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[Bd. 4 S. 323]
9. Kapitel: Deutsches Schicksal in Osteuropa.

  Schachty-Prozeß  

Wir wollen uns nun dem Osten zuwenden. Hier standen dem Reiche seit zehn Jahren zwei Mächte in mehr oder weniger verborgener Feindschaft gegenüber, Rußland und Polen. Deutschland hatte zwar, alten Traditionen folgend, in Rapallo versucht, ein gutes Verhältnis mit Rußland herzustellen, so wie es Bismarck stets im Auge hatte. Der Sowjetstaat seinerseits hatte das gleiche Ziel 1925 und 1926, indem er den Grundsätzen zarischer Politik zur Zeit Napoleons folgte: er mußte verhindern, daß Deutschland in die Koalition der Westmächte einbezogen wurde. Die Kluft aber, die zwischen den beiden ungleichen Mächten herrschte, war der Unterschied des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems. Dem kapitalistisch-bürgerlichen Deutschland stand ein bolschewistisch-proletarisches Rußland gegenüber, und die heimlichen Wühlereien der Komintern in Moskau bildete für Deutschland eine stete Quelle der Unruhe und Verstimmung, wie sich dies auch im Donez-Prozeß, Frühjahr 1928, wieder zeigte. Sechs deutsche Ingenieure, die im Donezgebiet wirkten, wurden der Industriespionage beschuldigt und am 10. März verhaftet und erst auf Eingreifen des deutschen Botschafters nach sieben Tagen wieder auf freien Fuß gesetzt. Am 18. Mai wurde in Moskau der Prozeß gegen drei dieser deutschen Ingenieure wegen wirtschaftlicher Gegenrevolution eröffnet. Am 6. Juli endlich wurde das Urteil verkündet, welches bei zwei Angeklagten auf Freispruch, beim dritten auf ein Jahr Gefängnis mit Bewährungsfrist lautete. Die ganze Schachty-Angelegenheit war im Grunde genommen viel Lärm um nichts, aber sie zeigte doch wieder einmal recht deutlich, wie unsicher für die Deutschen trotz bestehender Wirtschafts- und Freundschaftsverträge der Aufenthalt in Rußland war. Als im Sommer 1929 zwischen Rußland und China der Krieg auszubrechen drohte, hatte Deutschland den Schutz der russischen Staatsbürger auf chinesischem Gebiet übernommen. Doch nach Ansicht der Sowjetregierung erfüllten die deutschen [324] Organe ihre Aufgabe nicht gehörig, und sie überhäufte aus diesem Grunde die Reichsregierung unablässig mit Vorwürfen. –

Die Beziehungen zu Polen waren und blieben unerquicklich. Schuld daran war einerseits der fanatische Deutschenhaß der Polen, andererseits der polnische Expansionstrieb. Beide gingen Hand in Hand. Die unwürdige Behandlungsweise, welche die Polen den auf ihrem Staatsgebiete lebenden Deutschen zuteil werden ließen, veranlaßten die Reichsregierung, beim Völkerbund in Genf die Regelung der Minderheitenfrage zu betreiben. Besonders in Oberschlesien herrschte nach wie vor ein unglaublicher Schulterror.

Streit um
  Minderheitenschulen  
in Polen

Um das Verhältnis der beiden Kulturen Deutschlands und Polens in eine friedliche Bahn zu führen, war am 15. Mai 1922, kurz bevor Ostoberschlesien an Polen überging, in Genf das "Deutsch-Polnische Abkommen über Oberschlesien" getroffen worden. Dieses Abkommen suchte in großzügiger Weise sowohl im polnischen wie im deutschen Oberschlesien die nationalen Minderheiten zu schützen. So wurde darin bestimmt, daß von den Behörden die Zugehörigkeit zu einer völkischen, sprachlichen oder religiösen Minderheit weder nachgeprüft noch bestritten werden dürfe; daß zwischen Mehrheits- und Minderheitsbürgern keinerlei Unterschied zu machen sei, insonderheit, daß Behörden und Beamte Minderheitsbürger nicht verächtlich machen dürften und zu ihrem Schutze einzuschreiten hätten. Besonders das Schulwesen wurde genau geregelt. Es mußten Minderheitsschulen errichtet werden, wenn wenigstens 40 Erziehungsberechtigte dies verlangten. Die Minderheitsschule dürfte wieder geschlossen werden nach einem Jahre, wenn weniger als 20, nach drei Jahren, wenn in der ganzen Zeit weniger als 40 Kinder sie besuchten. Die Minderheitssprache wurde für Kreistage, Gemeindevertretungen und Gemeindeversammlungen, zum Teil auch vor Gericht anerkannt. Im deutschen wie im polnischen Schlesien sollte je ein Minderheitsamt als Beschwerdestelle eingerichtet werden; die beiden Minderheitsämter unterstanden dem Präsidenten der Gemischten Kommission, Calonder.

[325] Trotz dieser klaren Bestimmungen kehrte sich Polen nicht im geringsten an das Recht der deutschen Minderheiten. Seit 1922 sind die Jahre ausgefüllt mit andauernden Klagen der Deutschen wegen der Bedrückungen besonders im Schulwesen, welche sie von Polen erleiden mußten. So mußte Calonder z. B. kurz vor Weihnachten 1926 entscheiden, daß die Ablehnung von 7008 Anträgen auf Errichtung deutscher Minderheitenschulen durch Polen unzulässig sei, daß die deutschen Kinder ex officio den Minderheitenschulen zugeführt werden müßten. Auch dürfe eine Bestrafung der Eltern, die ihre Kinder seit September nicht zur Schule geschickt hätten, nicht erfolgen. Es würde ermüden, all diese Schulreibereien im einzelnen zu erzählen. Es mag genügen, verschiedene Fälle anzuführen.

Bei der Hartnäckigkeit der Polen, mit der sie die Vorstellungen des deutschen Minderheitenamtes ignorierten, sahen sich die Deutschen genötigt, die Entscheidung des Präsidenten Calonder, ja des Völkerbundes anzurufen. So entschied Calonder Mitte Mai 1928, daß die deutsche Minderheit das unbeschränkte Recht besitze, Einrichtungen, die sich die Hebung der kulturellen und sozialen Lage ihrer Angehörigen zum Ziele setzten, zu erwerben und ohne jede Einschränkung zu führen. Um diese Zeit war auch eine deutsche Klage wegen nichtgestatteter Errichtung von Minderheitsschulen in Biertultau, Gieraltowitz und Stara Wies beim Völkerbundsrate anhängig. Der Dreierausschuß des Rates entschied am 9. Juni in dieser Angelegenheit folgendes: Jede Person, die Errichtung einer Minderheitenschule oder Zulassung eines Kindes zu einer solchen bereits bestehenden beantragt, muß verantwortlich erklären, welches die Sprache des Kindes ist; die polnische Regierung hat das Recht, zu Minderheitenschulen solche Kinder nicht zuzulassen, deren Sprache nach der Erklärung der Erziehungsberechtigten nur das Polnische ist, oder bezüglich deren Sprache eine Erklärung fehlt; die polnischen Behörden dürfen Erklärungen verantwortlicher erziehungsberechtigter Personen über die Sprache des Kindes keiner Nachprüfung, Bestreitung, sowie keinem Druck und keiner Beeinträchtigung unterwerfen.

