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Das Heldenlied vom Todesmarsch nach
Warschau
Der evangelische Pfarrer Klaus Lieske in Hermannsruhe, Kreis Strasburg,
Westpr., bekommt im Juli 1939 einen Brief, der ihm in den Urlaub nachgeschickt
wird. Darin stehen außer der Adresse folgende zwei Sätze: "Sie
werden aufgefordert, Polen mit Ihren Angehörigen innerhalb
14 Tagen zu verlassen. Im gegenteiligen Falle erfolgt die Vollstreckung der
Todesurteile. Die geheime Hand."
Die polnischen Behörden, denen er den Brief zeigt, kümmern sich
nicht darum. Im August erhält er eine zweite Warnung, und zwar von
einem Angehörigen des polnischen Schützenverbandes, des Strzelec,
er solle Polen verlassen, denn der Verband hätte Auftrag, ihn sobald wie
möglich zu erschießen.
Scriptorium merkt an:
"Als Polen am 24. August teilweise mobilisiert..."
Wie auch
die Aussagen von Uffz. Georg Karl Ludwig, Kattowitz und Leutnant Hans Mauve, Posen beweist dies, daß Deutschland Polen nicht am 1. September 1939 "angriff", wie
es heute immer und immer wieder behauptet wird. Eine Mobilisation der
Streitkräfte eines Landes ist eine de-facto-Kriegserklärung.
Wenn Polen bereits im August seine Mobilisation einleitete, dann war
es Polen, das
damit die erste Kriegshandlung beging. Dies geht auch aus dem Ausspruch
hervor, den Adolf Hitler 8 Tage später, am 1. September, machte:
"Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!" |
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Als Polen am 24. August teilweise mobilisiert, da wird er eingezogen und zu
Hilfsdiensten verwendet. Er muß mit seinem Rade die persönlichen
Gestellungsbefehle zu den Empfängern bringen. Immer wenn zehn
ausgeschrieben waren, wurde ein solcher Bote entsandt.
Am Donnerstag, dem 31. August, hört er abends mit seiner Familie die
bekannte Sondermeldung des deutschen Rundfunks, daß Polen auf die
Vorschläge der deutschen Regierung zur friedlichen Lösung
überhaupt keine Antwort mehr erteilt habe. Da wußten sie: Das
bedeutet den Krieg. Am 1. September bringt er seine Frau und das
neugeborene Mädelchen zu einem Nachbarpfarrer und wird nun interniert.
Einer der Hilfspolizisten, die zum größten Teil Aufständische
waren, fordert ihm den Browning ab und brüllt los: "Jetzt ist es vorbei mit
dem Umherfahren. Jetzt heißt es: 'Wie ihr uns, so wir euch.' Jetzt werdet
ihr alle erschossen." Das geschah aber nicht, vielmehr mußten die bereits
Verhafteten in ein Haus gehen, und es hieß: "Hinsetzen! Abendbrot essen!
Wer aufsteht, wird erschossen." Das war der Anfang der Kette von seelischen
Mißhandlungen, bei denen es diesen polnischen [69] Untermenschen darauf
ankam, die Volksdeutschen immer wieder in Angst und Schrecken zu versetzen,
sie zu entwürdigen. Die Psychiatrie hat dafür nur den Ausdruck
sadistischer Grausamkeit, die diesen Menschen angeboren sein muß, ebenso
wie ihnen der Haß gegen das Deutsche nicht etwa nur von ihrer Regierung
oder den Engländern eingeimpft wurde, sondern ohne Zweifel von Natur
aus vorhanden ist.
Der Todesmarsch, den nun dieser sehr objektive und um die Wahrheit
bemühte Zeuge mitmachen mußte, enthält tausenderlei
Einzelheiten. Schreckliches und immer wieder Schreckliches, und dann
dazwischen erhebende Augenblicke. Der Absicht dieser Schrift getreu, werden
wir das besonders hervorheben, was als Dokument aus der ärztlichen
Sphäre für die Dauer Geltung beanspruchen darf.
Zunächst gab es wieder grauenvolle Ausbrüche der Massenpsychose.
Die Bevölkerung des Dorfes, in dem die Verhaftung stattgefunden hatte,
war alsbald aufgewiegelt worden. Man hatte ihr, wie fast überall in den
Gebieten, wo Volksdeutsche wohnten, in ebenso gehässiger wie
lügnerischer Weise davon erzählt, die Deutschen seien Verbrecher,
Spione und Staatsverräter. Sie gäben, so hieß es an vielen
Orten, den deutschen Fliegern Blinkzeichen und betätigten sich soviel wie
möglich durch Nachrichtenübermittlung aller Art.
Die jungen Kerle in diesem Dorfe, halbwüchsige Burschen von 15 bis 18
Jahren, die auf allen Leidensmärschen den Volksdeutschen am meisten zu
schaffen machten und die Mehrzahl der getöteten volksdeutschen Opfer auf
dem Gewissen haben, hatten sich auch hier mit Beilen, Äxten und Spaten
versehen und standen Spalier, um die Volksdeutschen zu überfallen. Noch
aber fühlte sich die Mehrheit der Wachmannschaften als Wächter
und erfüllte einigermaßen ihre Pflicht. Später setzte dann auch
bei ihnen die bekannte Demoralisierung ein, die sie selbst zu Mördern statt
Wächtern werden ließ.
Die Befürchtung, daß die noch kleine Gruppe im nächsten
Walde erschossen werden würde, erfüllte sich
glücklicherweise nicht. Am Abend wurden sie in einer leerstehenden Fabrik
untergebracht, aber nicht etwa in einem der unteren Räume, sondern, da
man Fliegerangriffe erwartete, im höchsten Stockwerk unmittelbar unter
dem Dach. Wieder wütete also der Sadismus der Polen gegen Wehrlose. In
einem kleinen Raume, etwa 4x4 Meter, wurden sie untergebracht. Die
ganze Nacht konnten sie kein Auge zutun. Es kamen immer wieder neue
Transporte von Volksdeutschen, zunächst kleine Gruppen, zwei oder drei,
dann aber ein größerer Transport. Und nun war es mit dem Liegen
und Sitzen vorbei, nun mußten sie stundenlang stehen. Jammervoll war der
Anblick, zwei Mütter mit Säuglingen auf den Armen [70] waren dabei, unter den
zahlreichen Gutsbeamten waren Leute von über 80 Jahren. Bald
waren es 120 in dem winzigen Raum. Wie gut, daß alle unter dem
gemeinsamen Schicksal standen und sich darin gegenseitig aufrichten konnten.
Niemand durfte an Schlaf und Bequemlichkeit und an die Erhaltung seiner
Gesundheit denken. Eine Gruppe, die aus Rehden und Lessen kam, war aufs
furchtbarste mißhandelt und zerschlagen. Viele Gesichter waren
blutüberströmt, einigen Frauen war die Kopfhaut fast geplatzt, weil
Artilleristen, also wohlgemerkt polnische Soldaten, sie mit der Peitsche bearbeitet
hatten. Ein achtzigjähriger Greis wurde von seinem Enkel getragen, weil er
unter den Kolbenhieben polnischer Soldaten zusammengebrochen war.
Die Luft wurde beängstigend stickig. Die körperlichen Qualen
begannen zu steigen. Keiner konnte heraus und die Notdurft konnte nur in dem
Raume verrichtet werden. Es gehörte insbesondere, wie alle Teilnehmer an
den Leidensmärschen berichten, zu dem Sadismus der Polen, daß sie
Frauen und Männer zwangen, alle Scheu abzulegen, um
größere Gefahr für die inneren Organe und damit für das
Leben zu vermeiden.
Nun beginnt die Verschleppung. Es geht zunächst noch im Autobus nach
Thorn. Alsbald beginnen die Mißhandlungen. Ein polnischer Fliegeroffizier
in Uniform(!) hielt sich mit einer Hand am Autobus fest und gab jedem einen
Tritt mit dem Fuß, begleitet von entsprechenden Ausdrücken: "Du
Schwab, du Hurensohn, du Hitlerowice, du Schwein. Wir werden euch lehren,
Krieg machen."
Immer mehr Volksdeutsche stoßen hinzu, der Zug wächst auf etwa
510 Menschen an. Es waren aber dies nicht alles Volksdeutsche, sondern einige
polnische Flüchtlinge waren meist in diesen Zügen verteilt, die
sollten auch Spitzeldienste leisten und erhielten bevorzugt Essen und Trinken von
seiten der polnischen Begleitmannschaften. In den meisten Zügen wurden
auch aus dem Gefängnis herausgelassene polnische Verbrecher
mitgeschleppt, die natürlich schon durch ihr Dasein die Pein der
Volksdeutschen vermehrten.
Der Zeuge dieses Zuges nach Warschau, dessen schriftlich niedergelegtem
sachlichem und klarem Berichte wir folgen, bemerkt schon an dieser Stelle:
"Dann begann unser Marsch, den man nicht anders nennen kann als den
'Todesmarsch', denn nicht nur, daß viele von unseren besten deutschen
Blutsbrüdern ihr Leben lassen mußten, nein, die Polen verstanden es
auch, die Menschen durch ihre Quälereien geistig und seelisch in einen
mehr oder weniger trostlosen und apathischen Geisteszustand zu versetzen, aus
dem wir Heimkehrer wohl alle erst nach langer Zeit ganz erwachen werden."
So wird, unter dem ärztlichen Blickpunkt, stets ein erschütterndes
Ergebnis der Volksdeutschen Leidensmärsche bleiben: Der Raubbau an der
[71] geistigen und seelischen
Gesundheit dieser Volksdeutschen, die sich nach den Gesetzen des inneren
Lebens nur langsam von all diesem Schrecklichen erholen können. Sind
doch auf allen Zügen eine Anzahl von ihnen in Irrsinn verfallen.
