[127] Erlebnisberichte von den Verschlepptenzügen, Teil 1
77. Der Schreckensmarsch nach Lowitsch
Erlebnisbericht von Gotthold Starke, Hauptschriftleiter der "Deutschen Rundschau" in Bromberg.
Bromberg, den 15. September 1939.
Gegenwärtig: Z. P.: Ich heiße Gotthold Starke, bin 43 Jahre alt, evangelischen Glaubens, Hauptschriftleiter der "Deutschen Rundschau" in Bromberg, verheiratet, vier Kinder. Z. S.: Am 1. Sept. 1939, abends ½8 Uhr, wurde ich in meiner Wohnung durch einen polnischen Polizeibeamten verhaftet. Er sprach die Verhaftung sofort aus, als er die Wohnung betreten hatte, und führte dann eine Haussuchung durch, die ergebnislos verlief. Er überreichte mir darauf einen roten Verhaftungsbescheid, auf dem ich zu quittieren hatte, daß eine Haussuchung bei mir durchgeführt worden sei und daß diese Revision kein Ergebnis gehabt habe. Ich wurde dann im Kraftwagen in das frühere Reichskriegerwaisenhaus in Bromberg gebracht, in dem ich bereits viele Volksdeutsche und Reichsdeutsche antraf, die gleichfalls im Laufe des 1. September verhaftet worden waren. Dazu war, wie ich später erfuhr, durch den polnischen Rundfunk ein Generalbefehl für das ganze Land verbreitet worden. Die Arrestantenlisten müssen schon Ende April oder Anfang Mai fertiggestellt worden sein. Personen, die später nach Bromberg zugezogen waren und die genau so oder noch mit größerem Recht als wir anderen als politisch verdächtig erscheinen konnten, wurden nämlich nicht verhaftet. Dagegen forschte man auch nach Leuten, die in den letzten Monaten verzogen waren. Es gab drei Kategorien von Verhafteten rechtlich gesehen, die aber alle die gleiche Behandlung erfuhren: erstens die Arrestanten mit dem roten Zettel, zu denen ich gehörte; zweitens die Internierten mit einem rosa Zettel, zu denen vornehmlich die Reichsdeutschen gehörten, aber auch einige Volksdeutsche, während auch einige Reichsdeutsche rote Zettel hatten; drittens die Evakuierten mit gelben Zetteln. Auf diesen gelben Zetteln stand die Order, daß sich die betreffenden Personen – hier handelte es sich wohl durchweg nur um Volksdeutsche – auf eigene Kosten für vier Wochen an einen Ort Ostpolens zu begeben hätten, wo sie unter Polizeiaufsicht leben sollten. Die Kategorie der gelben Zettel war die weitaus kleinste, es handelte sich um eine gewisse Bevorzugung gegenüber den Arrestanten, die in einem mir bekannten Fall dadurch bedingt sein sollte, daß der betroffene Gutsbesitzer von seiner polnischen Einquartierung einen guten Leumund erhalten hat. Da die Evakuierten am 1. September nicht mehr die Möglichkeit hatten, mit der Bahn nach Ostpolen zu fahren, wurden sie den Arrestanten gleich geachtet, wie auch die Internierten keine andere Behandlung erfuhren. Zu diesen Internierten gehörten übrigens der Leiter der Deutschen Paßstelle in Bromberg, Konsul Wenger, und seine Sekretärin, Frl. Müller, beide Beamte des Deutschen General- [128] konsulats in Thorn. Konsul Wenger habe ich zuletzt in Lodsch gesehen, er ist noch nicht nach Bromberg zurückgekehrt.1 Offenbar hatte man die Absicht, uns alle in ein Lager zu verschleppen, in dem wir auch verpflegt werden sollten. Einem Teil von uns wurde bei der Verhaftung gesagt, daß wir uns für vier Tage zu verpflegen hätten, aber nur die wenigstens konnten diese Lebensmittel noch beschaffen. Am 2. September wurden noch weitere Verhaftete zu uns gebracht, darunter der Vorsitzende der Deutschen Vereinigung, Dr. Hans Kohnert, gleichfalls mit rotem Zettel. Als wir vom Fenster aus Einschläge deutscher Fliegerbomben beobachteten und ebenso Zeuge waren, wie deutsche Bauern so stark geschlagen wurden, daß ein Kolben zersplitterte (Zeugin Frl. Müller von der Deutschen Paßstelle, noch in Lodsch), machte man die erste Einschüchterungsmethode. Unsere Wächter, die sich aus Polizisten, Hilfspolizisten und Mitgliedern halbmilitärischer Verbände zusammensetzten, zwangen uns mit aufgepflanztem Bajonett zum Niederlegen auf den Boden und drohten jedem mit Erschießen, der sich erheben wollte. Am 2. September, nachmittags gegen 5 Uhr, wurden wir in zwei Reihen aufgestellt und auf den Hof geführt. Vorher wurden durch einen Haller-Soldaten einige Paare herausgesucht, deren Hände aneinandergefesselt wurden. Dann bildeten wir auf dem Hof ein großes Karree, man lud in unserer Gegenwart Karabiner und Maschinenpistolen und setzte uns in Marsch. Zuerst durch die uns laut beschimpfende polnische Bevölkerung Brombergs. Vor dem Polizeigefängnis, in dem wir Rast machen konnten, drohte man, uns zu lynchen. Als es ganz dunkel geworden war, marschierten wir zunächst über Langenau und Schulitz nach Thorn, ein Gewaltmarsch von rund 58 Kilometer, ganz unerträglich für die Greise und Kinder, die bei uns waren. Die Strapazen wurden verschärft durch den Mangel an Nahrung und durch den immer wiederkehrenden Befehl, in den Straßengraben zu gehen, wenn deutsche Flieger angriffen. Schon bei Langenau blieb als Sterbende das 76jährige Frl. Martha Schnee liegen, eine Nichte des bekannten Gouverneurs aus Deutsch-Ostafrika, die ihr Leben dem Dienst der Armen gewidmet hatte, zuletzt als Leiterin der Deutschen Volkswohlfahrt. In Thorn wurden wir nachts in einem schmutzigen Saal eines Vororts untergebracht. Die ersten Geisteserkrankungen machten sich bemerkbar. Frauen und Männer schrien durcheinander, dazwischen gab es antideutsche Kundgebungen von polnischen Sträflingen, die man uns zugegeben hatte. Am 4. September marschierten wir von Thorn bis zu dem polnischen Solbad Ciechocinek. Unsere Wachmannschaften waren stark damit beschäftigt, polnische Deserteure aufzugreifen. Nach den Kampfhandlungen zu schließen, glaubten wir alle, daß uns deutsche Truppen noch befreien könnten. Kurz vor dem Badeort schnitt sich einer unserer Kameraden, der junge Gerhard Schreiber aus Bromberg, die Halsschlagader durch. Der mit uns marschierende Chirurg Dr. Staemmler aus Bromberg schloß die Wunde. Der Verletzte wurde nach Ciechocinek gebracht, ist dort aber verstorben. Dr. Staemmler sagte mir persönlich, bei einer normalen Behandlung hätte er gerettet werden müssen. Während der junge Kamerad, der mit seinen Nerven zusammengebrochen war, in seinem Blute lag, wurde er von dem den Zug anführenden letzten polnischen Polizeikommandanten von Bromberg mit Füßen getreten. Uns anderen aber wurden sämtliche Taschenmesser und Rasierklingen [129] abgenommen. In Ciechocinek wurden wir in einem Jugendlager untergebracht, nach Geschlechtern getrennt. An eine Nachtruhe war wieder nicht zu denken, da es neue Ausbrüche von Geisteskrankheiten gab und die hysterischen Schreie nicht aufhörten. Zu essen gab es nichts. Am 5. September marschierten wir in großer Hitze von Ciechocinek bis Wloclawek. Die Fußkrankheiten griffen immer weiter um sich, der Hunger wurde größer, Vorräte, die einige mitgenommen hatten, waren verteilt. Man hatte uns das Geld abgenommen; trotzdem konnten in Nieszawa die Gefangenen noch eine Sammlung veranstalten, so daß