeordneter Dienststellen. Das Kirchengesetz z. B. wurde von der Regierung selber erlassen und Bursches Vorgehen immer wieder von ihr gedeckt. Die Namenslisten der im laufenden Jahr zur Agrarreform herangezogenen Besitzer wurden im Warschauer polnischen Gesetzblatt veröffentlicht. Sämtliche das Deutschtum benachteiligenden Massenahmen der lokalen Behörden hatte die Volksgruppe durch ihre Parlamentarier der Regierung unterbreitet. Und Minister Beck brachte am 1. 6. 1937 selber zum Ausdruck, "daß bei eigenmächtigem Vorgehen der untergeordneten Behörden der Ministerpräsident sicherlich bereit sein würde, mit der ihm eigenen Energie einzuschreiten".74 Mit dem seit dem 15. 5. 1936 bis zum Polenfeldzug amtierenden Ministerpräsidenten General Slawoj-Skladkowski, der gleichzeitig das Innenministerium verwaltete, war tatsächlich ein äußerst energischer, tatkräftiger und rühriger Mann (allerdings kein Staatsmann) am Ruder, der schon früher als Innenminister verschiedene Mißstände in der inneren Verwaltung rigoros abgestellt hatte. Jetzt hatte er die beiden für die Volksgruppe wichtigsten [262] Ämter im Staat inne und hätte daher auch auf diesem Gebiete für Ordnung sorgen können, wenn er, die Regierung Rydz-Smigly und Staatspräsident Moscicki es gewollt hätten. Daß Rydz-Smigly dem deutschen Paktpartner nicht entgegenkommen wollte, wurde bereits dargelegt. Es lässt sich darüber streiten, ob die Regierung überhaupt stark genug gewesen wäre, um die deutschfeindliche Propaganda der oppositionellen Presse und der politischen Verbände unterbinden zu können. Gerade in der Berichtszeit waren diese noch immer mehr von der Defensive zur Offensive übergegangen und hetzten nicht nur ganz unverhüllt gegen das Deutschtum im Lande, sondern verkündeten auch offen Deutschland gegenüber aggressive und annexionistische Ziele. Zumindest lag es aber in der Hand der Regierung, die Handlungen der Wojewoden und der Starosten sowie den Ton der Regierungspresse zu bestimmen. Da sich jedoch in dieser Hinsicht in der Sache selbst nichts geändert hatte, bleibt nur der Schluss, daß auch den höchsten Regierungskreisen ungeachtet des Nichtangriffspaktes - u. a. mit Rücksicht auf die nationale Opposition im Lande - nicht an einer Milderung der volkgruppenfeindlichen Haltung gelegen war. Diese Folgerung findet ihre Bestätigung in den in letzter Zeit erschienenen, im Laufe dieser Darstellung bereits zitierten Memoiren von Außenminister Beck75 und dessen Staatssekretär Graf Szembek, die beide die von Pilsudski eingeschlagene Verständigungspolitik ernsthaft zu betreiben versuchten. So war Szembek schon im Frühjahr 1935 von "der heftigen antideutschen Haltung" Grazynski's außerordentlich beunruhigt. Dieser hatte nämlich am 17. 4. 1935 beim polnischen Innenminister Koscialkowski ausgeführt und näher zu begründen versucht, daß dem deutschen Element gegenüber eine "politique sans compromis" zu befolgen sei. Szembek gewann den Eindruck, daß Grazynski's Haltung in Wahrheit das Signal [263] auslöse: "Deutsche ausrotten". Der Staatssekretär vertrat aber den Standpunkt, daß die günstigen Ergebnisse der gutnachbarlichen Beziehungen zu Deutschland nicht durch unüberlegte Handlungen gegenüber der deutschen Minderheit in Frage gestellt werden dürften. Er gab sich daher ernsthaft Mühe, den Innenminister von der Notwendigkeit zu überzeugen, daß die Regierung unbedingt den Tendenzen Grazynski's nachdrücklichst entgegentreten müsse, andernfalls würde es Polen "in der Außenpolitik bezahlen müssen". Koscialkowski machte demgegenüber geltend, daß wegen der in Polen herrschenden Atmosphäre "die Passivität der Regierung angesichts einer unbestreitbaren deutschen Propaganda ein 'Desaster' im Inneren und einen Sieg der Opposition zur Folge haben würde", da der Regierung ohnehin schon vorgeworfen würde, "sie wäre unfähig, den polnischen Charakter der Westgebiete zu bewahren". Allerdings konnte sich