[46]
Ein Graudenzer Nervenarzt
spricht
Hatte die Posener Gruppe schon Unsägliches zu leiden, so steigert sich das
Bild des Grauens noch, wenn wir an die Deutschen aus Pommerellen denken. In
diesem alten deutschen Raum sind die Träger der deutschen Kultur und die
Nachkommen derer, die dort von je und je allein Kultur geschaffen haben,
schlimmer als das Vieh behandelt, schlimmer als irgendein
Schädlingsgezücht vernichtet, erschlagen, erschossen worden. Der
einmalige geschichtliche Vorgang, der in den Leidensmärschen aller
Volksdeutschen im ehemaligen Polen liegt, hat sich dort in Pommerellen
gesteigert zu einem Bild von solcher Eindringlichkeit, daß es neben den
größten Heldenzügen aller Zeit bestehen kann.
Von vielen Seiten her strömten die Scharen der Deutschen zusammen, und
es ist nicht möglich, auf kurzem Raum alle gleichzeitig erfolgten
Handlungen und Mißhandlungen zu schildern. Wir wollen uns daher einen
Überblick über die Vorgänge verschaffen, indem wir wieder
den Hauptton auf die gesundheitlichen Dinge legen und möglichst
Ärzten das Wort geben. Zunächst werden wir an Hand eines
Berichtes des volksdeutschen Nervenarztes Dr. Hoffmann aus Graudenz
einen Gesamtüberblick gewinnen und dann noch einmal diesen Zug von
Westen nach Osten an Hand authentischer Berichte selbst mitzuerleben
versuchen. Der Bericht von Dr. Hoffmann, in dem uns auch die
einleitenden Bemerkungen über das Verhältnis zwischen Deutschen
und Polen recht aufschlußreich erscheinen, lautet
folgendermaßen:
"Meinen Ausführungen über die Erlebnisse als Verschleppter
möchte ich folgende grundsätzliche Feststellungen zugrunde legen:
Zunächst: Ich beherrsche die polnische Sprache in Wort und Schrift,
d. h. ich sagte mir, als ich mich im Jahre 1919/20 entschloß, nicht
auszuwandern, sondern irgendwo einem Verein der sog. Heimattreuen
anzugehören, daß die Voraussetzung meines Verbleibens in Polen die
vollkommene Beherrschung der Landessprache sein müsse. Gerade ich als
Arzt für Nerven- und Seelenleiden war ja [47] auf den Gebrauch der
Sprache mehr angewiesen als jeder andere Kollege. Nun soll man sich aber nicht
vorstellen, daß die Erlernung gerade des Polnischen etwa so leicht ist wie
die des Englischen, Französischen, Italienischen, wenn sie auch nicht ganz
so schwer ist wie die des Finnischen oder Ungarischen, also der uralaltaischen
Sprachen, ganz zu schweigen von der Buschmannsprache mit den
unaussprechlichen Schnalzlauten oder dem Baskischen, von dem es heißt,
der Teufel habe versucht, diese Sprache zu erlernen, und als er sich zur
Prüfung stellte, mußte er die Feststellung machen, daß er nur
sieben Worte beherrschte... und die waren alle falsch. Auch das Polnische
enthält merkwürdige Laute, und man kann nur unter großer
Mühe hinter das Geheimnis der Aussprache der polnischen Zischlaute
kommen. Mir ist es schließlich gelungen, aber der Russe z. B. bleibt
sein Leben lang an der mangelhaften Aussprache des Polnischen erkennbar. Man
konnte mir also nicht den Vorwurf machen, daß ich aus "hakatistischen"
Gründen – in Polen war man mit solchen Vorwürfen
gegenüber den Deutschen immer rasch bei der
Hand – die Sprache nicht hätte erlernen wollen. Freilich muß
man dieser polnischen Einstellung und Voreingenommenheit zugute halten,
daß man es eben für ausgeschlossen hielt, daß der Deutsche bei
seinem Fleiß und seiner Gewissenhaftigkeit nicht imstande sein sollte, das
Polnische so rasch zu begreifen, wie etwa der Pole das Deutsche erlernt. Nun ist
der Slawe, insbesondere der Pole, sprachbegabt und kann bzw. konnte bei seinem
tiefgewurzelten Mißtrauen gegen alles, was deutsch ist, um so weniger