Am 3. September geht der Marsch weiter. Nachts um ½12 erfolgt der
Aufbruch. Es geht von Thorn nach dem berühmten polnischen Solbad
Ciechocinek. Die jungen Burschen, die den Zug begleiten und überwachen,
schreien immer wieder "aufschließen". Und obwohl die Deutschen schon
aufs engste gedrängt marschieren, drängen sie sie immer noch enger
zusammen und helfen mit Bajonetten und Gewehrkolben nach. Die meisten
Volksdeutschen haben sich mit ihrer Kleidung gar nicht auf einen längeren
Marsch eingerichtet, sie haben dünne Socken an, bekommen Blasen und
leiden die ersten Schmerzen. An eine sorgfältige Behandlung solcher
Wunden ist nicht zu denken. Man muß es darauf ankommen lassen, wie ja
überhaupt diese
tage- und wochenlangen Leiden nur ertragen werden konnten in einer fast
traumhaften seelischen Hochspannung, die sich ständig am Rand des Todes
wußte und jeden Augenblick des Lebens als Geschenk empfand, auf das
man eigentlich keinen Anspruch und kein Recht mehr hat.
Wir lesen: "Da liegt die erste Frau vor einem Strzelec auf den Knien. Sie ist
zusammengebrochen und fleht ihn an, laß mich ein wenig ruhen. Der Pole
läßt sich nicht erweichen. Mit dem Bajonett jagt er sie vor sich her
und beschimpft sie in den greulichsten Ausdrücken. Sie
muß mit, sonst ist sie verloren. Alle ahnen, daß jeder, der
zurückbleibt, einfach niedergemacht wird." Wieviel Volkskraft wird
zerstört in diesen Augenblicken, in solchen Tagen des Grauens!"
Wie mit allen Sinnen spüren die armen Volksdeutschen, die da unter dem
Gejohle der Menge durch die Dörfer marschieren müssen, das
stündliche Anwachsen des irrsinnigen Hasses. Aus einem Dorfe
tönen ihnen die Haßrufe entgegen: "Richtig so, schlagt sie alle tot, die
verfluchten Hitlerowcys!" Ein Weib stürzt kreischend auf die
Marschierenden zu und schleudert einen großen Stein unter
unverständlichem Gebrüll in die Menge der schon fast völlig
erschöpften Menschen. Man ist nun schon 30 Kilometer marschiert,
Hunger und Durst stellen sich ein. Es rührt die Polen nicht. Sie haben es ja
auf die Vernichtung der Deutschen abgesehen.
Aber die Natur, die immer auch wieder ihr gütiges Angesicht zeigt, sorgt
offensichtlich für eine rechtzeitige Gegenbewegung in Körper und
Seele der Gequälten. Als ob aus geheimen Urgründen neue
Kräfte aufbrechen und Quellen übermenschlicher Leistung
entspringen, so vermögen diese Menschen etwas zu leisten, was jeder
einzelne von ihnen vorher für unmöglich gehalten hätte. Das
bequeme tägliche Leben mit Schlaf und [72] Mahlzeiten, mit
sorgsamem Wechsel von Ruhe und Anstrengung ist ja vorbei. Für wie
lange noch? Keiner weiß es. Still und stark ist die Hoffnung, daß die
Deutschen kommen und die Stunde der Befreiung naht.
Aber sie kommen noch nicht. Der Weg geht zunächst hinab in immer
größeres Dunkel.
Es meldet sich der Hunger stärker. In dem Städtchen Alexandrowo
kann man die letzten mitgebrachten Vorräte verzehren. Wieder aber
entpuppt sich der krankhafte Sadismus der Polen. Man sammelt 190 Zloty,
und eine von den Frauen geht unter Bewachung in die Stadt, um Lebensmittel zu
kaufen. Freudestrahlend erscheint sie bald mit Brot und Obst. Aber als sie gerade
die Halle betritt, kommt der Herr Hauptmann und beschlagnahmt die
Lebensmittel für seine Leute, die doch wahrhaftig genug zu essen bekamen.
Geld und Essen waren weg. Wenigstens einen Schluck Wasser gibt es.
Die hygienischen Zustände fangen an, fürchterlich zu werden. Nach
langem Anstehen darf man austreten, aber in einem Raum, der völlig
verschmutzt ist. Jeder einzelne sagt sich: "Fest bleiben, wegsehen, es muß ja
die Stunde der Befreiung kommen!"
Im Solbad Ciechocinek ereignete sich, wie Hauptschriftleiter Starke von der
Deutschen Rundschau als Miterlebender berichtet, folgende Szene: Ein
Bromberger, Berhard Schreiber, hat sich mit einer Rasierklinge die Kehle
durchschneiden wollen. Er war eine labile Natur und konnte die Tage des
Schreckens, ohne Aussicht auf sichere Erlösung, nicht ertragen. Er trifft
aber nicht die große Halsschlagader, und es gelingt dem mitmarschierenden
Bromberger Chirurgen Dr. Staemmler, durch Druck mit seinen Fingern die
Blutung zur Verkrustung zu bringen und mit einem Stück Handtuch
abzubinden. Während sich Dr. Staemmler um den Armen
bemühte, brachte es der Kommandant der Wachmannschaften, ein Offizier,
fertig, in brutaler Weise auf Händen und Füßen des Verletzten
herumzutrampeln. Er läßt auf Grund des Vorkommnisses allen
Volksdeutschen Rasierklingen, Taschenmesser und ähnliche Instrumente
abnehmen. Das war ein gewaltiger Verlust, der ihnen das Leben unsäglich
erschwerte. Man lädt nun den Verletzten zunächst auf einen der
begleitenden Wagen und fährt ihn nach Ciechocinek. Dort aber will man
ihn nicht weiter mitnehmen und erschießt ihn kurzerhand.
Wieder einer ist fort... aber weiter geht es, und nun kommt eine Szene, die alle
aufs tiefste erschüttern muß, die noch an die Unantastbarkeit und
Sauberkeit des ärztlichen Bereiches in aller Welt, an die geheime Einheit
des Arzttums glaubten, das sich in der gegenseitigen Achtung der
Heeressanität und des Roten Kreuzes kundtut.
[73] In dem vornehmen
Badeort sind Kurhäuser und Sanatorien in Lazarette verwandelt. Viele
Sanitätsoffiziere und Mannschaften liegen dort. Zahllose Transporte von
Verwundeten fahren auf der gleichen Straße, wo die Volksdeutschen
marschieren, nach dem Badeort. Man führt die Volksdeutschen ohne
besondere Notwendigkeit absichtlich durch das Sanitätsviertel. Da stellen
sich wahrhaftig die Sanitätsoffiziere hin und beschimpfen die Deutschen.
Ein hochgestellter Arzt, wahrscheinlich der Chef der gesamten Sanitäter,
vielleicht ein Generalarzt, ruft den Marschierenden zu: "Was führt Ihr die
Leute noch herum? Stellt sie vors Maschinengewehr, und wenn Ihr Euch das nicht
zu tun getraut, dann gebt sie mir unters Messer!"
Dr. Staemmler sagte zu Starke: "Ein herrlicher Kollege!" Die ganze
Machtlosigkeit der Deutschen offenbart sich darin, daß er diesem Ausbund
von "Arzt" nicht entgegentreten kann, sondern schweigend dieses Zeichen innerer
Verworfenheit über sich ergehen lassen muß.
Am Dienstag, dem 5. [September] 1939, schreibt Pfarrer Lieske: "Das Geschehen der
letzten zwölf Stunden sieht jedem noch aus den Augen. Aber auch an der
Kleidung kann man es sehen. Und wie die Sachen sehen auch die Seelen von uns
aus: Zerrissen, zerguält, von grauenhaftem Erleben erzählend. Vor
mir steht eine Frau. In einem blauen Seidenmäntelchen. Der Rücken
vielleicht gut zwei Hände breit, so schmal und zusammengefallen die ganze
Gestalt. Aschgrau das Gesicht. Die Schuhe verloren, die Seidenstrümpfe
hängen in Fetzen um die Waden. Kreischend, fluchend und essend um uns
herum die Begleitmannschaft."
Es kommt zum ersten Massaker. In einem Raum werden alte Männer
zusammengepfercht, die nicht mehr weiter können. Ohne Zweifel sollen sie
gemordet werden. Man will damit die Verantwortung für sie los sein. Ein
Pole erhebt sich, läuft zum Posten und sagt: "Die wollen da etwas tun, das
mache ich nicht mit." Dieser Pole wird herausgeführt. Polizei und Strzelcy
kommen herein und schlagen zunächst blindlings mit Fäusten und
Revolvern auf die alten Leute los. Bei ihnen ist der Arzt Dr. Braunert aus
Goßlershausen, dessen einziges Verbrechen es gewesen war, daß er
dem alten Goerz geraten hatte, auch auf dem Wagen zu fahren, und daß er
einen Polen gebeten hatte, dies weiterzusagen. Dafür wurde er
erschossen.
In Sekundenschnelle denken die Überlebenden, die sich bereits zum
Weitermarsch aufstellen müssen, an das grauenvolle Schicksal der
Zurückbleibenden. Lieske kann noch gerade folgende Szene in sein
Gedächtnis aufnehmen: Einer von den unbarmherzig Gequälten, der
unter den Kolbenhieben zusammenbrach, schreit laut auf. Er soll die Hände
hinter den Kopf legen. "Ich kann den Arm nicht mehr rühren, der ist ganz
kaputt", so sagt er, aber die Kolben hauen weiter auf ihn ein. "Hoch den Arm!
Schießt [74] den Hund tot!" Damit
verliert Lieske die Gruppe der Gequälten aus den Augen. Es dürfte
keiner von ihnen heute noch leben.
Wieder ist die Natur am Werk. Wilder Durst befällt die
Weitermarschierenden. Lieske hat ein paar Zitronen im Rucksack, aber er
bekommt sie nicht heraus. Eine findet er noch in der Tasche, aber es darf ja nicht
gegessen werden. Vorsichtig nimmt er sie in die hohle Hand und beißt
etwas ab. Doch das ist zu scharf und brennt mehr, als es den Durst stillt. So
heißt es wieder verzichten und die Kraftreserven heranholen, die die Natur
dem Menschen gegeben hat.
Das Trommelfeuer auf Geist und Seele der Marschierenden verstärkt sich.