[326] Polen scheute sich jedoch nicht, kurz nach dieser Entscheidung, am 1. September 1928, sechs deutsche Minderheitenschulen unter dem Vorwand, die Schülerzahl sei zu gering, zu schließen. Zu Beginn des Jahres 1929 gab es noch 75 deutsche Schulen in Oberschlesien, um die mit der gleichen Erbitterung wie bisher gekämpft wurde. In 15 von ihnen wurden im August 1929 618 Kinder neu angemeldet, von denen 242 zurückgewiesen wurden. In manchen Orten betrug die Zahl der Zurückgewiesenen bis zu 90 Prozent. So wurden in der Gemeinde Radzionkau im Kreise Tarnowitz von 72 deutschen zur Minderheitenschule angemeldeten Kindern nur 15 aufgenommen. Ähnlich lagen die Verhältnisse in Königshütte, Bismarckhütte, Schwientochlowitz, Hohenlinde, Friedenshütte, Morgenroth, Schlesiengrube, Goddulahütte und Orzegow. In Lipine wurden mehr als 30 Kinder von der deutschen Minderheitenschule ausgeschlossen. In vielen Fällen handelte es sich bei den zurückgewiesenen Kindern um solche, die seinerzeit die sogenannten Sprachprüfungen des Schweizer Schulfachmannes Meurer nicht bestanden hatten. Jedoch die Eltern dieser Kinder hatten nach einer Entscheidung des Präsidenten der Gemischten Kornmission, Calonder, vom Februar 1929 das Recht, für das neue Schuljahr ihre Kinder von den polnischen nach den deutschen Schulen umzumelden.

Als einen weiteren, nicht stichhaltigen Grund führten die Behörden an, daß die Eltern nicht die Erklärung über die Minderheits- und Sprachenzugehörigkeit abgegeben hätten. Hierbei handelte es sich um bewußte Fälschungen von polnischer Seite. Sehr oft beeinflußten die Polen auch durch Drohungen die deutschen Erziehungsberechtigten. Senator Dr. Pant aus Königshütte wendete sich Anfang September 1929 beschwerdeführend im Namen der deutschen Abgeordneten Polens an das Völkerbundssekretariat nach Genf. Schon im Juli 1928 hatte er sich dort beschwert über die Unzulässigkeit der polnischen Forderung, daß die Eltern persönlich zur Schulanmeldung zu erscheinen hätten, und hatte Beseitigung der verschiedenen Formalitäten gefordert, durch die den Eltern ihre Rechte auf die Schule aus dem Genfer [327] Vertrage verkürzt wurden. Da die Vorstellungen bei der Woiwodschaft keinen Erfolg hatten, forderte Pant im September 1929 vom Völkerbund, daß bis zur endgültigen Klärung der Beschwerde die Kinder in die Minderheitenschule zugelassen werden sollten. –

Wie die Seelen der deutschen Kinder, die zwangsweise in die polnischen Schulen geschickt werden mußten, vergewaltigt wurden, schilderte der Oberschlesische Kurier. Die Kinder der polnischen Klasse in Lipine sollten einen Aufsatz über das Thema "Was für Nachbarn sind die Deutschen?" schreiben. Man zwang die Kinder, auch die Deutschen, niederzuschreiben, daß die Deutschen die Feinde Polens seien und immer ihre große räuberische Pfote nach Polen ausgestreckt hätten. Die Deutschen seien Diebe, Lumpen, Hunde, Geschwüre und Schlangen!

  Bedrückungen der Deutschen  

Die oberschlesischen Deutschen waren auch sonst starken systematischen Verfolgungen und Gewaltmaßnahmen der polnischen Behörden und Bevölkerung ausgesetzt. Der Westmarkenverein terrorisierte sie. Die Gerichte fällten Tendenzurteile und scheuten sich nicht vor Rechtsbeugungen.

Eine gewissenlose Hetze wurde getrieben gegen alles, was deutsch war. So hörten wir, daß Anfang 1926 der Polnische Westmarkenverein eine rührige und skrupellose Pressekampagne gegen die oberschlesischen Deutschen entfaltete. Viele von ihnen wurden verhaftet, deutschsprachige Zeitungen wurden beschlagnahmt, ja, der deutsche Generalkonsul in Kattowitz wurde öffentlich der Spionage verdächtigt. Am 30. Juni 1926 wurde zwar zwischen der deutschen und polnischen Regierung ein Ausweisungsvertrag betretend Oberschlesien geschlossen. Danach sollte die Ausweisung Angehöriger des anderen Staates aus Oberschlesien nur erfolgen auf Grund gerichtlicher Bestrafungen schwerwiegender Art, ferner bei Inanspruchnahme der öffentlichen Armenpflege oder bei staatsfeindlicher Betätigung. Dennoch entfernten die Polen systematisch alle Deutschen aus den leitenden Stellen der oberschlesischen Industrie und wiesen sie wegen staatsgefährlicher Umtriebe aus! – Einen besonderen Anlaß für die polnischen Feindseligkeiten bildete der deutsche Wahlsieg bei den oberschlesischen Gemeindewahlen im Herbst [328] 1926. Bei dieser Gelegenheit kam es sogar zu einem höchst spannenden Notenwechsel zwischen Berlin und Warschau. Der Abgeordnete der Bayerischen Volkspartei, Dr. Emminger, hatte nämlich am 23. November im Reichstag folgendes gesagt:

      "Mit Genugtuung haben wir von dem Ergebnis der Gemeindewahlen in Ostoberschlesien Kenntnis genommen. Mit größter materieller und seelischer Bedrängnis ist eine unbestrittene deutsche Mehrheit gewählt. Wir geben der Erwartung Ausdruck, daß die polnische Regierung aus dieser klaren Willensäußerung der ostoberschlesischen Deutschen die entsprechenden Folgerungen ziehen und ihnen dieselbe vertragsmäßige Behandlung zuteil werden lassen wird, die Deutschland seinen polnischen Minderheiten trotz ihrer unvergleichlich geringeren Anzahl angedeihen läßt. Unseren Volksgenossen aber danken wir für ihr Bekenntnis zum Deutschtum, das auch der Fehlspruch von 1921 nicht hat erschüttern können."

Diese gut deutsche Äußerung wurde für die Warschauer Regierung Anlaß, in einer Note vom 30. November in Berlin Protest zu erheben. Sie betrachte Emmingers Ausführungen als Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines fremden Staates, was den internationalen Gepflogenheiten zuwiderlaufe und geeignet sei, den gegenseitigen Beziehungen Abbruch zu tun. Zwei Tage vorher hatten bereits in Kattowitz große deutschfeindliche Kundgebungen stattgefunden, an denen sich auch der Woiwode und der polnische Innenminister beteiligten.

Stresemann klärte zwar am 3. Dezember die polnische Regierung auf, daß Deutschland infolge des Genfer Abkommens vom 15. Mai 1922 sehr wohl ein berechtigtes Interesse an der Entwicklung der deutschen Minderheit in Ostoberschlesien habe. Aber das hinderte nicht den polnischen Außenminister Zaleski, eine Woche später in Genf dem Berichterstatter des Journal des Débats gegenüber schwere Vorwürfe gegen Stresemann zu erheben und das Verhalten der deutschen Staatsmänner bei der Herstellung normaler Beziehungen zwischen Deutschland und Polen als schädlich zu bezeichnen, durch die deutsche "Agitation" würden auch die Handelsvertragsverhandlungen ungünstig beeinflußt. –

[329] Während des ganzen Sommers 1928 waren die Klagen des Deutschen Volksbundes über Störungen von Versammlungen und Angriffe, namentlich von seiten des Polnischen Frontkämpferbundes, derart eindringlich, daß der Völkerbundsrat Anfang September (8. September 1928) beschloß, der polnischen Regierung vertrauensvoll nahezulegen, ähnliche Vorkommnisse zu verhüten und eventuelle neue derartige Ausschreitungen angemessen zu bestrafen. Doch auch der Völkerbund predigte tauben Ohren. Man verhaftete sogar den deutschen Abgeordneten Ulitz, um ihn vor Gericht zu stellen und die "staatsgefährliche" Organisation der Deutschen, den Deutschen Volksbund, zu enthüllen. Dies gelang zwar nicht, aber England, die Niederlande und die Schweiz waren voll Unmut über die verleumderischen Anschuldigungen, die Polen gegen die Deutschen erhob. Mitte Dezember 1928 kam es im Völkerbund wegen des Falles Ulitz zu sehr heftigen Auseinandersetzungen zwischen Stresemann und Zaleski; besonders, als der polnische Außenminister den "Deutschen Volksbund" in Oberschlesien als eine Gefahr für Polen, ja geradezu als Hochverräterorganisation bezeichnete. Doch dem tatkräftigen Eingreifen Stresemanns gelang es, den unschuldig ins Gefängnis geworfenen Ulitz zu befreien.

