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Das Heldenlied vom Todesmarsch nach Warschau

Der evangelische Pfarrer Klaus Lieske in Hermannsruhe, Kreis Strasburg, Westpr., bekommt im Juli 1939 einen Brief, der ihm in den Urlaub nachgeschickt wird. Darin stehen außer der Adresse folgende zwei Sätze: "Sie werden aufgefordert, Polen mit Ihren Angehörigen innerhalb 14 Tagen zu verlassen. Im gegenteiligen Falle erfolgt die Vollstreckung der Todesurteile. Die geheime Hand."

Die polnischen Behörden, denen er den Brief zeigt, kümmern sich nicht darum. Im August erhält er eine zweite Warnung, und zwar von einem Angehörigen des polnischen Schützenverbandes, des Strzelec, er solle Polen verlassen, denn der Verband hätte Auftrag, ihn sobald wie möglich zu erschießen.

Scriptorium merkt an: "Als Polen am 24. August teilweise mobilisiert..."
Wie auch die Aussagen von Uffz. Georg Karl Ludwig, Kattowitz und Leutnant Hans Mauve, Posen beweist dies, daß Deutschland Polen nicht am 1. September 1939 "angriff", wie es heute immer und immer wieder behauptet wird. Eine Mobilisation der Streitkräfte eines Landes ist eine de-facto-Kriegserklärung. Wenn Polen bereits im August seine Mobilisation einleitete, dann war es Polen, das damit die erste Kriegshandlung beging. Dies geht auch aus dem Ausspruch hervor, den Adolf Hitler 8 Tage später, am 1. September, machte: "Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!"
Als Polen am 24. August teilweise mobilisiert, da wird er eingezogen und zu Hilfsdiensten verwendet. Er muß mit seinem Rade die persönlichen Gestellungsbefehle zu den Empfängern bringen. Immer wenn zehn ausgeschrieben waren, wurde ein solcher Bote entsandt.

Am Donnerstag, dem 31. August, hört er abends mit seiner Familie die bekannte Sondermeldung des deutschen Rundfunks, daß Polen auf die Vorschläge der deutschen Regierung zur friedlichen Lösung überhaupt keine Antwort mehr erteilt habe. Da wußten sie: Das bedeutet den Krieg. Am 1. September bringt er seine Frau und das neugeborene Mädelchen zu einem Nachbarpfarrer und wird nun interniert. Einer der Hilfspolizisten, die zum größten Teil Aufständische waren, fordert ihm den Browning ab und brüllt los: "Jetzt ist es vorbei mit dem Umherfahren. Jetzt heißt es: 'Wie ihr uns, so wir euch.' Jetzt werdet ihr alle erschossen." Das geschah aber nicht, vielmehr mußten die bereits Verhafteten in ein Haus gehen, und es hieß: "Hinsetzen! Abendbrot essen! Wer aufsteht, wird erschossen." Das war der Anfang der Kette von seelischen Mißhandlungen, bei denen es diesen polnischen [69] Untermenschen darauf ankam, die Volksdeutschen immer wieder in Angst und Schrecken zu versetzen, sie zu entwürdigen. Die Psychiatrie hat dafür nur den Ausdruck sadistischer Grausamkeit, die diesen Menschen angeboren sein muß, ebenso wie ihnen der Haß gegen das Deutsche nicht etwa nur von ihrer Regierung oder den Engländern eingeimpft wurde, sondern ohne Zweifel von Natur aus vorhanden ist.

Der Todesmarsch, den nun dieser sehr objektive und um die Wahrheit bemühte Zeuge mitmachen mußte, enthält tausenderlei Einzelheiten. Schreckliches und immer wieder Schreckliches, und dann dazwischen erhebende Augenblicke. Der Absicht dieser Schrift getreu, werden wir das besonders hervorheben, was als Dokument aus der ärztlichen Sphäre für die Dauer Geltung beanspruchen darf.

Zunächst gab es wieder grauenvolle Ausbrüche der Massenpsychose. Die Bevölkerung des Dorfes, in dem die Verhaftung stattgefunden hatte, war alsbald aufgewiegelt worden. Man hatte ihr, wie fast überall in den Gebieten, wo Volksdeutsche wohnten, in ebenso gehässiger wie lügnerischer Weise davon erzählt, die Deutschen seien Verbrecher, Spione und Staatsverräter. Sie gäben, so hieß es an vielen Orten, den deutschen Fliegern Blinkzeichen und betätigten sich soviel wie möglich durch Nachrichtenübermittlung aller Art.

Die jungen Kerle in diesem Dorfe, halbwüchsige Burschen von 15 bis 18 Jahren, die auf allen Leidensmärschen den Volksdeutschen am meisten zu schaffen machten und die Mehrzahl der getöteten volksdeutschen Opfer auf dem Gewissen haben, hatten sich auch hier mit Beilen, Äxten und Spaten versehen und standen Spalier, um die Volksdeutschen zu überfallen. Noch aber fühlte sich die Mehrheit der Wachmannschaften als Wächter und erfüllte einigermaßen ihre Pflicht. Später setzte dann auch bei ihnen die bekannte Demoralisierung ein, die sie selbst zu Mördern statt Wächtern werden ließ.

Die Befürchtung, daß die noch kleine Gruppe im nächsten Walde erschossen werden würde, erfüllte sich glücklicherweise nicht. Am Abend wurden sie in einer leerstehenden Fabrik untergebracht, aber nicht etwa in einem der unteren Räume, sondern, da man Fliegerangriffe erwartete, im höchsten Stockwerk unmittelbar unter dem Dach. Wieder wütete also der Sadismus der Polen gegen Wehrlose. In einem kleinen Raume, etwa 4x4 Meter, wurden sie untergebracht. Die ganze Nacht konnten sie kein Auge zutun. Es kamen immer wieder neue Transporte von Volksdeutschen, zunächst kleine Gruppen, zwei oder drei, dann aber ein größerer Transport. Und nun war es mit dem Liegen und Sitzen vorbei, nun mußten sie stundenlang stehen. Jammervoll war der Anblick, zwei Mütter mit Säuglingen auf den Armen [70] waren dabei, unter den zahlreichen Gutsbeamten waren Leute von über 80 Jahren. Bald waren es 120 in dem winzigen Raum. Wie gut, daß alle unter dem gemeinsamen Schicksal standen und sich darin gegenseitig aufrichten konnten. Niemand durfte an Schlaf und Bequemlichkeit und an die Erhaltung seiner Gesundheit denken. Eine Gruppe, die aus Rehden und Lessen kam, war aufs furchtbarste mißhandelt und zerschlagen. Viele Gesichter waren blutüberströmt, einigen Frauen war die Kopfhaut fast geplatzt, weil Artilleristen, also wohlgemerkt polnische Soldaten, sie mit der Peitsche bearbeitet hatten. Ein achtzigjähriger Greis wurde von seinem Enkel getragen, weil er unter den Kolbenhieben polnischer Soldaten zusammengebrochen war.

Die Luft wurde beängstigend stickig. Die körperlichen Qualen begannen zu steigen. Keiner konnte heraus und die Notdurft konnte nur in dem Raume verrichtet werden. Es gehörte insbesondere, wie alle Teilnehmer an den Leidensmärschen berichten, zu dem Sadismus der Polen, daß sie Frauen und Männer zwangen, alle Scheu abzulegen, um größere Gefahr für die inneren Organe und damit für das Leben zu vermeiden.

Nun beginnt die Verschleppung. Es geht zunächst noch im Autobus nach Thorn. Alsbald beginnen die Mißhandlungen. Ein polnischer Fliegeroffizier in Uniform(!) hielt sich mit einer Hand am Autobus fest und gab jedem einen Tritt mit dem Fuß, begleitet von entsprechenden Ausdrücken: "Du Schwab, du Hurensohn, du Hitlerowice, du Schwein. Wir werden euch lehren, Krieg machen."

Immer mehr Volksdeutsche stoßen hinzu, der Zug wächst auf etwa 510 Menschen an. Es waren aber dies nicht alles Volksdeutsche, sondern einige polnische Flüchtlinge waren meist in diesen Zügen verteilt, die sollten auch Spitzeldienste leisten und erhielten bevorzugt Essen und Trinken von seiten der polnischen Begleitmannschaften. In den meisten Zügen wurden auch aus dem Gefängnis herausgelassene polnische Verbrecher mitgeschleppt, die natürlich schon durch ihr Dasein die Pein der Volksdeutschen vermehrten.

Der Zeuge dieses Zuges nach Warschau, dessen schriftlich niedergelegtem sachlichem und klarem Berichte wir folgen, bemerkt schon an dieser Stelle: "Dann begann unser Marsch, den man nicht anders nennen kann als den 'Todesmarsch', denn nicht nur, daß viele von unseren besten deutschen Blutsbrüdern ihr Leben lassen mußten, nein, die Polen verstanden es auch, die Menschen durch ihre Quälereien geistig und seelisch in einen mehr oder weniger trostlosen und apathischen Geisteszustand zu versetzen, aus dem wir Heimkehrer wohl alle erst nach langer Zeit ganz erwachen werden."

So wird, unter dem ärztlichen Blickpunkt, stets ein erschütterndes Ergebnis der Volksdeutschen Leidensmärsche bleiben: Der Raubbau an der [71] geistigen und seelischen Gesundheit dieser Volksdeutschen, die sich nach den Gesetzen des inneren Lebens nur langsam von all diesem Schrecklichen erholen können. Sind doch auf allen Zügen eine Anzahl von ihnen in Irrsinn verfallen.