An jedem Baum müssen sie die Hände auf den Rücken
nehmen und im Dauerlauf vorbeistürzen. Die Nerven, zitternd und aufs
äußerste gespannt von dem vorher Erlebten, versagen den Dienst, und
"die Menschen sind vor Angst wie wahnsinnig. Die Angst treibt sie
vorwärts. Wer hinten ist, drängt vor. Die Alten müssen
geschleppt werden. Aber wehe, wenn einer der Schleppenden auch nur einen
Schritt zurückbleibt! Dann setzt es Bajonettstiche. Wer liegenbleibt, wird
unbarmherzig mit dem Kolben bearbeitet, bis er wieder aufspringt und unter den
Stichen der Bajonette nach vorne jagt. 'Seht, wie der Hund jetzt noch laufen
kann!' rufen sie. Und dann bleibt er vielleicht bald liegen, um erschlagen zu
werden."
Polnische Soldaten kommen vorbei und rauben den Volksdeutschen, soviel sie
können. Dann schießen sie blindlings in die Deutschen hinein. Sie
hatten ja nur Niederlagen erlitten. Da wollten sie auch einmal Siege
erfechten – solche
Siege! – und töten und metzeln. Das gelang ihnen auch vollkommen.
Einer der Verwundeten hat einen Handschuß. Auf ihm liegen andere.
Sinnlos vor Schmerz springt er auf, um im gleichen Augenblick erschossen zu
werden. Eine Frau verliert die Nerven: "Schießt mich doch schon tot!
Quält mich doch nicht so! Schießt mich tot, schießt mich
endlich tot!" So dreimal, dann bekommt auch sie die erlösende Kugel.
Für den und jenen war der Wahnsinn die letzte Rettung aus der
Unerträglichkeit der Leiden.
Wieder setzt der Sadismus der Polen ein. Lieske kommt rückschauend zu
der Überzeugung, daß die Polen eine Falle gestellt haben. Es hatte
nämlich ein Offizier auf die ausschwärmenden polnischen
Begleitmannschaften geschossen, und die Volksdeutschen dachten, es sei ein deutscher
Offizier. Einige flohen. Diese wurden dann alle
niedergemetzelt. Eine teuflische Erfindung polnischer Verworfenheit! Von vorne
schießt die Infanterie mit einer Revolverkanone, von hinten der
Polizeiwachtmeister mit einer Maschinenpistole, dazwischen die Strzelcy mit
ihren Karabinern. In diesem dreifachen Mordfeuer ruft ein Deutscher,
Hölzel, aus Birkeneich: "Das ist ja [75] Verrat!" Der Hauptmann
stürzt auf ihn und schießt ihm eine Kugel durch die Brust. Da ruft er:
"Wenn ihr schon schießt, dann schießt mich richtig tot!" Da jagt ihm
der Hauptmann wieder persönlich eine Kugel durch den Kopf.
Die Kriminalpsychologie und -pathologie wird vielleicht mit Recht behaupten, der
Ausdruck Mörder sei für diese Menschenschlächter zu schade.
Der Mörder sucht sich doch fast stets ein einziges Opfer aus. Hier aber ist
der Blutrausch aufs höchste gesteigert gewesen. Schließlich
lädt man die noch lebenden Verwundeten auf einen Wagen, die aber, die im
Glauben an das Herankommen deutschen Militärs geflüchtet waren,
werden erschossen.
Lieske muß sich zwingen, nicht nach Hause zu denken. So weit ist es schon,
daß der Gedanke nach Hause zum unerträglichen Schmerz wird.
Tapfer benehmen sich die Frauen, überraschend tapfer. Wenn es durch
Schluchten geht, besonders an dunklen Stellen, heißt es: "Hände auf
den Rücken und Dauerlauf!" Und dann wird unbarmherzig geschlagen und
erschlagen, geschossen und erschossen und ermordet. "Ein anderer Kamerad wirft
sich etwa fünf Schritt vor mir vor ein vorbeifahrendes Militärauto.
Das Auto hält kurz an. Fragt. 'Schwab' ist die Antwort. Das Auto rollt
über ihn hinweg. Der Wahnsinn feiert Orgien. Ein älterer Mann, der
nicht weiter kann, erhält mit dem Kolben einen Schlag in die Nierengegend,
der die Niere schwer verletzt. Dann schießt man ihn tot." Sein Sohn ist
dabei. Die anderen verdursten fast. Die Natur ringt ihnen und damit sich selbst das
letzte an Kraft des Ertragens ab. Eng zusammengepfercht sind die Volksdeutschen
in einem Stall. Zwei Verwundete sind unter ihnen, einer hat einen Schuß
durch einen Fuß, ein anderer einen schrecklichen, zwei Finger dicken
Streifschuß am Kopf. Sie können den Durst kaum aushalten.
Erschossen werden oder verhungern und
verdursten – dies scheint jetzt die einzige Frage zu sein. Der Hunger wird so
unerträglich, daß Pfarrer Lieske in den Pferdekrippen nach
Körnern sucht. Alles ist leer. Er entdeckt auf dem Fußboden im Mist
verstreute Weizenkörner. Sorgfältig liest er ein paar Hände
voll zusammen, pustet Schmutz und Sand heraus und verzehrt sie.
Die Stimmung kam so auf den Nullpunkt, daß sie mit den einfachsten
Mitteln zu heben war. Am nächsten
Morgen – es ist jetzt der
6. September – wird endlich wieder der Durst gestillt. Einige der
Frauen bringen etwas Tee in einem großen Kübel, in den einfach
Wasser zugegossen wird. Jeder erhält den Deckel einer Thermosflasche
nicht ganz voll. Das ist schon ein wahres Fest! Der Herr Hauptmann sagt zu
einem Volksdeutschen, sie sollten Geduld haben, bald kämen sie in das
Lager, das Ziel ihres Marsches. [76] Diese Nachricht, nur
indirekt durch den Mittelsmann den Deutschen kundgetan, elektrisiert sie
geradezu, und Lieske glaubt bemerken zu dürfen:
"Die Stimmung hob sich, trotz Hunger und Durst und des Schreiens der
Verwundeten, die auch nicht einmal mit den primitivsten Mitteln versehen
worden waren."
Es gehörte zu den verbrecherischen Methoden, mit denen die Polen den
ganzen Marsch der Volksdeutschen in Bewegung gesetzt haben, daß nicht
im geringsten für ärztliche Hilfe gesorgt war. In den meisten
Gruppen fehlten auch volksdeutsche Ärzte oder Sanitäter, immer
fehlten Medikamente. Wo aber volksdeutsche Ärzte waren, wurden sie an
ihrer Tätigkeit fast völlig gehindert. Wahrhaftig, auch in
ärztlicher und sanitärer Beziehung ist dieser Marsch der
Volksdeutschen ein einmaliges Ereignis in der Weltgeschichte gewesen. So
lautete denn auch der Bericht Lieskes weiter:
"Der Zustand der Verwundeten war entsetzlich. Fieber und Schmerzen machten
die armen Menschen bald verrückt, dazu hingen auch schon die ersten
Maden an den Wundrändern. Man lud sie auf einen Kastenwagen und fuhr
davon."
Wieder ein Fall von Sadismus: Der "Herr Wachtmeister" nahm 300 von den
Volksdeutschen gesammelte Zlotys, um Einkäufe zu machen und dabei
auch einige Sonderwünsche zu befriedigen. Er erschien zunächst
nicht wieder; als er abends kam, nahm er Leibesvisitation vor, raubte alles
mögliche, darunter einige so wertvolle Füllhalter, das Geld war aber
fort.
In dieser Fülle von Bedrängnissen und Martern mutet eine kleine
Schilderung wie die folgende wie ein Miniaturbild an. Der Marsch geht
weiter.
"Gleich hinter dem Vorwerk hängte sich ein Mann auf mich, ein
bedauernswertes Geschöpf. Beide Füße durchgelaufen, schwer
schwindsüchtig. Er schlang den Arm um meine Schulter, voller Todesangst.
Bloß nicht liegenbleiben! Unglücklicherweise vertrat ich mir dabei
das Knie. Der durchgelaufene Fuß hatte inzwischen auch angefangen zu
eitern; der eine Nagel war vollkommen abgerissen. Bald fand ich Hilfe für
die Schlepperei, und es ging weiter. Stunde um Stunde verging."
Sonst im Leben achten wir ängstlich auf jede beginnende
Entzündung, sonst im Leben warnen wir Lungenkranke vor jeder
Überanstrengung: das alles galt jetzt nicht. Alles ärztliche Denken
mußte zurücktreten hinter dem einen, bodenlosen, endlosen,
hoffnungslosen oder doch nur von leisestem Hoffnungsschimmer belebten
Kampfe um das nackte Dasein. Und nicht nur die Schwachen nahmen Schaden an
ihrer Gesundheit, auch die Starken waren, ganz abgesehen von der
ständigen Gefahr des Ermordetwerdens, gesundheitlich in der
größten Gefahr.
[77] "Das Mahlen im dem
feuchten Sand, dazu das Schleppen von Kameraden, die nicht mehr konnten, und
der Staub in der Lunge konnten schon den stärksten Mann mürbe
machen."
Zu allem Unglück machte ein jüngerer Mann den Deutschen schwer
zu schaffen. Er benahm sich wie ein Verrückter. Er schimpfte laut: "Ich
habe es nicht nötig, mich so treiben zu lassen. Ich will nach Hause. Ich
kann nicht mehr. Die verfluchten Kerle." Die Polen wollten ihn heraushaben und
wären sehr rasch mit ihm fertig geworden, man mußte ihn schleppen
wie ein Kind, obwohl er einen Kopf größer war als die anderen.
Schließlich gelang es, ihn durch die Nacht zu bringen. So hatte man neben
allen anderen Sorgen auch noch diese.
Dieser Nachtmarsch war so anstrengend, daß selbst einer der
Begleitmänner, die sich doch wahrhaftig gut pflegen konnten mit Essen,
Trinken und Ablösen, einfach umfiel und liegenblieb.
