II. 3. Polnische Verdrängungstendenzen (Teil 4) c) Die Verdrängung vom Arbeitsplatz Polnische Maßnahmen gegen den deutschen Großbesitz in Ostoberschlesien Hatten sich die polnischen Verdrängungstendenzen in den landwirtschaftlichen Siedlungsgebieten vor allem im Kampf um den Boden ausgewirkt, so zielten dieselben Tendenzen in den Industriegebieten auf die Verdrängung der Deutschen vom Arbeitsplatz ab. Besonders das Deutschtum Ostoberschlesiens wurde dadurch schwer getroffen. Dieses Land hatte eine blühende, von Deutschen aufgebaute Industrie, die sich auf reiche Kohle-, Eisen-, Zink- und Bleivorkommen stützte. Nach der Teilung des Industriegebietes hatte der Polen zugefallene Teil gewisse Krisenzeiten zu überstehen, da Polen allein die Erzeugnisse Ostoberschlesiens nicht abnehmen konnte und Weltwirtschaftskrisen sich daher hier in voller Schärfe auswirkten. So hatte seit 1929 wieder ein Rückgang in der Beschäftigung eingesetzt, den der seit 1926 in Schlesien amtierende Wojewode Michal Grazynski weidlich für die kapitalmäßige und personelle Polonisierung der Konzerne auszunutzen verstand. Im Jahre 1925 betrug der Anteil des deutschen Kapitals an den 21 Großunternehmungen der oberschlesischen Industrie noch 61% (1921 waren es 100% gewesen). Trotzdem verringerte sich der Anteil der deutschen Angestelltenschaft, der 1921 90-95%, und der Arbeiterschaft, der 60% betragen hatte, zusehends, da die meisten deutschen Betriebe Grazynskis Forderungen nach Hereinnahme von Polen in die Direktionen und Personalabteilungen nicht zu widerstreben wagten, und die [137] Hereingekommenen dann die weitere Polonisierung besorgten. Aber die meisten Veränderungen gingen erst nach 1929 vor sich, als infolge der Wirtschaftskrise verschiedene Grossbetriebe in Zahlungsschwierigkeiten gerieten.
Gerade die deutschen Betriebe, die nicht bei
den ersten Anzeichen des Produktionsrückganges ihren Personalstand
verringert hatten, weil sie es sich als deutscher Betrieb nicht leisten konnten, ohne
gewichtigste Gründe Polen zu entlassen, und weil sie Deutsche vielleicht
nicht entlassen wollten, waren in ihrer wirtschaftlichen Widerstandskraft am
ehesten geschwächt. Nun setzten die polnischen Steuerbehörden ein,
versuchten die Steuern rücksichtslos einzuziehen, warfen den deutschen
Direktionen Bilanzverschleierungen und Steuerhinterziehungen vor, zitierten den
Staatsanwalt herbei, ließen die Verwaltungsgebäude von der Polizei
durchsuchen und brachten deutsche leitende Beamte in Untersuchungshaft. So
erging es 1933/34 dem größten Industriekonzern,
"Interessengemeinschaft Kattowitzer AG, die Vereinigte
Königshütte und Laurahütte" (damals noch
Flick-Konzern), der Wirek AG und der Godulla AG. Bei der
"Interessengemeinschaft" wurde vom Staate aus eine
Geschäftsaufsicht eingesetzt, so daß deren deutsche Aktionäre
Verkaufsverhandlungen in Warschau vorzogen. Aber als dann die IG
tatsächlich in polnische Hände überging, da waren schon fast
sämtliche deutsche Angestellte und Tausende deutsche Arbeiter aus den
Gruben und Hüttenwerken entfernt, um polnischen Zuwanderern aus
anderen Landesteilen Platz zu machen. Bergbau und Schwerindustrie waren
schließlich von der
Steuer-, Auftrag- und Wirtschaftspolitik der staatlichen Faktoren zu sehr
abhängig, als daß sie der robust und zielbewusst gegen sie
angewandten Grazynskischen Politik erfolgreich hätten widerstehen
