Vorwort Die Entstehung des vorliegenden Buches geht auf einen Auftrag zurück, den die Wissenschaftliche Kommission für die Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa im Sommer 1952 dem Verfasser erteilt hatte, um einen Überblick über die Entwicklung des Verhältnisses zwischen der deutschen Volksgruppe in Polen einerseits und dem polnischen Staatsvolk sowie den Behörden andererseits im Zeitalter der so genannten deutsch-polnischen Verständigung zu gewinnen. Diese Darstellung wurde auftragsgemäß in einem halben Jahr fertiggestellt, was nur möglich war, weil das Johann-Gottfried-Herder-Institut und die Westdeutsche Bibliothek, beide in Marburg/Lahn, dem Verfasser bei der Materialbeschaffung in jeder Hinsicht entgegenkamen und weil ihm einige wertvolle Manuskripte sowie selten gewordene Drucke von weiteren Stellen uneigennützig zur Verfügung gestellt wurden. In dieser Hinsicht ist der Verfasser der Historisch-Landeskundlichen Kommission für Posen und das Deutschtum in Polen (Geschäftsführer - Dozent Dr. Gotthold Rhode), Frau Luise Karzel sowie den Herren Dr. Richard Breyer, Landeskirchenrat Dr. Reinhard Fritsch, Otto Heike, Sepp Müller und Dr. Friedrich Swart zu großem Dank verpflichtet. Herrn Dr. Gotthold Rhode darüber hinaus noch für Hinweise und Ratschläge. Für persönliche Mitteilungen sei den Herren Hans Bathelt, Adolf Kargel, Pfarrer Arnold Jaki, Kirchenrat D. Alfred Kleindienst, Oberstudiendirektor z. Wv. Hans Klemens, Günther Koderisch und Josef Ryppa bestens gedankt. Im Laufe des Jahres 1954 wurde die Darstellung unter Berücksichtigung einiger Neuerscheinungen überarbeitet, wobei der Verfasser noch Hinweise und Bemerkungen der Herren Professor Dr. Theodor Schieder, Dozent Dr. Gotthold Rhode, Dr. Richard Breyer, Dr. Hans Kohnert und Dr. Gerhard Reichling verwerten konnte, die dankenswerterweise das Manuskript einer Durchsicht unterzogen hatten. Der Göttinger Arbeitskreis hat dann meine Arbeit in die Reihe der Beihefte zum Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr. aufgenommen, die er herausgibt. Der Verfasser war bestrebt, die von ihm in den meisten deutschen Siedlungsgebieten Polens und auf verschiedenen Sachgebieten z. T. selbst miterlebte Entwicklung sine ira et studio zu schildern und so zur Klärung eines auslandsdeutschen Schicksals sowie eines Abschnittes ostmitteleuropäischer Geschichte beizutragen. Gleichzeitig sei aber der Überzeugung Ausdruck verliehen, daß Pläne, die über ein zukünftiges Zusammenleben der in Frage kommenden Völker geschmiedet werden, ohne Kenntnis der hier behandelten Fragen und Verhältnisse wirklichkeitsfremd bleiben dürften. So möge denn diesem Buche beschieden sein, daß es nicht nur einen Einblick in die jüngste Vergangenheit gewährt, sondern daß es auch unseren Blick für die Zukunft schärft. Mag. Phil. Theodor Bierschenk
Hannover, im Oktober 1954 [1] Einleitung Wenn man die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches im Jahre 1945 richtig beurteilen will, muss man sich ein genaues Bild über die Gestaltung der deutsch-polnischen Beziehungen vor Kriegsausbruch machen können. Man darf sich dabei nicht auf ein Studium der zwischenstaatlichen Beziehungen beschränken, man darf auch bei seinen Nachforschungen nicht innerhalb der Grenzen des Reiches oder in deren Bannmeilen bleiben, sondern man muß den Dingen dort nachspüren, wo das deutsche und das polnische Volk am unmittelbarsten miteinander zu tun hatten, wo Deutsche und Polen zusammenlebten und sich am ehesten aneinander rieben, das ist im Versailler Polen. In diesen Staat waren in den Jahren 1918-1919 rund 2 Millionen Deutsche hineingestellt worden, von denen der eine Teil schon in den nächsten Jahren verdrängt wurde und der andere zurückgebliebene Teil einen schweren Behauptungskampf zu bestehen hatte. Dort waren doch schon in den ersten Tagen des zweiten Weltkrieges polnische Ausschreitungen Deutschen gegenüber in bisher noch unvorstellbarem Ausmaße vorgekommen. [Scriptorium merkt an: Beispiele finden Sie auf unserer Website hier, hier, hier und hier.] Es ergibt sich daher die Frage, wieso überhaupt schon in jenen Septembertagen, also bevor noch das nationalsozialistische Regime auf dem polnischen Volke gelastet hatte, derartige Ausschreitungen möglich gewesen waren, [2] da diese doch zweifelsohne ihre Rückwirkungen auf das deutsch-polnische Verhältnis während des Krieges gehabt haben. Um diese Frage beantworten zu können, muss man sich die Geschicke der deutschen Volksgruppe in Polen zwischen den beiden Weltkriegen im allgemeinen und in den letzten Jahren vor Kriegsausbruch, d. h. seit dem deutsch-polnischen Nichtangriffspakt vom 26. 