gemeinsam Brot gekauft wurde. Der Kommandant gab Dr. Staemmler den Auftrag zum Ankauf und zur Verteilung. Leider hat er später eine ähnlich milde Regung nicht verspürt. In Nieszawa lagerten wir mittags bei sengender Glut auf einem großen Gemüllabladeplatz. Hier kam ein großer Trupp Gefangener aus Pommerellen hinzu, der uns angeschlossen wurde. Auch Frauen und Greise dabei, lauter gehetzte, schon bis aufs letzte ausgemergelte Gestalten. Wir zogen dann hart am Weichselufer entlang in das stark zerschossene Wloclawek, wo wir in eine Turnhalle eingepfercht und eingeschlossen wurden. Die ganze Nacht über gab es kein Wasser, trotzdem wir nahe am Verdursten waren. Als ich im Dunkeln nach einem Ausgang suchte, um an einen Brunnen zu kommen, traf ich einen deutschen Landwirt Vorweyer, den man mit seinem 14jährigen Sohn verhaftet hatte. Später nahm man ihm den blonden Jungen wieder ab, über dessen Schicksal man nichts weiß. Am anderen Morgen wurden wir weitergetrieben. Ein Teil der alten Leute, die nicht mehr weiterkonnten, und auch einige Frauen wurden auf Wagen geladen. Als die beiden über 70jährigen Bromberger, Superintendent Aßmann und Dr. von Behrens, das gleiche Verlangen stellten, wurden sie als "besonders gefährliche politische Banditen" zurückgewiesen. Junge Kameraden nahmen sie wieder auf ihre Arme und schleppten sie auch diesen Tag weiter. Der Weg ging an diesem 6. September von Wloclawek zur Zuckerfabrik Chodsen bei Chodecz, wo wir mit mehreren anderen Kolonnen aus Pommerellen vereinigt wurden und die Gesamtzahl von Verschleppten wohl die Zahl von 4000 erreichte, davon aus Bromberg etwa 600 bis 800 Personen. Unter diesen 4000 Teilnehmern befanden sich rund 1000 polnische Sozialdemokraten, Kommunisten, Sträflinge und andere "Bassermannsche Gestalten". Andere deutsche Trupps hatten in der Zuckerfabrik Chodsen, die einem Militärkommandanten unterstand, üble Erfahrungen gemacht. Sie waren mit Gummiknüppeln geschlagen, an die Wand gestellt, geängstigt und auf andere Weise malträtiert worden. Auch hat es verschiedene Erschießungen gegeben. Wir wurden für die Nacht auf einen engen Platz zwischen zwei Mauern gejagt, auf dem der einzelne kaum Raum zum Sitzen hatte, und dann saß er noch auf Koks und flüssigem Teer. Dazwischen gingen polnische Zivilisten mit Armbinden, deren Befehlen wir zu gehorchen hatten. Wer sich dem Stacheldraht näherte, sollte erschossen werden. Auf dem Dach der Zuckerfabrik standen Maschinengewehre. Trotzdem man uns am Abend Baracken mit Stroh versprochen hatte – offensichtlich war diese Zuckerfabrik als Sammellager gedacht –, wurden wir am anderen Morgen über Chodecz, ein Städtchen, in dem wir uns auf dem Markt verpflegen konnten, nach Kutno getrieben. Auf dem Wege wurden wir unaufhörlich als Mörder, Banditen und "Hurensöhne" beschimpft, besonders von den Frauen und – von den Offizieren. Unseren Weg begleiteten Flüchtlings- [130] kolonnen, militärische und zivile, die immer wieder Gelegenheit nahmen, über uns herzufallen. Wer nicht weiterkam, wurde manchmal auf den Wagen gebracht, in der Regel aber am Schluß des Zuges erschossen. Wir marschierten vom Morgen des 7. September die ganze Nacht hindurch mit wenigen Ruhepausen im Straßengraben oder im Mist der Landstraße bis zum Morgen des 8. September um 9 Uhr, bis wir auf ein Gut Starawies, etwa drei Kilometer hinter Kutno, kamen, wo wir vier Stunden Halt machten. Hier brachen mehrere Kameraden aus Erschöpfung tot zusammen. Nur ein Teil der Kolonne erhielt Brot, alle aber Wasser zum Trinken, was für uns die höchste Seligkeit bedeutete. Hatten wir uns doch schon bei der ersten Dämmerung auf das Gras des Straßenrandes geworfen, um Lippen und Zunge an dem Tau zu erfrischen. Auch konnten wir uns hier und da vom Felde eine Futterrübe besorgen, um das furchtbare Hungergefühl einzudämmen. Von Starawies marschierten wir mittags weiter, wieder eine Nacht hindurch, taumelnd, schlafend, durch unsere Geisteskranken ständig beunruhigt, durch die Schüsse in unserem Zuge erschüttert – einer meiner Kameraden hat allein 44 erschossene Deutsche in dieser Nacht gezählt – und belästigt durch die vielen zurückflutenden Militärkolonnen. Wer nicht in Reih und Glied marschierte, wurde von der Begleitmannschaft, die besser ernährt war als wir, die teilweise auf Rädern fahren konnte, teilweise auch schon abgelöst war, mit Keulenschlägen und Bajonettstichen wieder ins Glied zurückgetrieben. Selbst unser Arzt Dr. Staemmler wurde davon nicht verschont, wenn er in der endlosen Kolonne vor- oder zurückblieb, um einem Unglücklichen mit irgendeinem Stärkungsmittel zu helfen. Sein Instrumentarium hat er nicht mitnehmen dürfen. In dieser Nacht fing er selbst an zu phantasieren. Dr. Kohnert und zwei neben ihm marschierende Kameraden wurden von vorbeimarschierenden Soldaten geschlagen. Immer wieder mußten wir aufrücken, weil die Reihen sich lichteten. Ein 70jähriger Bauer Körner, der es vor Durst nicht aushalten konnte, sprang von einer sieben Meter hohen Brücke in die Bzura, wo er beschossen, aber nicht verletzt wurde. Er trank dort aus seinem Hut Wasser und konnte sich dann wieder dem Schluß des Zuges anordnen. Am 9. September um 9 Uhr trafen wir in Lowitsch ein, und zwar an einem Punkt zwischen Pulvermagazin und Kasernen, bei heftigster deutscher Artilleriebeschießung. Die polnischen Wachtmannschaften verließen uns bis auf ganz wenige, der Kommandant war nicht zu sehen. Wir verzogen uns aus der gefährlichen Gegend in ein oberhalb der Stadt gelegenes Wäldchen, unterwegs konnten wir an mehreren Brunnen den Durst stillen und waschen. Von dem Zuge der rund 4000 sind in Lowitsch, das zu gleicher Zeit von deutschen Truppen besetzt wurde, 2000 gerettet worden. Abgängig sind zunächst die 1000 Polen, die bei uns waren, aber die restlichen 1000 Deutschen sind keineswegs nur ein statistischer Fehler, sondern ich glaube, daß sie sich in dieser letzten schier unerträglichen Nacht, in der wir uns kaum weiterschleppen konnten, in die Wälder, Wiesen und Dörfer verlaufen haben. Ein Teil von ihnen muß als dauernder Verlust abgeschrieben werden. Andere trafen noch immer in Lowitsch truppweise ein. Von den letzten 2000, die zusammengeblieben waren, sind rund 1200 bei den Kasernen auseinandergegangen und in einzelnen Kolonnen, zum Teil unter Gefangennahme der Begleitmannschaft, von denen zuletzt 30 inhaftiert waren, den deut- [131] schen Truppen entgegengegangen. Der letzte Rest von 800, bei dem sich u. a. Dr. Kohnert, Dr. Staemmler, Freiherr Gero von Gersdorff, der Landbundvorsitzende Modrow und auch ich selbst befanden, wurde in das vorher erwähnte Wäldchen geführt, wo uns Strzelce (halbmilitärische Schützen) erwarteten, junge bewaffnete Banditen von 17 bis 18 Jahren, die uns dann noch neun Kilometer nordöstlich Lowitsch in Richtung Warschau abdrängten, in ein langgestrecktes Dorf, in dem es wieder Wasser gab. Der größte Teil dieser 800 waren Deutsche aus Kongreßpolen, die kaum noch