können. Inzwischen war der Prinz wegen Beschäftigung eines Danziger Staatsbürgers, ohne vorher die Erlaubnis des Arbeitsamtes eingeholt zu haben, zu drei Wochen Haft verurteilt und dieses Urteil vom höchsten Gericht bestätigt [139] worden. Ein anderer deutscher Großgrundbesitzer, Graf Kraft Henckel von Donnersmarck hatte wegen des gleichen Vergehens nur eine, wenn auch empfindliche Geldstrafe erhalten,69 der Prinz aber musste die Strafe tatsächlich vom 2. bis 23. Mai 1934 im Plesser Gefängnis absitzen. Nach seiner Entlassung unterbreitete ihm Grazynski durch Mittelsmänner seine Forderungen: Einstellung von polnischen Beamten, Konzentration des gesamten Verwaltungsapparates in Polnisch-Oberschlesien und Einräumung eines behördlichen Einflusses auf zwei Aktiengesellschaften, in denen der Fürst die Mehrheit besaß. Als der Prinz darauf nicht einging und andere Angebote machte, negierten die Behörden diese völlig. Dann wurde durch den Steuerfiskus an einem Tage das gesamte bewegliche in Polen gelegene Pless'sche Vermögen mit Arrest belegt, so daß Löhne und Gehälter nicht ausgezahlt werden konnten. Darauf folgten Versteigerungen und Verschleuderungen, und am 13. September 1934 wurde ein Pole als Zwangsverwalter eingesetzt, der die gesamte Verwaltung übernahm. Nur am Rande sei vermerkt, daß die polnische Presse während dieser Zeit eine Verleumdungskampagne gegen den Prinzen führte, ihn als "internationalen Manipulanten" und als "beutesüchtigen Spekulanten" hinzustellen versuchte, um auf diese Weise den Behörden den Rücken zu decken. Inzwischen hatte sich der Völkerbundrat im September 1934 und im Januar 1935 mit der Pless'schen Klage beschäftigen müssen. Das vom Rat eingesetzte Komitee stellte zwar fest, es sei überzeugt, daß die polnische Regierung darüber wachen würde, daß fiskalische Maßnahmen nicht von ihrem Ziel abgebogen und zu politischen Zwecken angewandt würden, die mit den von der polnischen Regierung übernommenen Verpflichtungen nicht vereinbar wären. Aber dieser äußerst delikate Tadel vermochte die Entwicklung nicht aufzuhalten.
[140] Vor Einsetzung der Zwangsverwaltung am 13.
9. 1934 waren bei Pless 4344 Arbeiter und 590 Angestellte beschäftigt, die
zu 80% Deutsche waren. Die Zwangsverwaltung ging nun planmäßig
daran, zuerst angeblich mit Rücksicht auf die schlechte
Geschäftslage, also aus "Ersparnisgründen" Personal
abzubauen - es war das deutsche. Daß dann aber bald neue
Leute - Polen - zuerst vorsichtig, nachher ganz unbekümmert
eingestellt wurden, das konnte niemand mehr verhindern. Da half auch die von
der entlassenen Angestelltenschaft eingereichte Klage an den Völkerbund
nicht. Am 2. 3. 1937 wurde dem letzten deutschen Beamten in der Pless'schen
Verwaltung gekündigt;70 kleine Angestellte und Arbeiter
deutscher Nationalität waren dann in den Pless'schen Betrieben nur noch
vereinzelt zu finden. Sofort nach Ablauf der Genfer Konvention wurde der
Pless'sche Fideikommiss aufgelöst und mit den Sachwaltern des
Fürsten - der Prinz hatte mittlerweile seinen Wohnsitz nach
Deutschland verlegen
müssen - eine "gütliche Vereinbarung" getroffen, laut
welcher der Fürst zwecks Begleichung der Steuerrückstände
über 20000 ha an den Staat abtrat.71
Die Deutschenentlassungen in Ostoberschlesien Daß da die kleineren deutschen Betriebe nicht mehr zu widerstreben wagten, nachdem der Größte von ihnen so erfolgreich zur Strecke gebracht wurde, verwundert nicht. Nur bei manchen ausländischen Kapitalgesellschaften, wie z. B. bei Giesche konnten sich deutsche Angestellte länger halten. Bei den ursprünglich rein deutschen Betrieben wurde wie im Fall Pless zusammen mit der Polonisierung des Kapitals die Polonisierung der Angestellten- und der Arbeiterschaft betrieben. Letzteres Ziel wurde sogar von dem seriösen Warschauer Regierungsblatt, der Gazeta Polska offen zugegeben. Ihrer Meinung nach gab es damals in Ostoberschlesien zuviel deutsche Angestellte im Verhältnis zu den bei der Volkszählung 1931 ermittelten 6% Deutschen.72 [141] In Wirklichkeit betrug der deutsche Hundertsatz in Polnisch-Oberschlesien 16%,73 aber unabhängig davon ist es kennzeichnend, daß auch hier dem Deutschtum von den verschiedensten polnischen Blättern nur dieselben sozialen Verhältnisse gegönnt wurden, wie sie die Gesamtbevölkerung aufwies. Jedoch wurden nicht nur die Angestellten, sondern auch die deutschen Arbeiter entlassen. Die Polska Zachodnia, das Grazynski-Organ, kündigte in ihrer Nummer vom 23. 