  Der Chorzow-Streit  

Ein Beispiel dafür, wie die Polen mit dem deutschen Eigentum verfuhren, bot die Angelegenheit der Stickstoffwerke in Chorzow, die sich über Jahre hinzog. Polen hatte, indem es sich auf Artikel 256 des Versailler Vertrages stützte, zahlreichen Grundbesitz in Oberschlesien enteignet, darunter das Riesenstickstoffwerk Chorzow. Diese Maßnahme wäre aber nur dann berechtigt gewesen, wenn es sich bei den Enteignungen um ehemaliges Staats- oder Reichsgut gehandelt hätte. Das war aber nicht der Fall, denn das Chorzow-Werk war spätestens 1919 Privatbesitz geworden, das heißt in das Eigentum der Bayerischen Stickstoffwerke übergegangen. Allen deutschen Vorhaltungen war Polen unzugänglich, so daß sich die Reichsregierung genötigt sah, die Entscheidung des Ständigen Internationalen Gerichtshofes im Haag herbeizuführen.

Mitte Februar 1926 begann der Internationale Gerichtshof über die Streitsache zu verhandeln und entschied Ende Mai, [330] daß das polnische Vorgehen unzulässig sei. Von neun Fällen, in denen deutscher Grundbesitz von Polen enteignet worden war, wurde in fünf Fällen dem deutschen Klageantrag stattgegeben. Es wurde grundsätzlich festgestellt, daß jeder Eingriff in Privatvermögen, der mit dem internationalen gemeinen Recht nicht verträglich sei, also völkerrechtswidrig sei, als Liquidation angesehen werden müsse.

In der zweiten Hälfte des Jahres wurde zwischen Berlin und Warschau über die Erledigung der Chorzow-Affäre verhandelt. Dabei kam nichts heraus. Polen versuchte seine Schlappe zu verbrämen, indem es den Haager Spruch so auslegte, als solle es – unter Umgehung der deutschen Regierung – mit den Bayerischen Stickstoffwerken eine Verständigung anstreben. Die deutsche Regierung aber bestand auf der Rückgabe der Werke in natura. Nach langem Hin und Her wandte sich die Reichsregierung abermals an den Haag mit der Bitte, sein Urteil zu interpretieren und eine Entscheidung zu erlassen, daß die polnische Regierung den betroffenen deutschen Unternehmungen Schadenersatz in Gesamthöhe von 75 Millionen Goldmark bezahlen sollte. Nach zehn Monaten, Mitte Dezember 1927, traf die neue Haager Entscheidung ein: die polnische Regierung habe nicht das Recht, auf gerichtlichem Wege eine Annullierung der Grundbucheintragungen der oberschlesischen Stickstoffwerke als Eigentümer der Fabrik in Chorzow zu verlangen; es wurde vielmehr festgestellt, das daß Eigentumsrecht der Oberschlesischen Stickstoffwerke auch vom Standpunkt des Zivilrechtes rechtskräftig und für beide Parteien bindend festgelegt worden sei. Ende November 1928 wurde schließlich der Chorzow-Streit beigelegt durch ein Übereinkommen, welches der polnische Staat mit der Direktion der Bayerischen Stickstoffwerke traf. Danach kaufte Polen die Patente der Bayerischen Stickstoffwerke und öffnete dem deutschen Stickstoff, unabhängig von Handels- und Wirtschaftsverträgen, meistbegünstigt den polnischen Markt. –

"Deutscher Kultur-
  und Wirtschaftsbund"  

Tapfer und unerschütterlich wehrten sich die Deutschen, sie verteidigten ihre Kultur gegen jeden Ansturm polnischer Barbarei. Da versuchten die Polen auf andere Weise eine Bresche [331] in die deutsche Front Oberschlesiens zu schlagen. Im Frühjahr 1929 tauchte hier ein "Deutscher Kultur- und Wirtschaftsbund" auf, der von dem höchst deutschfeindlichen oberschlesischen Woiwoden merkwürdigerweise propagiert und protegiert wurde. Der Bund erklärte in seinen ersten Aufrufen, er wolle der deutsch-polnischen Verständigung dienen, doch bald zeigte sich, daß er die deutsche Einheitsfront zertrümmern wollte. Polnische Behörden stellten ihm reiche Geldmittel zur Verfügung, so daß er mit Flugblättern Ostoberschlesien geradezu überschwemmen konnte. Aber er hatte keinen nennenswerten Erfolg. Nur ganz wenige Deutsche ließen sich von den polnischen Agenten einfangen. Diese Leute waren für das Deutschtum bereits verloren, sie stellten sich für einen Judaslohn der polnischen Propaganda gegen Deutschland zur Verfügung. Die ihrem Vaterlande treu gebliebenen Deutschen erkannten aber bald das wahre Wesen des Bundes und schlossen sich noch fester zur Abwehr zusammen. Nichtsdestoweniger gingen die Polen weiter auf den Seelenfang aus. So versprachen sie einer armen Kriegerwitwe in Königshütte eine höhere Rente in hochwertigem deutschen Gelde, wenn sie dem Bunde beitrete! So wurde in gewissenloser Weise spekulativ die Not der armen Bevölkerung ausgenutzt, um sie ihrem Deutschtum zu entfremden!

Ende August 1929 verkündete der Bund in seinem Programm folgende Forderungen:

1. Förderung und Erhaltung der deutschen Kultur und Wirtschaft, insbesondere der Wahrung für das deutsche Volkstum aus der polnischen Verfassung, aus dem Minderheitenschutzvertrage und aus der sonstigen Gesetzgebung sich ergebenden Rechte;

2. Erreichung dieser Ziele durch gegenseitige verständnisvolle Mitarbeit zum Wohle Polens und seiner Angehörigen;

3. Wahrung des Ansehens Polens in jeder Hinsicht, auch im Auslande, und öffentliche Stellungnahme gegen alle, die eine Untergrabung des Polnischen Staates im Auge haben. So glaubten die Polen durch den "Deutschen Kultur- und Wirtschaftsbund" die Deutschen, die sie seit vielen Jahren mit brutaler Gewalt gepeinigt hatten, auf ihre Seite zu ziehen. Auf dem ehemals deutschen Boden Ostoberschlesiens spielte sich ein aufreibender [332] Kampf zwischen zwei Völkern und Kulturen ab, der von beiden Seiten mit unerhörter Zähigkeit und Intensität geführt wurde. Aber weder Gewalt noch List vermochten den Polen Vorteile zu erringen.

  Polenbund in Deutschland  

Selbst innerhalb Deutschlands verfügten die Polen seit dem 27. August 1922 über einen planmäßig angelegten, über ganz Deutschland vorzüglich organisierten "Bund der Polen". Er hat einen Vollzugsausschuß in Berlin und gliedert sich in Landesverbände und Ortsgruppen. Sein Ziel ist Stärkung oder Wiedererweckung des polnischen Nationalbewußtseins und Abwendung der Entnationalisierungsgefahr, die den in Deutschland lebenden Polen angeblich von seiten der deutschen Kirche drohe! Zugleich machte sich der Bund zum "Beschützer" der übrigen nationalen Minderheiten in Deutschland, der Litauer, Wenden, Dänen und Friesen, in deren Reihen er aktivistisch wirken wollte. Die innerdeutsche polnische Presse steht unter seinem Einfluß. Seit März 1927 hatte der Bund auch einen Arbeitskalender entworfen, der den einzelnen Monaten bestimmte Aufgaben zuwies, etwa Pflege der Sprache und Glaube der Väter, Pflege der polnischen Jugendvereine, des polnischen Turn- und Sportvereinslebens, Wirtschaftsfragen, Verbreitung des polnischen Liedes, politische Erziehung, Erstrebung der Errichtung polnischer Kleinschulen, Wohlfahrt, Berufsfürsorge usw. Seine verdienten Spargelder solle der Pole in Deutschland nur bei den sogenannten polnischen Volksbanken einzahlen, die das Geld nach Polen weitergeben, auch solle er nur in polnischen Geschäften kaufen. Polnische Einkaufsvereine und Zeitungsverlage wurden zu einem einheitlichen Genossenschaftsverbande zusammengeschlossen. Schon 1922 war auf Anregung des Polenbundes ein "Verband der polnischen Schulvereine" gegründet worden, Ende 1927 folgte auf dieselbe Anregung hin die Gründung eines "Verbandes der polnischen Berg- und Metallarbeiter" und eines "Vereines der polnischen Landarbeiter". So bemühte sich der Polenbund, systematisch die in Deutschland lebenden, etwa 950 000 Köpfe zählenden Polen zu erfassen und als kulturelle Macht zu organisieren.