zusammenzuhalten waren, besonders als wir wieder einen Berg hinan auf eine sogenannte Gromadawiese (Gemeindeplatz) getrieben wurden, die von allen Seiten gut beschossen werden konnte. Pastor Krusche als Führer der kongreßpolnischen Deutschen und wir Bromberger beratschlagten, was nun zu tun sei. Dr. Kohnert und Dr. Staemmler wurden beauftragt, mit dem letzten uns noch begleitenden Bromberger Polizisten zu verhandeln. Er sollte seine Kameraden herbeiziehen, damit uns die zurückflutende Soldateska und auch die jungen Strzelce, die offenkundig in einen Hinterhalt gegangen waren, nicht abknallten. Dafür wollten wir den Begleitmannschaften Leben und Stellung garantieren, falls wir in deutsche Hand fielen. Als sich Dr. Kohnert und Dr. Staemmler dem Polizisten näherten, verstand er dies falsch und wurde aggressiv. Dr. Staemmler versuchte ihm die Waffe zu entwinden, der Polizist trat einige Schritte zurück und erschoß ihn. Mit lauten Rufen nach Rache und nach Polizei verschwand er im oberen Dorf. Wir nahmen jetzt an, daß man auf die wehrlosen 800 von allen Seiten schießen würde. Überall wurden regulär und irregulär bewaffnete Polen sichtbar. Da erschien am Fuß des Berges plötzlich ein Tank. Allgemein herrschte die Annahme, daß er unseren Fluchtweg nach Lowitsch abriegeln sollte. Mit einem weißen Taschentuch an einem Stock ging ihm Dr. Kohnert und Pastor Krusche entgegen. Wir hofften, durch die Unterwerfung unter polnisches Militär gegen die Heimtücke der Polizei und der Strzelce gesichert zu sein. Die 800 strömten den beiden Parlamentären nach. Auf halbem Wege entdeckten wir, daß es sich um einen deutschen Tank handelte, der uns befreite. Ein junger deutscher Offizier fuhr durch unsere Mitte auf diesem Tank, der den Namen "Ziethen" trug, bis in das obere Dorf den ganzen Gromada-Hügel hinauf. Dort fielen die polnischen Bauern auf die Knie und küßten dem Offizier Hand und Uniform. Uns aber gab er die Marschrichtung nach Lowitsch zurück. Wir nahmen die Leiche von Dr. Staemmler und zogen unter Seitensicherung durch Kartoffel- und Stoppelfelder in die von deutschen Truppen eroberte Stadt. Der Marsch nach Lowitsch, der mit Umwegen etwa 240 Kilometer lang gewesen war, hatte ein Ende. Die Verfassung der Teilnehmer war zum größten Teil erschütternd elend. Als ich auf der Kommandantur, wo der blau geschlagene Landarzt Dr. Studzinski (ein Deutscher) aus Waldau, Kr. Schwetz, bis zum Umfallen die zum großen Teil eiternden Fußwunden verband, die Schwerkranken besuchte, entdeckte ich auf einem Strohlager u. a. den 68jährigen Senator Dr. Busse-Tupadly. Er rief mich an und umarmte mich weinend. Trotzdem er der Patenonkel meines Sohnes ist, hätte ich ihn nie wiedererkannt. Durch Steinwürfe und Kolbenschläge war sein Kopf eine blauschwarze unförmige Masse geworden, aus der nur die bluttriefenden roten Lippen hervortraten. Dr. Busse ist einer der ersten europäischen Viehzüchter. Er war auch bei den Polen [132] besonders geachtet und auf allen internationalen Viehbewertungen als Preisrichter bekannt. Neben ihm lag im Zustand völliger Erschöpfung der 82jährige Gärtnereibesitzer Bohrmann aus Schönsee. Im Hof der Kommandantur aber häuften sich die Leichen derjenigen Kameraden, die jetzt noch an Erschöpfung gestorben waren, und der anderen, die von der Hauptkolonne vor Lowitsch abgesprengt und von der zurückflutenden Soldateska ermordet worden waren. Allein in der Nähe des Gromada-Hügels hatte man 26 gezählt. Die meisten von ihnen waren mit dem Gewehrkolben erschlagen. Bewegt dankten wir unseren Befreiern. An der Bzura, wo wir unser erstes Bad nahmen, sangen wir die deutschen Hymnen und brachten ein Siegheil auf den Führer und die deutsche Armee aus. In der Nacht wurden wir im Gefängnis verpflegt, und zwar durch Landsleute aus Pommerellen, die unter Spionageverdacht bis in das Lowitscher Gefängnis verschleppt und jetzt auch von den deutschen Truppen befreit worden waren. Mit Rücksicht auf die Kampfhandlungen wurden die geretteten Zweitausend einen Tag später, am Sonntag, dem 10. September, nachmittags, auf 800 requirierten Fahrrädern und auf Panjewagen über Glowno, wo es noch eine nächtliche Rast im Freien gab, nach Lodsch gebracht. Selbst diktiert, genehmigt und unterschrieben
gez. Gotthold Starke
Der Zeuge wurde beeidigt.
Geschlossen:
Dr. Waltzog Charlotte Janz Quelle: WR I
78. Pater Breitinger, der Seelsorger der Posener deutschen Katholiken, über den Verschlepptenzug aus Posen
[Scriptorium merkt an: mehr von Pater Breitinger finden Sie hier Posen, am 5. Oktober 1939.
Untersuchungsstelle für Verletzungen des Völkerrechts
Gegenwärtig: Aufgesucht erscheint der Pater Breitinger und erklärte auf Befragen nach entsprechender Eidesbelehrung: Zur Person: Ich heiße Lorenz Breitinger, Ordensname Pater Hilarius, geboren am 7. Juni 1907 in Glattbach bei Aschaffenburg, Seelsorger der deutschen Katholiken in Posen, wohnhaft im Franziskanerkloster in Posen. Zur Sache: Am 1. September 1939, gegen 18 Uhr, erschien an der Klosterpforte ein Polizeibeamter und erklärte mich für verhaftet. Auf meine Bitte, etwas Wäsche und Lebensmittel mitnehmen zu dürfen, erwiderte er, daß das nicht notwendig sei, da ich nach einem kurzen Verhör bereits in einer halben Stunde wieder zu Hause sein würde. Vor dem Kloster wartete ein weiterer Polizeibeamter mit aufgepflanzter Seitenwaffe und beide Polizisten führten mich mit drei anderen Verhafteten wie einen Schwerverbrecher zum Polizeipräsidium. Dort drückte mir der mich verhaftende Polizeibeamte gegen eine Empfangsquittung einen Internierungsschein in die Hand, woraus ich ersah, daß ich regelrecht interniert sei. Auf dem Polizeihof traf ich etwa [133] 20 Bekannte an, und mit ihnen zusammen verbrachte ich die Nacht unter freiem Himmel. In der Nacht trafen weitere Transporte von Leidensgenossen aus anderen Stadtteilen ein. Der Obere meines Klosters versuchte, meiner Verhaftung wegen bei dem Oberkommissar der Polizeiverwaltung zu intervenieren. Nach meiner Rückkehr hörte ich von ihm, daß seine Intervention mit folgenden Worten abgetan wurde: "Was, Sie wagen es, für einen solchen Mann einzutreten?" "Sie halten also mit Spionen zusammen, und da verdienen Sie genau solch eine Kugel durch den Kopf wie der andere." Als der Obere darauf bat, mir einen Koffer mit Kleidungsstücken und Lebensmittel übergeben zu dürfen, wurde er dahin beschieden, daß den die Läuse fressen sollen. Mein Oberer war darüber so entrüstet, daß er mir später sagte, sich in jenem Augenblick zum erstenmal geschämt zu haben, Pole zu sein. Weiterhin hörte ich von meinem Oberen, daß er sich meinetwegen auch zum Polizeikommandanten von Posen bei der Woiwodschaft begeben habe, der ein guter Bekannter von ihm und mir war. Dieser erwiderte jedoch, daß er leider nichts tun könne, da die gesamte Gewalt in Händen des Militärs läge. Am 2. September 1939 mußten wir uns in zwei Gliedern aufstellen. Ein Polizeibeamter in Zivil sprach uns dann im Namen des Woiwoden alle