10. 1936 ungeniert an, daß zwei Drittel des ostoberschlesischen Deutschtums daran denken müssten, das Land zu verlassen, weil sie dort niemals mehr Lohn und Beschäftigung finden würden. Und die Gazeta Polska konnte am 15. 7. 1937 berichten: "Der Anteil des deutschen Kapitals in der oberschlesischen Industrie ist von 100% auf 40% gesunken. Die Anzahl der in der Industrie beschäftigten polnischen Angestellten und Beamten ist von 0 auf 70% gestiegen. 56% der Handwerksbetriebe gehören Polen, und 69% der Kaufleute sind Polen". Das alles konnte Polen innerhalb von 15 Jahren erreichen, obwohl die Deutschen noch den Schutz der Genfer Konvention genossen. Für die seit 1929 anwachsende, sich in der Berichtszeit immer mehr zuspitzende allgemeine Arbeitslosigkeit unter den Deutschen Ostoberschlesiens liegen genaue, zuverlässige Zahlen nicht vor, da für dieses Gebiet das "schwebende" Volkstum kennzeichnend ist und ein nationales Kataster weder amtlich, noch von deutscher Seite geführt wurde, wie es z. B. indirekt in Posen-Westpreußen der Fall war. Die von deutscher Seite oft angegebenen Hundertsätze - 60-80% Arbeitslose -, die u. a. auch W. Hahn im Deutschen Archiv für Landes- und Volksforschung gebracht hat,74 betreffen die Mitglieder der deutschen Organisationen. Ohne diese Angaben bezweifeln zu wollen, sollen sie doch hier außer acht gelassen werden, weil behauptet werden könnte, daß gerade die [142] Arbeitslosen die Mitgliedschaft in den deutschen Verbänden erworben bzw. behalten hätten. Aber Hahn bringt darüber hinaus so viele andere Angaben, die nicht bestritten oder anders ausgelegt werden können und die ein erschütterndes Bild über das Ausmaß der Deutschenentlassungen in Polnisch-Oberschlesien vermitteln. Einleuchtend ist z. B. die Wandlung der nationalen Zusammensetzung der Betriebsräte in den Hütten. Bis 1927/28 oder z. T. noch 1929 hatten die Betriebsräte eine deutsche Mehrheit (9 Deutsche, 8 Polen u.ä.). Im Laufe der nächsten Jahre ging der deutsche Anteil immer mehr zurück. Im Jahre 1936 waren die Betriebsräte in der Königshütte und in der Laurahütte rein polnisch, nur noch in der Bismarck- und in der Friedenshütte war je ein Deutscher im Betriebsrat. 1937 aber gab es in keiner Hütte mehr ein deutsches Betriebsratsmitglied. Von den Mitgliedern des "Verbandes deutscher Angestellten" wurden entlassen: 1934 - 540, 1935 - 441, 1936 -148, und 1937 (bis Ende Oktober) 102 Angestellte. Wenn die Zahl der Entlassungen in der Berichtszeit zurückging, so ist das nur auf die mit jedem Jahr geringer gewordene Anzahl von noch beschäftigten deutschen Angestellten zurückzuführen, aber außerdem wurden noch nicht organisierte deutsche Angestellte entlassen. Im Jahre 1937 waren nach deutschen Angaben nur noch 300 deutsche Angestellte in der oberschlesischen Industrie beschäftigt. An Arbeitern wurden 1937 1100 Deutsche aus den Gruben und Hütten entlassen, obwohl in demselben Jahr 25000 Neueinstellungen in der Industrie erfolgten.75 Auch nach der feierlichen Verkündung der Minderheitenerklärung gingen die Entlassungen weiter, die schon immer verschieden durchgeführt bzw. motiviert worden waren: Um bei der schlechten Wirtschaftslage die Arbeit zu "strecken", waren Feierschichten eingelegt und Teile der [143] Arbeiterschaft auf "Turnusurlaub" geschickt worden, damit andere an deren Stelle einrücken konnten. Die bei Einführung dieser Einrichtung festgelegte Klausel, daß die