Am 3. September geht der Marsch weiter. Nachts um ½12 erfolgt der Aufbruch. Es geht von Thorn nach dem berühmten polnischen Solbad Ciechocinek. Die jungen Burschen, die den Zug begleiten und überwachen, schreien immer wieder "aufschließen". Und obwohl die Deutschen schon aufs engste gedrängt marschieren, drängen sie sie immer noch enger zusammen und helfen mit Bajonetten und Gewehrkolben nach. Die meisten Volksdeutschen haben sich mit ihrer Kleidung gar nicht auf einen längeren Marsch eingerichtet, sie haben dünne Socken an, bekommen Blasen und leiden die ersten Schmerzen. An eine sorgfältige Behandlung solcher Wunden ist nicht zu denken. Man muß es darauf ankommen lassen, wie ja überhaupt diese tage- und wochenlangen Leiden nur ertragen werden konnten in einer fast traumhaften seelischen Hochspannung, die sich ständig am Rand des Todes wußte und jeden Augenblick des Lebens als Geschenk empfand, auf das man eigentlich keinen Anspruch und kein Recht mehr hat.

Wir lesen: "Da liegt die erste Frau vor einem Strzelec auf den Knien. Sie ist zusammengebrochen und fleht ihn an, laß mich ein wenig ruhen. Der Pole läßt sich nicht erweichen. Mit dem Bajonett jagt er sie vor sich her und beschimpft sie in den greulichsten Ausdrücken. Sie muß mit, sonst ist sie verloren. Alle ahnen, daß jeder, der zurückbleibt, einfach niedergemacht wird." Wieviel Volkskraft wird zerstört in diesen Augenblicken, in solchen Tagen des Grauens!"

Wie mit allen Sinnen spüren die armen Volksdeutschen, die da unter dem Gejohle der Menge durch die Dörfer marschieren müssen, das stündliche Anwachsen des irrsinnigen Hasses. Aus einem Dorfe tönen ihnen die Haßrufe entgegen: "Richtig so, schlagt sie alle tot, die verfluchten Hitlerowcys!" Ein Weib stürzt kreischend auf die Marschierenden zu und schleudert einen großen Stein unter unverständlichem Gebrüll in die Menge der schon fast völlig erschöpften Menschen. Man ist nun schon 30 Kilometer marschiert, Hunger und Durst stellen sich ein. Es rührt die Polen nicht. Sie haben es ja auf die Vernichtung der Deutschen abgesehen.

Aber die Natur, die immer auch wieder ihr gütiges Angesicht zeigt, sorgt offensichtlich für eine rechtzeitige Gegenbewegung in Körper und Seele der Gequälten. Als ob aus geheimen Urgründen neue Kräfte aufbrechen und Quellen übermenschlicher Leistung entspringen, so vermögen diese Menschen etwas zu leisten, was jeder einzelne von ihnen vorher für unmöglich gehalten hätte. Das bequeme tägliche Leben mit Schlaf und [72] Mahlzeiten, mit sorgsamem Wechsel von Ruhe und Anstrengung ist ja vorbei. Für wie lange noch? Keiner weiß es. Still und stark ist die Hoffnung, daß die Deutschen kommen und die Stunde der Befreiung naht. Aber sie kommen noch nicht. Der Weg geht zunächst hinab in immer größeres Dunkel.

Es meldet sich der Hunger stärker. In dem Städtchen Alexandrowo kann man die letzten mitgebrachten Vorräte verzehren. Wieder aber entpuppt sich der krankhafte Sadismus der Polen. Man sammelt 190 Zloty, und eine von den Frauen geht unter Bewachung in die Stadt, um Lebensmittel zu kaufen. Freudestrahlend erscheint sie bald mit Brot und Obst. Aber als sie gerade die Halle betritt, kommt der Herr Hauptmann und beschlagnahmt die Lebensmittel für seine Leute, die doch wahrhaftig genug zu essen bekamen. Geld und Essen waren weg. Wenigstens einen Schluck Wasser gibt es.

Die hygienischen Zustände fangen an, fürchterlich zu werden. Nach langem Anstehen darf man austreten, aber in einem Raum, der völlig verschmutzt ist. Jeder einzelne sagt sich: "Fest bleiben, wegsehen, es muß ja die Stunde der Befreiung kommen!"

Im Solbad Ciechocinek ereignete sich, wie Hauptschriftleiter Starke von der Deutschen Rundschau als Miterlebender berichtet, folgende Szene: Ein Bromberger, Berhard Schreiber, hat sich mit einer Rasierklinge die Kehle durchschneiden wollen. Er war eine labile Natur und konnte die Tage des Schreckens, ohne Aussicht auf sichere Erlösung, nicht ertragen. Er trifft aber nicht die große Halsschlagader, und es gelingt dem mitmarschierenden Bromberger Chirurgen Dr. Staemmler, durch Druck mit seinen Fingern die Blutung zur Verkrustung zu bringen und mit einem Stück Handtuch abzubinden. Während sich Dr. Staemmler um den Armen bemühte, brachte es der Kommandant der Wachmannschaften, ein Offizier, fertig, in brutaler Weise auf Händen und Füßen des Verletzten herumzutrampeln. Er läßt auf Grund des Vorkommnisses allen Volksdeutschen Rasierklingen, Taschenmesser und ähnliche Instrumente abnehmen. Das war ein gewaltiger Verlust, der ihnen das Leben unsäglich erschwerte. Man lädt nun den Verletzten zunächst auf einen der begleitenden Wagen und fährt ihn nach Ciechocinek. Dort aber will man ihn nicht weiter mitnehmen und erschießt ihn kurzerhand.

Wieder einer ist fort... aber weiter geht es, und nun kommt eine Szene, die alle aufs tiefste erschüttern muß, die noch an die Unantastbarkeit und Sauberkeit des ärztlichen Bereiches in aller Welt, an die geheime Einheit des Arzttums glaubten, das sich in der gegenseitigen Achtung der Heeressanität und des Roten Kreuzes kundtut.

[73] In dem vornehmen Badeort sind Kurhäuser und Sanatorien in Lazarette verwandelt. Viele Sanitätsoffiziere und Mannschaften liegen dort. Zahllose Transporte von Verwundeten fahren auf der gleichen Straße, wo die Volksdeutschen marschieren, nach dem Badeort. Man führt die Volksdeutschen ohne besondere Notwendigkeit absichtlich durch das Sanitätsviertel. Da stellen sich wahrhaftig die Sanitätsoffiziere hin und beschimpfen die Deutschen. Ein hochgestellter Arzt, wahrscheinlich der Chef der gesamten Sanitäter, vielleicht ein Generalarzt, ruft den Marschierenden zu: "Was führt Ihr die Leute noch herum? Stellt sie vors Maschinengewehr, und wenn Ihr Euch das nicht zu tun getraut, dann gebt sie mir unters Messer!"

Dr. Staemmler sagte zu Starke: "Ein herrlicher Kollege!" Die ganze Machtlosigkeit der Deutschen offenbart sich darin, daß er diesem Ausbund von "Arzt" nicht entgegentreten kann, sondern schweigend dieses Zeichen innerer Verworfenheit über sich ergehen lassen muß.

Am Dienstag, dem 5. [September] 1939, schreibt Pfarrer Lieske: "Das Geschehen der letzten zwölf Stunden sieht jedem noch aus den Augen. Aber auch an der Kleidung kann man es sehen. Und wie die Sachen sehen auch die Seelen von uns aus: Zerrissen, zerguält, von grauenhaftem Erleben erzählend. Vor mir steht eine Frau. In einem blauen Seidenmäntelchen. Der Rücken vielleicht gut zwei Hände breit, so schmal und zusammengefallen die ganze Gestalt. Aschgrau das Gesicht. Die Schuhe verloren, die Seidenstrümpfe hängen in Fetzen um die Waden. Kreischend, fluchend und essend um uns herum die Begleitmannschaft."

Es kommt zum ersten Massaker. In einem Raum werden alte Männer zusammengepfercht, die nicht mehr weiter können. Ohne Zweifel sollen sie gemordet werden. Man will damit die Verantwortung für sie los sein. Ein Pole erhebt sich, läuft zum Posten und sagt: "Die wollen da etwas tun, das mache ich nicht mit." Dieser Pole wird herausgeführt. Polizei und Strzelcy kommen herein und schlagen zunächst blindlings mit Fäusten und Revolvern auf die alten Leute los. Bei ihnen ist der Arzt Dr. Braunert aus Goßlershausen, dessen einziges Verbrechen es gewesen war, daß er dem alten Goerz geraten hatte, auch auf dem Wagen zu fahren, und daß er einen Polen gebeten hatte, dies weiterzusagen. Dafür wurde er erschossen.

In Sekundenschnelle denken die Überlebenden, die sich bereits zum Weitermarsch aufstellen müssen, an das grauenvolle Schicksal der Zurückbleibenden. Lieske kann noch gerade folgende Szene in sein Gedächtnis aufnehmen: Einer von den unbarmherzig Gequälten, der unter den Kolbenhieben zusammenbrach, schreit laut auf. Er soll die Hände hinter den Kopf legen. "Ich kann den Arm nicht mehr rühren, der ist ganz kaputt", so sagt er, aber die Kolben hauen weiter auf ihn ein. "Hoch den Arm! Schießt [74] den Hund tot!" Damit verliert Lieske die Gruppe der Gequälten aus den Augen. Es dürfte keiner von ihnen heute noch leben.

Wieder ist die Natur am Werk. Wilder Durst befällt die Weitermarschierenden. Lieske hat ein paar Zitronen im Rucksack, aber er bekommt sie nicht heraus. Eine findet er noch in der Tasche, aber es darf ja nicht gegessen werden. Vorsichtig nimmt er sie in die hohle Hand und beißt etwas ab. Doch das ist zu scharf und brennt mehr, als es den Durst stillt. So heißt es wieder verzichten und die Kraftreserven heranholen, die die Natur dem Menschen gegeben hat.

