VII. Die großdeutsche Kultureinheit
(Forts.)
Die großdeutsche Kultureinheit in der
Musik
Universitätsprofessor Dr. Robert Lach
(Wien)
Subjektivität und Individualisierungstendenz im
deutschen Volkscharakter Bedeutung der Musik für
die deutsche Kultureinheit Landschaft und
Musik Schütz Bach
Händel Kiel Brahms
Wien im deutschen Musikleben Neidhart von
Reuenthal Die alpenländische
Volksmusik Haydn Mozart
Schubert Bruckner Beethoven das Symbol der
norddeutschen und österreichischen Seele.
Ein bekanntes Scherzwort sagt: "Wenn zwei Deutsche zusammenkommen, bilden
sie drei Parteien." Es wird hiemit in witziger und scherzhaft übertreibender
Weise auf ein Moment hingewiesen, das in der Tat einen Grundzug des
deutschen, vielleicht alles germanischen Wesens überhaupt bildet und
für das die philosophische Terminologie den Ausdruck principium
individuationis geprägt hat. Jedem, der die Geschichte der
germanischen
Völker – und der deutschen Stämme im
besonderen – überblickt, drängt sich in oft schmerzlich
fühlbarer Weise die Erkenntnis auf, wie hier in vielhundertjährigem
Drängen eine [287] unermeßliche
Fülle wertvollster, ja unschätzbarster Kräfte in gegenseitigem
Ringen, Sichbekämpfen und feindlichem Aufeinanderprallen der einzelnen
Stämme vergeudet und zersplittert wurde und wie Mächte, die
bestimmt waren, verbunden und geeinigt eine zermalmende Stoßkraft zu
entwickeln, sich zermürbten und verpufften in gegenseitigem
Einander-Aufreiben. Schon die Römer kannten als bestes und einziges
Mittel, die furchtbare Gefahr zu bannen, die dem römischen Imperium von
der unverbrauchten jugendlichen Kraft der germanischen Stämme drohte,
die unerbittlich strenge Durchführung des Satzes: Divide et impera!
Und dieser unselige Hang zur Zerklüftung und
Zersplitterung – wohl eine andere Ausdrucksform und Folgeerscheinung
der im Wesen des deutschen Volkes und der deutschen Volksseele liegenden
Subjektivität und
Individualisierungstendenz – ist dem deutschen Volke stets geblieben. Wo
immer man die Blätter der deutschen Geschichte
aufschlägt – sei es nun auf dem Gebiete der politischen oder der
Kulturgeschichte –: immer und überall tritt uns die betrübliche
Erscheinung entgegen, daß die einzelnen deutschen Stämme einander
häufig entweder in unverhüllter Feindschaft und Eifersucht oder
doch wenigstens mit Mißtrauen, Gleichgültigkeit und kühler
Reserve, wenn nicht gar mit spöttelnder Nörgelei oder
mitleidig-verächtlicher Überlegenheit aufeinander gegenseitig
herabsehend, gegenüberstehen. Und selbst in der neueren und neuesten
Zeit, als durch gemeinsam erlebtes schweres Leiden unter der Bedrückung
und Knechtung durch fremde Eroberer sowie durch gewaltige, großartige
Siege und Heldentaten sich das Gefühl der Gemeinsamkeit und nationalen
Zusammengehörigkeit immer mehr vertiefte, verdichtete und
verstärkte, um schließlich, dank der unsterblichen Lebensarbeit eines
großen, politischen, nationalen Genies, in der Schöpfung eines
großen deutschen Kaiserreiches zu gipfeln: auch in dieser Zeit konnte der
Genius des deutschen Volkes sein unverbesserliches Principium
individuationis nicht ganz vergessen und verleugnen: die einzelnen
Stämme des nunmehr zu einer großen nationalen Einheit
zusammengeschweißten Volkes
mußten – und müssen noch
immer – wenigstens in scherzhafter und humoristischer Weise ihr
Mütchen aneinander kühlen, indem der Baier den Preußen, der
Preuße den Österreicher, der Norddeutsche den Süddeutschen
mit bald gutmütig neckendem, bald
kaustisch- [288] beißendem,
boshaftem Spotte hernimmt, und der Sachse, der Schwabe usw. in
ähnlicher Weise als Zielscheibe mehr oder minder gelungener Witze dienen
müssen, wie schon die mittelalterliche deutsche Volkssage dies mit ihren
Lalenbürger-, Schildbürger- und
Sieben-Schwaben-Spässen zur ausgiebigen Beschäftigung der
Lachmuskeln gründlichst besorgt hat.