alten Arbeiter wieder auf ihren früheren Arbeitsplatz zurückkommen sollten, wurde aufgehoben. Dann wurden die vom Turnusurlaub zurückkehrenden Deutschen nicht wieder eingestellt. Ein zweites erprobtes Mittel war die "Reorganisierung", der Umbau der oberschlesischen Industrie nach den Erfordernissen Polens. Gegen Maßnahmen, die für die "Reorganisierung" durchgeführt wurden, gab es keine Beschwerdemöglichkeiten. Um der Reorganisierung willen wurden aber Arbeiter und Angestellte nicht nur umdirigiert und neueingestellt, sondern auch entlassen - wenn es sich um Väter handelte, die z. B. ihre Kinder in die deutsche Schule schickten, oder um Angehörige deutscher Berufsverbände. Daß bei einem schlechten Geschäftsgang aus betrieblichen Gründen Deutsche entlassen wurden, ist schon erwähnt worden. Auch wegen "Nichteignung" wurden im Juli 1937 Deutsche entlassen, die jahrzehntelang in derselben Hütte Spezialarbeiten ausgeführt hatten. Schließlich wurde, wie z. B. in der Friedenshütte, offen zugegeben, daß die bei der Entlassung angeführte "Nichteignung" im Bekenntnis des Betroffenen zum Deutschtum bestünde. Die Anfang der dreißiger Jahre herrschende Arbeitslosigkeit in Ostoberschlesien war in der Berichtszeit im Zusammenhang mit der Ankurbelung der polnischen Rüstung zurückgegangen. Wie schon erwähnt, konnten viele Neueinstellungen vorgenommen werden. Gegen Deutsche wusste man sich aber zu schützen. So wurden in den Arbeitsämtern bei der Vermittlung junge Leute nach dem Schulzeugnis gefragt. Daß das Abgangszeugnis einer deutschen Schule im Sinne der Ankündigungen des Westverbandes aus dem Frühjahr 1936 und 1937 für seinen Inhaber soviel wie eine Verurteilung zu [144] dauernder Arbeitslosigkeit bedeutete, wurde u. a. von Dr. Ulitz immer wieder in der Öffentlichkeit und von Senator Wiesner von der Senatstribüne aus betont. Letzterer führte im März 1937 im Senat aus, daß 7.000 deutsche schulentlassene Jungen keine Möglichkeit hätten, ein Handwerk zu erlernen und so gezwungenermaßen in das Arbeitslosenelend hineinwüchsen. Am 15. 6. 1937 wies er dem Ministerpräsidenten in einer Denkschrift nach, daß bei den Entlassungen häufig die parteipolitische Zugehörigkeit sowie der deutsche Schulbesuch der Kinder bestimmend gewesen waren. Auf der großen deutschen Jugendkundgebung in Kattowitz am 12. November 1936 wiederum wurde festgestellt, daß von den 24-jährigen Deutschen in Ostoberschlesien 16,6% noch nie in einem Beruf gewesen waren, von den 18-jährigen 50%, von den 17-jährigen 60% und von den 16-jährigen gar 86,5%. Lehrstellen für deutsche Jugendliche gab es in der Berichtszeit weder in der Industrie, noch im Bergbau, noch im Handwerk oder im Handel. Es soll nicht verschwiegen werden, daß den für die Entlassung vorgesehenen Deutschen polnischerseits Ausweichmöglichkeiten geboten wurden. Es wurde ihnen nämlich schon Anfang 1934 geraten, zwecks Sicherung ihres Arbeitsplatzes aus der deutschen Gewerkschaft in eine polnische überzuwechseln. Aber die Folge eines solchen Schrittes war die, daß der betreffende Arbeitnehmer beim nächsten Schulanmeldungstermin zur Ummeldung seiner Kinder aus der deutschen in die polnische Schule gezwungen wurde, da doch Mitglieder einer polnischen Gewerkschaft ihre Kinder nicht in die deutsche Schule schicken dürfen! Unter diesen Umständen zog es der oberschlesische Kumpel vor, im Sinne der auf einer Anfang 1937 in Königshütte abgehaltenen Kundgebung der deutschen Gewerkschaft beschlossenen Losung zu handeln: "Lieber erwerbslos, als treulos dem Volkstum !"76 So musste der überwiegende Teil des ostoberschlesischen [145] Deutschtums existenzlos dahinvegetieren. Da die abgebauten Deutschen schnell aus der Arbeitslosenfürsorge herauskamen, suchten sie z. T. im wilden