Das Trommelfeuer auf Geist und Seele der Marschierenden verstärkt sich. An jedem Baum müssen sie die Hände auf den Rücken nehmen und im Dauerlauf vorbeistürzen. Die Nerven, zitternd und aufs äußerste gespannt von dem vorher Erlebten, versagen den Dienst, und "die Menschen sind vor Angst wie wahnsinnig. Die Angst treibt sie vorwärts. Wer hinten ist, drängt vor. Die Alten müssen geschleppt werden. Aber wehe, wenn einer der Schleppenden auch nur einen Schritt zurückbleibt! Dann setzt es Bajonettstiche. Wer liegenbleibt, wird unbarmherzig mit dem Kolben bearbeitet, bis er wieder aufspringt und unter den Stichen der Bajonette nach vorne jagt. 'Seht, wie der Hund jetzt noch laufen kann!' rufen sie. Und dann bleibt er vielleicht bald liegen, um erschlagen zu werden."

Polnische Soldaten kommen vorbei und rauben den Volksdeutschen, soviel sie können. Dann schießen sie blindlings in die Deutschen hinein. Sie hatten ja nur Niederlagen erlitten. Da wollten sie auch einmal Siege erfechten – solche Siege! – und töten und metzeln. Das gelang ihnen auch vollkommen. Einer der Verwundeten hat einen Handschuß. Auf ihm liegen andere. Sinnlos vor Schmerz springt er auf, um im gleichen Augenblick erschossen zu werden. Eine Frau verliert die Nerven: "Schießt mich doch schon tot! Quält mich doch nicht so! Schießt mich tot, schießt mich endlich tot!" So dreimal, dann bekommt auch sie die erlösende Kugel. Für den und jenen war der Wahnsinn die letzte Rettung aus der Unerträglichkeit der Leiden.

Wieder setzt der Sadismus der Polen ein. Lieske kommt rückschauend zu der Überzeugung, daß die Polen eine Falle gestellt haben. Es hatte nämlich ein Offizier auf die ausschwärmenden polnischen Begleitmannschaften geschossen, und die Volksdeutschen dachten, es sei ein deutscher Offizier. Einige flohen. Diese wurden dann alle niedergemetzelt. Eine teuflische Erfindung polnischer Verworfenheit! Von vorne schießt die Infanterie mit einer Revolverkanone, von hinten der Polizeiwachtmeister mit einer Maschinenpistole, dazwischen die Strzelcy mit ihren Karabinern. In diesem dreifachen Mordfeuer ruft ein Deutscher, Hölzel, aus Birkeneich: "Das ist ja [75] Verrat!" Der Hauptmann stürzt auf ihn und schießt ihm eine Kugel durch die Brust. Da ruft er: "Wenn ihr schon schießt, dann schießt mich richtig tot!" Da jagt ihm der Hauptmann wieder persönlich eine Kugel durch den Kopf.

Die Kriminalpsychologie und -pathologie wird vielleicht mit Recht behaupten, der Ausdruck Mörder sei für diese Menschenschlächter zu schade. Der Mörder sucht sich doch fast stets ein einziges Opfer aus. Hier aber ist der Blutrausch aufs höchste gesteigert gewesen. Schließlich lädt man die noch lebenden Verwundeten auf einen Wagen, die aber, die im Glauben an das Herankommen deutschen Militärs geflüchtet waren, werden erschossen.

Lieske muß sich zwingen, nicht nach Hause zu denken. So weit ist es schon, daß der Gedanke nach Hause zum unerträglichen Schmerz wird. Tapfer benehmen sich die Frauen, überraschend tapfer. Wenn es durch Schluchten geht, besonders an dunklen Stellen, heißt es: "Hände auf den Rücken und Dauerlauf!" Und dann wird unbarmherzig geschlagen und erschlagen, geschossen und erschossen und ermordet. "Ein anderer Kamerad wirft sich etwa fünf Schritt vor mir vor ein vorbeifahrendes Militärauto. Das Auto hält kurz an. Fragt. 'Schwab' ist die Antwort. Das Auto rollt über ihn hinweg. Der Wahnsinn feiert Orgien. Ein älterer Mann, der nicht weiter kann, erhält mit dem Kolben einen Schlag in die Nierengegend, der die Niere schwer verletzt. Dann schießt man ihn tot." Sein Sohn ist dabei. Die anderen verdursten fast. Die Natur ringt ihnen und damit sich selbst das letzte an Kraft des Ertragens ab. Eng zusammengepfercht sind die Volksdeutschen in einem Stall. Zwei Verwundete sind unter ihnen, einer hat einen Schuß durch einen Fuß, ein anderer einen schrecklichen, zwei Finger dicken Streifschuß am Kopf. Sie können den Durst kaum aushalten. Erschossen werden oder verhungern und verdursten – dies scheint jetzt die einzige Frage zu sein. Der Hunger wird so unerträglich, daß Pfarrer Lieske in den Pferdekrippen nach Körnern sucht. Alles ist leer. Er entdeckt auf dem Fußboden im Mist verstreute Weizenkörner. Sorgfältig liest er ein paar Hände voll zusammen, pustet Schmutz und Sand heraus und verzehrt sie.

Die Stimmung kam so auf den Nullpunkt, daß sie mit den einfachsten Mitteln zu heben war. Am nächsten Morgen – es ist jetzt der 6. September – wird endlich wieder der Durst gestillt. Einige der Frauen bringen etwas Tee in einem großen Kübel, in den einfach Wasser zugegossen wird. Jeder erhält den Deckel einer Thermosflasche nicht ganz voll. Das ist schon ein wahres Fest! Der Herr Hauptmann sagt zu einem Volksdeutschen, sie sollten Geduld haben, bald kämen sie in das Lager, das Ziel ihres Marsches. [76] Diese Nachricht, nur indirekt durch den Mittelsmann den Deutschen kundgetan, elektrisiert sie geradezu, und Lieske glaubt bemerken zu dürfen:

"Die Stimmung hob sich, trotz Hunger und Durst und des Schreiens der Verwundeten, die auch nicht einmal mit den primitivsten Mitteln versehen worden waren."

Es gehörte zu den verbrecherischen Methoden, mit denen die Polen den ganzen Marsch der Volksdeutschen in Bewegung gesetzt haben, daß nicht im geringsten für ärztliche Hilfe gesorgt war. In den meisten Gruppen fehlten auch volksdeutsche Ärzte oder Sanitäter, immer fehlten Medikamente. Wo aber volksdeutsche Ärzte waren, wurden sie an ihrer Tätigkeit fast völlig gehindert. Wahrhaftig, auch in ärztlicher und sanitärer Beziehung ist dieser Marsch der Volksdeutschen ein einmaliges Ereignis in der Weltgeschichte gewesen. So lautete denn auch der Bericht Lieskes weiter:

"Der Zustand der Verwundeten war entsetzlich. Fieber und Schmerzen machten die armen Menschen bald verrückt, dazu hingen auch schon die ersten Maden an den Wundrändern. Man lud sie auf einen Kastenwagen und fuhr davon."

Wieder ein Fall von Sadismus: Der "Herr Wachtmeister" nahm 300 von den Volksdeutschen gesammelte Zlotys, um Einkäufe zu machen und dabei auch einige Sonderwünsche zu befriedigen. Er erschien zunächst nicht wieder; als er abends kam, nahm er Leibesvisitation vor, raubte alles mögliche, darunter einige so wertvolle Füllhalter, das Geld war aber fort.

In dieser Fülle von Bedrängnissen und Martern mutet eine kleine Schilderung wie die folgende wie ein Miniaturbild an. Der Marsch geht weiter.

"Gleich hinter dem Vorwerk hängte sich ein Mann auf mich, ein bedauernswertes Geschöpf. Beide Füße durchgelaufen, schwer schwindsüchtig. Er schlang den Arm um meine Schulter, voller Todesangst. Bloß nicht liegenbleiben! Unglücklicherweise vertrat ich mir dabei das Knie. Der durchgelaufene Fuß hatte inzwischen auch angefangen zu eitern; der eine Nagel war vollkommen abgerissen. Bald fand ich Hilfe für die Schlepperei, und es ging weiter. Stunde um Stunde verging."

Sonst im Leben achten wir ängstlich auf jede beginnende Entzündung, sonst im Leben warnen wir Lungenkranke vor jeder Überanstrengung: das alles galt jetzt nicht. Alles ärztliche Denken mußte zurücktreten hinter dem einen, bodenlosen, endlosen, hoffnungslosen oder doch nur von leisestem Hoffnungsschimmer belebten Kampfe um das nackte Dasein. Und nicht nur die Schwachen nahmen Schaden an ihrer Gesundheit, auch die Starken waren, ganz abgesehen von der ständigen Gefahr des Ermordetwerdens, gesundheitlich in der größten Gefahr.

[77] "Das Mahlen im dem feuchten Sand, dazu das Schleppen von Kameraden, die nicht mehr konnten, und der Staub in der Lunge konnten schon den stärksten Mann mürbe machen."

Zu allem Unglück machte ein jüngerer Mann den Deutschen schwer zu schaffen. Er benahm sich wie ein Verrückter. Er schimpfte laut: "Ich habe es nicht nötig, mich so treiben zu lassen. Ich will nach Hause. Ich kann nicht mehr. Die verfluchten Kerle." Die Polen wollten ihn heraushaben und wären sehr rasch mit ihm fertig geworden, man mußte ihn schleppen wie ein Kind, obwohl er einen Kopf größer war als die anderen. Schließlich gelang es, ihn durch die Nacht zu bringen. So hatte man neben allen anderen Sorgen auch noch diese.

Dieser Nachtmarsch war so anstrengend, daß selbst einer der Begleitmänner, die sich doch wahrhaftig gut pflegen konnten mit Essen, Trinken und Ablösen, einfach umfiel und liegenblieb.

Die nächsten Stunden mußten die Volksdeutschen in einem Schafstall auf ganz frischem Schafmist verbringen, der eine ungeheure Hitze entfaltete. Macht nichts... Gesundheit ist Nebensache, es geht ums Letzte. Ein Thorner Bürger namens Steffen wäscht sich ein wenig. Die anderen sehen zu. An seinem Kopf und Leib ist kaum noch ein weißer Fleck zu sehen. Der ganze Körper war von den Polen blutrünstig geschlagen worden, weil er angeblich den deutschen Fliegern Zeichen gegeben hatte. Um in dieser grauenvollen Atmosphäre Luft holen zu können, meldete sich Lieske, austreten zu dürfen. Kaum ist er draußen, wird er von dem polnischen Pöbel mit Steinen beworfen und muß schleunigst zurück in den Schafstall.