Ehrenrechte ab und bemerkte weiterhin, daß wir jetzt in ein Lager marschieren müßten und daß derjenige, der nicht ordentlich auf der Straße marschiere, sofort erschossen werden würde. Die Polizisten luden sodann ihre Gewehre, pflanzten die Seitenwaffen auf, und nunmehr wurden wir durch die Straßen Posens nach Glowno geführt. Der links und rechts der Straßen harrenden Menschenmenge riefen die Polizisten immer wieder zu: "Dies sind alles Deutsche" und die Antwort der Menge war dann regelmäßig ein unglaubliches Schreien und Toben sowie entsetzliches Fluchen. Am alten Markt wurde die Menge bereits handgreiflich, und wir erhielten Stockschläge, Fußtritte und Steinwürfe, so daß wir bereits bei unserer Ankunft in dem Vorort Glowno voller Beulen waren. In einem Gasthaussaal in Glowno schöpfte ich Hoffnung, als ein katholischer Geistlicher, der Vikar von Glowno, den Saal betrat. Insbesondere hoffte ich, bei ihm für uns alle Verständnis und Schutz sowie vor allem Auskunft über unsere Zukunft zu finden. Maßlos erstaunt war ich, als dieser jedoch nach meiner Vorstellung mich zu prüfen begann, ob ich nicht ein verkleideter Spion sei, und mich in grobem Tone fragte, warum ich denn mit der Waffe in der Hand gegen die Polen gekämpft hätte. Völlig sprachlos gab ich nunmehr jeden Versuch einer weiteren Unterhaltung auf. Am späten Nachmittag wurden wir dann auf eine große Wiese geführt, die von einer großen Menschenmenge umlagert wurde. Es kamen weitere Gruppen Internierter hinzu, darunter Frauen und Kinder, zwei Krüppel, die kaum laufen konnten, es waren Kriegsinvaliden mit Holzbeinen, und eine große Menge mit verbundenen Köpfen, deren Kleider mit Blut besudelt waren. Auf der Wiese mußten wir uns in Reihen zu vieren aufstellen und wurden abgezählt. Darauf mußten wir auf Geheiß des Anführers unserer Wachmannschaft, die aus einigen Polizisten und verschiedenen Gymnasiasten in der Uniform der militärischen Jugendorganisation bestand, exerzieren und einen Haßgesang auf Deutschland anstimmen. Sodann ließ er mich unter dem Gejohle der Menge in meiner Ordenstracht allein vortreten und exerzierte mit mir allein. Schließlich stellte er mich dann in die erste Reihe, gleichsam als Anführer der Aufständischen, als die wir stets bezeichnet wurden. Darauf ging es zu Fuß nach [134] Schwersenz durch ein Spalier verhetzter Menschen, die uns bespuckten, mit Pferdemist bewarfen und mit Stöcken, Steinwürfen und Fußtritten mißhandelten. Die Begleitmannschaft tat nichts, uns vor diesen Mißhandlungen zu schützen, bzw. war sie, falls ein Schutzwille vorhanden war, völlig machtlos und nicht energisch genug. In Schwersenz schlug vertierter Pöbel auf Krüppel und Kinder, welche auf Wagen saßen, so lange mit Stöcken ein, bis diese Stöcke in Trümmer gingen. Am nächsten Tage bemerkte ich, daß fast sämtliche Vorsitzenden aller deutschen Organisationen und die gesamte deutsche Geistlichkeit zusammengetrieben war. Es waren alles Menschen, die überzeugt waren, daß sie dem polnischen Staat gegenüber ihre Staatsbürgerpflicht stets gewissenhaft erfüllt hatten, und es darum auch nicht begreifen konnten, daß man sie jetzt noch schlechter als Schwerverbrecher behandelte. In Schwersenz baten sowohl ein evangelischer Geistlicher als auch ich, bei den Internierten die Seelsorge ausüben zu dürfen. Ich erhielt jedoch von dem Führer unserer Begleitmannschaft eine grobe, verneinende Antwort. Unter Spießrutenlaufen ging es dann weiter durch Kostrzyn nach Wreschen. Hier erhielten wir wieder schwere Stockhiebe und Fußtritte. Hier fuhr mein Kardinal an uns vorbei, der uns als Posener Internierte erkannt haben mußte. Er setzte sich für uns jedoch nicht ein. In Wreschen mußten wir in einem Saale eine Zeitlang wiederum exerzieren, man ließ uns aufstehen, hinsetzen, knien usw. Mich nahm er besonders vor, nannte mich einen Heuchler und Schwindler und erklärte, daß man mir das Kreuz abreißen müsse, da ich es verraten habe. Gegen Mittag ging der Marsch weiter. Die Wachmannschaft fuhr auf den Wagen zusammen mit Kranken, und oftmals mußten wir im Trab hinter den Wagen herlaufen, wenn es den Kutschern gerade paßte, diese Gangart einzuschlagen. In Ortschaften suchte jeder von uns mit Decken und Mänteln seinen Kopf vor gefährlichen Steinwürfen zu schützen. Unverständlich war es für mich, daß sich polnische Soldaten, ja sogar polnische Offiziere, in besonderer Weise an diesen Mißhandlungen beteiligten. So kam es zuweilen vor, daß polnische Heeresangehörige, die Ordensauszeichnungen trugen, unsere Reihen entlang gingen und denjenigen, den sie erreichen konnten, mit einem sehr kräftigen Fußtritt bedachten. Von Konin aus konnten wir unseren Marsch nach Kutno nicht mehr fortsetzen und marschierten plötzlich nach Norden. Etwa 7 km hinter Konin verließ uns unsere Begleitmannschaft, und es blieb ein einziger Polizist, der geistig beschränkt war, zurück. Inzwischen wurden wir von polnischen Reservisten mit langen Prügeln und Steinen mißhandelt. Von diesen befreiten uns Feldpolizisten. Auf einem Vorwerk bei Maliniec konnten wir drei Tage liegenbleiben, da unser Polizist erst Weisung holen mußte, was mit uns geschehen sollte. Hinter Slesin kamen wir durch die ersten polnischen Stellungen und wurden hinter der Stadt auf einem Gutshof untergebracht, der völlig mit polnischem Militär belegt war. Hier war es ein junger polnischer Leutnant, der uns unter unzähligen Verwünschungen den Tod androhte. Am nächsten Morgen wurden wir bereits um 2 Uhr morgens zum Weitermarsch geweckt. Die Wagen mit Krüppeln und Kindern blieben zurück. Später hörte ich, daß man diese erschossen hatte. Es war dies die ganze Familie Schmolke und noch ein Kriegsinvalide mit einem Bein. Bei Kanonendonner ging es nach einem Gewaltmarsch nach Babiak. Am Nachmittag ging es wieder weiter, [135] nachdem wir jetzt in drei Gruppen eingeteilt worden waren und zu unserer Bewachung noch zahlreiche Soldaten hinzukamen. Auf einem Waldweg mußten wir den Soldaten alle Uhren und sonstigen Schmuckstücke, Geld und zum Teil sogar die Eheringe abliefern. Als wir am Montag morgen wieder weitermarschieren mußten, konnten einige von uns nicht mehr auf den Füßen stehen. Neben fünf Kranken, die unmöglich weitergehen konnten (unter diesen befand sich eine Lehrerin aus Posen), blieben drei Gesunde zu deren Schutz zurück. Später erfuhren wir, daß diese von der Bewachung einfach niedergeschossen und in viehischer Weise mit Steinen zu Tode geschlagen worden waren. Nach tagelangem Hin- und Hermarschieren, die Front rückte immer näher an uns heran, wurden wir dann am 17. September 1939 von deutschen Truppen befreit. Über Breslau wurden wir durch die deutsche Wehrmacht wieder in die Heimat zurückbefördert. Laut diktiert, genehmigt und unterschrieben
gez. Lorenz Breitinger (P. Hilarius)
Der Zeuge leistete folgenden Eid: Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich die reine Wahrheil gesagt und nichts verschwiegen habe, so wahr mir Gott helfe.
