[1] A. Die polnische Volksmeinung über das Deutschtum Die deutsch-polnische Volkstumsfrage als stärkstes Gefahrenmoment für das deutsch-polnische Verhältnis. - Die Deutschfeindlichkeit des Polentums in Posen und Westpreußen. - Der Nährboden für das polnische Mißtrauen gegen das Deutschtum. Nach dem Weltkrieg schien es in Europa keine Grenze zu geben, die so sehr den Wünschen der Urheber von Versailles entsprach wie die deutsch-polnische. Zwei Völker, durch geschichtliche Erinnerungen und die Brutalität der Grenzziehung aufeinander gehetzt, standen sich in Feindschaft erstarrt gegenüber. Nirgendwo zeigte sich ein Ansatzpunkt zu einem Ausgleich der Gegensätze. Im Gegenteil! Die Entwicklung der nächsten Jahre brachte eine Folge von Grenzstreitigkeiten und Wirtschaftskämpfen, wobei sich bei Staatsführung und öffentlicher Meinung Polens eine vollkommene Einheit im Haß gegen das Deutschtum schlechthin zeigte. Während die polnische Anmaßung von Jahr zu Jahr stieg und zu offenen Drohungen gegen Ostpreußen und Danzig überging, beschränkten sich die Vertreter des Deutschen Reiches auf schwächliche Proteste und die mühsame Verteidigung der deutschen Position. Als die Ursache der größten Spannungen und damit als stärkster Schatten für das deutsch-polnische Verhältnis erwies sich von Anfang an das Problem der deutschen Volksgruppe in Polen. Diese Tatsache konnte nicht verwunderlich erscheinen. Denn die Auseinandersetzung zwischen deutschem und polnischem Volkstum besteht nicht erst seit 1918. Sie war das wesentliche Kennzeichen des Kampfes der Polen der preußischen Provinzen gegen die Regierung in der Zeit der polnischen Staatenlosigkeit gewesen. Der augenscheinlichste Grund dafür ist in der engen Verzahnung und Verklammerung deutschen und polnischen Volkstums zu sehen, die eine scharfe Scheidung der beiden Volkskörper durch staatliche Abgrenzungen unmöglich machen. Die Folge davon war stets das Vorhandensein kleinerer und größerer deutscher Volkssplitter im Vorfeld der deutschen Ostgrenze, (so im Umkreis von Warschau, im Lodzer Gebiet, in Wolhynien, um nur einige dieser deutschen Kolonien, die, nur teilweise in der Stärke verändert, heute wie in der Vorkriegszeit bestehen, zu nennen). Dieser Zustand hat durch die gewaltsame Abtrennung großer rein oder überwiegend deutscher Gebietsteile eine bedeutende Verschärfung erfah- [2] ren. Voller Rücksichtslosigkeit gegenüber der nationalen Überzeugung seiner Staatsbürger deutscher Volkszugehörigkeit, unbekümmert von dem Leid und den Tränen vieler hunderttausend deutscher Männer, Frauen und Kinder ging der polnische Staat mit dem Tage seiner Geburt daran, die deutsche Volksgruppe seinem eigenen Volkskörper einzuschmelzen, d. h. zu polonisieren oder, im Falle der Aussichtslosigkeit dieses Bemühens, die gewaltsame Entfernung der Deutschen von Arbeitsplatz und Scholle zu betreiben. Das Ergebnis dieser Entnationalisierungspolitik liegt uns vor. Während bis zum Ende des Weltkrieges fast 3 Millionen deutsche Menschen in den ehemaligen polnischen Teilgebieten leben, sinkt diese Zahl bis heute auf 1 200 000 herab - ein wahrhaft erschütternder Beweis für die Wirksamkeit des polnischen Vernichtungswillens gegen die deutsche Volksgruppe. Während die polnische Propaganda die antideutschen Maßnahmen mit einem ununterbrochenen Verleumdungsfeldzug begleitete, breitete sich auf der deutschen Seite ob dieser Handlungsweise eine begreiflich wachsende Erbitterung aus, die mehr und mehr Allgemeingut des