Abwechslung bringt das Herannahen einer weiteren Truppe von 42 verschleppten Deutschen. Viele gehen an die Fenster, obwohl das bei Todesstrafe verboten war, und sehen dem Einmarsch der Neuen zu. Es sind nun etwa 560 Leidensgefährten.

Die ganze Nacht zum 8. September geht es die endlose Straße weiter.

Am 9. September, als der Polenfeldzug grundsätzlich schon entschieden ist, winkt ihnen immer noch nicht die Erlösung. Haben sich die Kräfte wirklich verdoppelt, verzehnfacht? Es scheint so!

"Die Müdigkeit wuchs von Nacht zu Nacht. Der kranke Fuß schmerzte schauderhaft. Am schlimmsten aber war es, wenn man immer wieder beim Marschieren einschlief und dann durch einen Kolbenstoß geweckt wurde."

Eine merkwürdige Bereitschaft des Körpers: Wie es von den Soldaten im Trommelfeuer heißt, sie könnten sekundenweise schlafen, so auch hier. Die Natur hilft sich, holt das Letzte an Abwehr- und Schutzkräften aus sich heraus.

[78] Wieder ein Vorgang, der sich hygienisch ungünstig auswirkt. Die Unterschiede zwischen Tag und Nacht machen sich bemerkbar. "Am Tage auf dem glühendheißen Mist, in der Nacht auf der taukalten Straße." Die Folge waren schmerzhafte Erkältungen, die mangels sämtlicher sanitärer Einrichtungen natürlich nicht wegzubekommen waren. Noch vor Morgengrauen kommen sie in die Stadt Kutno. Sie werfen sich einfach auf die schmutzige Straße und schlafen sofort ein. Welcher Raubbau, welches Wüsten mit menschlicher Kraft und Gesundheit! Die Polen wollen die Hitlerowcys ausrotten. Nun handelt es sich darum, mit Klugheit und List, mit härtester Selbstzucht und Unnachgiebigkeit durchzuhalten bis zum Tag der Freiheit.

Die Gruppe steht bei Kilometerstein 109 vor Warschau. Mehr und mehr wird ihr klar, daß sie mindestens diese 109 Kilometer noch wird marschieren müssen.

Am 9. September früh um 6 Uhr werden sie in einem Pferdestall mit dampfendem Mist untergebracht. Sie wollen ruhen, bekommen als Labsal auch für jeden drei Pflaumen. Aber nach gut zwei Stunden heißt es: Weitermarschieren. Also wieder: Das letzte an Kraft hergeben! Wer nicht mitkann, wird erschossen. Erschütternd ist der Inhalt dieser kurzen Sätze: "Wer hinten war, bekommt nicht nur die meisten Püffe, sondern mußte auch immer die Kranken und Zusammenbrechenden schleppen, die immer weiter nach hinten abgeschoben wurden, bis keiner mehr da war als unsere Begleitmannschaften, und diese prügelten sie dann eben zu Tode."

Es gehört viel Festigkeit des Herzens dazu, dies zu lesen und sich die Vorgänge genau vorzustellen. Es gehört aber mindestens ebensoviel innere Standhaftigkeit dazu, angesichts solcher Verworfenheit den Glauben an das Leben nicht zu verlieren. Gibt es doch ein ungeschriebenes Gesetz fast überall in der Welt, sicher aber bei allen, die sich Kulturvölker nennen, und dies Gesetz lautet: Achtung vor den kranken Menschen, Hilfe für den kranken und verwundeten Feind, ja selbst der erkrankte Verbrecher oder Mörder wird vom Gefängnisarzt noch gepflegt und geheilt. Hier aber schwieg die leiseste Stimme des menschlichen Gewissens. Die sittliche Weltordnung wurde von den Polen ins Wanken gebracht. Sie haben das mit dem Untergang ihres Staates und ihres selbständigen Volkslebens bezahlen müssen.

Es erfolgt wieder ein Ausbruch polnischen Hasses an diesem Tage. Die Posten jagen und schlagen die Gequälten.

"Die Augen quellen hervor, die Zunge brennt, unter der Zunge ist das Fleisch dick und geschwollen. Aber nicht ein Tropfen Wasser, immer nur [79] vorwärts! Die ersten älteren Leute brechen zusammen. Ein Bild, das jetzt am Tag in dem leuchtenden Sonnenschein noch viel furchtbarer ist als nachts.

Mit offenen Augen liegen sie da, das Gesicht verzerrt, die Lungen keuchen, wir werden so vorwärtsgetrieben, daß wir es nicht vermeiden können, auf die Gestürzten zu treten, sie zu überrennen. Manch einer hat noch die Kraft, aufzuschreien, wenn andere auf ihn trampeln, die meisten haben schon vor Erschöpfung die Sinne verloren. Man kann das als eine Gnade bezeichnen, die ihnen geschenkt ist. Denn hinter uns wütet der Mob."

Unter dem aufpeitschenden Lachen und Höhnen der Bevölkerung verstärkt sich der sadistische Blutrausch der Mörderbanden.

"Hinter uns das Geschrei der Gequälten und Erschlagenen, vor uns – wer weiß es, und so weit darf man gar nicht denken. Die Hemden hängen den meisten in Fetzen um den Leib. Bajonettstiche und Kolbenschläge haben sie heruntergerissen."

Nun kommt ein Stück Bahnfahrt – aber nicht lange. Denn deutsche Flieger haben die Gleise und Bahnhöfe zerstört und so ungewollt den Deutschen ihr Schicksal noch erschwert – sie mußten es eben tragen um der größeren Sache willen. Die Sonne brennt auf den Waggon, neue gesundheitliche Schäden treten auf. Ein Kleidungsstück nach dem andern reißen sie herunter, aber nichts bringt die ersehnte Linderung. Das Herz macht einfach nicht mehr mit.

"Man möchte aufspringen und mit den Armen um sich schlagen... der Durst ist zum Wahnsinnigwerden. Die letzte Flüssigkeit haben wir ausgeschwitzt, unsere Hände sind pitschnaß und vom Staub der Landstraße schwarz. Unsere Gesichter sind staubig und verfallen, der Schweiß hat seine Spuren hineingezeichnet, wie man Wege auf eine Landkarte zeichnet, wir sind kaum noch zu erkennen. Verzerrt die Gesichter, weit offen der Mund, keuchend der Atem."

Der Zug hält ab und zu. Die Hitze wird unerträglich. Es gibt immer noch kein Wasser.

Das ist das Bild des Menschen, der Krone der Schöpfung. Einige bekommen Tobsuchtsanfälle, reißen die Luken von den geschlossenen Güterwagen, in denen sie sich befinden. Dann gibt es wieder Spießrutenlaufen. Um ½5 Uhr nachmittags müssen sie heraus und unter Bajonett- und Kolbenhieben und anderen Quälereien über das Feld laufen. Ein Strzelec schlägt Lieske mit dem Karabiner quer über den Rücken.

"Ich stürze ein paar Schritt vorwärts, bin aber gegen den Schmerz scheinbar schon völlig abgestumpft, denn ich fühle es gar nicht mehr."

[80] Das alles ist möglich. Wo bleiben die Gesetze der Physiologie? Es muß doch so sein, daß der Körper einfach bei vollem Bewußtsein eine Schutzhülle schafft, die gegen Schmerz fast unempfindlich macht.

Ein Bild des Grauens. Die Bahnstrecke ist vollkommen von Bomben zerstört, blutige Watte und Verbandzeug liegen herum. Nun müssen sie wieder laufen, und wieder werden viele Zusammenbrechende abgeschossen.

Der Hunger und Durst sind aber so unerträglich, daß trotz der Lebensgefahr einige aus der Reihe auf die Felder herausspringen und an Früchten herausreißen, was sie bekommen können. Bezeichnend ist die Wirkung der einzelnen Feldfrüchte in dieser Lage des völligen Verdurstetseins; darüber gibt es ja sonst keine Erfahrungen. Und die einfachen Feststellungen, die Lieske trifft, mögen als ein Teil des Heldenepos betrachtet werden, das von dem Zug der Verdammten in Polen spricht.

"Wohl dem, der eine Möhre oder gar eine Gurke erwischt. Das stillt ein wenig den Durst. Aber die roten Rüben und Zuckerrüben brennen unerträglich im Hals, außerdem rebelliert der Magen dagegen. Ich verspeise rohe Kartoffeln, die schmecken scheußlich, aber man hält es vor Durst nicht mehr aus."

Wie entsetzlich sind die folgenden Stunden! Man kommt durch ein Dorf, das noch Erntefest abhält. Aber keine Bitte um Wasser wird von diesen Menschen mit dem harten Herzen erfüllt.

"Immer mehr fallen. Alle kennt man nicht. Viele liegen mit dem Gesicht zur Erde, wohl um nicht in ihrer Todesstunde noch die haßverzerrten Gesichter ihrer Peiniger sehen zu müssen."

Wie grausam – so sein Leben abzuschließen! Diese Volksdeutschen in Polen haben wohl das Größte an Leid, an massenhaftem Leid erlebt, das je geschlossenen Gruppen vom Schicksal zugemutet wurde.

Alle normalen Maßstäbe versagen. Ein paar Leute gelangen am nächsten Morgen in einen Nebenstall, wo eine Kuh mit prallem Euter stand. Lieske trank mindestens zwei bis drei Liter Milch, fiel dann um und schlief.