Geschlossen: gez. Hurtig gez. Pitsch Nachträglich bemerke ich noch folgendes: Ich war mit sämtlichen Posener Internierten zusammen. Unter ihnen befanden sich in meiner Gruppe auch der Direktor Hugo Böhmer, der Pastor Stefani, der Direktor des Deutschen Gymnasiums, Dr. Swart, Dr. Robert Weise und andere führende deutsche Persönlichkeiten. Ich nehme dies ebenfalls noch auf meinen Eid.
gez. Lorenz Breitinger (P. Hilarius)
Geschlossen: Quelle: WR II2
79. 320 Kilometer verschleppt Erlebnisbericht von Dr. med. Robert Weise, Direktor im Diakonissenkrankenhaus in Posen [Scriptorium merkt an: mehr von Dr. Weise finden Sie hier.] Posen, am 3. Oktober 1939.
Untersuchungsstelle
Gegenwärtig:
Aufgesucht im Krankenhaus der evangelischen Diakonissen-Anstalt in Posen wurde dessen Direktor Dr. med. Robert Weise vernommen. Der Zeuge wurde aufmerksam gemacht, daß er seine Aussage beeiden müsse und daß er dementsprechend gehalten wäre, die reine Wahrheit zu sagen. Er erklärte sodann: Z. P.: Ich heiße Robert Weise, geboren am 2. Oktober 1893 zu Birnbaum. Ich bin evangelisch, bisher polnischer Staatsangehöriger, deutscher Volkszugehöriger. Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder im Alter von 6 und 3 Jahren. [136] Z. S.: Ich bin am 1. Sept 1939 von meiner Wohnung aus durch Polizei verhaftet worden. Ich nahm an, daß ich interniert würde, und hatte daher schon einen Rucksack mit Sachen vorbereitet. Von den Polizisten wurde mir gesagt, daß ich nichts mitnehmen brauchte, da ich sofort freigelassen werden würde. Ich sollte nur eine Unterschrift leisten. Meiner Festnahme war eine Haussuchung vorausgegangen. Es wurde nach Waffen gesucht. Nachdem ich zunächst auf das Polizeirevier gebracht worden war, wurde ich dann zum Polizeipräsidium geschafft, wo ein Sammeltransport zusammengestellt wurde. Es waren viele Deutsche, die dort zusammengetrieben worden waren. Die genaue Anzahl kann ich nicht angeben. Meine Gruppe kann etwa 60 bis 80 Mann stark gewesen sein. Am 2. September 1939 um die Mittagszeit – es hatte bis dahin außer einer Scheibe Brot und einem Becher Kaffee nichts zu essen gegeben – begann unser Marsch. Schon das Stück durch Posen bis Glowno waren wir schwersten Mißhandlungen durch den Pöbel ausgesetzt, der uns mit Stockschlägen, Faustschlägen, Fußtritten traktierte und uns mit Steinen bewarf. Dabei wurde in der Breiten Straße in Posen der Direktor der Wehrpolnischen Landwirtschaftlichen Gesellschaft, Dr. Gustav Klusack, durch zwei Steinwürfe gegen den Hinterkopf so schwer getroffen, daß er mit dem Gesicht auf das Straßenpflaster fiel und bewußtlos liegenblieb. Als Arzt hatte ich sofort den Verdacht, daß Dr. Klusack einen Schädelbasisbruch davongetragen hatte. Ich versuchte daher, bei dem Kommandanten unseres Zuges, einem Polizisten, durchzusetzen, daß Dr. Klusack in einem hiesigen Krankenhause oder Lazarett zurückgelassen würde. Meine Bitte wurde aber abgeschlagen. Wir schleppten Dr. Klusack, der aus Mund und Nase blutete, sich mehrfach erbrach und halb bewußtlos war, bis nach Glowno. Den ganzen Weg mußte Dr. Klusack bis zum Ende mitmarschieren. In Glowno vergrößerte sich unser Zug durch neue Gruppen aus Posen und der Wollsteiner Gegend auf etwa 260 Mann. Auch unsere Bewachung wurde durch eingekleidete Aufständische verstärkt, so daß unsere Bewachung nun aus diesen, regulärer Staatspolizei und Hilfspolizei bestand. Der Kommandant des Zuges wurde nun ein Unterleutnant, der die Uniform der Aufständischen trug. Am selben Tage ging es zunächst nach Schwersenz. Dort wurden wir wieder von der Schwersenzer Bevölkerung – ähnlich wie in Posen – behandelt. Ich möchte hervorheben, daß die Polizei uns zum Schluß zu schützen versuchte, daß ihr das aber nicht gelang. Die Polizei ging sogar mit Gummiknüppeln gegen die Menge vor. In Schwersenz wurde übernachtet. Am nächsten Tage ging es bis nach Wreschen, am folgenden Tage bis nach Slupca und am nächsten Tage bis nach Marantow. Bis Marantow hatten wir noch drei Wagen beim Zuge, auf denen die Kriegsverletzten sowie die Frauen und Kinder und später auch Kranke gefahren wurden. In Marantow wurden uns die Wagen genommen, aber es gelang mir, doch noch zu erreichen, daß ein Wagen im Zuge wieder mitfuhr. In Marantow blieben wir drei Tage. Von dort ging es weiter über Slesin nach einem Orte dicht bei Slesin, den Namen kann ich aber nicht mehr angeben. Nachts wurden wir in diesem Orte geweckt und wurden in Eilmärschen in Richtung Klodawa getrieben, da die militärische Lage offenbar brenzlich geworden war. Da kein Wagen mehr zur Verfügung stand, wurde ein gewisser Schmolke aus der Nähe von Wollstein, der Prothesenträger vom Weltkriege her ist, mit seiner Ehefrau, seiner etwa 16jährigen Tochter und seinem 1½jährigen Söhnchen, ferner ein weiterer Prothesenträger, dessen [137] Namen ich aber nicht angeben kann, und eine Frau Blank aus Ketsch bei Posen zurückgelassen. Angeblich sollten diese Deutschen in einem Wagen nachgefahren werden. Gelegentlich einer Mittagsrast am gleichen Tage in Babiak erfuhr ich aber von einem Begleitmann, der Knecht auf dem Rittergut Turkowo, Kreis Neutomischel, war, daß diese Deutschen erschossen worden seien. Wahrscheinlich sind sie von Militär ermordet worden, und zwar dürften die Täter in dem Schwersenzer Landwehrregiment gewesen sein, das in der Gegend von Slesin lag. Ich nehme als sicher an, daß die Deutschen von Militär ermordet worden sind, deshalb nämlich, weil von unserer Begleitmannschaft niemand zurückgeblieben war und Militär in dem Orte lag, in dem wir untergebracht waren. Dieses Militär hatte auch schon unsere Überwachung dort übernommen. Nach dem mir vorgelegten Photo erkenne ich die beiden Invaliden und die 16jährige Tochter Schmolke wieder. Wer die vierte Person auf dem Bilde ist, weiß ich nicht. Es ging dann nach Brzewienna Krotkie weiter. Dort übernachteten wir unter freiem Himmel und mußten am nächsten Morgen beim Abmarsch als nicht marschfähig folgende Volksgenossen zurücklassen: den Landwirt von Treskow, Fräulein Dr. Hanna Bochnik, Fräulein Molzahn, Vincenz Gierczynski, den Juden Goldschmied und noch andere Personen. Außerdem blieb der Student Hermann Pirscher zurück, der sich erbot, die Zurückgelassenen zu betreuen. Das Fräulein Dr. Bochnik war bereits geistesgestört geworden. Uns wurde wieder gesagt, daß ein Wagen für die Zurückgebliebenen requiriert werden würde. Nachdem wir etwa zwei Kilometer weiter marschiert waren, hörten wir Schüsse. Für mich bestand kein Zweifel, nachdem ich von der Ermordung der vorher Zurückgebliebenen wußte, daß auch diese Zurückgebliebenen erschossen worden waren. Die Ausgrabungen haben dies später bestätigt. Wir wurden dann schließlich über Klodawa – Kutno – Gostynin – Zychlin nach einem Orte zwischen Kutno und Lowitsch an der Bzura getrieben, wo wir am 17. September 1939 endlich von deutschen Truppen befreit wurden. Der Weg, den wir zurückgelegt haben, mag schätzungsweise 320 Kilometer betragen haben. Ich möchte nicht zu erwähnen vergessen, daß uns von dem Begleitpersonal Geld, Schmucksachen und sonstige Wertgegenstände abgenommen worden waren. Diejenigen von uns, denen dieses zustieß, haben nichts wiedergesehen. Mir z. B. ist meine silberne Armbanduhr, 280 Zloty in bar sowie die Brieftasche mit sämtlichen Papieren weggenommen worden. Laut diktiert, genehmigt, unterschrieben.
gez. Dr. Robert Weise
Der Zeuge leistete folgenden Eid: Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen habe, so wahr mir Gott helfe.