Die nächsten Stunden mußten die Volksdeutschen in einem
Schafstall auf ganz frischem Schafmist verbringen, der eine ungeheure Hitze
entfaltete. Macht nichts... Gesundheit ist Nebensache, es geht ums Letzte. Ein
Thorner Bürger namens Steffen wäscht sich ein wenig. Die anderen
sehen zu. An seinem Kopf und Leib ist kaum noch ein weißer Fleck zu
sehen. Der ganze Körper war von den Polen blutrünstig geschlagen
worden, weil er angeblich den deutschen Fliegern Zeichen gegeben hatte. Um in
dieser grauenvollen Atmosphäre Luft holen zu können, meldete sich
Lieske, austreten zu dürfen. Kaum ist er draußen, wird er von dem
polnischen Pöbel mit Steinen beworfen und muß schleunigst
zurück in den Schafstall.
Abwechslung bringt das Herannahen einer weiteren Truppe von 42 verschleppten
Deutschen. Viele gehen an die Fenster, obwohl das bei Todesstrafe verboten war,
und sehen dem Einmarsch der Neuen zu. Es sind nun etwa
560 Leidensgefährten.
Die ganze Nacht zum 8. September geht es die endlose Straße weiter.
Am 9. September, als der
Polenfeldzug grundsätzlich schon entschieden ist,
winkt ihnen immer noch nicht die Erlösung. Haben sich die Kräfte
wirklich verdoppelt, verzehnfacht? Es scheint so!
"Die Müdigkeit wuchs von Nacht zu Nacht. Der kranke Fuß
schmerzte schauderhaft. Am schlimmsten aber war es, wenn man immer wieder
beim Marschieren einschlief und dann durch einen Kolbenstoß geweckt
wurde."
Eine merkwürdige Bereitschaft des Körpers: Wie es von den
Soldaten im Trommelfeuer heißt, sie könnten sekundenweise
schlafen, so auch hier. Die Natur hilft sich, holt das Letzte an
Abwehr- und Schutzkräften aus sich heraus.
[78] Wieder ein Vorgang, der
sich hygienisch ungünstig auswirkt. Die Unterschiede zwischen Tag und
Nacht machen sich bemerkbar. "Am Tage auf dem glühendheißen
Mist, in der Nacht auf der taukalten Straße." Die Folge waren schmerzhafte
Erkältungen, die mangels sämtlicher sanitärer Einrichtungen
natürlich nicht wegzubekommen waren. Noch vor Morgengrauen kommen
sie in die Stadt Kutno. Sie werfen sich einfach auf die schmutzige Straße
und schlafen sofort ein. Welcher Raubbau, welches Wüsten mit
menschlicher Kraft und Gesundheit! Die Polen wollen die Hitlerowcys ausrotten.
Nun handelt es sich darum, mit Klugheit und List, mit härtester Selbstzucht
und Unnachgiebigkeit durchzuhalten bis zum Tag der Freiheit.
Die Gruppe steht bei Kilometerstein 109 vor Warschau. Mehr und mehr wird ihr
klar, daß sie mindestens diese 109 Kilometer noch wird marschieren
müssen.
Am 9. September früh um 6 Uhr werden sie in einem Pferdestall mit
dampfendem Mist untergebracht. Sie wollen ruhen, bekommen als Labsal auch
für jeden drei Pflaumen. Aber nach gut zwei Stunden heißt es:
Weitermarschieren. Also wieder: Das letzte an Kraft hergeben! Wer nicht
mitkann, wird erschossen. Erschütternd ist der Inhalt dieser kurzen
Sätze: "Wer hinten war, bekommt nicht nur die meisten Püffe,
sondern mußte auch immer die Kranken und Zusammenbrechenden
schleppen, die immer weiter nach hinten abgeschoben wurden, bis keiner mehr da
war als unsere Begleitmannschaften, und diese prügelten sie dann eben zu
Tode."
Es gehört viel Festigkeit des Herzens dazu, dies zu lesen und sich die
Vorgänge genau vorzustellen. Es gehört aber mindestens ebensoviel
innere Standhaftigkeit dazu, angesichts solcher Verworfenheit den Glauben an das
Leben nicht zu verlieren. Gibt es doch ein ungeschriebenes Gesetz fast
überall in der Welt, sicher aber bei allen, die sich Kulturvölker
nennen, und dies Gesetz lautet: Achtung vor den kranken Menschen, Hilfe
für den kranken und verwundeten Feind, ja selbst der erkrankte Verbrecher
oder Mörder wird vom Gefängnisarzt noch gepflegt und geheilt. Hier
aber schwieg die leiseste Stimme des menschlichen Gewissens. Die sittliche
Weltordnung wurde von den Polen ins Wanken gebracht. Sie haben das mit dem
Untergang ihres Staates und ihres selbständigen Volkslebens bezahlen
müssen.
Es erfolgt wieder ein Ausbruch polnischen Hasses an diesem Tage. Die Posten
jagen und schlagen die Gequälten.
"Die Augen quellen hervor, die Zunge brennt, unter der Zunge ist das Fleisch dick
und geschwollen. Aber nicht ein Tropfen Wasser, immer nur [79] vorwärts! Die
ersten älteren Leute brechen zusammen. Ein Bild, das jetzt am Tag in dem
leuchtenden Sonnenschein noch viel furchtbarer ist als nachts.
Mit offenen Augen liegen sie da, das Gesicht verzerrt, die Lungen keuchen, wir
werden so vorwärtsgetrieben, daß wir es nicht vermeiden
können, auf die Gestürzten zu treten, sie zu überrennen.
Manch einer hat noch die Kraft, aufzuschreien, wenn andere auf ihn trampeln, die
meisten haben schon vor Erschöpfung die Sinne verloren. Man kann das als
eine Gnade bezeichnen, die ihnen geschenkt ist. Denn hinter uns wütet der
Mob."
Unter dem aufpeitschenden Lachen und Höhnen der Bevölkerung
verstärkt sich der sadistische Blutrausch der Mörderbanden.
"Hinter uns das Geschrei der Gequälten und Erschlagenen, vor
uns – wer weiß es, und so weit darf man gar nicht denken. Die
Hemden hängen den meisten in Fetzen um den Leib. Bajonettstiche und
Kolbenschläge haben sie heruntergerissen."
Nun kommt ein Stück Bahnfahrt – aber nicht lange. Denn deutsche
Flieger haben die Gleise und Bahnhöfe zerstört und so ungewollt den
Deutschen ihr Schicksal noch
erschwert – sie mußten es eben tragen um der größeren
Sache willen. Die Sonne brennt auf den Waggon, neue gesundheitliche
Schäden treten auf. Ein Kleidungsstück nach dem andern
reißen sie herunter, aber nichts bringt die ersehnte Linderung. Das Herz
macht einfach nicht mehr mit.
"Man möchte aufspringen und mit den Armen um sich schlagen... der Durst
ist zum Wahnsinnigwerden. Die letzte Flüssigkeit haben wir ausgeschwitzt,
unsere Hände sind pitschnaß und vom Staub der Landstraße
schwarz. Unsere Gesichter sind staubig und verfallen, der Schweiß hat seine
Spuren hineingezeichnet, wie man Wege auf eine Landkarte zeichnet, wir sind
kaum noch zu erkennen. Verzerrt die Gesichter, weit offen der Mund, keuchend
der Atem."
Der Zug hält ab und zu. Die Hitze wird unerträglich. Es gibt immer
noch kein Wasser.
Das ist das Bild des Menschen, der Krone der Schöpfung. Einige
bekommen Tobsuchtsanfälle, reißen die Luken von den
geschlossenen Güterwagen, in denen sie sich befinden. Dann gibt es wieder
Spießrutenlaufen. Um ½5 Uhr nachmittags müssen sie
heraus und unter
Bajonett- und Kolbenhieben und anderen Quälereien über das Feld
laufen. Ein Strzelec schlägt Lieske mit dem Karabiner quer über den
Rücken.
"Ich stürze ein paar Schritt vorwärts, bin aber gegen den Schmerz
scheinbar schon völlig abgestumpft, denn ich fühle es gar nicht
mehr."
[80] Das alles ist
möglich. Wo bleiben die Gesetze der Physiologie? Es muß doch so
sein, daß der Körper einfach bei vollem Bewußtsein eine
Schutzhülle schafft, die gegen Schmerz fast unempfindlich macht.
Ein Bild des Grauens. Die Bahnstrecke ist vollkommen von Bomben
zerstört, blutige Watte und Verbandzeug liegen herum. Nun müssen
sie wieder laufen, und wieder werden viele Zusammenbrechende
abgeschossen.
Der Hunger und Durst sind aber so unerträglich, daß trotz der
Lebensgefahr einige aus der Reihe auf die Felder herausspringen und an
Früchten herausreißen, was sie bekommen können.
Bezeichnend ist die Wirkung der einzelnen Feldfrüchte in dieser Lage des
völligen Verdurstetseins; darüber gibt es ja sonst keine Erfahrungen.
Und die einfachen Feststellungen, die Lieske trifft, mögen als ein Teil des
Heldenepos betrachtet werden, das von dem Zug der Verdammten in Polen
spricht.
"Wohl dem, der eine Möhre oder gar eine Gurke erwischt. Das stillt ein
wenig den Durst. Aber die roten Rüben und Zuckerrüben brennen
unerträglich im Hals, außerdem rebelliert der Magen dagegen. Ich
verspeise rohe Kartoffeln, die schmecken scheußlich, aber man hält
es vor Durst nicht mehr aus."
Wie entsetzlich sind die folgenden Stunden! Man kommt durch ein Dorf, das
noch Erntefest abhält. Aber keine Bitte um Wasser wird von diesen
Menschen mit dem harten Herzen erfüllt.
"Immer mehr fallen. Alle kennt man nicht. Viele liegen mit dem Gesicht zur Erde,
wohl um nicht in ihrer Todesstunde noch die haßverzerrten Gesichter ihrer
Peiniger sehen zu müssen."
Wie grausam – so sein Leben abzuschließen! Diese Volksdeutschen in Polen
haben wohl das Größte an Leid, an massenhaftem Leid erlebt, das je
geschlossenen Gruppen vom Schicksal zugemutet wurde.
Alle normalen Maßstäbe versagen. Ein paar Leute gelangen am
nächsten Morgen in einen Nebenstall, wo eine Kuh mit prallem Euter stand.
Lieske trank mindestens zwei bis drei Liter Milch, fiel dann um und schlief.
