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Auf den Straßen des Todes. Leidensweg der 
Volksdeutschen in Polen.
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Neun Tage Mißhandlung, Qual und Tod
Gotthold Starke
(Scriptorium merkt an: mehr von Gotthold Starke finden Sie hier!)

Von Xenophons Anabasis an gerechnet kennt die Geschichte viele Gewaltmärsche, in denen die Menschen ihre letzte Energie zur Erreichung des Zieles hergegeben haben. Und doch steht dieser Marsch von Bromberg bis über Lowicz hinaus, von dem ich hier als Teilnehmer berichten will, in der Geschichte fast beispiellos da, so grausam waren seine Begleiterscheinungen, so niederträchtig seine Beweggründe, so verhängnisvoll seine Folgen. Der Marsch ging über rund 240 Kilometer. Er begann am 2. September in Bromberg abends und endete am 9. September nachmittags in Lowicz. An ihm nahmen Frauen und Männer, Greise von mehr als achtzig Jahren, und Säuglinge von wenigen Wochen teil. Die Zahl der mitmarschierenden Deutschen wird auf 4.000 geschätzt; von Tag zu Tag war die lange Heersäule größer geworden. Die im Stadt- und Landkreis Bromberg verhafteten Deutschen waren das erste Glied in der langen Kette der Gefangenen, die aus dem ganzen Korridorgebiet durch das nördliche Kongreßpolen bis vor die Tore der Hauptstadt Warschau getrieben wurden. Noch hallen in unseren Ohren die Schüsse wider, mit denen die Kameraden niedergestreckt wurden, die den Weg durch Durst und Hitze nicht mehr fortsetzen konnten. Und auch das wissen wir: daß ein beträchtlicher Teil von denjenigen Volksgenossen, die wie durch ein Wunder gerettet wurden, so schwere Störungen an ihrer Gesundheit mit nach Hause bringen, daß ihr Leben auch in der Zukunft noch unter dem nachhaltigen Einfluß jenes Höllenmarsches nach Lowicz stehen dürfte.

Niemandem ist es gegeben, eine allgemein gültige Darstellung jener Schreckenswanderung in der ersten Septemberwoche zu liefern. Die Erlebnisse der verschiedenen Trupps, die wie Bäche in einen großen Strom zuletzt bei [62] der Zuckerfabrik Chodzen ineinandermündeten, sind durchaus verschieden, wenn auch das Leiden die ganze Gemeinschaft betraf, und in engster, teilweise vorbildlicher Kameradschaft überstanden wurde. Ich will hier nur in Kürze - ohne ein Wort der Übertreibung - das festhalten, was ich persönlich erlebt habe.