Geschlossen:
gez. Dr. Reger gez. Bachmann Quelle: WR II
[138] 80. Wie der Chirurg Dr. Staemmler ermordet wurde Erlebnisbericht des Landwirts Georg Drescher aus Czempin, Kr. Kosten Unter Eid bekundete der Zeuge Landwirt Georg Drescher aus Czempin folgendes: Am Samstag, dem 2. September 1939, wurde ich morgens gegen 6 Uhr früh abgeholt und mit anderen verhafteten Volksgenossen aus Czempin im Fußmarsch nach Schrimm gebracht. Auf dem Marsche dorthin wurden wir von der polnischen Zivilbevölkerung mit Mist- und Heugabeln und Stöcken bedroht und geschlagen und mit entsetzlichen Schimpfworten bedacht. Auch in Schrimm wurden wir mißhandelt; während wir auf einem Hofe zwei Stunden herumlagen, teilte uns ein polnischer Polizeioffizier mit, daß 20 Volksgenossen aus Lissa vom Kriegsgericht zum Tode verurteilt worden seien und in zwei Stunden erschossen werden. Ich habe gehört, daß auch tatsächlich 14 Volksdeutsche aus Lissa erschossen worden sind. Etwa 400 Mann, als Begleitung Polizei und Hilfspolizei, marschierte unsere Gruppe dann von Schrimm ab nach Schroda über Neutomischel. In Schroda trafen wir abends ein und wurden für die Nacht in einer Turnhalle untergebracht. Auf dem Hofe erhielten wir unsere ersten Schläge von polnischen Soldaten, auch Pastor Kienitz wurde hier zum ersten Male mißhandelt, und zwar von einem polnischen Fähnrich. Am nächsten Mittag marschierten wir nach Peisern, wo wir im Laufe des Abends eintrafen. Dort wurden wir in einer Halle, in welche 50 bis 60 Mann gut hineingegangen wären, untergebracht. Man kann sich vorstellen, wie wir 300 bis 400 Personen hier herumlagen. Es waren fast alle übereinander und durcheinander, keiner durfte austreten und seine Notdurft verrichten, wir erhielten auch kein Wasser. Morgens gab es dann endlich Wasser und einige Brote. Ich bemerke noch, daß wir in der Nacht zu je zwei Mann mit Stricken aneinandergebunden wurden und dreimal zwei Mann wieder durch eine besondere Schnur verbunden wurden. Nunmehr ging unser Marsch über Konin nach Turek. Unterwegs hatten wir unseren ersten Toten. Der alte Baron von Gersdorff wurde schwach, fing an zu phantasieren, taumelte einige Schritte zurück und wurde dann von einem polnischen Oberwachtmeister mit dem Karabiner erschossen. Inzwischen war es dunkel geworden, die Straßen waren von Flüchtlingen vollgepfropft und ich gelangte, da ich Wasser trinken gegangen war, zu einem Versprengtentrupp von etwa 50 Mann. Wir wußten nicht, was wir tun sollten und meldeten uns daher bei der nächsten Polizeistation. In dem Ort irrten wir herum, bis wir von einer polnischen Infanteriepatrouille angehalten und nach Turek in das Gefängnis gebracht wurden. Dort blieben wir nur kurze Zeit, wurden alsdann von Soldaten nach einem Walde geführt. Auf diesem Wege sprang einer meiner Kameraden in ein Wasserloch, um sich das Leben zu nehmen. Die Soldaten feuerten drei Schüsse auf ihn ab, worauf er in dem Loch liegen blieb. Im Walde wurden wir an den Zaun eines Gehöftes aufgestellt und ein polnischer Offizier erklärte, daß wir zum Tode verurteilt seien. Darauf lief einer meiner Kameraden fort und wurde mit drei Schüssen niedergestreckt. Dieses war Fritz Sonnenberg aus Czempin. Nunmehr wurden wir auf die Straße gestellt und sollten in einer Sandgrube erschossen werden. Mit hocherhobenen Händen mußten wir kilometerweit marschieren. Sofern wir in den Händen schwach wurden, erhielten wir Bajonettstiche und Kolbenschläge. Hinter mir hörte ich Schüsse fallen, woraus ich schließen mußte, insbesondere aus den Schreien der Getroffenen, daß wieder einige Kameraden ihr [139] Leben gelassen haben. Baumeister Bergmann erhielt furchtbare Kolbenstöße, der Gutsbesitzer von Kurschen bei Schmiegel, Hoffmann-Waldau, erhielt sieben Seitengewehrstiche. Ich selbst erhielt einen Seitengewehrstich in den rechten Arm. Schließlich wurden wir auf einen Kirchplatz geführt und mußten uns dort auf den Bauch mit vorgestreckten Händen legen. Wir warteten auf unseren Tod. Die Soldaten benutzten jedoch unsere Stellung dazu, uns bis zum letzten auszuplündern. Mir nahmen sie z. B. 175 Zloty und alle sonstigen bei mir befindlichen Gegenstände ab. Einigen Kameraden wurden sogar die Stiefel ausgezogen, so daß sie barfuß laufen mußten. Dieses Ausplündern dauerte ungefähr zwei Stunden. Darauf wurden wir wieder in Marsch gesetzt und sollten auf einem deutschen Kirchhof erschossen werden. Der Marsch dorthin ging über Ackerland, dabei verlor ein Kamerad die Ruhe und wollte davonlaufen. Einige ihm nachgesandte Schüsse machten seinem Leben ein Ende. Als wir ein Kirchdorf erreichten, glaubten wir, daß unser Ende gekommen sei. Wir wurden auf einen Bauernhof geführt und nochmals untersucht. Alles, was vor einigen Stunden uns noch nicht abgenommen worden war, wurde uns nun abgenommen. Weiter ging es dann durch den Ort, in dem zahlreiches polnisches Militär lag. Die polnischen Soldaten heulten und schrien und fluchten. In eine andere Gruppe, die an uns vorbeizog, schossen diese Soldaten mit Gewehren und Maschinengewehren hinein. Von dieser Gruppe stießen nach dem Feuerüberfall noch etwa sieben bis acht Mann zu uns. Nach einer halben Stunde wurden wir weiter nach Kolo in Marsch gesetzt. Dieser Marsch war ein reiner Todesweg. Wahllos wurde von den Soldaten in unsere Reihen geschossen. Unser Truppführer war ein weiblicher polnischer Korporal. Ich habe meine Rettung nur dem Umstand zu verdanken, daß ich in der zweiten Reihe von vorn ging und unsere Spitze durch eine Gruppe von Frauen gebildet wurde. Bei diesem Marsch blieb auch der Gutsbesitzer Hoffmann-Waldau. In Kolo kamen wir gegen 10 Uhr abends an, wo wir in das Gefängnis gesperrt wurden. In einer kleinen Zelle waren etwa 28 Mann. Baumeister Bergmann aus Schmiegel, so möchte ich noch einflechten, bekam bei diesem Todesmarsch einen schweren Unterarmschuß, der ihm den Knochen zerschmetterte. Trotz dieser schweren Verwundung machte er noch den Marsch bis Sonnabendnachmittag mit, das waren 3½ Tage. An diesem Sonnabend nachmittag wurde er von deutschen Truppen, die uns befreiten, zum ersten Male verbunden. Von Kolo wurden wir am 13. September 1939 früh in Richtung Klodawa in Marsch gesetzt. Von nun an hatten auch wir unter Fliegerangriffen auf polnische Truppen zu leiden. Die Bevölkerung und die Soldaten wurden immer wütender. In einem großen Bauerngrundstück hinter Kutno wurden wir schließlich untergebracht. Hier wurden wir von polnischen Soldaten angefallen, mit Peitschen bearbeitet und mußten Laufschritt machen. Von Kutno ging es in Richtung Lowitsch, wo wir gegen 6 Uhr früh den Stadtrand erreichten. Infolge der heftigen Bombenangriffe gingen wir 7 Kilometer zurück und lagerten in einer kleinen Scheune. Als auch hier ein Bombenangriff erfolgte, ging es zum nächsten Dorf. Auf diesem Marsch zog sich unsere Gruppe immer mehr auseinander, weil die Leute einfach nicht mehr konnten. Ich blieb mit dem Müllermeister Schneider aus Schmiegel zurück, die Begleitmannschaft war inzwischen weggelaufen. Wir fanden keinen Anschluß mehr und irrten durch die Felder in stän- [140] diger Angst, als Spione ergriffen und erschossen zu werden. Wir gingen daher in das letzte Dorf zurück stießen dort auf einen polnischen Polizisten und fragten den, wo unsere Gruppe sei. Er wies uns zu dieser, und wir gingen ihr