Am Sonntag, dem 10. September, geschieht ein Wunder. Das erste Essen! Der Herr Hauptmann ist großmütig und gewährt tatsächlich, nachdem etwa 50 bis 70 von der Gruppe erschlagen und erschossen sind, das erste Essen in Form von Zwieback. Nein, so weit ging es doch wieder nicht! Es wurde Suppe gekocht, die Frauen mußten helfen, aber nachdem ein Drittel Suppe bekommen hat, ertönt der Befehl zum Abmarsch. Die anderen zwei Drittel müssen mit dem Anblick und Geruch der Suppe zufrieden sein, müssen Tantalusqualen erleiden und müssen marschieren.

Es kommt in der Hölle des Grauens ein kleiner Lichtblick. Die bisherigen Begleitmannschaften, die "Strelitzen" (Schützen), werden durch [81] Polizei und Hilfspolizei abgelöst. Die benahmen sich etwas besser. Sie haben Räder, lassen diese natürlich von den Volksdeutschen schieben, geben ihnen aber Zigaretten. Bezeichnend die Erfahrung, die so viele machen:

"Rauchen sättigt nicht nur, sondern regt auch ein wenig an und weckt die Lebensgeister."

Seltsam ist diese Stimmung. Man freut sich geradezu. Es ist schönes Wetter, die Straße gut. Die medizinischen Dinge werden von Lieske mit schonungsloser Offenheit berührt, und wir geben sie hier in ihrer ganzen Kraßheit wieder.

"Unsere Wunden und eiternden Füße freuen sich. Die Füße – das ist überhaupt ein Kapitel für sich. Ein Sanitäter hat angefangen, uns nach langen Bitten die Füße einzuschmieren. Ich gehe mit und sehe zu. Manche Frauen haben Löcher in den Füßen, in die man die Spitze des Daumens legen kann, darüber fließt ununterbrochen Eiter. Verbandzeug gibt es nicht. Oder doch: wer Fußlappen hat, reißt einen Streifen davon ab, und diese schmutzigen Leinenlappen sind dann Verband. Ein Mann geht auf allen vieren, so wund und vereitert sind seine Füße. Die Behandlung ist köstlich. Mit einem sarkastischen Grinsen geht der Sanitarjusz der Strzelcys herum und schmiert Jod oder eine braune Salbe auf die Füße. Wer sehr schlimme Füße hat, bekommt Salbe, wer weniger schlimme hat, Jod. Mir wird Salbe angeschmiert, und ich bin sehr froh darüber, denn man denkt, daß es hilft. Aber bald geht es von der guten Straße herunter auf scheußliche Wege: Sand und Löcher. Es ist stockfinster, und die Löcher sind so plötzlich da, daß man regelrecht hineinfällt. Der Schmerz in dem kranken Fuß ist greulich. Man stürzt einfach unversehens 20 bis 30 Zentimeter tief in ein Loch. Der ganze Körper ist so ermüdet, daß man bei solchem Sturz jedesmal beinahe in sich zusammensackt."

Es stellt sich heraus: hier haben Kämpfe stattgefunden. Endlich wird nun einmal des Nachts geschlafen. Morgens um ½5 Uhr das Kommando: "Stiefel aus!" Wieder eine neue Tortur? Aber wieder wandelt die gütige Natur den sadistischen Willen der Polen in Gutes: Der Tau tut den wunden Füßen wohl. Der Grund war diesmal der, daß die Brücke über die Bzura zerstört war und die Verschleppten durch den Fluß waten mußten.

Dies Durchwaten war nicht einfach. Das Wasser ging bis zum Unterleib. Trotz der Angst einiger Frauen, deren Nerven zu stark gelitten hatten, sie würden nicht durchkommen, gelangten schließlich alle hinüber.

Nun spricht wieder die Hygiene: Die meisten tranken ganz unbeherrscht aus dem Wasser der Bzura, obwohl sie wissen mußten, daß Typhusgefahr bestand. Lieske selbst trank nur einen Thermosflaschendeckel voll – aber freilich, auch darin konnte der Tod gesessen haben.

[82] "Es war nichts Besonderes los. So sagt man, wenn der Tag ruhig vergeht, ohne daß ein paar Kameraden erschossen werden."

Mit diesem inhaltsschweren Satz beginnt der Bericht vom Sonntag, dem [10.] September.

Wir werfen wieder einen Blick auf die Geheimnisse der Mechanik des menschlichen Körpers. Kein Zweifel; man kann im Marschieren schlafen oder wenigstens eine schlafersatzähnliche Tätigkeit ausüben. Lieske berichtet, daß er mit den Männern Leschmann, Arnim, Hollatz eine feste Vierer-Marschordnung geschaffen habe. Diese vier konnten sich aufeinander verlassen, sie waren eine auf Gedeih und Verderb verbundene kleine Gemeinschaft.

"Fiel einer oder taumelte er aus der Reihe, so war ihm die Kugel gewiß. Und nur einer konnte den anderen vor dem Erschossen- oder Erschlagenwerden bewahren; dadurch nämlich, daß einer immer wach war und den anderen hielt oder zurückriß."

In solchen Zeiten wird der Mensch gleichsam wieder zum Urmenschen. Wieder spielt sich der Vorgang ab, daß nur ein kleiner Teil das dargebotene Essen bekommt, weil der Befehl zum Abmarsch gegeben wird.

"Ja, auch diejenigen von uns, die essen konnten, mußten so schnell essen, daß es jeder Beschreibung spottet: ich trank das Dünne ab, schüttete die drei oder vier suppigen Salzkartoffeln einfach in die Hand und schlang sie hinunter; man wollte nicht einen Tropfen vom Essen verlorengehen lassen."

Das Heldenepos der Volksdeutschen ist insbesondere auch ein Heldenlied von der deutschen Frau. Die Frauen, das schwächere Geschlecht, an große Märsche weniger gewöhnt als die Männer, haben letzte Kraftreserven hervorgeholt und gezeigt, was sie an Tapferkeit leisten können. In einem Momentbild hat Lieske es so zusammengefaßt:

"Vor uns gehen drei deutsche Frauen, eine Mutter mit ihren beiden erwachsenen Töchtern. Ein Vorbild an Tapferkeit. Die Füße wund, kaum noch weiter könnend, und doch schweigend. Nur die eine schluchzt von Zeit zu Zeit auf, wenn ihr mein Nebenmann, der dauernd einschläft, auf die Beine fällt."

Die Gruppe muß mitten durch Geschützfeuer gehen. Einschläge deutscher Kanonen? Wahrscheinlich! Werden sie nun befreit? Nein, noch nicht. Immer wieder gelingt es den schlauen Polen, sie irgendwo an der Front vorbeizubringen. Nach einer im Zickzackkurs durchwanderten Nacht werden sie wieder in einen hoch mit Mist angefüllten Stall getrieben. Einige haben das Glück, Platz auf dem Heuboden zu finden. Sofort versinken sie in tiefen Schlaf.

[83] Am Mittwoch, dem 13. September, scheint die Sonne. Es kommen ein paar ruhige Stunden. Die Deutschen dürfen sich waschen. "Die Sonne ist wie Medizin."

Wie aber ist die Waschhygiene?

"Man ist beinahe schon zu schlapp, um den Willen aufzubringen: Ich muß mich waschen. Aber man geht dann doch hin, klunkert vor allem die Taschentücher und Fußverbände aus, um endlich einmal Blut und Eiter herauszubekommen. Ich merke, daß mein Taschentuch auch ganz blutig ist, also muß ich wohl mal Nasenbluten gehabt haben. Hier gibt es auch beinahe so etwas wie eine Latrine. Oder ist es vielleicht mehr als ein Hohn? Ich nehme letzteres an, denn sonst könnte man nicht verlangen, daß hundert Leute ihre Notdurft auf einem mäßig großen Steintopf verrichten. Aber wehe dem, der in die Ecke geht. Also heißt es, sich auf den völlig kaputten Rand zu setzen und sein Bestes zu versuchen. Man ist mit der Zeit völlig abgestumpft, und Schmähreden sowie Steine, die geworfen werden, sind uns völlig gleichgültig geworden.

Mittags lächelt das Glück noch mehr. Nachdem ein Jude, der stinkenden Speck angeboten hatte, herausgeworfen worden war, kommt ein anderer und bringt frisches Schweinefleisch. Es scheint zwar auch nicht ganz in Ordnung, "aber der Hunger treibt es hinein", dazu ein paar Pellkartoffeln. Gerade ißt die Gruppe, da kommt der Hauptmann, kippt die Schüsseln mit Essen um und jagt Frauen und Männer mit Fußtritten fort.

Der Marsch geht weiter durch eine Sandwüste. Entsetzlich anstrengend! Bald liegt Geschützfeuer über dem Weg. Man muß halten. Es ist der einzige Wunsch, in die Schlacht zu kommen, um vielleicht von Deutschen gerettet zu werden. Wieder ist der Gedanke an Befreiung verfrüht, nach etwa einstündigem Marsch machen sie kehrt.

Es melden sich jetzt Folgen des plötzlichen "zuviel Essens". In einigen Sätzen wird die "Ernährungslage" von Lieske so zusammengefaßt:

"Es war dies der erste Tag, an dem die meisten von uns außer einem viertel Zwieback und Wasser wirklich etwas in den Magen bekommen hatten. Und das ist uns reichlich schlecht bekommen und stört uns beim Marschieren. Aber das läßt sich nun nicht mehr ändern. Wir sind froh, daß wir im Augenblick Ruhe haben und liegen können."

Es beginnt nun in kalter Nacht eine entsetzliche Pflastertreterei, die wunden Füßen immer mehr Schmerzen bereitet. Arnims Schuhe werden mit Kupferdraht umwickelt. Viele haben ihre Sohlen kaputtgelaufen, viele haben die Schuhe längst verloren oder auch weggeworfen, weil sie unbrauchbar geworden sind.

[84] Jeder Schritt mit dem eiternden Fuß schmerzt furchtbar. Nun dürfen sie sich legen. Alle fangen an, in der Kälte mit den Zähnen zu klappern. Da legen sie sich Rücken an Rücken, um etwas Wärme zu schaffen.