Am Sonntag, dem 10. September, geschieht ein Wunder. Das erste Essen! Der
Herr Hauptmann ist großmütig und gewährt tatsächlich,
nachdem etwa 50 bis 70 von der Gruppe erschlagen und erschossen sind, das erste
Essen in Form von Zwieback. Nein, so weit ging es doch wieder nicht! Es wurde
Suppe gekocht, die Frauen mußten helfen, aber nachdem ein Drittel Suppe
bekommen hat, ertönt der Befehl zum Abmarsch. Die anderen zwei Drittel
müssen mit dem Anblick und Geruch der Suppe zufrieden sein,
müssen Tantalusqualen erleiden und müssen marschieren.
Es kommt in der Hölle des Grauens ein kleiner Lichtblick. Die bisherigen
Begleitmannschaften, die "Strelitzen" (Schützen), werden durch [81] Polizei und Hilfspolizei
abgelöst. Die benahmen sich etwas besser. Sie haben Räder, lassen
diese natürlich von den Volksdeutschen schieben, geben ihnen aber
Zigaretten. Bezeichnend die Erfahrung, die so viele machen:
"Rauchen sättigt nicht nur, sondern regt auch ein wenig an und weckt die
Lebensgeister."
Seltsam ist diese Stimmung. Man freut sich geradezu. Es ist schönes
Wetter, die Straße gut. Die medizinischen Dinge werden von Lieske mit
schonungsloser Offenheit berührt, und wir geben sie hier in ihrer ganzen
Kraßheit wieder.
"Unsere Wunden und eiternden Füße freuen sich. Die
Füße – das ist überhaupt ein Kapitel für sich. Ein
Sanitäter hat angefangen, uns nach langen Bitten die Füße
einzuschmieren. Ich gehe mit und sehe zu. Manche Frauen haben Löcher in
den Füßen, in die man die Spitze des Daumens legen kann,
darüber fließt ununterbrochen Eiter. Verbandzeug gibt es nicht. Oder
doch: wer Fußlappen hat, reißt einen Streifen davon ab, und diese
schmutzigen Leinenlappen sind dann Verband. Ein Mann geht auf allen vieren, so
wund und vereitert sind seine Füße. Die Behandlung ist
köstlich. Mit einem sarkastischen Grinsen geht der Sanitarjusz der Strzelcys
herum und schmiert Jod oder eine braune Salbe auf die Füße. Wer
sehr schlimme Füße hat, bekommt Salbe, wer weniger schlimme hat,
Jod. Mir wird Salbe angeschmiert, und ich bin sehr froh darüber, denn man
denkt, daß es hilft. Aber bald geht es von der guten Straße herunter
auf scheußliche Wege: Sand und Löcher. Es ist stockfinster, und die
Löcher sind so plötzlich da, daß man regelrecht
hineinfällt. Der Schmerz in dem kranken Fuß ist greulich. Man
stürzt einfach unversehens 20 bis 30 Zentimeter tief in ein Loch. Der
ganze Körper ist so ermüdet, daß man bei solchem Sturz
jedesmal beinahe in sich zusammensackt."
Es stellt sich heraus: hier haben Kämpfe stattgefunden. Endlich wird nun
einmal des Nachts geschlafen. Morgens um ½5 Uhr das
Kommando: "Stiefel aus!" Wieder eine neue Tortur? Aber wieder wandelt die
gütige Natur den sadistischen Willen der Polen in Gutes: Der Tau tut den
wunden Füßen wohl. Der Grund war diesmal der, daß die
Brücke über die Bzura zerstört war und die Verschleppten
durch den Fluß waten mußten.
Dies Durchwaten war nicht einfach. Das Wasser ging bis zum Unterleib. Trotz der
Angst einiger Frauen, deren Nerven zu stark gelitten hatten, sie würden
nicht durchkommen, gelangten schließlich alle hinüber.
Nun spricht wieder die Hygiene: Die meisten tranken ganz unbeherrscht aus dem
Wasser der Bzura, obwohl sie wissen mußten, daß Typhusgefahr
bestand. Lieske selbst trank nur einen Thermosflaschendeckel
voll – aber freilich, auch darin konnte der Tod gesessen haben.
[82] "Es war nichts
Besonderes los. So sagt man, wenn der Tag ruhig vergeht, ohne daß ein paar
Kameraden erschossen werden."
Mit diesem inhaltsschweren Satz beginnt der Bericht vom Sonntag, dem
[10.] September.
Wir werfen wieder einen Blick auf die Geheimnisse der Mechanik des
menschlichen Körpers. Kein Zweifel; man kann im Marschieren schlafen
oder wenigstens eine schlafersatzähnliche Tätigkeit ausüben.
Lieske berichtet, daß er mit den Männern Leschmann, Arnim, Hollatz
eine feste Vierer-Marschordnung geschaffen habe. Diese vier konnten sich
aufeinander verlassen, sie waren eine auf Gedeih und Verderb verbundene kleine
Gemeinschaft.
"Fiel einer oder taumelte er aus der Reihe, so war ihm die Kugel gewiß.
Und nur einer konnte den anderen vor dem
Erschossen- oder Erschlagenwerden bewahren; dadurch nämlich, daß
einer immer wach war und den anderen hielt oder
zurückriß."
In solchen Zeiten wird der Mensch gleichsam wieder zum Urmenschen. Wieder
spielt sich der Vorgang ab, daß nur ein kleiner Teil das dargebotene Essen
bekommt, weil der Befehl zum Abmarsch gegeben wird.
"Ja, auch diejenigen von uns, die essen konnten, mußten so schnell essen,
daß es jeder Beschreibung spottet: ich trank das Dünne ab,
schüttete die drei oder vier suppigen Salzkartoffeln einfach in die Hand und
schlang sie hinunter; man wollte nicht einen Tropfen vom Essen verlorengehen
lassen."
Das Heldenepos der Volksdeutschen ist insbesondere auch ein Heldenlied von
der deutschen Frau. Die Frauen, das schwächere Geschlecht, an große
Märsche weniger gewöhnt als die Männer, haben letzte
Kraftreserven hervorgeholt und gezeigt, was sie an Tapferkeit leisten
können. In einem Momentbild hat Lieske es so zusammengefaßt:
"Vor uns gehen drei deutsche Frauen, eine Mutter mit ihren beiden erwachsenen
Töchtern. Ein Vorbild an Tapferkeit. Die Füße wund, kaum
noch weiter könnend, und doch schweigend. Nur die eine schluchzt von
Zeit zu Zeit auf, wenn ihr mein Nebenmann, der dauernd einschläft, auf die
Beine fällt."
Die Gruppe muß mitten durch Geschützfeuer gehen.
Einschläge deutscher Kanonen? Wahrscheinlich! Werden sie nun befreit?
Nein, noch nicht. Immer wieder gelingt es den schlauen Polen, sie irgendwo an
der Front vorbeizubringen. Nach einer im Zickzackkurs durchwanderten Nacht
werden sie wieder in einen hoch mit Mist angefüllten Stall getrieben.
Einige haben das Glück, Platz auf dem Heuboden zu finden. Sofort
versinken sie in tiefen Schlaf.
[83] Am Mittwoch, dem 13.
September, scheint die Sonne. Es kommen ein paar ruhige Stunden. Die
Deutschen dürfen sich waschen. "Die Sonne ist wie Medizin."
Wie aber ist die Waschhygiene?
"Man ist beinahe schon zu schlapp, um den Willen aufzubringen: Ich muß
mich waschen. Aber man geht dann doch hin, klunkert vor allem die
Taschentücher und Fußverbände aus, um endlich einmal Blut
und Eiter herauszubekommen. Ich merke, daß mein Taschentuch auch ganz
blutig ist, also muß ich wohl mal Nasenbluten gehabt haben. Hier gibt es
auch beinahe so etwas wie eine Latrine. Oder ist es vielleicht mehr als ein Hohn?
Ich nehme letzteres an, denn sonst könnte man nicht verlangen, daß
hundert Leute ihre Notdurft auf einem mäßig großen Steintopf
verrichten. Aber wehe dem, der in die Ecke geht. Also heißt es, sich auf den
völlig kaputten Rand zu setzen und sein Bestes zu versuchen. Man ist mit
der Zeit völlig abgestumpft, und Schmähreden sowie Steine, die
geworfen werden, sind uns völlig gleichgültig geworden.
Mittags lächelt das Glück noch mehr. Nachdem ein Jude, der
stinkenden Speck angeboten hatte, herausgeworfen worden war, kommt ein
anderer und bringt frisches Schweinefleisch. Es scheint zwar auch nicht ganz in
Ordnung, "aber der Hunger treibt es hinein", dazu ein paar Pellkartoffeln. Gerade
ißt die Gruppe, da kommt der Hauptmann, kippt die Schüsseln mit
Essen um und jagt Frauen und Männer mit Fußtritten fort.
Der Marsch geht weiter durch eine Sandwüste. Entsetzlich anstrengend!
Bald liegt Geschützfeuer über dem Weg. Man muß halten. Es
ist der einzige Wunsch, in die Schlacht zu kommen, um vielleicht von Deutschen
gerettet zu werden. Wieder ist der Gedanke an Befreiung verfrüht, nach
etwa einstündigem Marsch machen sie kehrt.
Es melden sich jetzt Folgen des plötzlichen "zuviel Essens". In einigen
Sätzen wird die "Ernährungslage" von Lieske so
zusammengefaßt:
"Es war dies der erste Tag, an dem die meisten von uns außer einem viertel
Zwieback und Wasser wirklich etwas in den Magen bekommen hatten. Und das
ist uns reichlich schlecht bekommen und stört uns beim Marschieren. Aber
das läßt sich nun nicht mehr ändern. Wir sind froh, daß
wir im Augenblick Ruhe haben und liegen können."
Es beginnt nun in kalter Nacht eine entsetzliche Pflastertreterei, die wunden
Füßen immer mehr Schmerzen bereitet. Arnims Schuhe werden mit
Kupferdraht umwickelt. Viele haben ihre Sohlen kaputtgelaufen, viele haben die
Schuhe längst verloren oder auch weggeworfen, weil sie unbrauchbar
geworden sind.
