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Furchtbare Spannungen
Das Hohelied von der Verschleppung der Volksdeutschen in Polen im Jahre 1939
ist zugleich das Hohelied des deutschen Arzttums. Ermordet wurden
Dr. Staemmler (Bromberg) und Dr. Braunert (Goßlershausen).
Dr. Staemmler wurde eine Viertelstunde vor der Befreiung seiner Gruppe
von dem letzten übriggebliebenen polnischen Bewachungsmann
erschossen, aus einer unbegreiflichen Laune des Schicksals heraus, die kein
Mensch je wird verstehen oder deuten können. Nachdem er die ganzen
Tage über mit beispiellosem Mute seine Gruppe betreut hatte, durfte er die
Stunde der Befreiung nicht mehr erleben. Gleich einem treuen Wachhunde war er
trotz des Verbotes häufig die Reihen der Marschierenden entlang gegangen,
um sie ärztlich zu betreuen, zu ermutigen, zu trösten, und dies,
obwohl er keine rechten Medikamente hatte. Dadurch muß er sich aber den
Haß der Polen in besonderer Weise zugezogen haben. Sie haßten eben
alles, was wertvoll war und sich über den Durchschnitt erhob. Wie
manchen Kolbenschlag hat Dr. Staemmler für die hilfreiche
Tätigkeit schon vor seinem bitteren Ende erhalten!
Ähnlich war es bei Dr. Braunert, der auch nur deshalb erschossen wurde,
weil er anderen half. Manchmal hatten die beiden ermordeten Ärzte kleine
Erfolge zu verzeichnen. Auf ihre Bitte wurde ein alter Mann auf einen der Wagen
geladen, wie ihn die Begleitmannschaften zur Verfügung hatten, die im
übrigen zur Hälfte auf Rädern fuhren und sich
abwechselten.
In Wilhelmstal bei Bromberg hat der Bürgermeister, ein Volksdeutscher,
bereits in den letzten Monaten vor Ausbruch des polnischen Krieges mehrfach
Warnungen erhalten. Fünf Tage vor dem 1. September 1939
entschließt er sich, seinen Posten zu verlassen, und geht mit seinem
Gepäck auf ein einsames Gehöft zu ihm bekannten anderen
Volksdeutschen. Sie sitzen zu vierzehn Menschen am Tisch. Der
Bürgermeister sagt: "In dieser Ecke wird uns der Krieg wohl verschonen.
Hier sind ja die Volksdeutschen, und die deutschen Truppen werden sie nicht
beschießen."
[66] Plötzlich
hört man ein verdächtiges Geräusch vor der Tür.
Polnische Späher sind da, kein Zweifel. Der Bürgermeister erkennt
sofort die Lage und schleicht sich unauffällig in einen Schuppen, wo er sich
verbirgt. Die Polen stürmen zur Tür herein: "Wo ist der Mann, der
eben hier vom Kriege gesprochen hat? An die Wand mit ihm." Die
Volksdeutschen nehmen eine ablehnende Haltung ein, zwei von den
Mädchen beginnen mit den Polen freundlich zu reden, um sie abzulenken.
Inzwischen wälzt sich der Bürgermeister aus dem Schuppen in der
mondhellen Nacht viele hundert Meter weit über die Felder und kann sich
irgendwo verstecken, tagelang, nächtelang, bis die Deutschen kommen und
ihn befreien.
Das ist ein Bild aus der furchtbaren Spannung, die dem Kriegsausbruch voranging
und ihn begleitete. Ein anderes:
Ein Gutsverwalter in der Nähe von Bromberg, der deutschen Grenze zu, hat
Frau und zwei Kinder. Mehrere Tage, zum Teil sogar Wochen vor dem Kriege
waren alle Deutschen in der Umgebung geflohen, waren über die Grenze
nach Deutschland gegangen oder hielten sich versteckt. Drei Tage vor Ausbruch
des Krieges kommen zwei Polen und verlangen von ihm kategorisch, daß er
fliehen solle. Er weigert sich zunächst, muß dann aber den
Drohungen nachgeben. Er spannt einen Ochsenwagen an und nimmt eine alte
Polin mit, die lange auf dem Hof und ihm freundlich gesinnt war. Binnen einer
halben Stunde ist er fertig zur Flucht. Bald kommt er in einen Strom von
polnischen Flüchtlingen hinein, die aus der Gefahrenzone an der Grenze
fliehen. Nun liegt alles daran, ob er als Volksdeutscher erkannt wird oder nicht.
Geschieht es, dann ist er verloren. Er und seine Frau sprechen gut polnisch, kein
deutsches Wort kommt über ihre Lippen. Die Kinder aber können
nur deutsch, und so schweben sie jede Sekunde in der Gefahr, durch die Kinder
verraten zu werden. Furchtbare seelische Spannung lastet auf ihnen. Sobald die
Kinder Miene machen zu reden, hält ihnen die Mutter den Mund zu.
Tagelang irren sie umher und merken bald, daß kein gerader Kurs
eingehalten wird. Es geht im Zickzack, die Ursache kann nur die sein, daß
der deutsche Ring sich enger und enger um die Schar der Flüchtenden
schloß. Polnische Soldaten, die fliehenden Truppen angehören,
fragen immer wieder, alle paar Stunden, ob sie Polen oder Deutsche seien. Um
dem sicheren martervollen Tod zu entgehen, sagen sie: Polen.
Schließlich
erscheint auf einer nahen Höhe eine Gruppe Soldaten,
ordnungsgemäß vorrückend. Noch ungewiß, ob es
deutsche oder polnische Soldaten sind, ruft der Gutsverwalter laut auf deutsch:
"Das sind deutsche Soldaten." Die Spannung war unerträglich geworden,
und noch, wenn der Mann später davon erzählt, sagt er: nun sei er
aufs Ganze gegangen. Es wäre nicht mehr auszuhalten gewesen, er
wußte, daß er mit seinem Leben spielte. In solcher Weise kann sich
see- [67] lischer Druck anstauen
und er muß sich einfach entladen, koste es was es wolle. Alle Hemmungen
sind dann weggefallen.
Das Gefühl hatte ihn richtig gewiesen: Es waren
deutsche Soldaten. Die Polen waren so bestürzt, daß sie nicht wagten,
sich an den Volksdeutschen zu vergreifen. Es wäre auch nicht mehr viel
Zeit gewesen.– Denn die deutschen Soldaten kamen heran und befreiten
die volksdeutsche Familie.
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