Und doch gibt es etwas, das alle deutschen
Stämme – trotz diesem
Separations- und Individualisationsdrang – einigt und durch ein
untrennbares Band wenigstens in geistiger Hinsicht miteinander verbindet: die
gemeinsame Liebe und Begabung zur Musik. Von der ganzen Kulturwelt, ja sogar
auch von den erbittertsten Widersachern des deutschen Volkes, muß diesem
zugestanden werden – und wird auch in der Tat widerspruchslos
zugestanden –, daß es eine der führenden Nationen auf dem
Gebiete der Musik ist. Diese ganz besondere musikalische Begabung des
deutschen Volkes ist gewiß kein Zufall. Dieselbe seelische Veranlagung, die
das nach Innenversenktsein, das Grübeln und Denken des deutschen Volkes
bedingt – eine Veranlagung, die dem deutschen Volke den Ehrennamen des
Volkes der Denker und Forscher und einen Ehrenplatz in der Geschichte der
Philosophie verschafft
hat –, dieselbe Veranlagung hat ihren Ausdruck auch in der Begabung des
deutschen Volkes für die Musik gefunden, das ist also für jene
Kunst, die wie keine andere den Ausdruck und das Ventil der Innerlichkeit und
des Seelenlebens, die Kunst der Innerlichkeit, ist. Und wenn auch nicht zu
leugnen ist, daß die Musik überhaupt und im allgemeinen schon an
und für sich bei allen europäischen Kulturvölkern,
nicht bloß bei den Deutschen und den germanischen Völkern allein,
der Ausdruck des Seelenlebens ist und daß
die übernationalen Strömungen gerade auf diesem Gebiete des
menschlichen Schaffens eine ganz eminente Bedeutung haben, so muß man
doch anderseits wieder zugestehen, daß im Leben und in der Seele des
deutschen Volkes die Musik und das musikalische Schaffen eine ganz besonders
wichtige Rolle spielt und daß dieses musikalische Schaffen mehr als das
Erleben und Genießen ganz bestimmte Züge einer deutschen
Gemeinsamkeit aufweist. Und so, wie im Leben und der Kultur sowie der
Geschichte des deutschen Volkes dessen einzelne Stämme, jeder in seiner
Weise und nach seinen Kräften, beisteuern zu dem großen Schatze
der Gesamtkultur des [289] Deutschtums und so
sozusagen die einzelnen Komponenten liefern, aus deren Zusammenwirken sich
als Resultierende jenes große Kulturphänomen ergibt, das in der
Kulturgeschichte der Menschheit als "deutsche Kultur" dasteht, so lassen sich
auch in der deutschen Musik je nach der Zugehörigkeit der einzelnen
deutschen Meister zu verschiedenen Stämmen verschiedene
charakteristische Züge und Wesenseigentümlichkeiten erkennen,
welche dem Werke dieser Meister, ganz abgesehen von ihrer ganz speziellen, nur
ihnen als Persönlichkeit eigenen Individualität, eine besondere
Färbung und Prägung verleihen, durch die es sich von dem anderer,
aus anderen deutschen Stämmen hervorgegangener Meister deutlich und
klar abhebt.