Bergbau, in den lebensgefährlichen sogen. "Notschächten", in denen zeitweise bis 13000 Menschen Kohle förderten, auf den Halden und durch allerlei Gelegenheitsarbeit wenigstens ein kümmerliches Auskommen zu finden. Alle Vorstellungen der Sprecher der Volksgruppe bei den zuständigen Stellen - und der Reichsregierung bei Minister Beck - blieben erfolglos. Die bei dem Präsidenten der Gemischten Kommission, dem Altbundespräsidenten Felix Calonder, eingereichten Beschwerden wurden zwar zuerst wegen Unzuständigkeit abgewiesen, doch als der Volksbund Sammelbeschwerden einreichte, hatte er Erfolg, da Calonder die Wiederbeschäftigung der Entlassenen anordnete. Aber am 15. Juli 1937 hörte auch die Tätigkeit dieser Kommission auf, und die deutsch-polnische Minderheitenerklärung schien Herrn Grazynski und dessen Mitarbeiter nur zu desto größeren Aktivität anzuspornen. Die polnischen Gewerkschaften hatten schon 1933 die frühere Arbeitsgemeinschaft mit den deutschen Gewerkschaften unter dem Vorwand gesprengt, diese seien staatsgefährlich und hätten sich mit dem deutschen Kapital gegen den polnischen Arbeiter verbunden. Die rein polnisch gewordenen Betriebsräte lehnten die Vertretung der Interessen ihrer gekündigten deutschen Kollegen ab, d. h. sie leiteten deren Einsprüche nicht an den Schlichtungsausschuss weiter. Dieser konnte aber nur durch die Betriebsräte angerufen werden. Wandten sich die Entlassenen direkt an ihn, wurden sie von ihm genau so abgewiesen, wie von den Gerichten, die keine Klagen wegen Entlassung entgegennahmen. So wurde mit Wissen und Willen der staatlichen Behörden die systematische Aushungerung des ostoberschlesischen Deutschtums, dessen wirtschaftliche Verelendung oder Verdrängung [146] aus Polen eingeleitet und durchgeführt. Obwohl von 1934 bis 1938 die Zahl der im Bergbau, im Hüttenwesen und in der verarbeitenden Industrie Ostoberschlesiens beschäftigten Arbeiter um über 47000 zugenommen hatte, wurden in der gleichen Zeit 8200 deutsch organisierte Arbeiter entlassen, wie der Vorsitzende der Gewerkschaft deutscher Arbeiter, der ehemalige deutsche Abgeordnete Jankowski, am 26. März 1939 in Königshütte feststellte.77
Wenn die Aushungerung trotzdem
nicht glückte und die Abwanderung in der Berichtszeit nicht allzu
großen Umfang annahm, so ist das nur darauf zurückzuführen,
daß die Belebung der Industrie
in Deutsch-Oberschlesien nach Erschöpfung des Arbeitslosenreservoirs im
Reich auch deutschen Arbeitern aus
Polnisch-Oberschlesien Beschäftigung verschaffte, so daß Anfang
1938 schon Tausende als Grenzgänger ihr Brot fanden. Doch auch diese
Notlösung suchte Grazynski zu unterbinden. Ulitz und der eben
erwähnte Jankowski wurden im Zusammenhang damit wegen "illegaler"
Arbeitsvermittlung mit Geldstrafen belegt, die vom Bezirksgericht bestätigt
wurden. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit wurden den Grenzgängern
die Grenzübertrittsscheine entzogen und deren Neuausstellung verweigert,
so daß in der letzten Zeit viele, die ihren Arbeitsplatz in
Deutsch-Oberschlesien behalten wollten, zur Flucht über die grüne
Grenze gezwungen wurden. Auch die nicht auf eine Beschäftigung in der
Industrie angewiesenen Deutschen spürten den Druck, da im
Wojewodschaftsamt eine Kartei über alle in der Wirtschaft tätigen
Deutschen geführt wurde, in welche Eintragungen über den
Schulbesuch der Kinder, über die Umgangssprache in der Familie,
über die Vereinszugehörigkeit usw. vorgenommen wurden.78 Deutsche Handwerker und Kaufleute
erhielten Aufträge weder von der Industrie noch von den Gemeinden.
Darüber hinaus hatten sie unter den Boykottaktionen des Westverbandes
[147] und der Aufständischen zu leiden. Diese
Aktionen wurden zeitweilig von 31 polnischen Organisationen unterstützt.