[84] Jeder Schritt mit dem
eiternden Fuß schmerzt furchtbar. Nun dürfen sie sich legen. Alle
fangen an, in der Kälte mit den Zähnen zu klappern. Da legen sie
sich Rücken an Rücken, um etwas Wärme zu schaffen.
Nun tauchen während des Weitermarsches Halluzinationen auf,
Traumgesichte, nur durch den Zustand gleichzeitiger
übermäßiger Erregung und Erschöpfung zu
erklären. Sie sehen riesige Schloßfassaden, dann reicht jemand Brot,
immer wieder sehen sie hohe Fassaden. Dann werden sie unsanft durch Kolben
geweckt.
Der Irrmarsch kreuz und quer ermüdet sehr. Schließlich aber wird die
Richtung nach Warschau eingeschlagen. Wieder ist Quartier. Es geht
einigermaßen. Nun kehrt sich das sinnlose Wüten der Polen gegen sie
selbst. Wie vom Wahnsinn geschlagen sind sie. "Die Wachen waren auch nicht
mehr so streng, weil ihnen selbst die Füße Kummer machten. Schlapp
waren sie ja alle, die uns trieben, und auch von ihnen blieb manch einer
liegen."
Ein kleines Beweisstück volkstümlicher Medizin sei der
Vergessenheit entrissen: In den Ställen legten sich die Volksdeutschen
immer wieder in den Mist, es gab nichts anderes. "Es dauerte keine fünf
Minuten und man war wie mit Schweiß übergossen. Aber auch das
lernten wir schätzen, denn wir meinten, daß uns die Schwitzkur am
Tage sicher die Lungenentzündung oder Erkältung austreiben
würde, die wir uns nachts, wenn wir auf der Straße liegen, notwendig
zuziehen mußten. Wir waren überhaupt sehr genügsam
geworden, so genügsam, daß wir staunten. Wenn wir einen Schluck
klares Wasser und ein Stückchen altes, trockenes Brot gehabt hätten,
dann wären wir von Herzen dankbar gewesen."
Alle "Bande frommer Scheu" schwanden. Im Stall war ein tiefer Schacht mit
einem Kurbelrad. War es ein Brunnen? Nein! Nur ein Jauchebrunnen, in den
viele, die zu schlapp waren, herauszugehen, ihr Bedürfnis verrichteten.
"Frauen lagen vielleicht zwei Meter davon entfernt, aber auch ihnen war alles
gleichgültig. Wir waren überhaupt kaum noch Menschen. Wir waren
ein vom Schicksal zusammengeschweißter Klumpen menschlichen Leidens
und Elends, von dem ein Teil seine Toten beweinte und der andere Teil sein nahes
und baldiges Ende vor Augen sah."
Lieske schaltet in seinen Bericht einige Zeilen der Besinnung und
Überlegung ein. Soviel er kombinieren kann, müssen Zehntausende
von Verschleppten über diese trostlosen polnischen Gefilde ziehen.
Manchmal meint er, nur wenige, vielleicht nur einer, werden überleben, um
dies alles einer sogenannten kultivierten Umwelt zu verkündigen. Dann
aber klagt er England an. "Wie oft wanderten meine Gedanken nach England,
nach dem Land, in dem ich ein ganzes Jahr studiert hatte, und das an diesem
unsagbaren Leid unserer Volksgruppe mitschuldig, ja hauptschuldig geworden
war. [85] Denn allein an Englands
Schutz war Polen größenwahnsinnig geworden, und nur unter
Englands Schutz zeigte sich das polnische Untermenschentum in seinem ganzen
Umfang und Sadismus."
Wir verschweigen keineswegs gelegentliche fragwürdige Züge,
zumal sie psychologisch durchaus begreiflich erscheinen. Nach endlos langem
Tag gibt es abends Suppe: Einige Leute stürzen sich so auf die Kanne,
daß die Wachthabenden "Aufruhr" wittern, die Kanne herausholen, die
Türen schließen und alle hungrig in dumpfer, atemberaubender
Stalluft sitzen müssen.
Mitten in der Nacht, um ½1 Uhr, in größter Dunkelheit,
kommt der Befehl zum Weitermarsch nach Warschau. Nach furchtbarem
Durcheinander des Aufbruches wird getrieben und getrieben. Sieben bis acht
Kilometer mußten in der Stunde geschafft werden. Zu leiblicher Not kamen
seelische Aufregung und Ärger. Der dicke Polizeiwachtmeister
quälte die Deutschen, indem er Greuelmärchen verbreitete,
z. B. daß deutsche Soldaten polnische Kinder in Bromberg an die
Wand geworfen hätten. Natürlich hieß es auch, die Franzosen
hätten den Westwall an zwölf Stellen durchbrochen, Berlin sei mit
Erfolg bombardiert usw. Etwas Humor blieb selbst in düsterster
Lage. Lieske fragt, wie denn deutsche Soldaten nach Bromberg kamen, wo doch
polnisches Militär unmittelbar vor Berlin stände?
Nun zieht die Gruppe in Warschau ein, wohin auch unzählige Polen
strömen. Erst werden sie durch Vororte geschleppt. An einer Stelle sagt ein
Offizier: "Hier darf keiner durch, hier ist die vorderste Linie." So? Und die
Schlacht bei Berlin und das durch die Polen besetzte Ostpreußen?
Sie kommen an das berühmte Gefängnis Pawiak. Eine Megäre
von Aufseherin sagt, als sie sich erschöpft niedersetzen: "Sitzen verboten!",
und die Aufseher, die erst gutmütig gewesen waren, folgen dieser
Megäre.
Im Gefängnis, in dem schon Pilsudski gesessen hatte, wurde es
zunächst besser. Es gab Waschwasser und Wasser zum Trinken. Für
den Hygieniker aber gibt es doch einiges zu bemerken. Hören wir die
Worte Lieskes:
"Zur Ganzwäsche reichte das Wasser nicht, auch konnte man sich nicht
recht dazu entschließen. Ich hatte seit 14 Tagen die Sachen nicht
mehr vom Leibe gehabt; Schweiß und Staub und Dreck hatten alles
verklebt. Nach ganz kurzer Zeit kamen zwei Sanitäter und fragten, wer
Durchfall habe. Es meldete sich keiner, nur einige waren da, die seit zehn Tagen
überhaupt keine Verdauung mehr gehabt hatten."
"Wie lange würden wir hier sitzen? Ganz egal, nur mal erst heraus aus den
Stiefeln und ausgeruht!"
Der Fußboden war ungedielt, eine Art Zement, eisig kalt. Aber wie gut tat
das den wunden Füßen! Verkehrte Welt! Kalter Fußboden als
Heilmittel!
[86] Ein
Gefängniswärter setzt – entgegen den Hoffnungen der
Gequälten – die Mißhandlungen fort.
Wer sich hinlegte – er kontrollierte
häufig –, wurde mit den riesigen, 25 Zentimeter langen
Schlüsseln geschlagen. Die Gequälten, die nun im ganzen etwa
320 Kilometer marschiert waren, können es nicht fassen, daß
noch keine Atempause eintritt. Die Namen der Volksdeutschen werden notiert,
jeder wird gemustert, und der Wärter sagt: "Ihr seid Banditen, und wie
Banditen werden wir euch behandeln." Der Wärter befiehlt den Deutschen,
in der Zelle auch untereinander polnisch zu reden. Da Polen in der Zelle sind,
muß man sich fügen.
Es ist kaum zu fassen, aber wahr, daß bereits eine Stimmung aufkommt:
"Wenn wir nur erst weitermarschieren würden!" Nicht ohne Humor ist die
Schilderung vom Schluß des Tages, als sie etwas Suppe und Brot
bekommen hatten. "Ja, das bißchen Suppe und Brot sind für den
Körper eine derartige Anstrengung, daß ich beim Appell
ohnmächtig werde. Hollatz bringt mich mit einer fabelhaften Kopfmassage
wieder zu mir, und so kann ich denn glücklicherweise bei der abendlichen
Musterung einigermaßen stramm stehen und entgehe der Dresche mit den
verflixten Schlüsseln."
Gleich die erste Nacht erschienen Wanzen, die einen ganz erklärlichen
Hunger hatten, da die Gefängnisse schon seit längerer Zeit evakuiert
waren. Dann geht es unter die Brause. Das kostete einem alten Mann das Leben;
er bekam einen Herzschlag. Eine dicke Schmutzkruste hatte sich bei allen
gebildet, die wurde jetzt abgewaschen. Zum Trocknen standen für
achtunddreißig Menschen nur drei Handtücher zur
Verfügung.
Während die Deutschen die
Einnahme Warschaus vorbereiteten, mehrten
sich die Anzeichen der Lebensmittelknappheit in Warschau. Die Gefangenen
merkten sie zunächst daran, daß die Suppe im Gefängnis durch
Sodazusatz verschlechtert wurde. Das begann am 15. abends, mittags den 16. gab
es nur mehr einen halben Liter sehr heißen Sodawassers, in dem einige harte
Erbsen schwammen. – "Am Abend machte sich die Folge der Soda bei dem
ersten von uns bemerkbar, leider auch bei mir. Wahnsinnige Leibschmerzen,
ruhrartiger Durchfall. Und das Schlimmste: wir durften nicht heraus. Also auf die
Kübel in der Zelle. Schweiß und Tränen liefen den Leidenden
über das Gesicht. Man saß stundenlang mit den wahnsinnigsten
Darmkrämpfen auf dem Kübel, doch ohne den geringsten Erfolg.
Das ging die ganze Nacht durch. Immer wieder ein anderer. Und dabei
überkam uns fast wieder die Verzweiflung. Das konnte ein solch
gequälter und erschöpfter Körper nicht aushalten. Dazu gab es
ja auch kein anderes Essen, und obgleich Durchfall sofort gemeldet werden
mußte, kümmerte sich kein Mensch um uns. Meine Rettung für
den Augenblick war mein letzter Zwieback, noch immer einer von jenen zwei
berühmten, das Stück zu zwei Zloty gekauft."