nach. Wir fanden jedoch nicht unsere, sondern eine andere Gruppe, welche aus Brombergern, Thornern und Graudenzern bestand. Diese waren soeben aus Lowitsch gekommen, weil Lowitsch ständig unter Fliegerangriffen zu leiden hatte. Unter diesen etwa 800 Mann befanden sich auch Frauen und Kinder. Auch eine Frau mit einem sechs Wochen alten Kinde war darunter. Inzwischen kam nach halbstündigem Lagern unser Polizist, den wir vorher getroffen hatten, zurück und wurde von einem Kameraden angesprochen. Dr. Staemmler aus Bromberg trat hinzu, streckte die Hand aus und wollte den aufgeregten, angetrunkenen Polizisten beruhigen. Darauf sprang dieser zurück und erschoß den Bromberger Arzt mit einem Karabinerschuß, der seine Brust durchbohrte. Dr. Staemmler war sofort tot, ich stand etwa 10 Meter daneben. Der Polizist wollte weiterschießen, erst auf das Schreien der Kameraden, nicht weiterzuschießen, ließ er davon ab und sprang in das Dorf zurück. Nach einigen Minuten sahen wir ein Panzerauto mit Maschinengewehren aus dem rechten Dorf heraus den Landweg heraufkommen, und wir erwarteten das Schlimmste. Das Auto fuhr um unsere Gruppe herum und baute sich dann vor uns auf. Wir schrien, wollten Deckung nehmen. Andere hoben die Hände hoch, darauf stellten wir jedoch fest, daß es sich um einen deutschen Panzerwagen handelte. Inzwischen kam auch noch ein zweiter deutscher Panzerwagen zu unserem Schutze heran, und nun ging es über Felder und Landweg nach Lowitsch hinein. Unterwegs sangen wir das Lied: "Ein feste Burg ist unser Gott" und schauten nach Kameraden um, von denen wir überzeugt waren, daß sie noch in den letzten Stunden ermordet worden waren. Ich habe viele Leichen von Internierten vor Lowitsch liegen sehen. Nachdem wir warmes Essen von der Wehrmacht erhalten hatten, wurden wir schließlich über Breslau in die Heimat zurücktransportiert. Laut diktiert, genehmigt und unterschrieben
gez. Georg Drescher
Der Zeuge leistete folgenden Eid: Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich die reine Wahrheit gesagt, nichts verschwiegen und nichts hinzugesetzt habe, so wahr mir Gott helfe. Quelle: WR II
81. Der Mord an Dr. Kirchhoff Prothesenträger erschlagen und entmannt Ciolkowo, 27. September 1939.
Untersuchungsstelle für Verletzungen des
Gegenwärtig:
Ich erkläre hiermit an Eides Statt, die Pflicht eines Protokollführers getreulich und gewissenhaft zu erfüllen und Stillschweigen zu bewahren. In dem Gutshaus in Ciolkowo wurde die Wirtschafterin Frl. Sophie Wiese aufgesucht. Ihr wurde eröffnet, daß sie ihre Aussage zu beschwören hätte und daß jede Eidesverletzung schwere Strafen nach sich zöge. [141] Sie erklärte sodann: Zur Person: Ich heiße Sophie Wiese, bin am 19. 8. 1890 in Marlewo, Krs. Wongrowitz, geboren, bin Wirtschafterin im Hause Kirchhoff in Ciolkowo, bin deutsch-katholisch, polnischer Staatsangehörigkeit, aber deutscher Volkszugehörigkeit, ledig. Zur Sache: Am Sonntag, dem 3. 9. 1939, kamen morgens gegen 6.30 Uhr zwei polnische Soldaten mit einem Kraftwagen auf den Hof. Der Wagen wurde von einem Chauffeur in Zivil gelenkt. Truppengattung und Truppenteil der Soldaten vermag ich nicht anzugeben. Der Chauffeur allerdings soll in Rawitsch oder in Sarne bekannt sein. Einer der Soldaten ging in den Stall und nahm den Inspektor in Empfang. Er übergab Schulz dem anderen Soldaten, der ein aufgepflanztes Bajonett bei sich führte, zur Bewachung. Der erste Soldat betrat dann das Haus, und zwar von hinten. Im Hause traf der Soldat schon auf Dr. Kirchhoff, der, durch den Lärm aufmerksam gemacht, das Schlafzimmer verlassen hatte. Dr. Kirchhoff war nur mit Hemd, Hose und Schuhen notdürftig bekleidet. Auf polnisch rief der Soldat Dr. Kirchhoff an, daß er die Hände hochnehmen solle. In der Aufregung verstand Dr. Kirchhoff zunächst nicht, was der Soldat von ihm verlangte. Ich machte ihn dann darauf aufmerksam, die Hände hochzunehmen. Mit vorgehaltenem Revolver wurde Dr. Kirchhoff untersucht. Unser Stubenmädchen, Martha Vogel, übergab Dr. Kirchhoff noch eine Tasche mit einigen Kleidungsstücken, die bereits vorbereitet war, da Dr. Kirchhoff ohnehin damit gerechnet hatte, interniert zu werden. Dr. Kirchhoff, der schwer kriegsverletzt ist und rechtsseitig eine Beinprothese trägt, bat noch um einen Stock. Als der Soldat den Stock verbot, wies Dr. Kirchhoff darauf hin, daß er, was den Tatsachen entspricht, ohne Stock nicht gehen könne. Der Soldat meinte darauf, daß er dann gefahren würde. Von dem Schicksal von Dr. Kirchhoff haben wir seit seiner Verschleppung mit Inspektor Schulz nichts mehr gehört, bis am Sonntag, dem 10. 9. 1939, Albert und Fritz Vogt aus Krähen kamen und mitteilten, daß in Malachowo Leichen gefunden wären, von denen eine eine Prothese hätte. Es könne sich bei dieser Leiche um die des Dr. Kirchhoff handeln. Von der Mutter des Dr. Kirchhoff, die auch hier als 71jährige Dame im Hause lebt, erhielten Martha Vogel und ich den Auftrag, nach Malachowo zu fahren, um die Leiche zu identifizieren. Am Tage darauf fuhren wir nach dem etwa 20 bis 25 km entfernten Dorf Malachowo. Dort, etwa 30 Meter von der Schule entfernt, lagen vier Leichen. Die Leichen waren am Tage vorher schon ausgegraben gewesen, waren aber notdürftig wieder zugedeckt worden. Dr. Kirchhoff erkannten meine Begleiterin und ich an der Prothese, an dem Hemd und an der Krawatte wieder. Dr. Kirchhoff war noch mit seinem Hemd bekleidet, jedoch fehlte die Hose. Der Leichnam war fürchterlich zugerichtet: die Arme waren beide gebrochen, die Zunge war aus dem Munde herausgerissen, der Schädel war eingeschlagen und der Nacken wies schwere Kolbenschläge auf. Auch war Dr. Kirchhoff entmannt worden. Inspektor Schulz hatte im Becken einen Bajonettstich, ebenfalls war auch ihm die Zunge herausgerissen, der Kopf war auch eingeschlagen und wies wie der Körper Spuren von Kolbenschlägen auf. [142] Durch die Wirtschafterin Gertrud Hensel aus Smirowo wurden die beiden übrigen Leichen identifiziert, die auch erheblich zugerichtet waren. Dem Landwirt Walter Ehmann aus Smirowo war der Kopf eingeschlagen, der Körper trug Spuren von Kolbenschlägen, die Zunge war herausgerissen, und ein Auge war aus dem Kopf getreten. Seinem Beamten Stelzer, einem 65jährigen Mann, war der Kopf völlig eingeschlagen, die Zunge aus dem Munde gerissen und der Körper mit Spuren von Kolbenschlägen bedeckt. Die übrigen fünf Leichen waren auch furchtbar zugerichtet, ähnlich wie eben geschildert. Soviel ich gehört habe, handelt es sich bei den Leichen um die eines gewissen Brambar aus Göstyn, dessen 16jährigen Lehrling, von dem ich nur den Vornamen Joachim weiß, ferner um die des Vogtes Lange aus Osawo und schließlich um die zwei mir unbekannten Männer. Mit Ausnahme des sechzehnjährigen Lehrlings wies keine der Leichen eine Schußverletzung auf, die Männer sind alle totgeschlagen worden. Gegenüber anders lautenden Nachrichten möchte ich ausdrücklich bemerken, daß Dr. Kirchhoff die Prothese nicht zersplittert und das andere gesunde Bein nicht abgehackt war. Die Leiche war aber ohnehin grauenhaft genug verstümmelt. Ich bin bereit, diese Aussage zu beschwören. Laut diktiert, genehmigt, unterschrieben
gez. Sophie Wiese
Die Zeugin leistete sodann folgenden Eid: Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen habe. So wahr mir Gott helfe.