ganzen Volkes wurde. Kleinste Anlässe genügten, um spaltenlange Ausbrüche der Empörung in den Zeitungen beider Lager hervorzurufen. Alle Voraussetzungen für eine Besserung der nachbarlichen Beziehungen schienen ausgeschaltet zu sein. Mit dem Beginn der nationalsozialistischen Erhebung stieg die politische Haßwelle gegen Deutschland noch an. Spätere Betrachter haben mit Recht die deutsch-polnischen Beziehungen jener Zeit den "Neuralgischen Punkt Europas" genannt. Umso überraschender kam daher die Lösung durch das deutsch-polnische Abkommen vom 26. 1. 1934. Sein Inhalt ist eine einfache Nichtangriffserklärung und enthält die Zusicherung der beiden Vertragspartner, alle Gegensätze auf dem Wege der Aussprache zu regeln. Nur wenige Weitblickende wußten die Bedeutung der gemeinsamen Tat Adolf Hitlers und des Marschalls Pilsudski abzuschätzen, während die überwiegende Mehrheit dem Abkommen ein kurzes Leben oder zumindest eine minimale Wirksamkeit zusprachen. Denn ungelöst stand weiterhin die Frage nach der national-kulturellen und wirtschaftlichen Existenz der deutschen Volksgruppe in Polen zwischen den Völkern. Die Leiden und Verfolgungen der Deutschen gingen ungehemmt weiter und die Auslassungen der Presse schränkten wenig oder gar nicht ihre antideutsche Propaganda ein. Genau betrachtet hatten die Polen zu ihren alten antideutschen Parolen einen neuen Anklagepunkt hinzugewonnen: Das Bekenntnis der deutschen Volksgruppenangehörigen zur nationalsozialistischen Weltanschauung. Damit gerieten die Deutschen endgültig in den Verdacht, als Vorhut des deutschen Imperialismus in Polen zu stehen und die Vorbereitungen für eine deutsche Invasion zu treffen. Es begann die neue Kette der Hochverratsprozesse, in deren Verfolg deutsche [3] Menschen unter dem Verdacht der Spionage oder der Geheimbündelei zu schweren Kerkerstrafen verurteilt wurden. Die angebahnte Verständigung von Volk zu Volk kam dadurch wieder ins Stocken. Es ist im Laufe der 5 Jahre, während der der deutsch-polnische Kriegsverzichtspakt bestand, einige Male der Versuch gemacht worden, die Scharfmacherstimmung in polnischen Kreisen zu mäßigen und eine bessere Behandlung der deutschen Volksgruppe zu erreichen. Auf dem Wege zu diesen Zielen liegen die deutsch-polnischen Pressebesprechungen, die eine Entgiftung der polnischen Presseäußerungen herbeizuführen suchten, und die Verhandlungen anläßlich des Ablaufs der Genfer Konvention für Oberschlesien. Ungleich wichtiger ist die Volksgruppenvereinbarung vom 5. November 1937. Hier wurde zum ersten Male das Problem der Deutschen in Polen und der Polen im Reich in einer Weise behandelt, die den Kern der Sache traf. In den die Vereinbarung begleitenden Erklärungen wird eingangs festgestellt, die deutsche und die polnische Regierung seien
"übereinstimmend der Überzeugung, daß die Behandlung dieser Minderheiten für die weitere Entwicklung der freundnachbarlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen von großer Bedeutung ist." Der Völkische Beobachter vom 6. 11. 1937 kennzeichnet die Lage vor dem Zustandekommen der Vereinbarung folgendermaßen:
"Besonders schienen auf dem Gebiet der Volkstumspolitik natürliche Gegensätze zwischen den beiden Völkern so stark, daß sie jedes positive Verhältnis zwischen dem Reich und Polen unmöglich zu machen drohten. Hoffnungen und konstruktive Ideen, die geäußert wurden, mußten offenbar schon durch die nüchternen Tatsachen eines rücksichtslos durchgeführten Volkstumskampfes zur Illusion werden." Das Blatt hob an einer anderen Stelle dieser Ausgabe aber auch die Besorgnis polnischer Kreise hervor, nämlich