Alle diejenigen, die bei Deutschen kauften, wurden z. B. in Kattowitz zu
Weihnachten 1937 auf Transparenten, die über die ganze
Straßenbreite gingen, öffentlich als Landesverräter
gebrandmarkt.79
Die Agrarreform und das Grenzzonengesetz in der Wojewodschaft Schlesien Die Ausdehnung der Agrarreform auf Polnisch-Schlesien wurde sofort nach Erlöschen der Genfer Konvention beschlossen. Für das Jahr 1938 waren für diese Wojewodschaft 8000 ha zur Parzellierung vorgesehen. Aber "großzügig" war man bereit, die 20000 bis 22000 ha, die der Fürst von Pless zwecks Begleichung der Steuerrückstände an den Staat hatte abtreten müssen, auf die geforderte Landmenge dieses Jahres anzurechnen. Weitere Landflächen wurden erst auf der am 15. Februar 1939 veröffentlichten Parzellierungsliste angefordert, die für die Wojewodschaft Schlesien 7438 ha vorsah. Darunter waren nur 100 ha polnischer Besitz, die übrigen 7338 ha deutscher.80 Der ausgedehnte Grundbesitz in den Händen der polonisierten Industrieunternehmungen wurde überhaupt nicht herangezogen. Dabei hatten die deutschen Großgrundbesitzer während der Geltungsdauer des Genfer Abkommens bis Ende 1936 auf Grund des deutschen Reichssiedlungsgesetzes von 1919 schon 9600 ha für - polnische Siedlungszwecke zur Verfügung gestellt. Sie hatten nämlich einen "Landlieferungsverband" gegründet, der fast den gesamten Boden an die private polnische Siedlungsgesellschaft "Slazak" verkaufte, die somit eine beträchtliche Parzellierungstätigkeit hatte betreiben können. Daß in Polnisch-Schlesien der Boden nur für Polen zu haben war, hatte Grazynski öffentlich erklärt.81
[148] Auch das Grenzzonengesetz hatte für
Oberschlesien Gültigkeit, und die Starosten machten von ihrem Recht,
einzelnen Personen das
Aufenthalts- und Wohnrecht in den ihnen unterstellten
Stadt- und Landkreisen mit Rücksicht auf die Sicherheit und den Schutz
der Grenzen zu verbieten, reichlich Gebrauch. Am 24. 7. 1938 wurde das Gesetz
auf die ganze Wojewodschaft Schlesien ausgedehnt. Die vielen Übergriffe
der Behörden auf Grund dieses Gesetzes unterbreitete Senator Wiesner den
Zentralbehörden, ohne irgendeine Änderung erreichen zu
können. Zusammenfassend lässt sich für Ostoberschlesien
sagen, daß die Behörden und die polnischen Verbände kein
Mittel scheuten, die Deutschen vom Arbeitsplatz zu verdrängen, den
Boykott gegen deutsche Waren und deutsche Arbeit rücksichtslos
durchzuführen, so daß von den 1929 beschäftigt gewesenen
und noch in Polen verbliebenen deutschen Angestellten Anfang 1939 kaum 10%
und von den deutschen Arbeitern kaum 20% in
Polnisch-Oberschlesien Arbeit gehabt haben mögen. Das Ziel, das sich die
polnischen Kreise gesteckt hatten, "den Anteil der Deutschen auf allen
Lebensgebieten in Schlesien in die Grenzen zurückzuverweisen,... die dem
zahlenmäßigen Verhältnis des Deutschtums zur
Gesamtbevölkerung entsprechen",82 war erreicht worden. Daß die
aus einem Berufszweig hinausgedrängten Deutschen in anderen erst recht
nicht unterkommen konnten und somit entweder zur Abwanderung oder zur
Verelendung gezwungen wurden, dieses Hauptziel wurde zwar von dem zitierten
polnischen, literarischen Interessen dienenden Blatte nicht ausgesprochen, wohl
aber offen von anderen, volkstümlichen Zeitungen.
Die Lage in der Bielitz-Bialaer Industrie
Widerstandsfähiger als die oberschlesische Schwerindustrie erwies sich die
deutsche Textilindustrie des benachbarten
Bielitz-Bialaer Gebietes, da die dort vorhandenen [149] kleineren und mittleren Betriebe nicht
vergesellschaftet waren, sondern sich in Familienbesitz befanden und über
eigenes Kapital verfügten. Das kaufmännische und technische
Personal in diesen Werken war größtenteils deutsch, ebenso bis
Anfang der dreißiger Jahre die meisten Angestellten der Bielitzer
Stadtverwaltung und der städtischen Betriebe dieser noch zu 62%
deutschen Stadt. Aber der im Januar 1934 durch Grazynski eingesetzte
kommissarische Bürgermeister führte für die deutschen
Angestellten polnische Sprachprüfungen ein und nahm auf Grund derer
viele Entlassungen vor. Ferner gingen den Chefs der Industriebetriebe
Rundschreiben und Fragebogen über das
Nationalitätenverhältnis in der
Arbeiter- und Angestelltenschaft zugleich mit dem Wunsch des Wojewoden nach
verstärkter Beschäftigung von Polen zu. Tatsächlich wurde
dann in einigen Betrieben deutschen Angestellten gekündigt. Da jedoch
damals noch eine Massenentlassung verhindert werden konnte, wurde Ende 1935
erneut ein Druck auf die Tuchindustrie ausgeübt. Nun hatte diese im Laufe
der Jahre günstige Absatzmöglichkeiten gefunden und sich
ausgebaut, so daß sie dem Verlangen nach Einstellung von Polen
nachkommen konnte, ohne deswegen vor dem Juni 1939 viele Deutsche entlassen
zu müssen, wenn auch deutscher Nachwuchs in dieser Zeit vielfach nicht
mehr eingestellt werden konnte. Ihre Behauptung hatte diese Sprachinsel u. a.
auch ihrer günstigen wirtschaftlichen Struktur zu verdanken, die im Teil I
dieser Darstellung umrissen wurde.