verstehen, daß der Deutsche in den abgetretenen Gebieten des ehemals zu
Deutschland gehörenden Neuerwerbs nicht Polnisch lernen konnte. Dank
dieser Beherrschung des Polnischen hatte ich mir nicht nur die sprachliche
Verständigung ermöglicht, sondern auch den Weg zu den Herzen
meiner polnischen Klientel gebahnt. Nun muß man ferner wissen, daß
gerade in der führenden Oberschicht die unter dem Begriff der
Psychasthenie, Psychopathie – oder wie man es zu nennen
beliebt – fallenden Krankheitserscheinungen sehr verbreitet waren. So habe
ich bis in die letzte schwere Zeit trotz des offiziellen Boykotts immer wieder,
wenn auch zwangsläufig nur noch vereinzelt, Beweise einer treuen
persönlichen Anhänglichkeit und Dankbarkeit auch von seiten
solcher Polen erfahren können, die ihrem Herkommen, ihrem Beruf, ihrer
Stellung nach offiziell allem Deutschen den erbarmungslosesten und
rücksichtslosesten Kampf angesagt hatten. Mir war aus ebensolchen
Kreisen das Anerbieten gemacht worden, sich für mich einzusetzen, wenn
es einmal nötig werden sollte. Ich durfte und konnte
selbstverständlich solche Versprechen nicht zu ernst nehmen; denn zu weit
hätte sich keiner dieser "Bürgen" herauswagen können, ohne
sofort der Spionage mit allen Folgerungen geziehen zu werden. Ich hatte also
ernstere persön- [48] liche Verunglimpfungen
bislang nicht zu spüren bekommen, sondern war als sog. loyaler
Staatsbürger geachtet, obschon ich mich selbstverständlich auch an
führender Stelle zu meinem Volkstum bekannt hatte, so als Mitglied des
deutschen Stadtverordnetenkollegiums – solange dieses noch nicht
ausgemerzt worden
war –, oder als langjähriger Obmann der Jungdeutschen Partei. Man
hatte mir es sogar nachgesehen, daß ich in meinem Wartezimmer ein
Büro dieser Partei eingerichtet hatte. Ich muß dieses alles
vorausschicken, um nicht in den Verdacht der falschen Voreingenommenheit
für oder gegen das polnische Volk zu kommen.
Ich hatte vor meiner Verhaftung wiederholte Warnungen erhalten: auch andere
Anzeichen schon Wochen vor Ausbruch des
Krieges – wiederholte Fernanrufe des Nachts, mich schwer belastende
Briefe von angeblichen
Volksdeutschen – wiesen darauf hin, daß etwas Unheimliches,
schwer zu Fassendes in der Luft hing, wie ein Gewitter, das nach Entladung
drängt. Daß ich ausgerechnet am 29. August das Fest meiner
Silberhochzeit beging, brachte uns mehrfach in die Versuchung, diesen
außergewöhnlichen Anlaß als willkommene Gelegenheit zu
einem Besuch unserer Töchter in Danzig zu benutzen. Daß ich der
Versuchung nicht erlegen bin, und daß meine gute tapfere Frau mir half,
dem Kommenden gefaßt entgegenzusehen, daß ich schließlich
Schweres durchmachen mußte, dafür bin ich rückschauend
dem Schicksal, das es mit mir noch glimpflich gemeint hat, dankbar: dankbar vor
allen Dingen auch im Hinblick auf die erlebte treue Kameradschaft. Denn nach
allem, was mir nachträglich erzählt wird, war ich aus unserer Gruppe
zum Schluß wohl am meisten gefährdet gewesen, und die Befreiung
kam noch gerade vor Toresschluß.
Als ich am 1. September zusammen mit noch 117 Deutschen in Graudenz
verhaftet wurde, um, wie es in dem amtlichen Schreiben hieß, sichergestellt
zu werden, da ahnten wir zum Glück noch nicht, worin diese Sicherstellung
bestehen würde: wir machten uns auf einen Transport in irgendein Lager
gefaßt. Wir rechneten mit einer eintönigen Gefangenschaft bei ganz
notdürftiger Verpflegung. Aber die Vermutung, daß wir einen Gang
durch die Hölle würden antreten müssen, wäre auch
dem größten Schwarzseher unter uns nicht in den Sinn gekommen.