"daß sich schon zu Ende des letzten Jahres der polnische Außenminister Beck veranlaßt sah, die 'Nervosität' polnischer Blätter zu kritisieren." Theoretisch schien der Wortlaut der Volksgruppenerklärung alle Voraussetzungen für eine Lösung der Volkstumsfrage und einen Ausgleich der Spannungen zu erfüllen. Jedoch war es augenscheinlich, "daß nun alles auf die praktische Verwirklichung des Abkommens" ankommen würde. Wie weit aber die Praxis von den Wünschen der deutschen Volksgruppe und den vertraglichen Willensäußerungen entfernt war, beleuchtet die Tatsache, daß bereits am 27. 2. 1939 in Berlin neue Besprechungen mit polnischen Regierungsvertretern angesetzt werden mußten. Der Völkische Beobachter kommentiert diese Nachricht mit dem Hinweis, es habe sich gezeigt, daß die Minderheitenerklärung nicht die erwartet Erleichterung in der Lage unserer Volksgruppe in Polen gebracht habe [4] und daß ihre Auswirkungen in der Praxis nicht dazu geführt hätten, die Beschwerden verstummen zu lassen.
"Es liegt daher im Interesse beider Länder, über allgemeine Feststellungen hinaus zu wirklichen praktischen Ergebnissen auf dem Gebiete der Minderheitenbehandlung zu gelangen, um dadurch den Zündstoff zu beseitigen, der immer wieder eine Vertiefung des deutsch- polnischen Freundschaftsverhältnisses behindert".1 Es gibt keinen überzeugenderen Beweis für die Belastung des deutsch-polnischen Verhältnisses durch das Volkstumsproblem als diese Kette von Verhandlungen, die immer wieder in die gleiche Sackgasse münden: So sehr die Vertreter Polens eine Sicherstellung der Lebensinteressen der deutschen Volksgruppe versprechen, so wenig läßt die Wirklichkeit erkennen, daß der polnische Staat und das polnische Volk zu einer aufrichtigen Anerkennung und Achtung des eigenständigen Wesens ihrer loyalen deutschen Mitbürger bereit sind. Alles, was von polnischer Seite aus an Gegenargumenten vorgebracht wird, besonders der Hinweis auf die Gefährdung der polnischen Volksgruppenangehörigen in Deutschland, ist - wie wir noch sehen werden - nichts als ein bequemer Vorwand, um ein Recht zur Anwendung sogen. "Gegenmaßnahmen" konstruieren zu können. Das bedeutet aber, daß "der Zündstoff, der immer wieder eine Vertiefung des deutsch-polnischen Freundschaftsverhältnisses behindert", nicht in der Existenz oder in einem angeblichen passiven Widerstand der deutschen Volksgruppe liegt, sondern allein in dem polnischen Willen, das Deutschtum in Polen zu entwurzeln und zu verdrängen. Getragen wird der polnische Vernichtungswille von einer durchgehend vorhandenen antideutschen Einstellung des polnischen Volkes. An ihrem Vorhandensein ist kein Zweifel (es wird darauf noch später eingegangen), nur ihr Ausmaß ist in den einzelnen Landesteilen Polens verschieden. Die Abstufungen sind durch zwei Umstände bedingt:
Beide Faktoren sind naturgemäß im ehemaligen preußischen Teilgebiet am stärksten wirksam geworden. Was daher die Haltung des Polentums in Posen und Westpreußen kennzeichnet, ist seine einmütige Stellungnahme gegen das Deutschtum, die, in Schattierungen vom latenten Mißtrauen bis zum blindwütigen Haß, im Gegensatz zu den beiden anderen Teilgebieten, hier zu einer wirklichen Volkstumsfront geführt hat. Es kann an dieser Stelle nicht eine geschichtliche Darstellung der 125 Jahre polnischer Staatslosigkeit gegeben werden, vielmehr soll nur [5] auf die