Am Freitag, dem 1. September. Wir hatten vormittags noch die 200. Ausgabe der Deutschen Rundschau herausbringen können. Wenige Stunden später wurde der Betrieb militärisch geschlossen. Über das polnische Radio kommen geheimnisvolle Anweisungen, nach denen diese oder jene Anordnung jetzt durchzuführen wäre. Den ganzen Nachmittag über finden Massenverhaftungen unter den Deutschen statt, am Abend trifft es mich selbst. Ich hatte gerade meine Haustür gegen andringenden polnischen Mob sichern können, da erschien ein polnischer Polizist, begleitet von einem Hilfswachtmeister aus dem Reservistenstande, die gebieterisch an die Tür klopften und mich sofort für verhaftet erklärten, vorher aber noch eine Haussuchung vornahmen, die ergebnislos verlief. Die deutschen Briefe, die dabei besonderes Interesse weckten, hatte ich selbst ins Polnische zu übersetzen, da der junge Scherge, der übrigens später unter unseren Begleitmannschaften mit seiner Maschinengewehrpistole in erster Linie das Amt des Henkers übernommen hatte, die deutsche Sprache nicht verstand. Der Hilfspolizist holte aus meinem bereits gepackten Rucksack die praktischsten Reiseutensilien wieder heraus, dann wurde ich in die Mitte genommen und im Auto nach dem früheren Reichswaisenhaus gebracht, dessen Räume zu polnischer Zeit für Ausstellungen, unter anderem der Werke des polnischen Malers Wyczólkowski benutzt wurden. Dort wurde man zunächst im Sekretariat registriert und aller Ausweispapiere, sowie des Geldes beraubt, das bei manchen Arrestanten, die mit einer längeren Selbstversorgung gerechnet hatten, eine größere Summe ausmachte. Viele tau- [63] send Zloty wurden uns abgenommen, die wir niemals wiedersehen werden. Dann brachte man mich in einen großen Saal, in dem ich gleich von vielen Bekannten begrüßt wurde. Neben Dr. Staemmler und Direktor Jendrike fand ich ein Lager auf dem harten Boden. Wir konnten frei umhergehen in dem großen Raum und den vielen bekannten und neu erkannten Leidensgefährten die Hände schütteln, die in immer größerer Zahl eingeliefert wurden. Die meisten waren völlig unversorgt! Der Haftbefehl hatte sie in der Werkstatt, im Büro getroffen; kaum hatten sie sich von Frau und Kind verabschieden können. Am Saaleingang standen die polnischen Posten: bunt durcheinandergewürfelt blaue Polizeiwachtmeister, braune Hilfspolizisten, Strzelce, Peowiaken und schließlich ein unheimlich dreinschauender Haller-Soldat, der später bestimmte, wer von uns an den anderen Kameraden zu fesseln wäre. In der Nacht hörten wir laute Schreie aus dem gegenüberliegenden Frauensaal. In der Nacht wurde auch der Bauer Mielke aus Crone-Abbau mit seiner Frau und dem jüngsten der fünf Kinder, einem Säugling, eingeliefert, aber der Säugling war schon tot. Die Leute wohnten in der Feuerlinie bei der polnischen Hauptstellung von Crone an der Brahe. Vier Kinder ließen sie zurück. Der älteste Sohn, ein vierzehnjähriger Junge, fuhr die Eltern mit dem Polizisten nach Bromberg. Noch in der gleichen Nacht mußte er in die Feuerlinie zurückfahren, um bei seinen drei jüngeren Geschwistern zu bleiben. Der Vater ist in der Nähe von Ciechocinek auf dem Marsch verschwunden, nachdem er vorher im Gesicht verwundet worden war. Ein Einzelschicksal unter vielen anderen...

Am 2. September wurden noch weitere Verhaftete zu uns gebracht, darunter der Vorsitzende der Deutschen Vereinigung, Dr. Hans Kohnert, gleichfalls mit rotem Zettel. Als wir vom Fenster aus Einschläge deutscher Fliegerbomben beobachteten und ebenso Zeuge waren, wie deutsche [64] Bauern so stark geschlagen wurden, daß ein Kolben zersplitterte (Zeugin Frl. Müller von der Deutschen Paßstelle, zur Zeit noch in Lodz), unternahm man die ersten Einschüchterungsmaßnahmen. Unsere Wächter, die sich aus Polizisten, Hilfspolizisten und Mitgliedern halbmilitärischer Verbände zusammensetzten, zwangen uns mit aufgepflanztem Bajonett zum Niederlegen auf den Boden und drohten jedem mit Erschießen, der sich erheben wollte. Am 2. September, nachmittags gegen 5 Uhr, wurden wir in zwei Reihen aufgestellt und auf den Hof geführt. Vorher wurden durch den erwähnten Haller-Soldaten einige Paare herausgesucht, deren Hände aneinandergefesselt wurden. Dann bildeten wir auf dem Hof ein großes Karree, man lud in unserer Gegenwart Karabiner und Maschinenpistolen und setzte uns in Marsch durch die uns laut beschimpfende polnische Bevölkerung Brombergs. Vor dem Polizeigefängnis, in dem wir Rast machen konnten, drohte man uns zu lynchen. Als es ganz dunkel geworden war, marschierten wir zunächst über Langenau und Schulitz nach Thorn, ein Gewaltmarsch von rund 58 Kilometern, ganz unerträglich für die Greise und Kinder, die bei uns waren. Die Strapazen wurden verschärft durch den Mangel an Nahrung und durch den immer wiederkehrenden Befehl, in den Straßengraben zu gehen, wenn deutsche Flieger angriffen. Schon bei Langenau blieb als Sterbende das [76]jährige Frl. Martha Schnee liegen, eine Verwandte des bekannten Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika, die ihr Leben dem Dienst der Armen gewidmet hatte, zuletzt als Leiterin der Deutschen Volkswohlfahrt. In Thorn wurden wir nachts in einem schmutzigen Saal eines Vorortes untergebracht. Die ersten Geisteserkrankungen machten sich bemerkbar. Frauen und Männer schrien durcheinander, dazwischen gab es antideutsche Kundgebungen von polnischen Sträflingen, die man uns zugeteilt hatte.