Polnische Umtriebe
  in Deutschoberschlesien  

[333] Besonderen Eifer entfaltete der Bund der Polen im deutschen Oberschlesien. Hier war in Beuthen am 18. Februar 1923 der Polenbund in Deutschoberschlesien als Teilverband I des Polenbundes gegründet worden. Die Führer dieser Organisation waren keine Oberschlesier, sondern aus Westfalen und Posen zugewanderte Polen. Der Bund verlegte seine Zentrale alsbald nach Oppeln und gründete in Groß-Strehlitz, Beuthen, Gleiwitz, Cosel und Ratibor Kreisgeschäftsstellen. Seine Haupttätigkeit bestand darin, die Errichtung polnischer Minderheitsschulen zu betreiben und wirtschaftliche und kulturelle Vereine zu gründen. Innerhalb zweier Jahre, vom 1. Mai 1923 bis 1. Mai 1925, entstanden dann auch 53 polnische Minderheitenschulen, von denen allerdings 13 wegen Mangels an Kindern ruhten. Da die polnischen Schulen bei der oberschlesischen Bevölkerung keine Sympathien besaßen, sank auch die Kinderzahl von 1438 (1923) auf 1268 (1925). Dieser Rückgang war um so beschämender, da ja der Polenbund in der Tat eine eifrige Propaganda betrieb: Kinderfeste, Bescherungen, polnische Lieder- und Tanzstunden, Schreib- und Lesekurse, ja sogar Massenausflüge nach Warschau und Krakau (1924/25) wurden veranstaltet.

Um die nationalpolnische Propaganda im deutschen Schlesien zu unterstützen, wurde am 19. Oktober 1923 in Beuthen der "Polnisch-katholische Schulverein für das Oppelner Schlesien" gegründet, der über umfangreiche Propagandamittel verfügte. Eine polnische Akademikervereinigung "Silesia Superior" folgte im August 1924 in Oppeln, doch brachte sie es im ersten Jahre ihres Bestehens nicht über 20 Mitglieder. Auch Jugendvereine entstanden: Verein der oberschlesischen Jugend, Polnisch-Katholischer Jünglingsverein in Oppeln, Polnische Pfadfinderorganisation, die 1924 zehn Ortsgruppen umfaßte und der sich 1925 die in Berlin stehende Polnische Pfadfinderorganisation anschloß, so daß die Vereinigung von nun an den Namen: "Polnischer Pfadfinderverband in Deutschland" trägt.

Polnische Kreditinstitute und Banken, etwa zehn, dienen dem Zwecke, städtischen und ländlichen Grundbesitz in polnische Hände zu bringen. Diese Institute verfügen über reiche [334] Mittel, die zum Teil aus Polen fließen. Ein- und Verkaufsgenossenschaften sollen die ländliche Bevölkerung erfassen, ja, Ende August 1924 wurde sogar ein Polnischer Bauernbund gegründet. Arbeiter werden in polnischen Gewerkschaften zusammengefaßt. Natürlich wurde auch eine polnische Presse gegründet. So erschienen in Oppeln die Nowiny Codzienne (Auflage etwa 2000) und in Beuthen die

  Polnischer Deutschenhaß  

Katolik Codzienny (Auflage etwa 3000). Welcher Art die Propaganda ist, die der "Katolik"-Verlag in Beuthen, in dem die letztgenannte Zeitung erscheint, betreibt, mag durch einige Beispiele erläutert werden. Der Verlag brachte ein polnisches Volksliederbuch heraus, in dem Schlesien als polnisches Land besungen und gegen die Deutschen gehetzt wird.

Unter anderem findet sich da ein Lied von der polnischen Schriftstellerin Maria Konopnicka, das dem Schlesier zuruft:

      "Nicht wird uns der Deutsche ins Gesicht speien,
      Nicht die Kinder uns germanisieren.
      In Waffen steht unser Fähnlein da,
      Der Geist wird uns führen."

Das ist das Lied Nr. 59. Ebenso eindeutig ist Volkslied Nr. 34, die sogenannte "Schlesische Hymne". Sie lautet:

      "Hei, Schlesier, Brüder an die Arbeit!
      Die Morgenröte der Freiheit begrüßt uns.
      Die Hüttenleute verlassen ihre Hütten.
      Zur Tat, für Polen ist die Zeit da!"

Aber das alles ist noch zahm gegen das Gedicht, das der Katolik Codzienny in Beuthen in seiner Nr. 194 vom 22. August 1929 wiedergeben durfte:

        Wohin der Deutsche seinen Fuß stellt,
        dort blutet die Erde hundert Jahre.
        Wo der Deutsche Wasser schöpft und trinkt,
        dort fault die Quelle hundert Jahre.
        Dort, wo der Deutsche Atem holt,
        dort wütet hundert Jahre die Pest.
        Wenn der Deutsche die Hand reicht,
        so geht der Friede in Trümmer.
[335] Die Frösche quaken im Reiche,
        aber deutsch quaken wollen sie nicht.
        Selbst der Vogel im Walde ärgert den Deutschen,
        da er deutsch nicht singen und zwitschern will.
        Die Starken betrübt der Deutsche,
        die Schwachen beraubt und erstickt er.
        Und führte ein direkter Weg zum Himmel,
        er würde sich nicht scheuen, Gott zu entthronen.
        Und wir werden noch erleben,
        daß der Deutsche die Sonne vom Himmel stiehlt.

Die Polen entfalteten im deutschen Oberschlesien in aller Öffentlichkeit eine rührige Propaganda. Die zehnjährige Wiederkehr des polnischen Nationalfeiertags, des 3. Mai 1929, wurde in Oppeln und anderen Orten festlich begangen. Dabei gedachte der Redakteur der Nowiny Codzienne der oberschlesischen Kämpfe: Sczepanniak, der Führer des Oberschlesischen Polenbundes, ein aus dem Mansfelder Kreise in der Provinz Sachsen gebürtiger Pole, sprach über die polnische Verfassung vom 3. Mai. Seine Rede trug stark deutschfeindlichen Charakter, und dann trug er ein selbstverfaßtes Gedicht vor, in dem es u. a. heißt:

      "Uns vermag nichts zu germanisieren. Wir sind ein polnisches Volk. Uns ist die Frucht, die heimatliche Musik und der heimatliche Gesang verboten, und der Feind läßt uns seinen Zorn in unerhörter Weise fühlen. Doch das entmutigt uns nicht. Wir werden, um uns aufzumuntern, wieder hingehen und den heimischen Worten lauschen. Unsere Hütten werden mit feindlichen Zeitungen bestürmt, um die Herzen mit Lügen zu vergiften und uns zum gemeinen Verrat zu zwingen. Doch der Verrat wird uns nicht schänden, und in der dunkelsten Nacht werden unsere Leiden uns die erforderliche Kraft erflehen."

Dies Gedicht erschien dann in der Nowiny Codzienne, derselben Zeitung, die am 23. Juli 1929 schreiben konnte: "Heuchelei und Falschheit verblieben den Preußen als Eigenart", nachdem sie bereits am 9. Mai erklärt hatte: "Die Deutschen sind in Oppeln so zahlreich wie das Unkraut im Korn."

Am 19. Juli 1929 versammelte der Polenbund seine Scharen [336] und wallfahrtete mit ihnen nach Czenstochau, um dort offiziell zu erklären, daß man mit Sehnsucht den Tag der Befreiung und die Vereinigung mit Polen herbeisehne und nach Czenstochau gekommen sei, um die Mutter Gottes darum zu bitten. Wenn es sein müsse, wolle man die Freiheit auch mit dem Leben erkämpfen. Darauf wurde den Wallfahrern in Lublinitz geantwortet, daß ihre Befreiung von der Knechtschaft bald kommen werde.