Umstände hingewiesen werden, die die antideutsche Haltung der Polen gefördert haben. Der Wiener Kongreß von 1815 hatte den Schlußstrich unter die Teilungen Polens gezogen und die Eingliederung der Polen in drei im Wesen von einander völlig verschiedene Staaten bestätigt. Die weitere Entwicklung in den Teilgebieten trug daher, entsprechend den von einander abweichenden Lebensbedingungen, jeweils gesonderte Merkmale. Jedes Teilgebiet hatte seinen eigenen Kampf zu führen, infolgedessen waren auch die Gefühlsreaktionen innerhalb der polnischen Bevölkerung jeweils verschiedene. Sie schwankten lange Zeit in allen drei Teilgebieten von einer strikte durchgeführten Loyalität über absolute Gleichgültigkeit bis zum blinden Haß gegenüber der jeweiligen Staatsgewalt. Das Ende dieser Entwicklung bietet sich folgendermaßen dar:
"Während bei Ausbruch des Weltkrieges das Polentum in den österreichischen und russischen Teilgebieten sich in die beiden Lager der Aktivisten und Passivisten gespaltet hatte, die sich in erbitterter Feindschaft gegenüberstanden, blieben die Polen des preußischen Teilgebiets von diesen Kämpfen völlig verschont; hier gab es nur eine große und geschlossene Front gegen Preußen-Deutschland".2 Wie war das möglich? Hatte nicht die preußische Regierung die Polen in der großzügigsten Weise an den deutschen Kulturwerten teilnehmen lassen! Hatte sich nicht unter ihrer Hand ein blühendes Leben in dem völlig abgewirtschafteten Lande entfaltet, dessen Reichtum das preußische Teilgebiet in einen weiten kulturellen Abstand zu Galizien und Kongreßpolen hob! W. v. Massow gibt in seinem Buch Die Polennot im deutschen Osten darüber einen guten Überblick: In dem national-vielgestaltigen Österreich sei das polnische Volkstum als solches unbehelligt geblieben. Das russische Polen sei nach anfänglichen Freiheiten brutal unterdrückt und in seiner Entwicklung niedergehalten worden. "Preußen jedoch war die einzige unter den herrschenden Mächten, die ihren polnischen Untertanen nicht nur volle Rechte gewährte, sondern auch ernste Arbeit daran setzte, das polnische Volk von seiner politischen Krankheit zu heilen".3 Welch unermüdliche Arbeit hat doch preußische Erziehung an den Polen geleistet! Nur die beiden wichtigsten Maßnahmen sollen herausgegriffen werden: Die Regulierung des bäuerlichen Besitzes und die Einrichtung des Schulwesens. "Die Regulierung des bäuerlichen Besitzes gab dem polnischen Bauern die materielle Grundlage für seine wirtschaftliche Entwicklung, die preußische Volksschule gab ihm das geistige Rüstzeug, das er brauchte".4 Mit dem wirtschaftlichen und geistigen Aufbau ging ein Wachwerden der nationalen Kräfte Hand in Hand. Damit begann die Tragik der [6] preußischen Polenpolitik: "Das zur Einsicht und politischen Reife gebrachte Polentum mußte sich auf seine völkischen Aufgaben früher oder später besinnen und die neuen Waffen gegen seine Wohltäter kehren".5 Der Kampf Preußens gegen den widerspenstigen polnischen Adel und gegen den aus konfessionellen und nationalen Gründen feindlichen Klerus wurde allmählich zu einem Nationalitätenkampf. Der unheimliche Begleiter dieses Ringens war ein die polnische Volksgruppe mehr und mehr in seine Gewalt ziehender Haß, dessen Heftigkeit ungeachtet der Schwankungen der preußischen Polenpolitik dauernd zunahm. Gerade dafür, daß Preußen die besten Bausteine zur Erneuerung des Polentums geliefert hat, "dafür hassen die Polen Preußen kräftiger als jeden anderen Staat".6 Die