Es hat sich in neuester Zeit eine eigene Schule gebildet, die von der
ganz richtigen Erkenntnis ausgeht, daß jedes Individuum und analog auch
jeder Stamm, jedes Volk, jede Rasse eine ganz spezielle, nur ihnen
eigentümliche Art und Weise, auf die Eindrücke der
Außenwelt zu reagieren, besitzt und demgemäß aus der Art und
Weise dieses Reagierens auf die Eindrücke der Außenwelt, also aus
Mienen- und Gebärdenspiel, Körperhaltung, Bewegung der
Extremitäten, Art und Weise zu gehen und sich zu bewegen sowie zu
sprechen oder zu singen, Intonation, Stimmlage u. dgl., ein
untrüglicher Rückschluß auf die Individualität des sich
Äußernden sowie auf seine Zugehörigkeit zu einem ganz
bestimmten Stamme, Volk u. dgl. möglich ist, so daß sich
eigene ganze Kategorien verschiedenster Typen aufstellen lassen. Diese
Typenlehre, die von den feinsinnigen Beobachtungen Josefs und Otmars Rutz
ihren Ausgang nahm und durch Eduard Sievers' hochgeniale und grenzenlos
feinfühlige Methodik zu einem umfassenden Lehrgebäude ausgebaut
worden ist, ermöglicht es, die
musikalisch-formalen Kriterien der künstlerischen Schaffensweise eines
Meisters auf ihre
psycho-physiologischen Grundlagen: die vorhin charakterisierte Art und Weise
seines reaktiven Verhaltens zu den Eindrücken der Außenwelt,
zurückzuführen, ähnlich wie ja auch die verschiedenen Typen
von Temperamenten sich durch die verschiedene Art und Weise, auf die
Eindrücke der Außenwelt zu reagieren, voneinander unterscheiden.
Analysiert man nun an der Hand dieser methodischen Hilfsmittel die musikalische
Ausdrucksweise und Formensprache der Musik, dann zeigt sich, daß nicht
bloß jedes Volk, also auch das deutsche, die ihm nach Maßgabe
seines [290]
Temperaments usw. speziell eigentümliche Art und Weise der
musikalischen Gestikulationen: also Tonfall, Stimmlage, Melodik, Tempo,
Dynamik u. dgl. zum Ausdruck bringt, sondern daß ebenso auch
jeder einzelne deutsche Stamm wieder durch ganz bestimmte
musikalisch-formale Kriterien seines musikalischen Schaffens charakterisiert ist,
die als künstlerisch-ästhetische Korrelate seinem
psycho-physiologischem Gesamthabitus korrespondieren. Vor allem ist es der
Gegensatz zwischen norddeutschen und süddeutschen Stämmen, der
in der Musik einen überaus charakteristischen und prägnanten
Ausdruck findet. Wenn die Musik der norddeutschen Stämme durch eine
überaus große Strenge der Stimmführung, Straffheit der
Rhythmik und Herbheit der Melodik sowie der
Harmonik – um hier nur einige der oberflächlichsten, auf den
flüchtigsten Blick offenkundigst auf der Hand liegenden Merkmale
anzuführen – charakterisiert ist, so sind demgegenüber
anderseits die hervorstechendsten Merkmale der süddeutschen Musik die
größere Ungebundenheit und Lockerung der Stimmführung,
die mehr einschmeichelnde, weichere, gefälligere, sinnlichere Melodik und
Harmonik sowie die weniger straffe, ungebundenere Rhythmik. Am
sprechendsten und deutlichsten kommt dieser innerliche Gegensatz zum Ausdruck
in dem Gegensatz zwischen den großen norddeutschen Meistern
Schütz, Bach und Händel
einer- und jener süddeutschen Schule anderseits, die man als die
Mannheimer Schule und die Wiener klassische Schule zu bezeichnen pflegt. Man
komme nicht mit dem Einwand, daß es unzulässig sei, diese eben
erwähnten Meister und Schulen miteinander zu vergleichen und als
Antagonisten gegeneinander auszuspielen, da sie einerseits Repräsentanten
verschiedener Zeitepochen und verschiedener künstlerischer Stile seien und
anderseits gerade einer der eminentesten Vertreter der Wiener
Klassiker-Schule: Beethoven,
kein Österreicher gewesen sei, ebenso wie
anderseits gerade ein nach seiner Abstammung norddeutscher
Meister – und noch dazu ein Sohn des großen Johann Sebastian
Bach –: Philipp Emanuel Bach,
die Abkehr von dem strengen Stile seines
großen Vaters zu dem mehr gefälligen, leichteren, leichtsinnigeren
"galanten Stile" der Späteren repräsentiere. Diesem Einwand
gegenüber ist darauf hinzuweisen, daß derselbe herbe, strenge,
schroffe Geist, der sich in den Werken der alten norddeutschen Meister offenbart,
ja auch noch im 19. Jahr- [291] hundert in der Musik
eines Kiel oder Brahms fortlebt, ebenso wie anderseits das mehr
äußerliche, anmutige, graziöse und gefällige Wesen der
süddeutschen und österreichischen Musik schon im Mittelalter, und
zwar im 12. und 13. Jahrhundert, in den leichtsinnigen und
leichtfüßigen Tanzweisen eines Neidhart von Reuenthal, seinen
Ausdruck findet. Allerdings ist es hiebei eine besondere Frage für sich, was
an dieser Musik Neidharts von Reuenthal
original-subjektives, individuelles Eigentum und Ausfluß seiner
Künstlerindividualität ist und was davon auf Rechnung des
Einflusses des spezifisch wienerischen und niederösterreichischen
Lokalkolorits zu setzen ist.