All dies spielte sich im deutschen Oberschlesien ab, gleichsam offen und ungestraft unter den Augen der Behörden und der deutschen Regierung. Polen war weit entfernt, seine annexionistischen Absichten auf ganz Oberschlesien aufzugeben, und innerhalb des Reichsgebietes wurden deutsche Männer und Frauen von den Treibereien der polnischen Nationalisten beunruhigt. Aber die oberschlesische Bevölkerung wollte nichts von den Polen wissen, sie stand ihnen verschlossen, ja feindselig gegenüber. Die Polen führten diese Haltung auf den Terror der deutschen Behörden, der Lehrer usw. zurück. Das war nicht der Fall. Die Abneigung der Oberschlesier wurzelte im Herzen, sie stieg empor aus dem Gemüte. Das zeigte sich, als zu Ehren des polnischen Nationalfeiertags in Oppeln 1929 eine polnische Schauspielergesellschaft ein polnisches Theaterstück aufführte. Viele Hunderte empörte deutsche Männer und Frauen hatten sich vor dem Theater angesammelt und protestierten dagegen, daß in der deutschen Stadt Oppeln polnische Schauspiele aufgeführt würden. Als die Schauspieler das Gebäude verließen, entspann sich ein Handgemenge, wobei einige Polen leicht verletzt wurden. –

Die Ereignisse des deutschen Ostens zeigen einen starken Parallelismus zu den separatistischen Bestrebungen im Rheinlande. Während aber hier die Gefahr gebannt wurde, hatte sie sich in Oberschlesien in unverminderter Stärke erhalten, ja verstärkt, und noch zehn Jahre nach Beendigung des Krieges war dieses deutsche Land eines der am meisten gefährdeten Reichsgebiete.

  Danziger Briefkastenstreit  

Dieser heftige deutsch-polnische Kulturkampf erhielt seine besondere Note durch die politischen Ausbreitungsbestrebungen Polens. Dabei war es zunächst auf die Freistadt Danzig [337] abgesehen. Polen bewies, daß es unbedingt den Danziger Hafen besitzen müsse. Seit ihrer Trennung vom Reiche lebte die Freistadt in ständiger Gefahr, von Polen annektiert zu werden. Die polnische Hoffnung auf den Versailler Frieden, Danzig zu erhalten, war fehlgeschlagen, wohl aber war den Polen unter anderem das Recht eingeräumt worden, für ihren überseeischen Postverkehr in Danzig einen eigenen Postdienst zwischen dem Hafen und Polen einzurichten. Die Pariser Konvention vom November 1920 und das Warschauer Abkommen vom Oktober 1921 regelten das Verhältnis zwischen den beiden Staaten. Danzig selbst unterstand dem Schutze des Völkerbundes, und ein Kommissar dieses Bundes hatte hier seinen Wohnsitz. Aus seiner Postverbindung mit dem Hafen leitete Polen das Recht her, ganz Danzig in seinen Postdienst einzubeziehen. In einer stillen Nacht wurden Anfang 1925 plötzlich in Danzigs Hauptstraßen Briefkästen in den polnischen Farben und mit dem polnischen Wappen aufgehängt, und polnische Briefträger versahen den Dienst. Der Völkerbundskommissar erklärte, Polen habe nicht das Recht hierzu und verlangte Beseitigung dieser Übergriffe, dennoch kümmerte sich Polen nicht im mindesten um die Proteste. Die Bevölkerung der rein deutschen Stadt übermalte in großer Erregung die polnischen Briefkästen mit schwarzweißroter Farbe. Ein überaus scharfer Notenwechsel war die Folge. Eine Warschauer Zeitung schrieb sogar: "Heute konnte man das noch eine Episode nennen, morgen aber gibt es schon einen Waffenkrieg mit Danzig. Wir müssen im Auge behalten, daß wir starke Verbündete haben, die eine Beleidigung Polens nicht dulden."

Monatelang dauerte es, bis endlich nach einer Entscheidung des Haager Gerichtshofes und des Völkerbundes der alte Zustand wiederhergestellt wurde. Polen kompensierte sich für seine Schlappe, indem es zu seiner Polizei und Eisenbahndirektion in Danzig Ende 1925 noch ein Munitionslager auf der Westerplatte hinzufügte und dort Militär stationierte.

  Polens Absichten auf Danzig  

Aber Polen war nicht gewillt, seine Beziehungen zu Danzig mit dem sogenannten Briefkastenstreit zu erschöpfen: es verlangte mehr, ganz Danzig wollte es haben. Anfang 1929 [338] kursierte beim Völkerbund eine polnische Denkschrift, in der von Polen der Satz vertreten wird, die ehemals reichsdeutsche Stadt hauptsächlich durch wirtschaftliche Maßnahmen immer enger an Polen zu ketten. In dieser Denkschrift wird ein äußerst verschlagenes System entwickelt, das in zwölf Leitsätzen gipfelt:

1. Mit der wachsenden Macht Deutschlands wird der Druck der deutschen Politik auf Polen zwecks Wiedergewinnung des Korridors und der Freien Stadt Danzig wachsen. Diesen Druck muß Polen zu parieren suchen durch eine psychologisch fundierte, in wirtschaftliches Gewand gehüllte Politik, durch die die Bevölkerung des Korridors und der Freien Stadt Danzig dazu gebracht wird, die deutschen Absichten auf Revision der in Frage kommenden Bestimmungen des Versailler Vertrages als für sich selbst unvorteilhaft abzulehnen.

2. Während im Korridor das deutsche Element zurückzudrängen ist, muß in der Freien Stadt Danzig aus taktischen Gründen jeder Angriff gegen die deutsche Kultur unterbleiben...

3. Ebenso muß jeder Versuch unterbleiben, in politischer Hinsicht die Selbständigkeit der Freien Stadt anzutasten und Danzig Polen einzuverleiben. Im Gegenteil, die im Versailler Vertrag festgelegte scheinbare (!) Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Freien Stadt... muß auf das nachdrücklichste von Polen unterstrichen und geschützt werden. (!)

4. Unter ausdrücklicher Leugnung aller politischen Nebenabsichten muß Polen immer wieder die Gemeinsamkeit der wirtschaftlichen Interessen zwischen Danzig und Polen hervorheben. Es muß darauf hingewiesen werden, daß die Danziger Wirtschaft, wenn sie sich entschließt, ehrlich mit Polen zusammenzuarbeiten, sich selbst den besten Dienst leistet und große Verdienstmöglichkeiten hat.

5. Die Danziger Wirtschaft muß an der Verbindung Danzigs mit Polen materiell dadurch interessiert werden, daß möglichst viele Firmen nach dem Muster der Danziger Werft in direkte oder indirekte Abhängigkeit von Polen gebracht werden. Die Danziger Firmen müssen zum Anschluß an polnische Fachorganisationen veranlaßt werden, was vielfach von [339] selbst die Lösung der Beziehungen zu den deutschen Fachorganisationen zur Folge haben wird... Kurz, jeder Weg soll recht sein, der die Danziger in eine Situation bringt, die ihnen weitere Zusammenarbeit mit Polen als vorteilhafter erscheinen lassen muß als eine Losreißung Danzigs von den polnischen Verdienstquellen durch Wiedervereinigung mit Deutschland.

6. Auch auf dem Wege polnischer Kredite muß der Versuch gemacht werden, die Danziger Wirtschaft in Abhängigkeit von Polen zu bringen. Besonders wünschenswert wäre es, wenn der polnische Außenhandel dazu gebracht werden könnte, sich nicht der großen deutschen Banken in Danzig, sondern polnischer Banken zu bedienen.

7. Eine außerordentliche Unterstützung würden die polnischen Pläne erfahren durch eine Angleichung der beiden Währungen. Wenn dazu geschritten wird, dann müßte der diesbezügliche Antrag aber von Danziger Wirtschaftsseite entsprechend vorbereitet werden.