willensbestimmte nationale Geschlossenheit ist den Polen in Posen und Westpreußen7 nicht durch irgendein Wunder in den Schoß gefallen, sondern als Frucht eines unerschütterlichen "Glaubens an die eigene Kraft" wie ebenso durch harte nationale Arbeit erworben worden. Worin diese bestand, braucht, da sie bereits in einer umfassenden Literatur ausgiebig dargestellt worden ist, hier nur an den wichtigsten Merkmalen aufgezählt zu werden: Festigung des bäuerlichen Grundbesitzes, Ausgleichung der Standesunterschiede, Bildung eines bürgerlichen Mittelstandes, Schaffung eines umfassenden Vereins- und Genossenschaftswesens, Heranziehung einer neuen Führerschicht, Erfassung aller Polen durch eine schlagkräftige gegen das Deutschtum gerichtete Propaganda, Erziehung eines neuen polnischen Menschentyps. Wenn diese Zeit von der polnischen Geschichtsschreibung gern als die Epoche der "Volkwerdung" bezeichnet wird, so darf dabei festgestellt werden, daß Preußen-Deutschland dazu die wertvollsten und entscheidenden Beiträge geliefert hat. Von dem einmal in der Provinz Posen gebildeten nationalen Zentrum mußten starke Impulse auf das gesamte Polentum ausgehen. In der Tat ist dadurch die nationalpolnische unterirdische Arbeit in Kongreßpolen angefeuert worden, während die Galizier im Wesentlichen in der Loyalität zu Habsburg verharrten. Zweifelsohne ist aber auch von diesen beiden Teilgebieten der Volkstumskampf in Preußen mit Anteilnahme verfolgt worden, wobei auch die antideutsche Gefühlsreaktion mitübernommen wurde. Wurde das Posener Polentum bis zum Ausbruch des Weltkrieges vor allem durch den nationalen Aufbau zum Strahlungszentrum der anti- [7] deutschen Tendenz, so kamen nach 1918 die Antriebe zu dieser ungeschwächt weiterbestehenden Einstellung des polnischen Volkes aus der unvernünftigen Grenzziehung zwischen Deutschland und Polen. Der Unterschied gegen früher bestand nur darin, daß nunmehr die Deutschen schutzlos den Verfolgungen der Polen ausgesetzt waren, d. h. daß der Kampf gegen das Deutschtum ein Gegenstand polnischer Staatspolitik geworden war und damit seine Legalisierung erhalten hatte. Die Polen waren die Herren im Lande geworden und sie handelten danach. Es kann hier kein Bild vom Schicksalsweg der Deutschen in Polen gegeben, jedoch müssen die Beweggründe des polnischen Angriffs klargelegt werden. Der Schwerpunkt des Kampfes liegt in den westlichen Grenzgebieten, Posen-Westpreußen und Oberschlesien. Es geht den Polen dabei nicht nur etwa darum, das Deutschtum besitzlos zu machen, von der Scholle, aus der Wirtschaft und dem Handel zu vertreiben, sondern das Ziel ist: die Deutschen aus den westlichen Grenzgebieten zu verdrängen. Das bedeutet entweder die Ausweisung oder bei weniger nationalgefestigten Personen die Polonisierung der Deutschen. Im Hintergrunde des Problems liegt der Wille, den deutschen Charakter der abgetrennten Gebiete zu beseitigen. Diese Zielsetzung kennzeichnet zur Genüge, welche Verbissenheit von polnischer Seite aus ins Feld geführt wird. Sie ist aber auch die Veranlassung dazu, daß die Durchführung des Kampfes nicht auf die Westpolen beschränkt geblieben ist, sondern daß nunmehr das ganze Land daran teilnimmt. Eine geschickt arbeitende Propaganda hat allen Polen die Wichtigkeit des Problems klargemacht und den Appell um das notwendige Verständnis mit einer hemmungslosen Agitation gegen das Deutschtum unterstützt. Diese jahrelang ohne jede Einschränkung betriebene regelrechte Greuelpropaganda hat soweit