Die Zeugin wurde darauf aufmerksam gemacht, daß sie ihre Aussage beschwören müsse und wie die Vorzeugin entsprechend belehrt. Sie erklärte sodann: Zur Person: Ich heiße Martha Vogel, bin am 14. 1. 1907 in Ciolkowo geboren, evangelisch, ledig, polnischer Staatsangehörigkeit, deutscher Volkszugehörigkeit. Ich bin Stubenmädchen im Hause Kirchhoff in Ciolkowo. Zur Sache erklärte die Zeugin dasselbe wie die Zeugin Sophie Wiese. Nachdem ihr die Aussage der Zeugin Wiese bekanntgegeben worden war, erklärte sie: Diese Aussage ist in allen Punkten richtig, und ich mache sie voll inhaltlich zum Gegenstand meiner eigenen richterlichen Vernehmung. Ich bin bereit, diese Aussage zu beschwören. Vorgelesen, genehmigt, unterschrieben
gez. Martha Vogel
Die Zeugin leistete sodann folgenden Eid: Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen habe. So wahr mir Gott helfe.
Geschlossen:
gez. Dr. Reger gez. Drescher Quelle: WR I
[143] 82. Wie Pastor Rudolph aus Grätz hinterrücks erschossen wurde Unter Eid bekundete der Zeuge Karl Hirt, Metzgermeister in Opalenitza, folgendes: [....]
Im Polizeigefängnis Schwersenz waren bereits andere Volksgenossen, und mit etwa 20 anderen wurde ich noch am selben Abend aneinandergefesselt und auf einen Leiterwagen verladen. Zwei Ulanen des polnischen Heeres gaben dem Wagen das Geleit. Zunächst ging es bis Iwno, wo wir eine Stunde lang warteten, darauf ging es weiter in Richtung Gnesen. Hinter Iwno trafen wir am frühen Morgen auf einem Gutshof ein. Auf diesem Gutshof lag polnisches Militär (Kavallerie). M. E. sind es Ulanen aus der Gegend von Lemberg gewesen. Als wir weiter in den Wald hineinfuhren, zog man zwei junge Burschen vom Wagen mit der Behauptung herunter, daß man sie zum Kesselscheuern benötige. Kaum wurden diese in eine Schonung geführt, als hinter ihnen drei Schüsse knallten. Später stellte ich bei der Ausgrabung der Leichen fest, daß sie Brustschüsse hatten und außerdem mit Gewehrkolben zerschlagen waren. Unser Wagen fuhr dann nach der Erschießung der beiden Kameraden, die Kelm und Düsterhöft hießen,
noch etwa vier Kilometer weiter. Als wir den letzten Wald vor Gnesen erreichten, holte man von unserem Wagen den Pastor Rudolph aus Grätz, Schlossermeister Fritz Gülde, Landwirt Krok aus Buk, einen 16jährigen Jungen aus Zabikowo und zwei weitere Kameraden herunter. Auch diese führten die Ulanen in den Wald und erschossen sie von hinten ohne jeden Grund und Anlaß. Ich bemerkte dazu: "Was macht ihr nur, unschuldige Leute zu erschießen " Darauf wurde mir erwidert, ich soll ja still sein, sonst könne mir dasselbe passieren. Quelle: WR II
83. Wie Pastor Kienitz aus Czempin mißhandelt wurde Unter Eid bekundete der Zeuge Herbert Leitlauf, Landwirt in Czempin, Kr. Kosten, folgendes:
Auf dem Marsche von Schrimm nach Schroda erhielt unser Pastor Kienitz derart schwere Kolbenschläge, daß er auf der Straße zusammenbrach und,
erst unter weiteren Kolbenhieben wieder in die Höhe gebracht, weitermarschieren mußte. In Schroda auf einem Gefängnishof mußten wir uns hinsetzen, die Beine ausgestreckt, und polnische Soldaten mißhandelten einen jeden von uns mit Kolbenstößen und Schlägen. Besonders hatte Pastor Kienitz durch einen polnischen Fähnrich zu leiden gehabt. Als er gefragt wurde, wieviel Jahre er in Polen lebe, antwortete er: 21 Jahre. Hierauf schlug ihm der Fähnrich 21mal in das
Gesicht. Alsdann erhielt er Kolbenstöße vor die Brust und in den Rücken, so
daß er hin und her taumelte. Sobald einer von uns wagte, die Knie hochzunehmen, erhielt er Kolbenschläge auf die Knie. Schließlich ging es weiter nach Peisern. Auf dem Marsche dorthin taumelte der alte Baron von Gersdorff aus der Reihe und erhielt dafür Kolbenschläge. Als er dagegen seine Hand schützend erhob, wurde er durch zwei Gewehrschüsse von Soldaten niedergestreckt. Quelle: WR II
[144] 84. Prothesenträger nicht geschont Mord an der vierköpfigen Familie Schmolke Unter Eid bekundete der Zeuge Dr. med. Robert Weise im Diakonissenhaus in Posen folgendes:
[...] Da kein Wagen mehr zur Verfügung stand, wurde ein gewisser Schmolke aus der Nähe von Wollstein, der Prothesenträger vom Weltkriege her ist, mit seiner Ehefrau, seiner etwa 16jähngen Tochter und seinem 1½jährigen Söhnchen, ferner ein weiterer Prothesenträger, dessen Namen ich aber nicht angeben kann, und eine Frau Blank aus Ketsch bei Posen zurückgelassen. Angeblich sollten diese Deutschen in einem Wagen nachgefahren werden. Gelegentlich einer Mittagsrast am gleichen Tage in Babiak erfuhr ich aber von einem Begleitmann, der Knecht auf dem Rittergut Turkowo, Kreis Neutomischel. war, daß diese Deutschen erschossen worden seien. Quelle: WR II
1Konsul Wenger ist gerettet. ...zurück...
2Die Schlußseite des Protokolls wird im Original wiedergegeben (siehe Bilddokumente S. 274). ...zurück... |