Und damit sind wir auch schon bei dem eigentlichen
Kern- und Angelpunkt unserer Betrachtung angelangt. Wenn man die
Musikgeschichte Deutschlands von dem Gesichtspunkt aus überblickt,
welche deutschen Landschaften und Stämme für die Hervorbringung
von Musikbegabungen vor allem in Betracht kommen, dann kann man als die
wichtigsten und an Begabungen reichsten, spezifisch
musikalisch-produktiven Landschaften etwa die folgenden bezeichnen: von
Norddeutschland Sachsen, Thüringen, Nordwestdeutschland (die
Städte an der
Weser- und Elbemündung: Hamburg, Bremen, Lübeck uw.)
bis an die niederländische Grenze, Schlesien,
Mittel- und Unterrheingegenden, Hessen, die Pfalz, von Süddeutschland
Südwestdeutschland (Mannheim usw.), Bayern und schließlich
die österreichischen Länder, und hier, in lezteren,
wieder – von Steiermark,
Nieder- und Oberösterreich
abgesehen – vor allem Wien. Es ist merkwürdig, in wie früher
Zeit schon der spezifisch wienerische Charakter in der Musik zutage tritt. Wenn
man die bereits oben erwähnten Tanzweisen Neidharts von Reuenthal
überblickt, so findet man in ihnen bereits viel von demselben
gutmütig-neckischen,
liebenswürdig-müßiggängerischen,
schlendernd-anmutigen, leichtsinnig-flotten,
übermütig-leichtlebigen, graziös-jovialen Wesen, das dann
später, am Anfang des 19. Jahrhunderts, in der Biedermeierzeit, in
den Tanzweisen eines Lanner und Strauß, uns wieder entgegentritt und in
zahlreichen Liedern, Tänzen, Märschen und Melodien Schuberts
seine unsterbliche Vollendung und Verklärung gefunden hat. Und dieses
selbe anmutige, liebliche, graziöse,
neckisch-tändelnde, leichtsinnig und
flott-leichtlebige, gelegentlich
keck-übermütige und in
ausgelassen-lustig hervor- [292] sprudelndem Humor
sowie überschäumendem Witze, in harmloser Fröhlichkeit
oder in gutmütigem Spotte sich Luft machende
quecksilbern-lebendige Wesen, wie es in der Volksmusik und den Tanzweisen
Wiens sowie – nur etwas derber und
handgreiflicher – in den Gstanzeln, Schnadahüpfeln u. dgl. der
deutsch-österreichischen
Land-, vor allem der Alpenbevölkerung, zum Ausdruck gelangt, spielt auch
eine große Rolle in der Kunstmusik der österreichischen Talente und
Genies von den zahlreichen kleineren Begabungen der Biedermeierzeit an bis
hinauf zu der Fleisch und Blut gewordenen Musikpsyche, der leibhaftigen
Inkarnation des Wiener und österreichischen Musikgenius überhaupt:
Franz Schubert. Wenn man Bach, Händel und Schütz die
Verkörperung des norddeutschen Musikgenius nennen darf, so muß
man Haydn, Mozart und Schubert
als solche des süddeutschen, speziell
deutschösterreichischen, den letztgenannten aber im besonderen als die
spezifische Verkörperung des Wiener Musikgenius bezeichnen. Und dieser
Wiener Musikgenius ist es nun auch, der der ganzen süddeutschen Musik
seinen Stempel aufgedrückt hat, einen Stempel, dem sich die
größten Genien der Musik nicht zu entziehen vermochten, ja unter
dessen Eindruck sie erst zur Gewinnung ihres eigentlichen Stiles und damit ihres
eigentlichen Lebenswerkes gelangten. Denn was ist der Stil der sogenannten
"Wiener Klassiker" anderes als eine Synthese des gemeindeutschen Musikgeistes