ihren Zweck erreicht, daß es keinen national eingestellten Polen mehr gibt, der nicht von dem Vorhandensein einer deutschen Gefahr überzeugt wäre. Wenn in den Westprovinzen demnach der Deutschenhaß noch einige Grade giftiger ist als im übrigen Polen, so liegt das an den spezifischen Begleiterscheinungen, die der Volkstumskampf mit sich bringt. Das nationale Leben an den Überschneidungsflächen zweier Völker ist ein weit intensiveres als in den gesicherten Bereichen der Mitte. Die national Indifferenten, die als Zwischenschicht zwischen den Völkern ebenfalls aus diesen Grenzbezirken nicht fortzudenken sind, schalten aus unserer Betrachtung aus, da sie nicht Subjekt, sondern allein Objekt der völkischen Auseinandersetzung sind. Jeder einzelne Bekenner zu seinem Volke hat seine Überzeugung hier jeden Augenblick zu vertreten. Er weiß darum auch den Wert seines Volkstums in einem anderen Maße einzuschätzen, jedenfalls höher als seine Volksgenossen in der Reichsmitte, die ihr völkisches Bekenntnis nicht dauernd in Wort und Tat unter Beweis zu stellen haben. Er kennt aber auch seinen Gegner, mit dem er sich täglich Auge in Auge gegenübersteht, von [8] dem ihn alles, was den Inhalt seines nationalen Wesens ausmacht, trennt, und mit dem er in einem ununterbrochenen Kampf um Sprache, Schule, Religion und wirtschaftliche Existenz liegt. Das Herz eines Volkes schlägt nirgends so stark wie in dem Überschneidungsraum mit einem anderen. Lück schreibt in seinem Werk Der Mythos vom Deutschen in der polnischen Volksüberlieferung und Literatur, daß es sich dabei um ein alle Völker im gleichen Maße angehendes Problem handele. "Wo sie aneinandergrenzen, lieben sie sich nicht nur keineswegs, sondern hegen eine gegenseitige Abneigung. Das ist eine der wenigen Regeln, für die es leider keine Ausnahmen gibt".8 Im Falle der deutsch-polnischen Nachbarschaft gewinnt diese These ein ernsteres Aussehen als anderswo. Hier vereinigen sich so zahlreiche geschichtliche und völkische Belastungen, daß diese zusammen mit der ungeheuer weiten Ausdehnung des völkischen Überschneidungsraumes den deutschen Osten zu der bedeutungsvollsten deutschen Volkstumsfront stempeln. Die verblüffende Wirkung deutschfeindlicher Propagandaaktionen läßt mit Recht auf eine für diese Parolen besonders gute Aufnahmebereitschaft des polnischen Volkes schließen. Um den Kern des von polnischer Seite so stark gefühlsmäßig belasteten nachbarlichen Verhältnisses erkennen zu können, ist es notwendig, näher darauf einzugehen. Lück hat dieser Frage sein schon oben angegebenes Werk gewidmet und seiner Untersuchung ein erdrückendes Material zugrunde gelegt. Er geht dabei von der das polnische Schrifttum beherrschenden Zwangsvorstellung aus, daß ein natürlicher Haß zwischen Deutschen und Polen bestehe. Die erste Äußerung dieser Art lasse sich im Jahre 1309 nachweisen. Weitere Kennzeichen des deutsch-polnischen Gegensatzes - "antagonizm polsko-niemiecki" ist in der polnischen Literatur fast ein geflügeltes Wort - führt Lück in so großer Zahl an, daß nur die bekanntesten genannt werden können. Zunächst das Sprichwort. Lück sagt, daß keines so berühmt geworden sei, wie das in jeder polnischen Hütte bekannte und ungezählte Male gedruckte, dichterisch, wissenschaftlich und publizistisch verwertete:
wird der Deutsche nicht des Polen Bruder sein". ("Jak świat światem, Niemiec Polakowi nie będzie bratem".)9 Lück erläutert hierzu:
"Bismarck erwähnte es in einer Reichstagsrede vom 28. 1. 1886, nachdem darüber vorher im preußischen Landtag der Beuthener Propst Szafranek gesprochen hatte. In seinen Gedanken und Erinnerungen kam er noch- [9] mals darauf zurück. Vor allem aber wurde das Sprichwort im polnischen patriotischen Schrifttum der Nachteilungszeit immer wieder verwertet".10 Und dann das zweite Zeugnis, die "Rota" (Der Eid), 1908 entstanden, später das Kampflied der Pilsudski-Legionen, von dem Lück schreibt, daß keine Dichtung eine so große Volkstümlichkeit erlangt habe wie sie. Es soll hier nur die letzte der drei Strophen folgen, die selbst in polnischen Kreisen als für die polnische Nation entwürdigend empfunden wird:
die Kinder uns nicht germanisieren. Bald kommt der Waffen ehernes Gericht, der Geist wird uns anführen. Blitzt nur der Freiheit goldnes Horn - zur Wehr! Dazu verhelf uns Gott der Herr".11 Es muß hinzugefügt werden, daß die "Rota" nicht etwa ein beliebiges Kampflied ist, sondern in Polen als eine Art Nationalhymne gilt und besonders von der Jugend gesungen wird. Das Material, das Lück vorbringt, setzt sich aus Sprichwörtern, Volksliedern, Witzen, Schwanken usw. zusammen. Es ist der Volksmund in wörtlichem Sinne, der hier spricht und tatsächlich ein tiefes, seltsam ursprüngliches Mißtrauen unseres östlichen Nachbarn offenbart. Das deutsche Volk ist in weiten Teilen von einer solchen Einstellung frei. Gerade die Geschichte der letzten 150 Jahre gibt genügend Beweise dafür, wie wenig Boden im Reich die auf die polnische Haltung hinweisenden Worte weitblickender Männer fanden.12 Im Gegenteil! Die Polenschwärmerei nach dem Aufstand von 1830/31 hat noch jahrzehntelang ihre "unheilvolle Wirkung ausgeübt, indem sie den meisten Deutschen jedes Verständnis für die Probleme des Ostens, insbesondere die schwere Not der deutschen Ostmark in den Jahren 1846/48 nahm und fast deren Verlust verursacht hätte," schreibt Recke. Bismarck habe von Beginn seiner politischen Tätigkeit an mit ihren Nachwirkungen zu kämpfen gehabt und noch bis zum Weltkriege habe eine auf diese romantische Stimmung der dreißiger Jahre... zurückgehende unklare und gefühlsmäßige Beurteilung des polnischen Problems, besonders im Westen und Süden Deutschlands, den Weg zum wahren Verständnis der großen Gefahr, die dem Bestande Preußens und Deutschlands im Osten drohte, versperrt.13 Demnach kann von einem natürlichen Gegensatz von Deutschen und Polen, zumindestens vom Gesichtspunkt des Deutschen aus, nicht die Rede [10] sein. Wie verhält es sich aber auf der Gegenseite? Ist das tatsächlich in der Grundhaltung überall vorhandene polnische Mißtrauen gegen den Deutschen der Ausdruck eines naturgegebenen Zustandes oder besteht es nur in der Vorstellung des polnischen Volkes? Für Lück ist die polnische Ablehnung deutschen Wesens herausgebildet
"durch den Anschauungsunterricht des täglichen Lebens und der greifbaren nächsten Umgebung der deutschen Einwanderung. So seltsam es klingt, gerade die staatsrechtlich und politisch friedliche Durchdringung und Zusammenarbeit der Nachbarvölker, nicht die gegeneinander gerichteten Machtbestrebungen der Staaten, sind die Hauptquelle für die Entstehung der Deutschfeindlichkeit in der breiten Masse des polnischen Bauernvolkes geworden... Die enge Raumgemeinschaft schuf Reibungsflächen großen Ausmaßes".14 Sie lagen im nationalen Unterschied, in dem verschiedenen Recht, vor allem im religiösen Gegensatz. Dazu kam der Gegensatz im Volkscharakter, im Lebensgefühl und in der Leistung. "Die Wissenschaft stellt