Am 4. September marschierten wir von Thorn bis zu [65] dem polnischen Solbad Ciechocinek. Unsere Wachtmannschaften waren stark damit beschäftigt, polnische Deserteure anzugreifen. Nach den Kampfhandlungen zu schließen, glaubten wir alle, daß uns deutsche Truppen noch befreien könnten. Kurz vor dem Badeort schnitt sich einer unserer Kameraden, der junge Gerhard Schreiber aus Bromberg, die Halsschlagader durch. Der mit uns marschierende Chirurg Dr. Staemmler aus Bromberg schloß die Wunde. Der Verletzte wurde nach Ciechocinek gebracht, ist dort aber vermutlich verstorben. Dr. Staemmler sagte mir persönlich, bei einer normalen Behandlung hätte er gerettet werden müssen. Während der junge Kamerad, der mit seinen Nerven zusammengebrochen war, in seinem Blute lag, wurde er von dem den Zug anführenden letzten polnischen Polizeikommandanten von Bromberg mit Füßen getreten. Uns anderen aber wurden sämtliche Taschenmesser und Rasierklingen abgenommen. In Ciechocinek wurden wir in einem Jugendlager untergebracht, nach Geschlechtern getrennt. An eine Nachtruhe war wieder nicht zu denken, da es neue Ausbrüche von Geisteskrankheiten gab und die hysterischen Schreie nicht aufhörten. Zu essen gab es nichts. Am 5. September marschierten wir in großer Hitze von Ciechocinek bis Wloclawek. Die Fußkrankheiten griffen immer weiter um sich, der Hunger wurde größer, der Durst war unerträglich. Vorräte, die einige mitgenommen hatten, waren verteilt. Man hatte uns das Geld abgenommen, trotzdem konnten in Nieszawa die Gefangenen noch eine Sammlung veranstalten, so daß gemeinsam Brot gekauft wurde. Der Kommandant gab Dr. Staemmler den Auftrag zum Ankauf und zur Verteilung. Leider hat er später eine ähnliche milde Regung nicht verspürt. In Nieszawa lagerten wir mittags bei sengender Glut auf einem sandigen Müllabladeplatz. Hier kam ein großer Trupp Gefangener aus Pommerellen hinzu, der uns angeschlossen wurde. Auch Frauen und Greise waren dabei, lauter gehetzte, schon bis aufs [66] letzte ausgemergelte Gestalten. Wir zogen dann hart am Weichselufer entlang in das stark zerschossene Wloclawek, wo wir in einer Turnhalle eingepfercht und eingeschlossen wurden. Die ganze Nacht über gab es kein Wasser, trotzdem wir nahe am Verdursten waren. Als ich im Dunkeln nach einem Ausgang suchte, um an einen Brunnen zu kommen, traf ich einen deutschen Landwirt Vormeyer, den man mit seinem vierzehnjährigen Sohn verhaftet hatte. Später nahm man ihm den blonden Jungen wieder ab, über dessen Schicksal man nichts weiß. Am anderen Morgen wurden wir weitergetrieben. Ein Teil der alten Leute, die nicht mehr weiter konnten, und auch einige Frauen wurden auf Wagen geladen. Als die beiden über siebzigjährigen Bromberger, Superintendent Aßmann und Dr. von Behrens, das gleiche Verlangen stellten, wurden sie als "besonders gefährliche politische Banditen" zurückgewiesen. Junge Kameraden nahmen sie wieder auf ihre Arme und schleppten sie auch diesen Tag weiter.