Nun tauchen während des Weitermarsches Halluzinationen auf, Traumgesichte, nur durch den Zustand gleichzeitiger übermäßiger Erregung und Erschöpfung zu erklären. Sie sehen riesige Schloßfassaden, dann reicht jemand Brot, immer wieder sehen sie hohe Fassaden. Dann werden sie unsanft durch Kolben geweckt.

Der Irrmarsch kreuz und quer ermüdet sehr. Schließlich aber wird die Richtung nach Warschau eingeschlagen. Wieder ist Quartier. Es geht einigermaßen. Nun kehrt sich das sinnlose Wüten der Polen gegen sie selbst. Wie vom Wahnsinn geschlagen sind sie. "Die Wachen waren auch nicht mehr so streng, weil ihnen selbst die Füße Kummer machten. Schlapp waren sie ja alle, die uns trieben, und auch von ihnen blieb manch einer liegen."

Ein kleines Beweisstück volkstümlicher Medizin sei der Vergessenheit entrissen: In den Ställen legten sich die Volksdeutschen immer wieder in den Mist, es gab nichts anderes. "Es dauerte keine fünf Minuten und man war wie mit Schweiß übergossen. Aber auch das lernten wir schätzen, denn wir meinten, daß uns die Schwitzkur am Tage sicher die Lungenentzündung oder Erkältung austreiben würde, die wir uns nachts, wenn wir auf der Straße liegen, notwendig zuziehen mußten. Wir waren überhaupt sehr genügsam geworden, so genügsam, daß wir staunten. Wenn wir einen Schluck klares Wasser und ein Stückchen altes, trockenes Brot gehabt hätten, dann wären wir von Herzen dankbar gewesen."

Alle "Bande frommer Scheu" schwanden. Im Stall war ein tiefer Schacht mit einem Kurbelrad. War es ein Brunnen? Nein! Nur ein Jauchebrunnen, in den viele, die zu schlapp waren, herauszugehen, ihr Bedürfnis verrichteten. "Frauen lagen vielleicht zwei Meter davon entfernt, aber auch ihnen war alles gleichgültig. Wir waren überhaupt kaum noch Menschen. Wir waren ein vom Schicksal zusammengeschweißter Klumpen menschlichen Leidens und Elends, von dem ein Teil seine Toten beweinte und der andere Teil sein nahes und baldiges Ende vor Augen sah."

Lieske schaltet in seinen Bericht einige Zeilen der Besinnung und Überlegung ein. Soviel er kombinieren kann, müssen Zehntausende von Verschleppten über diese trostlosen polnischen Gefilde ziehen. Manchmal meint er, nur wenige, vielleicht nur einer, werden überleben, um dies alles einer sogenannten kultivierten Umwelt zu verkündigen. Dann aber klagt er England an. "Wie oft wanderten meine Gedanken nach England, nach dem Land, in dem ich ein ganzes Jahr studiert hatte, und das an diesem unsagbaren Leid unserer Volksgruppe mitschuldig, ja hauptschuldig geworden war. [85] Denn allein an Englands Schutz war Polen größenwahnsinnig geworden, und nur unter Englands Schutz zeigte sich das polnische Untermenschentum in seinem ganzen Umfang und Sadismus."

Wir verschweigen keineswegs gelegentliche fragwürdige Züge, zumal sie psychologisch durchaus begreiflich erscheinen. Nach endlos langem Tag gibt es abends Suppe: Einige Leute stürzen sich so auf die Kanne, daß die Wachthabenden "Aufruhr" wittern, die Kanne herausholen, die Türen schließen und alle hungrig in dumpfer, atemberaubender Stalluft sitzen müssen.

Mitten in der Nacht, um ½1 Uhr, in größter Dunkelheit, kommt der Befehl zum Weitermarsch nach Warschau. Nach furchtbarem Durcheinander des Aufbruches wird getrieben und getrieben. Sieben bis acht Kilometer mußten in der Stunde geschafft werden. Zu leiblicher Not kamen seelische Aufregung und Ärger. Der dicke Polizeiwachtmeister quälte die Deutschen, indem er Greuelmärchen verbreitete, z. B. daß deutsche Soldaten polnische Kinder in Bromberg an die Wand geworfen hätten. Natürlich hieß es auch, die Franzosen hätten den Westwall an zwölf Stellen durchbrochen, Berlin sei mit Erfolg bombardiert usw. Etwas Humor blieb selbst in düsterster Lage. Lieske fragt, wie denn deutsche Soldaten nach Bromberg kamen, wo doch polnisches Militär unmittelbar vor Berlin stände?

Nun zieht die Gruppe in Warschau ein, wohin auch unzählige Polen strömen. Erst werden sie durch Vororte geschleppt. An einer Stelle sagt ein Offizier: "Hier darf keiner durch, hier ist die vorderste Linie." So? Und die Schlacht bei Berlin und das durch die Polen besetzte Ostpreußen?

Sie kommen an das berühmte Gefängnis Pawiak. Eine Megäre von Aufseherin sagt, als sie sich erschöpft niedersetzen: "Sitzen verboten!", und die Aufseher, die erst gutmütig gewesen waren, folgen dieser Megäre.

Im Gefängnis, in dem schon Pilsudski gesessen hatte, wurde es zunächst besser. Es gab Waschwasser und Wasser zum Trinken. Für den Hygieniker aber gibt es doch einiges zu bemerken. Hören wir die Worte Lieskes:

"Zur Ganzwäsche reichte das Wasser nicht, auch konnte man sich nicht recht dazu entschließen. Ich hatte seit 14 Tagen die Sachen nicht mehr vom Leibe gehabt; Schweiß und Staub und Dreck hatten alles verklebt. Nach ganz kurzer Zeit kamen zwei Sanitäter und fragten, wer Durchfall habe. Es meldete sich keiner, nur einige waren da, die seit zehn Tagen überhaupt keine Verdauung mehr gehabt hatten."

"Wie lange würden wir hier sitzen? Ganz egal, nur mal erst heraus aus den Stiefeln und ausgeruht!"

Der Fußboden war ungedielt, eine Art Zement, eisig kalt. Aber wie gut tat das den wunden Füßen! Verkehrte Welt! Kalter Fußboden als Heilmittel!

[86] Ein Gefängniswärter setzt – entgegen den Hoffnungen der Gequälten – die Mißhandlungen fort. Wer sich hinlegte – er kontrollierte häufig –, wurde mit den riesigen, 25 Zentimeter langen Schlüsseln geschlagen. Die Gequälten, die nun im ganzen etwa 320 Kilometer marschiert waren, können es nicht fassen, daß noch keine Atempause eintritt. Die Namen der Volksdeutschen werden notiert, jeder wird gemustert, und der Wärter sagt: "Ihr seid Banditen, und wie Banditen werden wir euch behandeln." Der Wärter befiehlt den Deutschen, in der Zelle auch untereinander polnisch zu reden. Da Polen in der Zelle sind, muß man sich fügen.

Es ist kaum zu fassen, aber wahr, daß bereits eine Stimmung aufkommt: "Wenn wir nur erst weitermarschieren würden!" Nicht ohne Humor ist die Schilderung vom Schluß des Tages, als sie etwas Suppe und Brot bekommen hatten. "Ja, das bißchen Suppe und Brot sind für den Körper eine derartige Anstrengung, daß ich beim Appell ohnmächtig werde. Hollatz bringt mich mit einer fabelhaften Kopfmassage wieder zu mir, und so kann ich denn glücklicherweise bei der abendlichen Musterung einigermaßen stramm stehen und entgehe der Dresche mit den verflixten Schlüsseln."

Gleich die erste Nacht erschienen Wanzen, die einen ganz erklärlichen Hunger hatten, da die Gefängnisse schon seit längerer Zeit evakuiert waren. Dann geht es unter die Brause. Das kostete einem alten Mann das Leben; er bekam einen Herzschlag. Eine dicke Schmutzkruste hatte sich bei allen gebildet, die wurde jetzt abgewaschen. Zum Trocknen standen für achtunddreißig Menschen nur drei Handtücher zur Verfügung.

Während die Deutschen die Einnahme Warschaus vorbereiteten, mehrten sich die Anzeichen der Lebensmittelknappheit in Warschau. Die Gefangenen merkten sie zunächst daran, daß die Suppe im Gefängnis durch Sodazusatz verschlechtert wurde. Das begann am 15. abends, mittags den 16. gab es nur mehr einen halben Liter sehr heißen Sodawassers, in dem einige harte Erbsen schwammen. – "Am Abend machte sich die Folge der Soda bei dem ersten von uns bemerkbar, leider auch bei mir. Wahnsinnige Leibschmerzen, ruhrartiger Durchfall. Und das Schlimmste: wir durften nicht heraus. Also auf die Kübel in der Zelle. Schweiß und Tränen liefen den Leidenden über das Gesicht. Man saß stundenlang mit den wahnsinnigsten Darmkrämpfen auf dem Kübel, doch ohne den geringsten Erfolg. Das ging die ganze Nacht durch. Immer wieder ein anderer. Und dabei überkam uns fast wieder die Verzweiflung. Das konnte ein solch gequälter und erschöpfter Körper nicht aushalten. Dazu gab es ja auch kein anderes Essen, und obgleich Durchfall sofort gemeldet werden mußte, kümmerte sich kein Mensch um uns. Meine Rettung für den Augenblick war mein letzter Zwieback, noch immer einer von jenen zwei berühmten, das Stück zu zwei Zloty gekauft."

[87] Eine traurige Aufgabe bekommt Lieske. Er muß die Internierten aufschreiben. Dazu braucht er zwei volle Tage, von Sonntag, den 17., bis Dienstag, den 19. Er stellt fest: beim Abmarsch waren es etwa 508, andere sagen 518, später 560. Jetzt sind es 322 Männer und 50 Frauen – 188 fehlen. Sie sind wahrscheinlich alle tot.