jedenfalls die beiden Volkstumsfronten immer so dar, daß auf der einen Seite das Gefühl der Überlegenheit, der Aktivität, auf der anderen das der Unterlegenheit, der Passivität herrschte." (Der Mehrwertigkeits- und der Minderwertigkeitskomplex.) Aus diesem Gegenüber ergab sich die polnische Verteidigungsstellung, die "die seit Jahrhunderten in der polnischen Seele aufgespeicherte Feindschaft zum Deutschen" erklärlich macht. "Die Reaktion gegen das, was sich nachher doch zu Nutz und Frommen durchgekämpft hatte," ist im Laufe der Zeit zu einem Mythos vom deutschen Feinde verdichtet worden, der in den ungezählten Ausdrucksformen des Volksmundes und der schöngeistigen Literatur lebendig ist. Denn, so stellt Lück am Schluß seiner Arbeit fest, "in der Nachbarschaftszone zweier Völker löst das Übertragen von Kulturgütern in der Erinnerung der Empfangenden nicht Anerkennung und Dankbarkeit, sondern Abneigung und Feindschaft aus. Zeiten des Gegensatzes bleiben im Gedächtnis des Volkes haften, während Zeiten der Zusammenarbeit ins Unterbewußtsein hinabsinken".15 Dieser Tatbestand wird auch von polnischen Wissenschaftlern erkannt. Sie ziehen aber daraus die Folgerung, daß die Vorurteile einer Gruppe oder eines Volkes über die "Fremden" nur "aktive Verteidigungsmaßnahmen gegen eine etwaige geistige Verbindung mit der fremden Gruppe" seien. "Alle fremden Dinge müssen schlecht sein, weil sie fremd sind".16 Sichtlich meldet sich hier wieder die ewige polnische Unsicherheit, die den Mythos vom deutschen Feinde pflegt und nährt, weil sie darin eine Kraftquelle für die seelischen Widerstandskräfte der Nation sieht.
2Perdelwitz, R.: Die Posener Polen von 1815-1914, S. 5. ...zurück... 3v. Massow: Die Polennot im deutschen Osten, S. 28 ff. ...zurück... 4Perdelwitz, R.: l. c., S. 18. ...zurück... 5Laubert, M.: Die preußische Polenpolitik von 1772-1914, S. 63. ...zurück... 6v. Massow: l. c., S. 29. ...zurück... 7In Posen sprach für die rasche Entwicklung des nationalen Geistes die Tatsache mit, daß hier die Erinnerungen an die historische Vergangenheit am regsten waren. Die Entwicklung in Oberschlesien ging davon getrennte Wege. "Unwiderleglich bleibt bestehen, daß bis um die Mitte des vorigen Jahrhunderts ein völkischer und konfessioneller Gegensatz nicht vorhanden war". (Laubert, M.: Preußische Polenpolitik, S. 167). Erst die systematische Polonisierung des oberschlesischen Schulwesens durch den Regierungs- und Schulrat, späteren Weihbischof Bogedain zerstörte den Frieden. Die entschlossene Abwehr der preußischen Regierung vermochte aber in dem letzten Jahrzehnt vor dem Weltkriege die feindliche Bewegung aufzuhalten. ...zurück... 8Lück, K.: Der Mythos vom Deutschen in der polnischen Volksüberlieferung und Literatur, S. 22. ...zurück... 9Lück, K.: l. c., S. 31. ...zurück... 10Lück, K.: l. c., S. 31. ...zurück... 11Lück, K.: l. c., S. 341. ...zurück... 12In einer 1846 erschienenen Schrift Polen und Deutsche versucht Heinrich Wuttke, seinen deutschen Landsleuten, die mit großer Anteilnahme die Ereignisse des neuen Aufstandes der Polen verfolgten, die Köpfe zurecht zu setzen: "Habt ihr Enthusiasten für die polnische Sache denn gar kein Gefühl für die eigene?" S. 3 ff. ...zurück... 13s. Recke, W.: Die polnische Frage als Problem der europäischen Politik, S. 123. ...zurück... 14Lück, K.: l. c., S. 8 ff. ...zurück... 15Lück, K.: l. c., S. 470. ...zurück... 16Znaniecki, Florian: Studia nad antagonizmem do obcych, S. 54, Posen 1931. ...zurück...
|