Der Weg ging an diesem 6. September von Wloclawek zur Zuckerfabrik Chodzen bei Chodecz, wo wir mit mehreren anderen Kolonnen aus Pommerellen vereinigt wurden und die Gesamtzahl von Verschleppten wohl die Zahl von 4.000 erreichte, davon aus Bromberg etwa 600 bis 800 Personen. Unter diesen 4.000 Teilnehmern befanden sich rund 1.000 polnische Sozialdemokraten, Kommunisten, Sträflinge und andere "Bassermannsche Gestalten". Andere deutsche Trupps hatten in der Zuckerfabrik Chodzen, die einem Militärkommandanten unterstand, üble Erfahrungen gemacht. Sie waren mit Gummiknüppeln geschlagen, an die Wand gestellt, geängstigt und auf andere Weise malträtiert worden. Auch hat es verschiedene Erschießungen gegeben. Wir wurden für die Nacht auf einen engen Platz zwischen zwei Mauern gejagt, auf dem der einzelne kaum Raum zum Sitzen hatte, und dann saß er noch auf Koks und flüssigem Teer. Dazwischen gingen polnische Zivilisten mit Arm- [67] binden, deren Befehlen wir zu gehorchen hatten. Wer sich dem Stacheldraht näherte, sollte erschossen worden. Auf dem Dach der Zuckerfabrik standen Maschinengewehre. Trotzdem man uns am Abend Baracken mit Stroh versprochen hatte - offensichtlich war diese Zuckerfabrik als Sammellager gedacht -, wurden wir am anderen Morgen über Chodecz, einem Städtchen, in dem wir uns auf dem Markt verpflegen konnten, nach Kutno getrieben. Auf dem Wege wurden wir unaufhörlich als Mörder, Banditen und "Hurensöhne" beschimpft, besonders von den Frauen und den - Offizieren. Unseren Weg begleiteten Flüchtlingskolonnen, militärische und zivile, die immer wieder Gelegenheit nahmen, über uns herzufallen. Wer nicht weiterkam, wurde manchmal auf den Wagen gebracht, in der Regel aber am Schluß des Zuges erschossen. Wir marschierten am Morgen des 7. September die ganze Nacht hindurch mit wenigen Ruhepausen im Straßengraben oder im Mist der Landstraße bis zum Morgen des 8. September um 9 Uhr, wo wir auf einem Gut Starawies etwa 3 Kilometer hinter Kutno vier Stunden haltmachten. Hier brachen mehrere Kameraden infolge der Erschöpfung tot zusammen. Nur ein Teil der Kolonne erhielt Brot, alle aber Wasser zum Trinken, was für uns die höchste Seligkeit bedeutete. Hatten wir uns doch schon bei der ersten Dämmerung auf das Gras des Straßenrandes geworfen, um Lippen und Zunge an dem Tau zu erfrischen. Auch konnten wir uns hier und da vom Felde eine Futterrübe besorgen, um das furchtbare Hungergefühl einzudämmen.