Ein trauriger Fall: ein Bekannter von Lieske, Konrad aus Neumühl, liegt in einer winzigen Zeile mit drei Pritschen. "Konrad liegt auf seiner Pritsche, ein Bild des Jammers. Der Atem geht ganz kurz. 'Gestern', so sagt er, 'war es noch viel schlimmer, aber da habe ich Herztropfen bekommen, und nun kann ich wenigstens wieder etwas atmen.' Neben ihm steht ein Spucknapf, und die Lunge scheint, dem Auswurf nach zu urteilen, völlig verschleimt zu sein. Das eine Bein ist bis oben herauf dick und rot." Bald ist er tot. –

Von den anderen bekommen die meisten eine Blasenerkältung und ununterbrochen stehen, unter furchtbaren Schmerzen, einige am Kübel. Die Luft in der Zelle ist fürchterlich. Lieske gelingt es endlich, bis zur Ambulanz vorzudringen. Er bekommt eine ordentliche Portion Opium und Tannalbin. Da hat er die Nachtruhe. –

Bald wird die Lage kritisch. Eine Woche vergeht, und während dieser Woche vom 17. bis 24. ist die Hungersnot gestiegen. Auch Wasser gibt es nicht mehr, kein Wasser zum Waschen, keins zum Trinken, nur noch ein Viertelliter Essen. Also beginnt die fürchterliche Qual des Wassermangels wieder. Ein kleines Töpfchen voll Kaffee gibt es. Er ist sehr süß und voll Kaffeegrund. "Aber den Grund schmeißen wir nicht etwa weg. Dazu sind wir viel zu hungrig. Wir nehmen ihn vorsichtig heraus, bestreuen ihn mit Salz und essen ihn mit Löffeln. Das füllt wenigstens den Magen."

In der Nacht vom 22. auf den 23. beginnt das deutsche Trommelfeuer. Alle Furcht, alles Sicherheitsbedürfnis ist unter dem Eindruck des Höllenmarsches nach Warschau so geschwunden, daß Lieske im tollsten Trommelfeuer bei Fackelbeleuchtung und Fliegerangriff schreibt: Warschau brennt überall.

Erneuter Angriff auf Leben und Gesundheit der Volksdeutschen: Die Juden haben dem Gefängnis gegenüber einen Schuppen angesteckt, wohl aus Wut, denn man hatte ihnen in den letzten Tagen kein Brot mehr gegeben. In dem Schuppen scheint Infanteriemunition zu sein, denn von Zeit zu Zeit pufft es ganz lustig in die Höhe. Die Zelle ist hellrot, und es wird angenehm warm. Dafür, daß kein Fenster mehr in den Zellen war, hatten die deutschen Sturzbomber gesorgt.

Noch aber ist die Leidenszeit nicht vorbei. "Der Hunger während der Märsche war noch gar nichts im Vergleich zu dem Hunger jetzt. Man konnte vor Hunger nicht mehr sitzen, auch nicht mehr schlafen, auch nicht mehr lau- [88] fen. Immer dachte man nur an das Essen. Dabei wurden wir zusehends schlapper und in den letzten Tagen auch magerer, das Fleisch fiel förmlich von uns herunter. Die Arme waren ganz stockdünn, die Hände auch nur noch gerade mit Haut überzogen. Das letzte Blut sogen ihnen die Wanzen aus, obgleich sich alle schon so gut schützten, wie es irgend ging. Wir hatten ja Zeit, und so entstanden auch die üblichen Zellenkrankheiten, Zank um jeden Dreck, endlose Gespräche um Sinnlosigkeiten, Beleidigungen, seelische Zusammenbrüche bei dem Gedanken: was machen die zu Hause? Wir fühlten uns gestern abend zum Spaß den Puls: zweiundfünfzig! Und man fand ihn bei den meisten nur nach langem Suchen."

So empfindet es Lieske als freudige Abwechslung, daß er, in Sträflingskleidern, mit einigen anderen Deutschen zur Arbeit herangezogen wird. In einem Teil des Pawiak hatten deutsche Bomben eingeschlagen. Sie mußten dort aufräumen, die völlig zerstückelte Leiche eines Polen aus dem Schutt herauswühlen und dann ein Grab für sechs Mann graben. Dies alles halb verhungert, halb krank, völlig erschöpft. Aber der Kolben des Wärters drohte! Diese Arbeit geschah unter ständigen deutschen Bombenabwürfen. Aber "wir wollten lieber von deutschen Granaten erschlagen als von polnischen Untermenschen zu Tode gequält werden".

"Endlich, um 3 Uhr, gibt es Mittagessen. Das Wasser war so knapp geworden, daß es zwei von unseren Leuten aus den Zentralheizungskörpern herausholen mußten, wo es wohl schon seit Jahren gestanden hatte. Wer davon trank, wurde einige Stunden später erbarmungslos krank und wand sich in fürchterlichen Schmerzen auf dem Kübel."

Das eigentliche Trommelfeuer begann am Dienstag, den 26., abends.

Das Gebäude selbst, das ungeheuer starke Mauern hatte, sprang in die Höhe und tanzte wie die leichteste Bretterbude bei einem Erdbeben.

Und dann spielt sich alles rasch wie im Traume ab. Waffenstillstand... ein Hauptmann erscheint und sagt: "Ihr seid frei. Ihr könnt nach Hause gehen." Der Wärter kommt: "Wollt ihr heute noch gehen?" – "Ja, natürlich." Sie bekommen ihre Papiere. Sie schlagen sich durch zahllose polnische Kontrollen durch, behaupten, sie seien Bauern aus Lowitsch, die evakuiert seien und nun wieder zurückwollten.

Durch das sehr zerschossene Warschau finden sie schließlich hinaus auf die Felder, nehmen aber glücklicherweise die Straße und nicht die unterminierten Felder als Marschroute. Nachts um 2 Uhr stoßen sie auf die ersten deutschen Soldaten. "Heil Hitler!" ist das einzige, was sie hervorbringen können. Es hebt ein Erzählen an, sie werden gut verpflegt, und bald werden sie weiter transportiert, über Blonie nach Breslau und von da nach Bromberg. Die Irrfahrt hat ein Ende. Nun soll der Aufbau beginnen. Nun sollen [89] die erschöpften Leiber und die gequälten Seelen versuchen, wieder Anschluß an die wirkliche Welt zu bekommen und jene traumhaft schwere, fast unwirkliche und doch allzu wirkliche Welt der Schrecken zu vergessen.



Bei Lowitsch aber, wohin diese falschen Lowitscher Bauern nicht zurückkehrten, war der andere Schreckenszug zu Ende gegangen, der Zug der Männer und Frauen aus Bromberg und Umgebung nach Lowitsch, der schließlich auf viertausend angewachsen war, und von dem wir zum Schluß den Bericht aus der Feder des volksdeutschen Arztes Dr. Studzinsky geben, der den Ausklang unserer Anklage bilden möge, unserer Anklage, die zugleich ein Heldenlied auf das ewige Deutschtum bedeutet.

Zuvor seien zur Schilderung dieses größten und gewaltigsten Marsches noch einige Einzelheiten wiedergegeben, wie sie aus mündlichen und schriftlichen Berichten von Hauptschriftleiter Starke stammen, der den Zug von Bromberg aus mitgemacht hat.

Der Zug bewegte sich fast ununterbrochen sechseinhalb Tage und Nächte lang von Bromberg aus. Von anderen Orten, wie Schwetz und Graudenz, stießen dann andere Abteilungen hinzu, so daß die Gesamtzahl die enorme Höhe von viertausend erreichte, die in fünf Abteilungen zu je achthundert Männern und Frauen vorwärts getrieben wurden.

Das Ziel war die Zuckerfabrik Chodzen. Unter den viertausend waren etwa tausend polnische Sozialdemokraten und Kommunisten, Sträflinge und ähnliche Gestalten.

Viele der Teilnehmer hatten nur unzureichende Kleider. Bei manchen kamen schon auf dem ersten 58 Kilometer langen Marsch über Langenau und Schulitz nach Thorn, der nur durch eine zweistündige Rast in Schulitz unterbrochen wurde, die Nägel innen in den Schuhen durch. Ein Mann marschierte in Holzpantoffeln, Frauen und Mädchen in Stöckelschuhen. Herzbeschwerden machten sich bald bemerkbar, und heute noch sterben manche plötzlich an dem Herzleiden, das sie sich auf dem Marsch zugezogen haben. Sie waren mehrere Wochen ohne besondere Beschwerden, um die Wende vom Oktober zum November starben jedoch in Bromberg und Umgebung allein sechs Menschen hintereinander. In Langenau blieb das 76jährige Fräulein Martha Schnee, eine Kusine des bekannten früheren Generalgouverneurs von Deutsch-Ostafrika, Dr. Schnee, liegen, sie war schwer herzleidend und hat furchtbare Erfahrungen mitgemacht. Fräulein Schnee, die als "Mutter der Armen" in Bromberg überall bekannt, geachtet und geliebt war, hatte folgende, für den ärztlichen Blickpunkt besonders bezeichnende Erlebnisse. Am Freitag, dem 1. September, abends, wurde sie in ihrer Wohnung verhaftet und mußte am nächsten Morgen zwischen 5 und 6 Uhr mit den anderen den Marsch [90] antreten. Der Weg ging durch Bromberg, wo der polnische Pöbel bereits gerüstet war für den berüchtigten Bromberger Blutsonntag, an dem etwa 1000 Volksdeutsche in unmenschlicher Weise dahingeschlachtet wurden. Bereits vor dem alten evangelischen Friedhof brach Fräulein Schnee, die seit langem an einem Herzleiden litt, zusammen. Sie wurde im Kraftwagen dem Zuge nachgefahren. Als es Nacht geworden war, kam der Befehl zum Abmarsch in Richtung Schulitz und Thorn.