8. Die Danziger Presse muß so in Schach gehalten werden, daß sie nicht offen der polnischen Politik Widerstand zu leisten wagt.

9. Aus innerpolitischen Meinungsverschiedenheiten erwachsende Angriffe polnischer Blätter gegen die amtlich mit der Führung der polnischen Politik gegen Danzig betrauten Stellen müssen unbedingt unterbunden werden. Die Parole "Mehr Wirtschaft, weniger Politik!" ist sehr glücklich gewählt, weil sie sich deckt mit den Wünschen der Danziger Wirtschaft. Es wäre daher sehr verhängnisvoll, wenn diese Parole dadurch wirkungslos würde, daß die leitenden Männer durch polnische Angriffe genötigt werden könnten, ihre Karten den Danzigern aufzudecken.

10. Jede Danziger Rechtsregierung ist scharf zu bekämpfen. Jede Danziger Landesregierung ist unmittelbar, nachdem sie die Geschäfte übernommen hat, sehr wohlwollend zu behandeln, damit sie greifbare Beweise für die Richtigkeit des Verständigungskurses und für die Unrichtigkeit des nationalistischen Kurses der Danziger Bevölkerung aufzeigen kann.

[340] 11. Die innerpolitischen Kämpfe der Danziger sind geschickt zu benutzen, um ihre Aufmerksamkeit von Polen abzulenken und auf innere Danziger Streitfragen hinzulenken. Vor allem der Verwaltungsrat und die Finanzwirtschaft der Freien Stadt geben dazu reichen Anlaß.

12. Auf diese Weise wird jedes Jahr Danzig mit seinen Wirtschaftsinteressen fester an Polen gekettet und die Danziger weniger geneigt machen, zu Deutschland zurückzukehren. Ein Danzig, dem es durch die Verbindung mit Polen gut geht, wird nicht zu Deutschland zurückkehren wollen... Wirtschaftliches Wohlergehen der Freien Stadt Danzig liegt also in der Richtung der polnischen Interessen.

Französische Truppenparade in Danzig.
[Bd. 2 S. 48a]      Februar 1920: Französische Truppenparade auf Olivaer Platz in Danzig.
Photo Sennecke.
Ententetruppen in Danzig.
[Bd. 2 S. 48b]      Ententetruppen in Danzig:
Oberst Dupont (links, hell), Oberst Heyking (rechts, dunkel).
      Photo Sennecke.

  Polen und Ostpreußen  

Polen glaubte aber auch, sein Gebiet durch die Annektion des deutschen Ostpreußens abrunden zu müssen. Schon Ende 1918 erklärte der Führer der polnischen Nationaldemokraten, Roman Dmowski, in seiner Denkschrift an Wilson: "Für Polen ist der Korridor wertlos, wenn es nicht auch Ostpreußen erhält." Während der Versailler Friedensverhandlungen bemühten sich Frankreich und Polen, Ostpreußen den Polen zu verschaffen. Am Widerstand Englands und der Vereinigten Staaten scheiterten diese Wünsche. Lediglich eine Volksabstimmung im südlichen Teile der Provinz (Allenstein, Marienwerder, Oletzko) wurde bewilligt, die, wie wir bereits sahen, zu einem vollständigen Mißerfolge Polens führte. Deswegen schwiegen die Wünsche der Polen noch nicht still. Der ehemalige polnische Generalkonsul in Königsberg, Dr. Slawski, gab in Paris 1925 eine Broschüre heraus: L'Accès à la mer de la Pologne et les Intérêts de la Prusse Orientale, worin er auseinandersetzte, Polen brauche Ostpreußen, um eine breite Basis an der Ostsee zu besitzen. Die Polen wurden nicht müde, im Süden Ostpreußens zu wühlen. Kinder polnisch gesinnter Eltern wurden unentgeltlich in polnischen Erziehungsanstalten aufgenommen. Durch Agenten einer polnischen Bank in Berlin ließ das kreditarme Polen kreditbedürftigen Landwirten in Südostpreußen Hypothekarkredite anbieten. Der Polnische Westmarkenverein, der vom Polnischen Außenministerium organisatorisch und finanziell unterstützt wurde, suchte eine irredentistische Bewegung zu entfachen im "unerlösten" Ost- [341] preußen. Ein anderes Moment bildete das Ansiedeln polnischer Bauern, welches angesichts der dünnen Bevölkerung dieser Provinz zu einer Gefahr werden konnte. Die polnische Regierung suchte unter ihrer Führung einen "Baltischen Block", Litauen, Lettland, Estland, Finnland umfassend, zu bilden, doch scheiterten diese Versuche am Widerstande Litauens, welches Polen den Raub Wilnas nicht verzeihen konnte. Dieser Baltische Block sollte das Mittel der großen Politik Polens zur Eroberung Ostpreußens sein.

Polnisches Militärflugzeug auf deutschem Gebiet.
[Bd. 4 S. 368b]      Polnisches Militärflugzeug
auf deutschem Gebiet.
      Photo Scherl.
Ohne Achtung vor dem Völkerrecht scheute Polen nicht davor zurück, deutsches Gebiet zu verletzen, indem polnische Flieger es zum Zwecke der Luftspionage überflogen. Trotz aller deutschen Proteste erschienen wiederholt polnische Militärflieger über den Städten Schneidemühl und Driesen in der deutschen Grenzmark Posen-Westpreußen. So flog am 10. September 1929 ein polnisches Militärflugzeug um die Mittagsstunde über der Reichswehrkaserne, dem Bahnhof und den Bahngleisen der Stadt Schneidemühl. Am Abend zeigte sich ein neues polnisches Flugzeug über der Stadt. Gleichzeitig kreuzte ein Flugzeug über der brandenburgischen Grenzstadt Driesen. In Tirschtiegel ruderten zwei Polen über den See ans deutsche Ufer und machten von einer Höhe aus photographische Aufnahmen. Sie entgingen ihrer Verhaftung durch die Flucht. Auch über den Bahnanlagen der Städte im südlichen Ostpreußen, Johannisburg, Schiast, Glottowen, Bialla, erschienen im Oktober polnische Militärflugzeuge. Diese Vorgänge, die einen flagranten Bruch des Völkerrechtes darstellten, riefen unter der Bevölkerung große Erregung hervor. Sie waren ein erneuter Beweis für die Schwäche Deutschlands, dessen energische Vorstellungen von den Polen nicht beachtet wurden.

Zustände in Pommerellen
  und der deutschen Grenzmark  

Eine kurze Betrachtung müssen wir noch dem deutschen Schicksal im Korridor widmen. Von Anfang an war es Polens Bestreben, alles, was an Deutschland erinnerte, auszulöschen. Auch den Deutschen sollte jede Beziehung zum ehemals deutschen Lande genommen werden. So nur sind jene paradoxen Auswüchse zu erklären, die Polen für den Eisenbahnverkehr zwischen dem Reich und Ostpreußen ersann.

Gesperrte Grenze bei Tirschtiegel.
[Bd. 4 S. 368a]      Deutsche Ostnot: Gesperrte Grenze bei Tirschtiegel.      Photo Scherl.
Da die deutschen [342] Schnellzüge auf dieser Verbindung wohl oder übel den Korridor durchqueren müssen, bestimmte Polen, daß die Wagen der Eisenbahnzüge während ihrer Fahrt durch polnisches Gebiet versiegelt werden müssen, ja, in den ersten Jahren nach 1918 wurden sogar die Fenster verhängt, um den verhaßten Deutschen den Blick in ehemals deutsches Land zu nehmen! Die Stadt Posen wurde systematisch entdeutscht. Unter ihren 236 000 Einwohnern wurden im Herbst 1929 kaum noch 6000 Deutsche gezählt. Wie in einen Winkel gedrückt, fristeten sie hier ein stets beunruhigtes Leben. Seit der Eröffnung der Großen Polnischen Landesausstellung in Posen im Sommer 1929 setzte auch ein großer Pressesturm auf die deutschen Zeitungen ein, die noch in Posen verkauft wurden. Die polnische Presse verlangte, daß mit Rücksicht auf die ausländischen Besucher diese "Verfälschung des wahren Charakters der Stadt Poznan" nicht länger geduldet werden könne. Seitdem existierte als kümmerlicher Überrest der deutschen Presse nur noch das Posener Tageblatt. Umfangreiche Deutschenverhaftungen fanden gleichzeitig in Pommerellen statt. Eine großangelegte und systematische Aktion wurde durchgeführt. Ein Studienrat, Führer der Deutschen Wandervögel in Polen, wurde eingekerkert, weil er die deutsche Jugend militärisch ausbilde! Andere Deutsche wurden festgesetzt, weil sie polnischen Militärpflichtigen deutscher Nationalität zur Flucht über die Grenze verholfen hätten! In den Büros der deutschen Sejmabgeordneten in Bromberg wurden stundenlange Haussuchungen abgehalten. Der Geschäftsführer der Deutschen Vereinigung für Sejm und Senat, ein Studiendirektor, und ein Angestellter des Büros sowie noch fünf andere Deutsche saßen wochenlang in Untersuchungshaft.