Von Starawies marschierten wir mittags weiter, wieder eine Nacht hindurch, taumelnd, schlafend, durch unsere Geisteskranken ständig beunruhigt, durch die Schüsse in unserem Zuge erschüttert. Einer meiner Kameraden hat allein 44 erschossene Deutsche in dieser Nacht gezählt. Wer nicht in Reih und Glied marschierte, wurde von der Begleitmannschaft, die besser ernährt war als wir und die [68] teilweise auf Rädern fahren konnte, teilweise auch schon abgelöst war, mit Keulenschlägen und Bajonettstichen wieder ins Glied zurückgetrieben. Selbst unser Arzt Dr. Staemmler wurde davon nicht verschont, wenn er in der endlosen Kolonne vorging oder zurückblieb, um einem Unglücklichen mit irgendeinem Stärkungsmedikament zu helfen. Sein Instrumentarium hat er nicht mitnehmen dürfen. In dieser Nacht begann er selbst zu phantasieren. Dr. Kohnert und zwei neben ihm marschierende Kameraden wurden von vorbeiziehenden Soldaten geschlagen. Immer wieder mußten wir aufrücken, weil die Reihen sich lichteten. Ein siebzigjähriger Bauer Körner, der es vor Durst nicht aushalten konnte, sprang von einer 7 Meter hohen Brücke in die Bzura, wo er beschossen, aber nicht verletzt wurde. Er trank dort aus seinem Hut Wasser und konnte sich dann wieder dem Schluß des Zuges einordnen. Am 9. September um 9 Uhr trafen wir nach dem letzten großen Nachtmarsch in Lowicz ein, und zwar an einem Punkt zwischen Pulvermagazin und Kasernen, bei heftigster deutscher Artilleriebeschießung. Die polnischen Wachtmannschaften verließen uns bis auf ganz wenige, der Kommandant war nicht mehr zu sehen. Wir verzogen uns aus der gefährlichen Gegend in ein oberhalb der Stadt gelegenes Wäldchen, unterwegs konnten wir an mehreren Brunnen den Durst stillen und uns waschen. Von dem Zuge der rund 4.000 sind in Lowicz, das zu gleicher Zeit von deutschen Truppen besetzt wurde, rund 2.000 gerettet worden. Abgängig sind zunächst die etwa 1.000 Polen, die bei uns waren, aber die restlichen 1.000 Deutschen sind keineswegs nur ein statistischer Fehler, sondern ich glaube, daß sie sich in dieser letzten schier unerträglichen Nacht, in der wir uns kaum weiterschleppen konnten, in die Wälder, Wiesen und Dörfer verlaufen haben. Ein Teil von ihnen aber muß als dauernder Verlust abgeschrieben werden. Andere trafen noch immer in Lowicz truppweise ein. Von den letzten 2.000, die zusammengeblie- [69] ben waren, sind rund 1.200 bei den Kasernen auseinandergegangen und in einzelnen Kolonnen, zum Teil unter Gefangennahme der Begleitmannschaft, von denen zuletzt 30 inhaftiert waren, den deutschen Truppen entgegengegangen.