Fräulein Schnee wurde von der Kameradin Frohwerk, die ihr treulich zur Seite stand, mehr getragen als gestützt. Unterwegs mußte sie sich wiederholt mit dem ganzen Zuge hinwerfen, wenn deutsche Flieger im Schein der Sterne und des glutroten Mondes sichtbar wurden. Als ihre Kräfte mehr und mehr schwanden, wurde sie von zwei Kameraden weitergetragen. In Langenau brach sie zusammen und durfte von Dr. Staemmler ärztlichen Beistand erhalten. Ihre letzte Erinnerung war, daß sie auf einen mit polnischen Flüchtlingen besetzten Ackerwagen gesetzt wurde, dessen Insassen sich zunächst weigerten, die alte deutsche Frau mitzunehmen. Der begleitende Wachmann erzwang aber für sie und sich selbst die Mitnahme. Dann schwanden der Schwerkranken die Sinne.

Sie erlebte bewußt das folgende: In einem Dorfe wurde ihr alles, was sie mit sich hatte, Decke, Wäsche und Lebensmittel, fortgenommen. Ein Soldat führte sie in die nahe Wachstube, wo sie taumelnd auf einen Stuhl sank, von dem sie aber bald fortgejagt und auf ein Aktenregal ohne Lehne als Sitzgelegenheit verwiesen wurde. – Bald wurde sie wieder weitergetrieben, mißhandelt, weitergefahren, mitten im Walde abgesetzt, von einem Flüchtlingswagen mitgenommen.

Zwei Stunden lang mußte sie marschieren, was ihr nur unter Aufbietung der äußersten Kräfte gelang, dann wurde sie von einem Militärauto nach Thorn gebracht. Stundenlang mußte sie mit dem begleitenden Soldaten von Ort zu Ort wandern. Einmal stand sie, sich krampfhaft an einem Gitter festhaltend, und polnische Damen der "guten Gesellschaft", die das sahen, schämten sich nicht, die leidende alte deutsche Frau laut zu verhöhnen und zu beschimpfen.

Sie wurde mit anderen Internierten zusammengebracht. In dunkler Nacht mußte sie auf den Hof. Jedesmal, wenn sie auf die Erde niedersank, wurde sie in roher Weise wieder hochgerissen.

Marschbefehl! Zwei Stunden lang wurde sie von zwei ihr unbekannten Kameraden geschleppt. Dann ging es nicht mehr weiter. Die Kranke blieb auf der Landstraße liegen. Die Kolonne ging weiter. Ein Militärwagen nahm sie mit; nun kam zu dem körperlichen auch noch das seelische Leid: plötzlich [91] machte das Militär Halt und stürmte hinunter aus ein deutsches Dorf, um dort eine tolle Schießerei zu veranstalten. Lauter Jammer wurde in den Kolonistenhäusern hörbar. Eine Männerstimme schrie immer wieder: "Mein Gott, mein Gott, meine Tochter ist eine Leiche!"

In einem größeren Ort, vermutlich Alexandrowo, gab es den Tag über Rast. Aber nur die Soldaten bekamen Kaffee und Gebäck, die Volksdeutschen, auch Fräulein Schnee, mußten hungernd zusehen. Fräulein Schnee war nicht mehr imstande, sich zu erheben. Zwei Soldaten trugen sie auf einen Wagen, der sie auf ein Gut brachte. Dort sind wieder viele Hunderte von Deutschen, darunter viele Frauen. Eine von ihnen hat einen Armschuß erhalten, eine andere ein Auge verloren.

Im Schuppen lag Fräulein Schnee ohne Decke auf der blanken Erde. Im Spital des Hl. Antonius in Woclawec mußte sie eine Zeit verbringen, da sie einfach nicht mehr transportfähig war. In einem dunklen Gang mußte sie auf einem richtigen Strohsack Platz nehmen. Immer wieder stiegen Passanten über sie hinweg. "Soldaten" traten an sie heran und zerrten schmerzhaft an dem Arm der Kranken herum, bis sie fanden und stahlen, was sie suchten: die goldene Armbanduhr. Im Spital blieb sie nun zunächst ganz ohne Essen und Trinken. Als sie die Schwester auf die mit Blut und Eiter völlig beschmutzte Bettwäsche aufmerksam machte, sagte diese nur: "Das ist der Krieg." Ein Arzt sah wohl dann und wann zur Tür herein, näherte sich aber nicht dem Bett der alten Frau.

Am 16. September erschien eine deutsche Militärpatrouille, konnte sie aber noch nicht mitnehmen. Doch am 20. September gelang es ihr, nachdem sie sich mit letzter Kraft zum Bahnhof geschleppt hatte, Anschluß an einen Transport von polnischen Kriegsgefangenen zu finden, und so kam sie dann nach 15stündiger Fahrt nach Bromberg.

Dort wird sie nun gepflegt, und es ist zu hoffen, daß sie dem Leben wieder geschenkt wird. – Man sieht hieran, was selbst ein krankes Herz ertragen kann, wenn es um ein großes Ziel geht!

Die Ernährung auf dem Marsch nach Lowitsch war völlig ungenügend. Zweimal gab es Brot, einmal ein Viertel und einmal ein Achtel für jeden. Dann einmal zwei Birnen, sonst half man sich mit Wrucken. Physiologisch wurde durch die körperlichen und seelischen Leiden, verbunden mit der Hochspannung, der Körper in Unordnung gebracht. Einige hatten die ganze Zeit über keine Verdauung: der Harn war wie Jauche und brannte wahnsinnig. Nicht selten waren auch hier die Fälle von Hungerdelirien, wie wir sie schon kennenlernten. Die mitgeschleppten Polen, Verbrecher und Spione, bekamen freilich eine Sonderkost. – Der Durst war so unnormal angewachsen, daß [92] einige Teilnehmer in Lowitsch Tonkrüge von zwei Litern gierig ergriffen und hinuntertranken, dann noch einen zweiten, und selbst beim dritten hatten sie noch Durst.

Die Gruppe von Hauptschriftleiter Starke wurde etwa neun Kilometer über Lowitsch hinaus nach Warschau zu getrieben, es war die letzte der Gruppen, nachdem die meisten von den 4000 schon durch die Deutschen befreit waren. Die Lage war für die Polen schon kritisch geworden. Sie sagten den achthundert, sie sollten sich oberhalb der "Gromada", der Wiese der Dorfgemeinschaft, lagern. Die polnischen Soldaten waren schon alle verschwunden, nur noch Schützenverbände und POWiaken (Polnische Kriegsorganisationen) waren da. Die achthundert mußten damit rechnen, daß sie im letzten Augenblick noch alle erschossen werden würden, weil die Posten sich auch drücken wollten. Einer gnädigen Fügung des Schicksals verdanken sie, daß es doch nicht mehr dazu kam. Nur der Arzt Dr. Staemmler wurde eine Viertelstunde vor der Befreiung von einem jungen Burschen erschossen. Ergreifende Einzelbilder tun sich auf, wenn man diesen Berichten weiter nachgeht. Ein siebzig Jahre alter Buchhalter, schwerer Asthmatiker, der sich durch Eu-med-Tabletten half, so gut es ging, ohne Mantel, war in Woclawec zusammengebrochen und mußte ins Krankenhaus übergeführt werden. Plötzlich tauchte er wieder auf mit einer Anzahl Bajonettverletzungen; die entmenschten Horden hatten ihn nicht ins Krankenhaus gelassen, sondern weitergetrieben: allerdings war sein Kopf sachgemäß verbunden. Er schlurfte nur noch auf den Knien hinterher und starb dann eines elenden Todes. Drei Säuglinge wurden am Anfang mitgeschleppt – sie lebten nicht lange.

Zu diesem Raubbau an der deutschen Volkskraft kamen die seelischen Qualen, die vielfach zu Halluzinationen, Wahngebilden und Traumgesichten führten. Starke selbst sah immer wieder, wie Brote in einen Ofen geworfen wurden. Wenn einige mit Galgenhumor die Lage zu meistern versuchten, so waren bei manchen die Nerven so überspannt, daß sie sich diese harmlosen Bemerkungen verbaten. Gotthold Starke erzählt, daß sich in Thorn bereits die ersten Geisteserkrankungen bemerkbar machten. Frauen und Männer schrien durcheinander, dazwischen gab es antideutsche Kundgebungen von polnischen Flüchtlingen, die man ihnen mitgegeben hatte. Einmal hatte einer der Begleiter Starkes 44 Erschießungen von Volksdeutschen in einer Nacht gezählt. Wahnsinnig quälte der Durst: ein siebzig Jahre alter Bauer namens Körner, der ihn nicht mehr aushalten konnte, sprang von einer sieben Meter hohen Brücke in die Bzura, wo er beschossen, aber nicht verletzt wurde. Er trank dort aus seinem Hut Wasser und konnte sich dann wieder dem Schluß des Zuges einordnen. Das war ein Glücksfall sondergleichen. Starke selbst wagte nur einige Schlucke Wasser zu trinken. Am Schluß dieses Marsches [93] hat der Arzt Dr. Studzinski, der selbst schwer mißhandelt und blaugeschlagen worden war, nach dem Zeugnis Starkes im Lazarett in Lowitsch bis zum Umfallen viele Schwerkranke behandelt und vor allem die eiternden Fußwunden verbunden. Als Starke durch das Krankenhaus ging, wurde er von dem achtundsechzigjährigen Senator Dr. Busse-Tapodly angerufen. Starke erkannte ihn nicht wieder: durch Steinwürfe und Kolbenschläge war sein Kopf eine blauschwarze, unförmige Masse geworden, aus der nur die bluttriefenden Lippen hervortraten. Dr. Busse-Tapodly war einer der ersten europäischen Viehzüchter. – Hier, in Lowitsch, starb eine Anzahl von Kameraden an Erschöpfung und den Strapazen des Marsches.

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Höllenmarsch der Volksdeutschen in Polen.
Nach ärztlichen Dokumenten zusammengestellt von Dr. Hans Hartmann.