Zerfallende Bahnwärterhäuser.
[Bd. 4 S. 320a]      Deutsche Ostnot:
Zerfallende Bahnwärterhäuser.

Photo Scherl.
Zerstörte Eisenbahnbrücke bei 
Unruhstadt–Wollstein.
[Bd. 4 S. 320a]      Deutsche Ostnot: Zerstörte Eisenbahnbrücke bei Unruhstadt–Wollstein.
Photo Scherl.

Zerstörte Netzebrücke bei Usch.
[Bd. 4 S. 320b]      Deutsche Ostnot:
Zerstörte Netzebrücke bei Usch.

Photo Scherl.
Abbau der zweigleisigen Eisenbahnlinie Berlin-Warschau bei Neu-Bentschen.
[Bd. 4 S. 320b]      Deutsche Ostnot: Abbau der zweigleisigen Eisenbahnlinie Berlin–Warschau bei Neu-Bentschen.      Photo Scherl.

Brücke über die Netze, die von der polnischen Grenze mitten durchschnitten wird.
[Bd. 5 S. 304a]      Die deutsche Ostnot: Brücke über die Netze, die von der polnischen Grenze mitten durchschnitten wird.      Photo Scherl.
Die stark aggressive Tendenz der polnischen Politik bildete eine besondere Gefahr infolge der Zustände, die in der an den Korridor grenzenden deutschen Grenzmark herrschten. Trotz aller staatlichen Beihilfen stand hier die Landwirtschaft vor dem Ruin. Die Äcker verwilderten, die Gebäude verfielen, die Arbeiterlöhne konnten nicht mehr aufgebracht werden, so daß viele deutsche Arbeiter nach dem Westen abwanderten und polnischen Siedlern Platz machten. So kam es, daß Polen be- [343] sonders in den Kreisen Flatow und Bomst eine ausgedehnte Kulturpropaganda entfaltete. Ein starker Unmut herrschte in den deutschen Kreisen, und sie bestürmten die preußische Regierung immer und immer wieder, ihnen zu helfen, sie zu retten. Nicht nur Landwirtschaft, auch Handwerk und Industrie, die zum Teil stillagen, richteten ihre Hilferufe nach Berlin.

      "Schon seit Jahren bittet die Grenzmark darum, daß die Domänen, die der Staat in den Grenzgebieten übernommen hat, der Siedlung dienstbar gemacht werden. Man sagte, man könne die Pächter dieser Domänen nicht herunterbekommen; aber es steht fest, wenn das Problem in Polen zu lösen wäre, dann wäre es gelöst. Ein solch ungeheurer Besitz im gefährdeten Grenzland gehört nicht in staatliche Hand. Wir verlangen nichts Unmögliches, aber wir fordern, daß man unsere Not beachtet und daß man uns hilft. Wir müssen verlangen, daß das Gesicht der deutschen Außenpolitik nicht nur nach dem Westen, sondern für die nächste Zeit auch nach dem Osten gerichtet wird."

Eine Studienkommission, welche Mitte November 1929 die Grenzmark bereiste, entwarf einen erschütternden Bericht über die wirtschaftliche Katastrophe und die verzweifelte Stimmung in den Kreisen Rummelsburg, Bütow, Lauenburg, Bomst und Flatow. Da heißt es:

      "Unvergeßliche Bilder haben die Besucher am Donnerstag (dem 14. November 1929) insbesondere im Kreise Flatow gesehen. Flatow gilt neben Bomst als der gefährdetste Kreis in der Grenzmark. Das polnische Element ist stark vertreten. In diesem Kreise gibt es mehr als 18 polnische Minderheitenschulen. Die Wohn- und Schulverhältnisse sind niederschmetternd. Man kann, wenn man diese baufälligen, mit Stroh gedeckten Schulhäuser oder die menschenunwürdigen Landarbeiterwohnungen – hauptsächlich auf den staatlichen Domänen – sieht, kaum glauben, daß man sich noch auf deutschem Gebiet befindet. Es klingt wie ein Hohn auf die gepriesene deutsche Kultur, wenn man beispielsweise in Preußen-Feld die verwilderten deutschen Schulgebäude und daneben das schmucke Häuschen der polnischen Minderheitenschule sieht. Unter diesen Umständen darf man sich kaum wundern, wenn die deutsche Bevölkerung abwandert und die Polen immer mehr an Boden gewinnen."

Verlassenes Bauernhaus in Pommern.
[Bd. 4 S. 352a]      Deutsche Ostnot:
Verlassenes Bauernhaus in Pommern.

Photo Scherl.
Verfallendes Bauernhaus in Pommern.
[Bd. 4 S. 352b]      Deutsche Ostnot:
Verfallendes Bauernhaus in Pommern.

Photo Scherl.

[344] Bis in die Provinz Pommern hinüber erstreckten sich diese traurigen Zustände, deren Ursache die wirtschaftliche Not war und die noch verhängnisvoller zu werden drohten, nachdem die deutsche Regierung im November 1929 einen Handelsvertrag mit Polen geschlossen hatte.

  Not der Landwirtschaft  

Die Meistbegünstigungsklausel des deutsch-polnischen Handelsvertrages mußte bei dem hauptsächlich landwirtschaftlichen Exporte Polens der deutschen Landwirtschaft großen Schaden zufügen. Hiergegen wandte sich vor allem der Brandenburgische Landbund mit seinem Notruf von Ende November 1929:

      "Den Augenblick, wo ganz Deutschland infolge der Verhandlungen über den Young-Plan voll bangster Sorge nach Westen blickt, hat sich die deutsche Reichsregierung ausgesucht, um in aller Stille mit Polen einen Vertrag abzuschließen, der den deutschen Osten preisgibt.
      Die Gewährung der Meistbegünstigung gibt Polen die Möglichkeit, den deutschen Osten gerade mit denjenigen landwirtschaftlichen Erzeugnissen zu billigsten Preisen zu überschwemmen, an denen wir selbst Überfluß und somit unzureichenden Absatz haben. Die polnischen Schweine werden auch den kleinsten Bauern wirtschaftlich ruinieren. Der Tiefstand unserer Rindviehpreise wird durch die gesteigerte polnische Rindviehproduktion und dementsprechende Ausfuhr noch verschlimmert werden.
      Durch Bereitstellung von Staatsmitteln wird die polnische Regierung die Ausfuhr von großen Mengen billigen polnischen Kornes auf die deutschen Märkte fördern und damit die heute schon unter Friedenshöhe stehenden Roggenpreise noch weiter herunterdrücken! Die gleiche Zerstörungsarbeit im deutschen Osten wird die polnische Kartoffel leisten!
      Die deutsche Geflügelzucht wird im Kampf gegen das polnische Ei unterliegen. Schon jetzt, wo wir noch einen Kampfzoll von 25 RM je Doppelzentner haben, hat Polen eine jährliche Ausfuhr von mehr als eine Million Zentner Eier. Welcher Druck steht da auf die deutsche Eierproduktion bevor, wenn der Meistbegünstigungszollsatz von 5 RM je Doppelzentner in Kraft tritt!
[345]     Durch den Abschluß des polnischen Vertrages wird eine Tragödie für den deutschen Osten heraufbeschworen, deren Ende klar absehbar ist. Was will der Pole? Der Pole spricht es mit zynischer Offenheit aus, daß sein Ziel die Eroberung allen deutschen Bodens östlich der Oder ist. Um dieses scharf umrissene Ziel zu erreichen, sucht er dieses Gebiet zunächst wirtschaftlich sturmreif zu machen. Darum die weitgehende staatliche Unterstützung der Ausfuhr, darum die zielbewußte Unterbietung deutscher Agrarpreise und damit deutscher Arbeitskraft.
      Die bereits vorhandene Verelendung des deutschen Ostens muß unter dem Druck des Vertrages lawinenartig anwachsen. Schon jetzt sind deutsche Arbeiter, Bauern und Großgrundbesitzer in ständig steigendem Maße durch die Not gezwungen, unser Ostland zu verlassen, weil es sie nicht mehr ernährt. Der Pole aber kauft weiter deutschen Grund und Boden auf, um die Zersetzungsarbeit in unserer Ostmark zu fördern. Abnehmende deutsche und zunehmende polnische Bevölkerung sollen ihm – das ist sein Ziel – unser Ostland von Memel bis Stolp über kurz oder lang als reife Frucht in den Schoß fallen lassen. Das ist für den Polen der ungeheure Wert des Handelsvertrages mit Deutschland! Er gibt ihm die Handhabe zur Eroberung des deutschen Ostens. Und der Deutsche?
      Dürfen innenpolitische Gegensätzlichkeiten eine Rolle spielen, wenn es sieh um den drohenden Untergang alten deutschen Kulturlandes handelt? Wir warnen noch einmal! Es gibt keinen Deutschen, der vor seinem Volk und der Geschichte die Verantwortung für diesen Vertrag übernehmen kann.
      Es ist die Schicksalsstunde des deutschen Ostens. Wir rufen den ganzen deutschen Osten zur Volksbewegung gegen diesen Vertrag auf! Ihr Brüder im Reiche, laßt uns in dieser Stunde höchster Gefahr nicht im Stich. Es kann nur eine Forderung geben: Unbedingte Ablehnung dieses polnischen Vertrages."

In Polen wollte andererseits die Sorge nicht verstummen, Deutschland werde eines Tages den Korridor und Oberschlesien zurückfordern. Schon in Locarno wurde, wie berichtet, von Frankreich der Versuch gemacht, zugleich mit dem Westpakt von Deutschland die Garantie der Ostgrenze zu verlangen, doch [346] dazu kam es nicht. Deutschland gab nicht sein Recht aus den Händen, eines Tages eine Revision seiner Ostgrenzen zu verlangen. Aber Polen ruhte nicht, es versuchte in Genf, von Deutschland die Anerkennung der polnischen Wünsche auf ausdrückliche freiwillige Garantierung der Grenzen in Brüssel und Paris zu erlangen. Zwar schien England 1928 den Forderungen Zaleskis ein geneigteres Ohr zu leihen als in Locarno, jedoch war es noch weit entfernt, wirklich auf das polnische Verlangen einzugehen. Das führende englische liberale Blatt, der Manchester Guardian, schrieb am 21. Juni 1928:

      "Die Wahrheit ist, daß der Garantien gegen einen nicht provozierten Angriff von Seiten Deutschlands bereits genug und mehr als genug sind. Jede Macht, die versucht, die Räumung des Rheinlandes hinauszuzögern, um eine besondere Garantie für sich unter der falschen Behauptung zu erlangen, daß der Garantien noch nicht genug sind, sollte über die Haltung Englands nicht im Zweifel gelassen werden."

Dies war der Mehrzahl des englischen Volkes aus dem Herzen gesprochen. Und in der Tat scheiterten die Bemühungen der polnischen Politik, sich in die Frage der Rheinlandräumung einzuschalten, um von Deutschland ein "Ostlocarno" zu erzwingen, vollständig. Auf der Haager Konferenz, welche die Rheinlandfrage endgültig regelte, war Polen nicht vertreten. Das Einmünden des deutsch-polnischen Gegensatzes in das große Gebiet der deutsch-westeuropäischen Beziehungen, ein Vorgang, der bereits in Locarno von der deutschen Abordnung verhindert worden war, kam nicht zustande. –

  Zusammenfassung  

Bei der hier gegebenen Schilderung der östlichen Verhältnisse mußte mit Notwendigkeit der Schwerpunkt in das Ausland verlegt werden, um zu zeigen, wie beschaffen der polnische Nachbar war, der über eine kriegsstarke Armee von zwei Millionen Soldaten verfügte. Ich habe im Laufe dieser Geschichte des öfteren Gelegenheit genommen, das Verhalten der beiden Ostmächte Polen und Rußland und ihre Beziehungen zu Deutschland zu schildern. Eine merkwürdige Kontinuität läßt sich hier gegenüber der fortschreitenden Entwicklung im Westen feststellen: zeigte der Weg von Versailles nach Locarno und Genf gewisse Fortschritte im Verhältnis Deutsch- [347] lands zu Frankreich und England, so blieb Rußland auch noch 1929 derselbe unsichere Freund wie in Rapallo 1922, und Polens erklärte Feindschaft gegen die deutsche Kultur und das deutsche Staatswesen hatte sich, gemessen am Stande der Jahre 1919, 1920 und 1921, keineswegs gemildert. Es offenbart sich ein Mißverständnis zwischen den West- und Ostereignissen der deutschen Geschichte innerhalb des Jahrzehnts nach dem militärischen Zusammenbruch. Nach der grausamen Katastrophe vom November 1918 hatte zwar Frankreich seinen jahrhundertealten Wunsch, den Rhein als Grenze zu erhalten, aufs neue zu verwirklichen gesucht; durch englischen und amerikanischen Widerstand wurden diese Ziele nicht verwirklicht; Frankreich erreichte nur eine zeitlich beschränkte militärische Besetzung des Rheinlandes; noch einmal versuchte Poincaré 1923 durch Ruhreinfall und Separatistenbewegung die Ziele der französischen Politik zu verwirklichen, doch vergeblich; dagegen gelang es Deutschland in Locarno, Genf und im Haag eine Erleichterung und schließlich die endgültige Aufhebung der Besatzung durchzusetzen; der Rhein war befreit und die in Versailles drohend aufgestandenen Gefahren der französischen Rheinpolitik waren zurückgedrängt.

Im Osten dagegen, an der Weichsel, war Deutschland durch Versailles um vier- bis fünfhundert Jahre zurückgeworfen worden. So, wie 1466 nach der Schlacht bei Tannenberg das Deutschtum in den Weichselgebieten einem schutzlosen Ruin preisgegeben war, so war dies nach 1918 hier wieder der Fall; der Prozeß hatte keinen Rückgang zu verzeichnen, sondern er dauerte mit unverminderter Heftigkeit an. Mehr denn je zuvor aber lag die Verantwortung für den Sieg des Deutschtums nach der Katastrophe von Versailles bei dem einzelnen Deutschen, bei dem Träger der bekämpften Kultur, der unerschrocken und standhaft ausharrte und der deutschen Regierung die Kraft gab, ihren Willen durchzusetzen. Am Rhein war es gelungen, doch im Osten, an der Weichsel war dem Martyrium der Träger und Verteidiger deutscher Kultur noch kein Ziel gesetzt. Die tiefe, blutende Wunde am deutschen Volkskörper, der Verlust Westpreußens, Posens und Oberschlesiens hatte sich nicht schließen können. An ihr litt das deutsche Volk 1929 noch [348] ebensosehr wie 1920. Auf sich selbst gestellt, wie Soldaten in vorderster Front, hofften die Deutschen in Westpreußen und Oberschlesien, nur noch eine kleine, bedrückte Schar, auf die Stunde der Erlösung, die den Blutsbrüdern am Rhein bereits geschlagen hatte!



Geschichte unserer Zeit
Dr. Karl Siegmar Baron von Galéra