Der letzte Rest von 800, bei dem sich unter anderem Dr. Kohnert, Dr. Staemmler, Freiherr Gero von Gersdorff, der Landbundvorsitzende Modrow und auch ich selbst befanden, wurde in das vorher erwähnte Wäldchen geführt, wo uns Strzelce erwarteten, junge bewaffnete Banditen von siebzehn bis achtzehn Jahren, die uns dann noch 9 Kilometer nordöstlich Lowicz in Richtung Warschau abdrängten, in ein langgestrecktes Dorf, in dem es wieder Wasser gab. Der größte Teil dieser 800 waren Deutsche aus Kongreßpolen, die nur schwer zusammenzuhalten waren, besonders als wir wieder einen Berg hinan auf eine sogenannte Gromadawiese getrieben wurden, die von allen Seiten gut beschossen worden konnte. Pastor Krusche als Führer dieser kongreßpolnischen Deutschen und wir Bromberger beratschlagten, was nun zu tun sei. Dr. Kohnert und Dr. Staemmler wurden beauftragt, mit dem letzten uns noch begleitenden Bromberger Polizisten zu verhandeln. Bei dieser Annäherung wurde unser geliebter Dr. Staemmler von dem polnischen Wachtmeister, der dann flüchtig wurde, durch einen Schuß in die Stirn ermordet. Er war auf der Stelle tot. Wir nahmen jetzt an, daß man nun auch auf die übrigen wehrlosen 800 Arrestanten von allen Seiten schießen würde. Überall wurden regulär und irregulär bewaffnete Polen sichtbar. Da erschien am Fuße des Berges plötzlich ein Tank. Allgemein herrschte die Annahme, daß er unseren Fluchtweg nach Lowicz abriegeln sollte. Mit einem weißen Taschentuch an einem Stock gingen ihm mehrere unserer Kameraden entgegen. Wir hofften, durch die Unterwerfung unter polnisches Militär gegen die Heimtücke der Polizei und der Strzelce gesichert zu sein. Die 800 strömten den beiden Parlamentären nach. Auf halbem Wege entdeckten [70] wir, daß es sich um einen deutschen Tank handelte, der uns befreite. Ein junger deutscher Offizier fuhr durch unsere Mitte auf diesem Panzerwagen, der den Namen "Ziethen" trug, bis in das obere Dorf den ganzen Gromadahügel hinauf. Dort fielen die polnischen Bauern auf die Knie und küßten dem Offizier Hand und Uniform. Uns aber gab er die Marschrichtung nach Lowicz zurück. Wir nahmen die Leiche von Dr. Staemmler und zogen unter Seitensicherung quer durch Kartoffel- und Stoppelfelder in die von deutschen Truppen eroberte Stadt.

Der Marsch nach Lowicz, der mit Umwegen etwa 240 Kilometer lang gewesen war, hatte ein Ende. Die Verfassung der Teilnehmer war zum größten Teil erschütternd elend. Als ich auf der Kommandantur, wo der blau geschlagene Arzt Dr. Studzinski aus Waldau, Kreis Schwetz, bis zum Umfallen die zum großen Teil schon eiternden Fußwunden verband, die Schwerkranken besuchte, entdeckte ich auf einem Strohlager unter anderem den achtundsechzigjährigen Senator Dr. Busse, Tupadly. Er rief mich an und umarmte mich weinend. Durch Steinwürfe und Kolbenschläge war sein Kopf eine blauschwarze unförmige Masse geworden, aus der nur die bluttriefenden roten Lippen hervortraten. Dr. Busse ist einer der ersten europäischen Viehzüchter. Er war auch bei den Polen besonders geachtet und auf allen internationalen Viehbewertungen als Preisrichter bekannt. Neben ihm lag im Zustand völliger Erschöpfung der zweiundachtzigjährige Gärtnereibesitzer Bohrmann aus Schönsee. Im Hof der Kommandantur aber häuften sich die Leichen derjenigen Kameraden, die jetzt noch an Erschöpfung gestorben waren, sowie der anderen, die von der Hauptkolonne vor Lowicz abgesprengt und von der zurückflutenden Soldateska ermordet worden waren. Allein in der Nähe des Gromadahügels hatte man 26 gezählt. Die meisten von ihnen waren mit dem Gewehrkolben erschlagen.

[71] Bewegt dankten wir unseren Befreiern an der Bzura, wo wir unser erstes Bad nahmen, sangen die deutschen Hymnen und brachten ein Siegheil auf den Führer und die deutsche Armee aus. In der Nacht wurden wir im Gefängnis verpflegt, und zwar durch Landsleute aus Pommerellen, die wochenlang unter Spionageverdacht bis in das Lowiczer Gefängnis verschleppt und jetzt gleichfalls von den deutschen Truppen befreit worden waren. Mit Rücksicht auf die Kampfhandlungen wurden die geretteten 2.000 Deutschen einen Tag später, am Sonntag, dem 10. September nachmittags auf 800 requirierten Fahrrädern und auf Panjewagen über Glowno, wo es noch eine nächtliche Rast im Freien gab, nach Lodz gebracht. Dort warten sie auf den Abtransport in die Heimat.



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