mit dem Wiener Musikgenius, genauer gesprochen: eine Milderung, Linderung,
Erleichterung der Strenge des ersteren durch den
anmutig-liebenswürdigen Leichtsinn des letzteren? Die Strenge des
Formenbaues und der obligaten Stimmführung, die Straffheit des
Rhythmus, die Herbheit der Harmonik und Melodik, wie sie von den großen
norddeutschen Meistern des 17. und 18. Jahrhunderts geschaffen und als
kostbares, ehrwürdiges Vermächtnis und Erbe dem deutschen Volk
und damit der ganzen Menschheit hinterlassen worden war, mußte gegen
die Mitte des 18. Jahrhunderts dem flotteren, leichtlebigeren und
leichtsinnigeren, aber auch salopperen "galanten" Stil weichen, und
Süddeutschland, zuerst Mannheim, dann Wien, war es, das diesen neuen
Stil bis zur höchsten Vollendung ausbildete, zu jenem Stil, der in der
Musikgeschichte mit dem Ausdrucke "Wiener Klassiker"stil bezeichnet wird. Und
mutet es nicht wie ein besonders pikanter Witz der Geschichte [293] an, daß von den
drei großen Genien, die als die Hauptrepräsentanten der Wiener
klassischen Schule dastehen, auch nicht ein einziger wirklich aus Wien stammte? Haydn war ein Niederösterreicher, Mozart ein Salzburger, Beethoven gar
ein Rheinländer! Und doch vollzog sich bei ihnen allen dreien die gleiche
Erscheinung: unter dem Einflusse der Lokalatmosphäre Wiens assimilierte
sich ihr Wesen und ihr ganzer Geist immer stärker dem Wiener
Lokalgenius, bis aus dieser Synthese oder, besser gesagt, Durchdringung etwas
ganz Neues, Eigenes, bis dahin nie Dagewesenes hervorging: die Wiener
Klassikermusik. Und es ist ganz merkwürdig, wie dieser musikalische
Wiener Lokalgenius alle Genies und Talente in seinen Bann fesselte und
magnetisch anzog: wie es im 16. und 17. Jahrhundert war, wo fast alles,
was an musikalischen Talenten vorhanden war, nur irgendwie musikalische
Begabung besaß und musikalische Vollendung anstrebte, nach Wien zog
und in Wien zur Geltung zu komme suchte, genau so wiederholt es sich noch bis
in die letzten Dezennien der Musikgeschichte der neueren Zeit hinein. Man denke
nur an Johannes Brahms,
den spröden, kantigen, knorrigen und eckigen,
schroffen Norddeutschen, der sich in der "Phäakenstadt an der Donau" so
wohl fühlte, daß er sie niemals mehr als dauernden Wohnsitz
verließ und die salzige Seeluft seiner nordischen Heimatstadt gerne gegen
die schmeichelnd-linden, weichen Lüfte des Wiener Waldes eintauschte, man
denke an Bruckner, der die ländliche Stille seines
oberösterreichischen Marktfleckens und den geweihten Gottesfrieden des
Stiftes St. Florian aufgab, um in der Stadt Schuberts und Beethovens leben
und wirken zu können, man denke an Hugo Wolf, an Robert Fuchs und
Johann Nepomuk Fuchs, welche letztere beiden ihr grüne
steiermärkische Heimat verließen, um in Wien eine neue Heimat und
ihren Wirkungskreis zu finden, man
denke – um auch ein Beispiel aus der unmittelbarsten Gegenwart
heranzuziehen – an Joseph Marx, der ebenfalls seine steirische Heimat
verließ, um der lockenden inneren Stimme zu folgen, die ihn nach Wien
rief, wo ihm Ruhm und eine angemessene Wirkungsstätte winkte!