1. 1934 im besonderen vor Augen halten. Letzteren Zeitabschnitt bezeichnen wir daher im Laufe der Darstellung als Berichtszeit. Hinsichtlich dieser Volksgruppe herrschen verschiedene, z. T. von polnischer Seite inspirierte, sich geradezu widersprechende Vorurteile. Die einen meinen, östlich der Reichsgrenzen hätte es im Jahr 1939 so gut wie keine Deutschen mehr gegeben, sie seien nur von Hitler zu Propagandazwecken erfunden worden. Bei den in den späteren östlichen "Reichsgauen" oder gar im "Generalgouvernement" in Erscheinung getretenen "Volksdeutschen" hätte es sich daher nur um sogenannte "Beutegermanen" gehandelt, die entweder selber erst nach der deutschen Besetzung des Landes aus Konjunkturgründen plötzlich ihr angeblich deutsches Herz oder deutsches Blut entdeckt hätten, oder die damals von eindeutschungswütigen SS- oder Parteifanatikern gegen ihren Willen in die "Deutsche Volksliste" gepresst worden seien. Die anderen wiederum glauben manchen polnischen Darstellungen, laut denen die Deutschen in Polen eine 5. Kolonne des nazistischen Expansionsdranges dargestellt hätten. Wenn also diese Deutschen ungeachtet ihrer polnischen Staatsangehörigkeit gegen die Gesetze ihres Wohnstaates verstoßen, oder womöglich gegen den polnischen Staat gearbeitet hätten, dann sei es den polnischen Behörden nicht zu verübeln, wenn sie diese staatsgefährlichen Umtriebe nicht geduldet, sondern sie rücksichtslos unterdrückt hätten, auch wenn es dabei [3] vielleicht zu einzelnen an sich bedauerlichen Entgleisungen gekommen sein sollte. Die dritten wissen, daß es in Polen Deutsche in beachtlicher Anzahl gegeben hat, die ihrem Volkstum die Treue bewahrten und trotzdem gute polnische Staatsbürger waren. Gleichzeitig wird aber angenommen, daß nicht nur diese Volksdeutschen, sondern daß sich auch das polnische Volk dieser Volksgruppe gegenüber nichts Besonderes hätte zuschulden kommen lassen. Wenn auch nicht die Deutschen in Polen, so seien doch die polnischen Ausschreitungen ihnen gegenüber oder die angeblichen Deutschenverfolgungen im polnischen Staat eine Erfindung der Nazipropaganda, zumindest aber eine gewaltige Übertreibung gewesen. Wo zwei Völker in einem Staatswesen zusammenleben müssten, käme es doch immer wieder hier und da zu Reibereien kleineren oder größeren Ausmaßes, so daß bei den Deutschen in Polen nichts Außergewöhnliches vorgefallen sei. In verschiedenen deutschen, die Geschicke der Volksgruppe berührenden Darstellungen bzw. Stellungnahmen1 wiederum stößt man oft auf Urteile, als ob die polnischen Entdeutschungsmaßnahmen vor allem gegen das Deutschtum in den vom Deutschen Reich abgetrennten Provinzen, also in den bis 1933 propagandistisch umstrittenen Gebieten gerichtet gewesen wären, so daß man geneigt ist zu folgern, daß die wohl nur wenigen Deutschen der anderen Siedlungsgebiete verhältnismässig ungeschoren gelassen wurden. Die Verschiedenheit der Auffassungen bzw. Vorurteile und die mangelnde Kenntnis der tatsächlichen Verhältnisse sind u. a. darauf zurückzuführen, daß bisher noch keine Darstellung vorliegt, die die Lage und die Geschicke des gesamten Deutschtums im Versailler Polen bzw. wenigstens gewisser Lebensgebiete desselben schildern würde.
[4] Aufgabe dieser Untersuchung ist es nun
festzustellen, ob eine dieser Auffassungen der Wahrheit entspricht, und des
weiteren aufzuzeigen, wieso es im September 1939 zu den erwähnten
Ausschreitungen kommen konnte und ob die deutsche Volksgruppe durch ihr
Verhalten während der
sogenannten deutsch-polnischen Verständigungsära zu der
unheilvollen Entwicklung beigetragen hat.
1Dokumente zur Vorgeschichte des
Krieges.
Nr. 2 (DWB II) S. 245. Hrsg. vom Auswärtigen Amt; Berlin 1939; [Scriptorium merkt an: zitierte Seitenzahl scheint nicht zu stimmen.] |