[87] Eine traurige Aufgabe
bekommt Lieske. Er muß die Internierten aufschreiben. Dazu braucht er
zwei volle Tage, von Sonntag, den 17., bis Dienstag, den 19. Er stellt fest: beim
Abmarsch waren es etwa 508, andere sagen 518, später 560. Jetzt sind es
322 Männer und
50 Frauen – 188 fehlen. Sie sind wahrscheinlich alle tot.
Ein trauriger Fall: ein Bekannter von Lieske, Konrad aus Neumühl, liegt in
einer winzigen Zeile mit drei Pritschen. "Konrad liegt auf seiner Pritsche, ein Bild
des Jammers. Der Atem geht ganz kurz. 'Gestern', so sagt er, 'war es noch viel
schlimmer, aber da habe ich Herztropfen bekommen, und nun kann ich
wenigstens wieder etwas atmen.' Neben ihm steht ein Spucknapf, und die Lunge
scheint, dem Auswurf nach zu urteilen, völlig verschleimt zu sein. Das eine
Bein ist bis oben herauf dick und rot." Bald ist er tot. –
Von den anderen bekommen die meisten eine Blasenerkältung und
ununterbrochen stehen, unter furchtbaren Schmerzen, einige am Kübel. Die
Luft in der Zelle ist fürchterlich. Lieske gelingt es endlich, bis zur
Ambulanz vorzudringen. Er bekommt eine ordentliche Portion Opium und
Tannalbin. Da hat er die Nachtruhe. –
Bald wird die Lage kritisch. Eine Woche vergeht, und während dieser
Woche vom 17. bis 24. ist die Hungersnot gestiegen. Auch Wasser gibt es nicht
mehr, kein Wasser zum Waschen, keins zum Trinken, nur noch ein Viertelliter
Essen. Also beginnt die fürchterliche Qual des Wassermangels wieder. Ein
kleines Töpfchen voll Kaffee gibt es. Er ist sehr süß und voll
Kaffeegrund. "Aber den Grund schmeißen wir nicht etwa weg. Dazu sind
wir viel zu hungrig. Wir nehmen ihn vorsichtig heraus, bestreuen ihn mit Salz und
essen ihn mit Löffeln. Das füllt wenigstens den Magen."
In der Nacht vom 22. auf den 23. beginnt das deutsche Trommelfeuer. Alle
Furcht, alles Sicherheitsbedürfnis ist unter dem Eindruck des
Höllenmarsches nach Warschau so geschwunden, daß Lieske im
tollsten Trommelfeuer bei Fackelbeleuchtung und Fliegerangriff schreibt:
Warschau brennt überall.
Erneuter Angriff auf Leben und Gesundheit der Volksdeutschen: Die Juden haben
dem Gefängnis gegenüber einen Schuppen angesteckt, wohl aus
Wut, denn man hatte ihnen in den letzten Tagen kein Brot mehr gegeben. In dem
Schuppen scheint Infanteriemunition zu sein, denn von Zeit zu Zeit pufft es ganz
lustig in die Höhe. Die Zelle ist hellrot, und es wird angenehm warm.
Dafür, daß kein Fenster mehr in den Zellen war, hatten die deutschen
Sturzbomber gesorgt.
Noch aber ist die Leidenszeit nicht vorbei. "Der Hunger während der
Märsche war noch gar nichts im Vergleich zu dem Hunger jetzt. Man
konnte vor Hunger nicht mehr sitzen, auch nicht mehr schlafen, auch nicht mehr
lau- [88] fen. Immer dachte man
nur an das Essen. Dabei wurden wir zusehends schlapper und in den letzten Tagen
auch magerer, das Fleisch fiel förmlich von uns herunter. Die Arme waren
ganz stockdünn, die Hände auch nur noch gerade mit Haut
überzogen. Das letzte Blut sogen ihnen die Wanzen aus, obgleich sich alle
schon so gut schützten, wie es irgend ging. Wir hatten ja Zeit, und so
entstanden auch die üblichen Zellenkrankheiten, Zank um jeden Dreck,
endlose Gespräche um Sinnlosigkeiten, Beleidigungen, seelische
Zusammenbrüche bei dem Gedanken: was machen die zu Hause? Wir
fühlten uns gestern abend zum Spaß den Puls: zweiundfünfzig!
Und man fand ihn bei den meisten nur nach langem Suchen."
So empfindet es Lieske als freudige Abwechslung, daß er, in
Sträflingskleidern, mit einigen anderen Deutschen zur Arbeit herangezogen
wird. In einem Teil des Pawiak hatten deutsche Bomben eingeschlagen. Sie
mußten dort aufräumen, die völlig zerstückelte Leiche
eines Polen aus dem Schutt herauswühlen und dann ein Grab für
sechs Mann graben. Dies alles halb verhungert, halb krank, völlig
erschöpft. Aber der Kolben des Wärters drohte! Diese Arbeit
geschah unter ständigen deutschen Bombenabwürfen. Aber "wir
wollten lieber von deutschen Granaten erschlagen als von polnischen
Untermenschen zu Tode gequält werden".
"Endlich, um 3 Uhr, gibt es Mittagessen. Das Wasser war so knapp geworden,
daß es zwei von unseren Leuten aus den Zentralheizungskörpern
herausholen mußten, wo es wohl schon seit Jahren gestanden hatte. Wer
davon trank, wurde einige Stunden später erbarmungslos krank und wand
sich in fürchterlichen Schmerzen auf dem Kübel."
Das eigentliche Trommelfeuer begann am Dienstag, den 26., abends.
Das Gebäude selbst, das ungeheuer starke Mauern hatte, sprang in die
Höhe und tanzte wie die leichteste Bretterbude bei einem Erdbeben.
Und dann spielt sich alles rasch wie im Traume ab. Waffenstillstand... ein
Hauptmann erscheint und sagt: "Ihr seid frei. Ihr könnt nach Hause gehen."
Der Wärter kommt: "Wollt ihr heute noch
gehen?" – "Ja, natürlich." Sie bekommen ihre Papiere. Sie schlagen
sich durch zahllose polnische Kontrollen durch, behaupten, sie seien Bauern aus
Lowitsch, die evakuiert seien und nun wieder zurückwollten.
Durch das sehr zerschossene Warschau finden sie schließlich hinaus auf die
Felder, nehmen aber glücklicherweise die Straße und nicht die
unterminierten Felder als Marschroute. Nachts um 2 Uhr stoßen sie
auf die ersten deutschen Soldaten. "Heil Hitler!" ist das einzige, was sie
hervorbringen können. Es hebt ein Erzählen an, sie werden gut
verpflegt, und bald werden sie weiter transportiert, über Blonie nach
Breslau und von da nach Bromberg. Die Irrfahrt hat ein Ende. Nun soll der
Aufbau beginnen. Nun sollen [89] die erschöpften
Leiber und die gequälten Seelen versuchen, wieder Anschluß an die
wirkliche Welt zu bekommen und jene traumhaft schwere, fast unwirkliche und
doch allzu wirkliche Welt der Schrecken zu vergessen.
Bei Lowitsch aber, wohin diese falschen Lowitscher Bauern nicht
zurückkehrten, war der andere Schreckenszug zu Ende gegangen, der Zug
der Männer und Frauen aus Bromberg und Umgebung nach Lowitsch, der
schließlich auf viertausend angewachsen war, und von dem wir zum
Schluß den Bericht aus der Feder des volksdeutschen Arztes
Dr. Studzinsky geben, der den Ausklang unserer Anklage bilden
möge, unserer Anklage, die zugleich ein Heldenlied auf das ewige
Deutschtum bedeutet.
Zuvor seien zur Schilderung dieses größten und gewaltigsten
Marsches noch einige Einzelheiten wiedergegeben, wie sie aus mündlichen
und schriftlichen Berichten
von Hauptschriftleiter Starke stammen, der den Zug
von Bromberg aus mitgemacht hat.
Der Zug bewegte sich fast ununterbrochen sechseinhalb Tage und Nächte
lang von Bromberg aus. Von anderen Orten, wie Schwetz und Graudenz,
stießen dann andere Abteilungen hinzu, so daß die Gesamtzahl die
enorme Höhe von viertausend erreichte, die in fünf Abteilungen zu je
achthundert Männern und Frauen vorwärts getrieben wurden.
Das Ziel war die Zuckerfabrik Chodzen. Unter den viertausend waren etwa
tausend polnische Sozialdemokraten und Kommunisten, Sträflinge und
ähnliche Gestalten.
Viele der Teilnehmer hatten nur unzureichende Kleider. Bei manchen kamen
schon auf dem ersten 58 Kilometer langen Marsch über Langenau
und Schulitz nach Thorn, der nur durch eine zweistündige Rast in Schulitz
unterbrochen wurde, die Nägel innen in den Schuhen durch. Ein Mann
marschierte in Holzpantoffeln, Frauen und Mädchen in
Stöckelschuhen. Herzbeschwerden machten sich bald bemerkbar, und heute
noch sterben manche plötzlich an dem Herzleiden, das sie sich auf dem
Marsch zugezogen haben. Sie waren mehrere Wochen ohne besondere
Beschwerden, um die Wende vom Oktober zum November starben jedoch in
Bromberg und Umgebung allein sechs Menschen hintereinander. In Langenau
blieb das 76jährige Fräulein Martha Schnee, eine Kusine des
bekannten früheren Generalgouverneurs von
Deutsch-Ostafrika, Dr. Schnee, liegen, sie war schwer herzleidend und hat
furchtbare Erfahrungen mitgemacht. Fräulein Schnee, die als "Mutter der
Armen" in Bromberg überall bekannt, geachtet und geliebt war, hatte
folgende, für den ärztlichen Blickpunkt besonders bezeichnende
Erlebnisse. Am Freitag, dem 1. September, abends, wurde sie in ihrer
Wohnung verhaftet und mußte am nächsten Morgen zwischen 5 und
6 Uhr mit den anderen den Marsch [90] antreten. Der Weg ging
durch Bromberg, wo der polnische Pöbel bereits gerüstet war
für den berüchtigten Bromberger Blutsonntag, an dem etwa
1000 Volksdeutsche in unmenschlicher Weise dahingeschlachtet wurden.
Bereits vor dem alten evangelischen Friedhof brach Fräulein Schnee, die
seit langem an einem Herzleiden litt, zusammen. Sie wurde im Kraftwagen dem
Zuge nachgefahren. Als es Nacht geworden war, kam der Befehl zum Abmarsch
in Richtung Schulitz und Thorn.