Der Wirtschaftskampf in Mittelpolen Die Textilindustrie des Lodzer Gebietes bot ein ganz anderes Bild. Hier bestanden viele von Deutschen gegründete Grossbetriebe, die ihren früheren sicheren Absatzmarkt im russischen Weltreich durch den Ausgang des ersten Weltkrieges verloren hatten. Dazu traten die wirtschaftlichen Experimente der neuen Staatsführung, die eine unregelmäßige, schwankende [150] Ausfuhr zur Folge hatten. Die Lodzer Industrie wandelte sich daher zu polnischer Zeit recht wesentlich. Polnischer Druck und neu aufkommende, sich immer mehr durchsetzende unsolide Geschäftsgebaren brachten bei obigen Schwierigkeiten so manchen deutschen Betrieb zur Strecke. Die Weltwirtschaftskrise 1929/32 bedeutete für die Lodzer Industrie einen neuen Aderlass. Staatliche Kredite gab es auch hier nur für Polen, so daß weitere Unternehmen unter staatliche Aufsicht oder in andersnationale Hände gerieten. Daneben bildete sich eine anonyme Industrie heraus, indem skrupellose Geschäftsleute die industrielle Fertigung unbekannter "Fabrikanten ohne Fabriken" betrieben.83 Da sie keine Steuern, Gewerbegebühren und soziale Lasten zu tragen brauchten, konnten sie mit ihren billigeren Gestehungskosten den anständig und solide geführten deutschen Betrieb zu Fall bringen. Erst nach 1933 machte sich ein wirtschaftlicher Wiederaufstieg bemerkbar, an dem auch der deutsche Handel und z. T. die deutsche Industrie Anteil nahmen. Bis 1932 hatte oft Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit vorgeherrscht, unter der vor allem Deutsche litten. Das Bestreben der polnischen Verwaltungen, den bis 1919 in Lodz überwiegenden deutschen Fachmann aus den Werkstätten zu verdrängen und durch Polen zu ersetzen, war für die ganze polnische Zeit kennzeichnend. Besonders solche Betriebe, deren deutschstämmige Inhaber ins polnische Fahrwasser geraten waren, wollten durch Polonisierung ihrer Belegschaft ihr Bekenntnis zum Staatsvolk unter Beweis stellen, wobei sie naturgemäß mit der Verwaltung begannen. Seit 1933 wurden auch die Arbeiter in größerer Zahl entlassen. Die Lage spitzte sich dann immer mehr zu. Im Jahre 1924 waren in Lodz insgesamt 77000 Arbeiter in 700 Betrieben beschäftigt. 1932 waren es 71000 Arbeiter in 1151, Mitte 1939 aber 158000 Arbeiter in beinahe 3500 Betrieben.84 [151] Obwohl also die Gesamtzahl der Arbeiter seit 1932 bedeutend gestiegen war, gab es unter den rund 25000 deutschen Fabrikarbeitern des Lodzer Bezirkes85 in der Berichtszeit viele Arbeitslose, so daß sich ca. 5000 Deutsche als Heimweber mühsam durchschlagen mussten. Infolge des Druckes der Konkurrenz und der Abhängigkeit vom Zwischenhändler mussten sie täglich 12, 14 oder gar 16 Stunden um einen mehr als kargen Lohn in ihrer engen Wohnung am Webstuhl schuften. Durch die 1938 gegründete "Genossenschaft deutscher Heimarbeiter und Handwerker" (Gedeha) wurde ein gemeinschaftlicher Rohstoffeinkauf und Warenverkauf organisiert, was den Heimwebern neuen Auftrieb gab.86 Überhaupt konnten sich die 1932 daniederliegenden deutschen Handelbetriebe in Lodz und Umgebung - von mehreren nach 1919 gegründeten Textilgroßhandelsbetrieben hatte sich nur ein einziger behaupten können - in der Berichtszeit erholen, da infolge des seit 1933 verschärften polnischen Druckes die durch die deutschen politischen Organisationen aufgerüttelten deutschen Menschen die deutschen Einzelhandelsbetriebe zu unterstützen begannen. Auch in vielen deutschen, von der polnischen Arbeit erfassten Dörfern Mittelpolens, in denen bisher lediglich andersnationale Geschäfte vorhanden gewesen waren, entstanden in der Berichtszeit deutsche Kleinhandelsbetriebe des täglichen Bedarfes. Alle diese verheißungsvollen Ansätze deutschen wirtschaftlichen Lebens in Mittelpolen wurden durch den rücksichtslosen Boykott des Jahres 1939, auf den wir in Teil III zu sprechen kommen, zunichte gemacht.