Es ist
etwas Merkwürdiges um diese dämonische Anziehungskraft Wiens
auf alle deutschen Musiker. Ist es die milde, freundliche Landschaft des Wiener
Waldes und der Donauauen, die sich in der Musik Wiens und
Deutschösterreichs widerspiegelt? Es ist oft darauf
hin- [294] gewiesen worden,
daß die Musik Schuberts mit ihren bald
anmutig-neckisch tändelnden, bald
feierlich-breiten, groß auslegenden Rhythmen getreulich das Bild der
mild-freundlichen österreichischen (und speziell wienerischen)
Donaulandschaft widerspiegelten: des Wiener Waldes mit seinen graziösen,
jugendfrischen Buchenbeständen sowie keuschen, schlanken
Birkengruppen und der zwischen rebenumsponnenen Abhängen und ernst
von Felsen herabschauenden altersgrauen, trotzigen Burgen schwer, gewichtig
und feierlich-ernst dahinrauschenden, altehrwürdigen Donau. Und es ist auch
schon der Versuch gemacht worden, die Musik der verschiedenen Länder
und Völker aus einer in Tönen vollzogenen Abbildung des Profils
des geographischen Landschaftsbildes des betreffenden Landes zu erklären:
gebirgige Länder hätten eine Musik, in deren Melodik die zackigen,
wildzerrissenen und zerklüfteten, hochaufstrebenden Berggipfel und
jäh abfallenden Schluchten und Klüfte sich als hohe und tiefe
Sprünge und
zackig-zerrissenes Melodieprofil widerspiegelten, in ebenen oder nur schwach
hügeligen Ländern ansässige Völker dagegen
hätten Gesänge, deren Melodieprofil eine nur gelegentlich von
geringfügigen, kleinen, wellenförmigen Hebungen oder Senkungen
unterbrochene, im großen ganzen glatt und ebenmäßig
verlaufende Linie zeigte. Man mag nun über diese Hypothese denken wie
man will: man mag sie lächerlich und abgeschmackt finden oder man mag
sie ernst nehmen: eines scheint mir immerhin des Versuches wert: das Ethos der
Musik der verschiedenen deutschen Stämme im Hinblick auf das
Landschaftsbild der betreffenden Stämme mit einander zu vergleichen.
Sollte es denn ganz unwahrscheinlich sein, daß der düstere,
großartige, feierliche Ernst der norddeutschen Landschaft mit ihren
schwarzen, in tiefdunklen Seen sich spiegelnden Fichten und Tannen, den
melancholischen
Heide- und Moorlandschaften oder den unter düsterem, von schwarzen und
grauen Wolken umzogenem Himmel eintönig dahinrauschenden oder
vom Sturme gepeitschten, brüllenden und schäumenden Wogen der
Nordsee sich auch in dem großartigen, feierlichen Ernste sowie der
titanischen Größe und Erhabenheit der Musik eines Bach oder
Händel in ähnlicher Weise widerspiegle wie die anmutige,
mild-freundliche und liebliche
Wiener-Wald-Landschaft in der Musik eines Schubert? Und sind diese beiden
Pole von deutschen Landschafts- [295] bildern nicht auch ein
Symbol Deutschlands überhaupt in dem Sinne, daß sie zueinander
gehören wie der Nord zum Süd, das Meer zum Gebirge, der
Norddeutsche zum Süddeutschen? Beide voneinander grundverschieden
und doch zueinander gehörig, geeint durch die eine, gemeinsame
Volksseele und Volkssprache? Bach und Händel
einer-, Schubert, Haydn und Mozart anderseits als Symbole Deutschlands und
Österreichs? Beide Gruppen getrennt und doch beide
zusammengehörig durch den deutschen Geist, der in ihnen lebt, durch das
deutsche Herz, das in ihnen schlägt?
Bach–Händel und Schubert, Haydn und Mozart,
gehören sie nicht zueinander wie Deutschland und Österreich? Und
sind sie nicht vereint durch den gemeinsam in ihnen lebenden deutschen Geist, so
wie in Beethoven
die deutsche und österreichische Musikseele sich
vereinte? Und ist nicht Beethoven ein Symbol dieser Vereinigung der deutschen
und österreichischen Seele, ein Symbol, das ewig fortdauern und bestehen
wird, so ewig wie die Zusammengehörigkeit von Deutschland und
Österreich?
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