auch Koscialkowski nicht der Einsicht verschließen, daß es notwendig sei, die Haltung beider Ministerien aufeinander abzustimmen und stellte daher eine entsprechende Konferenz in Aussicht.76 Allerdings liegt über letztere derzeit nichts vor. Im Juli desselben Jahres sprach sich sogar Minister Beck hinsichtlich der deutschen Minderheit in Ostoberschlesien gegen jeden allgemeinen Kompromiss (contre tout compromis general) mit Deutschland aus, da es andernfalls der polnischen Regierung an "Wechselgeld" fehlen würde!77 Als daher Szembek bei dem mittlerweile zum Ministerpräsidenten berufenen Koscialkowski am 15. 3. 1936 erneut die zu befolgende Politik durchsprach, da gab K. zwar zu, daß die Politik der Entspannung ("detente") mit Deutschland aufrechterhalten werden sollte, er hielt es aber gleichzeitig nicht für angezeigt, Deutschland gegenüber "eine moralische Demobilisierung sowie eine von völliger Ruhe bestimmte Haltung zuzulassen." So sollten die Manifestationen der oberschlesischen [264] Aufständischen nicht untersagt werden. Szembeks Einwand, daß es überflüssig erscheine, in der Bevölkerung den antideutschen Geist aufrechtzuerhalten und daß es vielmehr unerlässlich sei, die Grundsätze der polnischen Außenpolitik populär zu machen, hat den damaligen Ministerpräsidenten nicht zur Änderung seines Standpunktes veranlassen können.78 Zwar wurde Koscialkowski bald durch den bereits erwähnten General Slawoj-Skladkowski abgelöst, doch Szembek musste auch dessen Regierung klarzumachen versuchen, daß antideutsche Manifestationen nicht am Platze seien.79 Und da sich die Verhältnisse nach Skladkowski's Regierungsantritt nicht zugunsten der deutschen Volksgruppe veränderten, kann obiges Zugeständnis Koscialkowski's für die ganze Zeit gelten.
Die polnische Regierung war also nach ihren eigenen
Worten schon aus innerpolitischen Gründen gar nicht an einem Abbau der
deutschfeindlichen Stimmung innerhalb des polnischen Volkes interessiert. Sie
ist demnach nicht nur für die behördlichen deutschfeindlichen
Maßnahmen, sondern auch für die Deutschenhetze sowie
dafür verantwortlich, daß, wie Botschafter von Moltke es Minister
Beck am 30. 7. 1937 vorhalten konnte, weiterhin ein "mit der Erklärung
vom 26. 1. 1934 nicht zu vereinbarender minderheitenfeindlicher Geist"
herrschte.80
58Kuhn, Walter in: Landwirtschaftlicher Kalender für Polen. S. 68; Posen 1938. ...zurück...
59Osteuropa. Jg. XII S. 728;
Königsberg 1937; 60Szembek, Jean Comte: Journal 1933-1939. S. 232; Paris 1952. ...zurück... 61Volksfreundkalender für Stadt und Land 1938. Lodz; S. 191ff. ...zurück... 62Osteuropa. Jg. XIII S. 764; Königsberg 1938. ...zurück... 63in: Narod a Panstow ("Volk und Staat") S. 299. ...zurück... 64Niemiecko-polski antagonizm dziejowy. ...zurück... 65Na tropach Smetka. ...zurück... 66Za polnocnym kordonem. ...zurück... 67Na Slasku Opolskim. ...zurück... 68Ziemia gromadzi prochy. ...zurück... 69Grypa szaleje w Naprawie. ...zurück... 70Atak sepow. ...zurück... 71Wiatr od morza. ...zurück... 72zitiert nach: Ostland- Berichte. Nr. 2, S. 89; Danzig 1937. ...zurück... 73Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges. Nr. 2 (DWB II) Dok. 62,S. 70. Hrsg. vom Auswärtigen Amt; Berlin 1939. ...zurück... 74Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges. Nr. 2 (DWB II) Dok. 88, S. 90. Hrsg. vom Auswärtigen Amt; Berlin 1939. ...zurück... 75s. auch S. 346 u. 363 dieser Darstellung. ...zurück... 76Szembek, Jean Comte: Journal 1933-1939. S. 62-64; Paris 1952. ...zurück... 77Szembek, Jean Comte: Journal 1933-1939. S. 108; Paris 1952. ...zurück... 78Szembek, Jean Comte: Journal 1933-1939. S. 171f; Paris 1952. ...zurück...
79Szembek, Jean Comte: Journal
1933-1939. S. 401; Paris 1952;
80Dokumente zur Vorgeschichte
des Krieges. Nr. 2 (DWB II) Dok. 94, S. 98. Hrsg. vom Auswärtigen
Amt; Berlin 1939. ...zurück...
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