Fräulein Schnee wurde von der Kameradin Frohwerk, die ihr treulich zur
Seite stand, mehr getragen als gestützt. Unterwegs mußte sie sich
wiederholt mit dem ganzen Zuge hinwerfen, wenn deutsche Flieger im Schein der
Sterne und des glutroten Mondes sichtbar wurden. Als ihre Kräfte mehr und
mehr schwanden, wurde sie von zwei Kameraden weitergetragen. In Langenau
brach sie zusammen und durfte von Dr. Staemmler ärztlichen
Beistand erhalten. Ihre letzte Erinnerung war, daß sie auf einen mit
polnischen Flüchtlingen besetzten Ackerwagen gesetzt wurde, dessen
Insassen sich zunächst weigerten, die alte deutsche Frau mitzunehmen. Der
begleitende Wachmann erzwang aber für sie und sich selbst die Mitnahme.
Dann schwanden der Schwerkranken die Sinne.
Sie erlebte bewußt das folgende: In einem Dorfe wurde ihr alles, was sie mit
sich hatte, Decke, Wäsche und Lebensmittel, fortgenommen. Ein Soldat
führte sie in die nahe Wachstube, wo sie taumelnd auf einen Stuhl sank,
von dem sie aber bald fortgejagt und auf ein Aktenregal ohne Lehne als
Sitzgelegenheit verwiesen
wurde. – Bald wurde sie wieder weitergetrieben, mißhandelt,
weitergefahren, mitten im Walde abgesetzt, von einem Flüchtlingswagen
mitgenommen.
Zwei Stunden lang mußte sie marschieren, was ihr nur unter Aufbietung der
äußersten Kräfte gelang, dann wurde sie von einem
Militärauto nach Thorn gebracht. Stundenlang mußte sie mit dem
begleitenden Soldaten von Ort zu Ort wandern. Einmal stand sie, sich krampfhaft
an einem Gitter festhaltend, und polnische Damen der "guten Gesellschaft", die
das sahen, schämten sich nicht, die leidende alte deutsche Frau laut zu
verhöhnen und zu beschimpfen.
Sie wurde mit anderen Internierten zusammengebracht. In dunkler Nacht
mußte sie auf den Hof. Jedesmal, wenn sie auf die Erde niedersank, wurde
sie in roher Weise wieder hochgerissen.
Marschbefehl! Zwei Stunden lang wurde sie von zwei ihr unbekannten
Kameraden geschleppt. Dann ging es nicht mehr weiter. Die Kranke blieb auf der
Landstraße liegen. Die Kolonne ging weiter. Ein Militärwagen nahm
sie mit; nun kam zu dem körperlichen auch noch das seelische Leid:
plötzlich [91] machte das Militär
Halt und stürmte hinunter aus ein deutsches Dorf, um dort eine tolle
Schießerei zu veranstalten. Lauter Jammer wurde in den
Kolonistenhäusern hörbar. Eine Männerstimme schrie immer
wieder: "Mein Gott, mein Gott, meine Tochter ist eine Leiche!"
In einem größeren Ort, vermutlich Alexandrowo, gab es den Tag
über Rast. Aber nur die Soldaten bekamen Kaffee und Gebäck, die
Volksdeutschen, auch Fräulein Schnee, mußten hungernd zusehen.
Fräulein Schnee war nicht mehr imstande, sich zu erheben. Zwei Soldaten
trugen sie auf einen Wagen, der sie auf ein Gut brachte. Dort sind wieder viele
Hunderte von Deutschen, darunter viele Frauen. Eine von ihnen hat einen
Armschuß erhalten, eine andere ein Auge verloren.
Im Schuppen lag Fräulein Schnee ohne Decke auf der blanken Erde. Im
Spital des Hl. Antonius in Woclawec mußte sie eine Zeit verbringen,
da sie einfach nicht mehr transportfähig war. In einem dunklen Gang
mußte sie auf einem richtigen Strohsack Platz nehmen. Immer wieder
stiegen Passanten über sie hinweg. "Soldaten" traten an sie heran und
zerrten schmerzhaft an dem Arm der Kranken herum, bis sie fanden und stahlen,
was sie suchten: die goldene Armbanduhr. Im Spital blieb sie nun zunächst
ganz ohne Essen und Trinken. Als sie die Schwester auf die mit Blut und Eiter
völlig beschmutzte Bettwäsche aufmerksam machte, sagte diese nur:
"Das ist der Krieg." Ein Arzt sah wohl dann und wann zur Tür herein,
näherte sich aber nicht dem Bett der alten Frau.
Am 16. September erschien eine deutsche Militärpatrouille, konnte sie aber
noch nicht mitnehmen. Doch am 20. September gelang es ihr, nachdem sie
sich mit letzter Kraft zum Bahnhof geschleppt hatte, Anschluß an einen
Transport von polnischen Kriegsgefangenen zu finden, und so kam sie dann nach
15stündiger Fahrt nach Bromberg.
Dort wird sie nun gepflegt, und es ist zu hoffen, daß sie dem Leben wieder
geschenkt wird. – Man sieht hieran, was selbst ein krankes Herz ertragen
kann, wenn es um ein großes Ziel geht!
Die Ernährung auf dem Marsch nach Lowitsch war völlig
ungenügend. Zweimal gab es Brot, einmal ein Viertel und einmal ein
Achtel für jeden. Dann einmal zwei Birnen, sonst half man sich mit
Wrucken. Physiologisch wurde durch die körperlichen und seelischen
Leiden, verbunden mit der Hochspannung, der Körper in Unordnung
gebracht. Einige hatten die ganze Zeit über keine Verdauung: der Harn war
wie Jauche und brannte wahnsinnig. Nicht selten waren auch hier die Fälle
von Hungerdelirien, wie wir sie schon kennenlernten. Die mitgeschleppten Polen,
Verbrecher und Spione, bekamen freilich eine
Sonderkost. – Der Durst war so unnormal angewachsen, daß
[92] einige Teilnehmer in
Lowitsch Tonkrüge von zwei Litern gierig ergriffen und hinuntertranken,
dann noch einen zweiten, und selbst beim dritten hatten sie noch Durst.
Die Gruppe von Hauptschriftleiter Starke wurde etwa neun Kilometer über
Lowitsch hinaus nach Warschau zu getrieben, es war die letzte der Gruppen,
nachdem die meisten von den 4000 schon durch die Deutschen befreit waren. Die
Lage war für die Polen schon kritisch geworden. Sie sagten den
achthundert, sie sollten sich oberhalb der "Gromada", der Wiese der
Dorfgemeinschaft, lagern. Die polnischen Soldaten waren schon alle
verschwunden, nur noch Schützenverbände und POWiaken
(Polnische Kriegsorganisationen) waren da. Die achthundert mußten damit
rechnen, daß sie im letzten Augenblick noch alle erschossen werden
würden, weil die Posten sich auch drücken wollten. Einer
gnädigen Fügung des Schicksals verdanken sie, daß es doch
nicht mehr dazu kam. Nur der Arzt Dr. Staemmler wurde eine
Viertelstunde vor der Befreiung von einem jungen Burschen erschossen.
Ergreifende Einzelbilder tun sich auf, wenn man diesen Berichten weiter
nachgeht. Ein siebzig Jahre alter Buchhalter, schwerer Asthmatiker, der sich durch
Eu-med-Tabletten half, so gut es ging, ohne Mantel, war in Woclawec
zusammengebrochen und mußte ins Krankenhaus übergeführt
werden. Plötzlich tauchte er wieder auf mit einer Anzahl
Bajonettverletzungen; die entmenschten Horden hatten ihn nicht ins Krankenhaus
gelassen, sondern weitergetrieben: allerdings war sein Kopf
sachgemäß verbunden. Er schlurfte nur noch auf den Knien hinterher
und starb dann eines elenden Todes. Drei Säuglinge wurden am Anfang
mitgeschleppt – sie lebten nicht lange.
Zu diesem Raubbau an der deutschen Volkskraft kamen die seelischen Qualen,
die vielfach zu Halluzinationen, Wahngebilden und Traumgesichten
führten. Starke selbst sah immer wieder, wie Brote in einen Ofen geworfen
wurden. Wenn einige mit Galgenhumor die Lage zu meistern versuchten, so
waren bei manchen die Nerven so überspannt, daß sie sich diese
harmlosen Bemerkungen verbaten. Gotthold Starke erzählt, daß sich
in Thorn bereits die ersten Geisteserkrankungen bemerkbar machten. Frauen und
Männer schrien durcheinander, dazwischen gab es antideutsche
Kundgebungen von polnischen Flüchtlingen, die man ihnen mitgegeben
hatte. Einmal hatte einer der Begleiter Starkes 44 Erschießungen von
Volksdeutschen in einer Nacht gezählt. Wahnsinnig quälte der Durst:
ein siebzig Jahre alter Bauer namens Körner, der ihn nicht mehr aushalten
konnte, sprang von einer sieben Meter hohen Brücke in die Bzura, wo er
beschossen, aber nicht verletzt wurde. Er trank dort aus seinem Hut Wasser und
konnte sich dann wieder dem Schluß des Zuges einordnen. Das war ein
Glücksfall sondergleichen. Starke selbst wagte nur einige Schlucke Wasser
zu trinken. Am Schluß dieses Marsches [93] hat der Arzt
Dr. Studzinski, der selbst schwer mißhandelt und blaugeschlagen
worden war, nach dem Zeugnis Starkes im Lazarett in Lowitsch bis zum Umfallen
viele Schwerkranke behandelt und vor allem die eiternden Fußwunden
verbunden. Als Starke durch das Krankenhaus ging, wurde er von dem
achtundsechzigjährigen Senator
Dr. Busse-Tapodly angerufen. Starke erkannte ihn nicht wieder: durch
Steinwürfe und Kolbenschläge war sein Kopf eine blauschwarze,
unförmige Masse geworden, aus der nur die bluttriefenden Lippen
hervortraten.
Dr. Busse-Tapodly war einer der ersten europäischen
Viehzüchter. – Hier, in Lowitsch, starb eine Anzahl von Kameraden
an Erschöpfung und den Strapazen des Marsches.
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