Charakteristisch für die polnischen Maßnahmen in Lodz ist auch die
Verdrängung der Deutschen aus ihren führenden Stellungen in dem
ausschließlich von Deutschen gegründeten Innungswesen. Daher
haben nur einige wenige Innungen, wie die
Tuchmacher-, Webermeister- und Webergeselleninnung und [152] bis kurz vor Ausbruch des Krieges noch die
Bäckerinnung des Versailler Polen als deutsche Organisationen
überdauert.87 In allen deutschen Siedlungsgebieten
Polens war das Deutschtum somit einem mehr oder weniger starken
Wirtschaftsdruck ausgesetzt. Jeglichen wirtschaftlichen Niedergang bekamen die
Deutschen am schärfsten zu spüren, von jedem Aufschwung wurden
sie nach Möglichkeit ausgeschlossen. Das Deutschtum ganz gleich
welchen Gebietes sollte verelenden, verdrängt werden, zur Abwanderung
oder zur Assimilierung gezwungen werden, und das zu gleicher Zeit, als im
Deutschen Reich kein Pole verarmte und kein Angehöriger der polnischen
Volksgruppe zu einem Abstieg von seinem sozialen Niveau gezwungen oder von
der Teilnahme am damaligen Wirtschaftsaufschwung im Reich ausgeschlossen
wurde.
66Nation und Staat. Jg. VII, S. 111ff; Wien 1934. ...zurück... 67Mackiewicz, Stanislaw (Cat): zitiert nach: Osteuropäische Lageberichte. Heft 23, S. 8; Königsberg 1936. ...zurück... 68Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges. Nr. 2 (DWB II) Dok. 94, S. 97. Hrsg. vom Auswärtigen Amt; Berlin 1939. ...zurück... 69Landwirtschaftlicher Kalender für Polen. S. 18; Posen 1935. ...zurück... 70Osteuropa. Jg. XIV S. 484f; Königsberg 1937. ...zurück...
71Osteuropäische
Tageberichte. III August 1937 S. 6; 72Nation und Staat. Jg. VIII, S. 328f; Wien 1935. ...zurück... 73Kauder, Viktor (Hrsg.): Das Deutschtum in Polen. T. 1, S. 8 (Ein Bildband Teil 1-5.) Plauen-Leipzig 1937/39. ...zurück... 74Hahn, Wichard: "Die Arbeitslosigkeit der deutschen Volksgruppen in Ostoberschlesien." In: Deutsches Archiv für Landes- und Volksforschung. S. 555-574, Jg. II, 1938. ...zurück... 75Nation und Staat. Jg. XI, S. 255; Wien 1938. ...zurück... 76Nation und Staat. Jg. X, S. 396; Wien 1937. ...zurück... 77Ostland. (Hrsg.: Deutscher Ostbund) Jg. XX, S. 183, Berlin 1939. ...zurück... 78Persönliche Mitteilung von Dr. Gerhard Reichling. ...zurück... 79Nation und Staat. Jg. XI, S. 625; Wien 1938. ...zurück... 80Ostland. (Hrsg.: Deutscher Ostbund) Jg. XX, S. 99, Berlin 1939. ...zurück... 81Polska Zachodnia vom 31.3.1937, zitiert nach Hahn, Wichard: "Die Arbeitslosigkeit der deutschen Volksgruppen in Ostoberschlesien." In: Deutsches Archiv für Landes- und Volksforschung. S. 567 Jg. II, 1938. ...zurück... 82Wiadomosci Literackie, zitiert nach: Osteuropäische Lageberichte. Nr. 23 S. 10; Königsberg 1936. ...zurück... 83Der Osten des Warthelandes. S. 73; Litzmannstadt o. J. (1941). ...zurück... 84Der Osten des Warthelandes. S. 74; Litzmannstadt o. J. (1941). ...zurück... 85Breyer, Albert in Kauder, Viktor (Hrsg.): Das Deutschtum in Polen. T. 4, S. 5 (Ein Bildband Teil 1-5.) Plauen-Leipzig 1937/39. ...zurück... 86Schütz, E. O. in: Der Aufbau. Jg. I, S. 31ff; Kattowitz 1938. ...zurück...
87Heike, Otto in: Der Osten des
Warthelandes. S. 165; Litzmannstadt o. J. (1941). ...zurück...
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