Dabei hatte die Graudenzer Gruppe im Vergleich zu den furchtbaren Erlebnissen
der Bromberger und
Schwetzer weniger auszuhalten. Besonders muß auf
das Verhalten der Graudenzer Hilfspolizisten hingewiesen werden. Diese armen
Kerle, die 24 Stunden ohne Verpflegung und Schlaf bei ewigem
Anschnauzen durch die staatliche Polizei ihren Dienst versahen, suchten unsere
Lage nach besten Kräften zu mildern. Selbst halb verdurstet und zum
Umfallen müde (sie schliefen auf ihre Bajonette gestützt neben uns
ein), besorgten sie Wasser und halfen [49] unsere Nöte
mildern. So sagte der mich zur Graudenzer Sammelstelle transportierende
Hilfspolizist, der mich in Gegenwart seines Vorgesetzten anbrüllte:
"Beeilen Sie sich, beim Versuch zu sprechen oder sich umzudrehen,
erschieße ich Sie sofort", mir später, als wir ganz allein eine
menschenleere Straße entlanggingen: "Herr Doktor, verzeihen Sie mir,
wenn ich anders handle, werde ich an die Wand gestellt oder komme an die
Front." Diese armen Teufel handelten im Auftrag einer mit satanischem Geist
ausgestatteten Macht, waren nichts wie armselige Werkzeuge, die blindlings
handeln mußten, um das eigene armselige Leben zu retten.
Nach 14stündigem Aufenthalt in einem Graudenzer Kino waren wir um
½3 Uhr nachts glücklich abfahrtbereit. Auf dem Graudenzer
Bahnhof wurden wir in einem offenen Kohlenwagen zusammengepfercht, wo wir
weder sitzen, noch stehen, noch liegen konnten. Es standen eine Menge
Personenwagen zur Verfügung, die unbenutzt mit nach Thorn rollten. In
Thorn hatten wir kurzen Aufenthalt, wir suchten wenigstens unsere Notdurft zu
verrichten. Natürlich waren die beiden zur Verfügung stehenden
Gelegenheiten gänzlich unzureichend. Unsere armen Frauen und
Mädels hatten besonders zu leiden, denn die Polen nahmen keine
Rücksicht auf den Umstand, daß Männer stets mit zugegen
waren. Die Örtlichkeit selbst befand sich in einem unbeschreiblichen
Zustand. Da wir nur kurzen Umladeaufenthalt hatten, ging es den
Transportführern viel zu langsam. Nie vergessen werde ich die Worte, die
ein polnischer Offizier(!) den alten Damen, die sich nicht so rasch Platz
verschaffen konnten, zurief: "Seicht Euch aus, ihr alten deutschen Säue!"
Das war schon ein Vorgeschmack auf das Kommende.
Wir fuhren dann von
Thorn über Sierpc, Plock, Kutno, Czerniewice. In Sierpc bekamen wir zum
erstenmal eine Vorstellung davon, daß etwas in der Zugverbindung nicht
stimmte. Wir hörten dauernd schwere Einschläge, die wir bald
richtig als Bombenabwürfe deuteten. Unsere Begleitmannschaften
verließen den Wagen, machten sich schußfertig und nahmen die
Flieger aufs Korn. Ein höherer Staatspolizist erteilte Instruktionen. Wir
mußten trotz des Ernstes der Situation lachen. Den Wagen zu verlassen,
hatten wir keine Möglichkeit, denn jeder Platz war versperrt. Nachdem
endlich die Strecke wieder freigegeben war, setzten wir unseren Weg nach
Plock–Kutno fort. Auch hier war eine vor Wut und Haß wahnsinnige
Bevölkerung. Es fielen ununterbrochen Fliegerbomben, und wir dachten
jeden Augenblick, daß uns das Schicksal erreichen würde. Unsere
Hilfspolizisten ließen es sich nicht nehmen, uns zu versorgen: sie
beschafften uns sogar Liebesgaben vom polnischen Roten Kreuz, indem sie uns
für Flüchtlinge ausgaben! Und der
Transportleiter – ein Leutnant, im Zivilberuf Oberlehrer in Graudenz,
drückte beide Augen zu und erwies sich als ein anständiger Mensch.
Auf [50] dem Bahnhof versahen
eine Menge auffallend hübscher und sauber gekleideter
Judenmädchen den
Roten-Kreuz-Dienst. Nie werde ich in meinem Leben die Ausbrüche eines
irrsinnigen Hasses vergessen, als die "Damen" plötzlich merkten, daß
wir Flüchtlinge ganz eigener Art, nämlich Hitlerowcy waren. Sie
begannen unter girrem Lachen zu kreischen, fingerten mit den Händen in
der Luft, wie schwer Benommene beim "Flockenlesen"! Wenn der Zug nicht
unsertwegen, sondern aus anderen Gründen kurz darauf sich in Bewegung
gesetzt hätte, dann hätten sie uns jedes Glied langsam und mit
Genuß mit den Fingernägeln auseinandergepflückt. Ich konnte
meinen Leidensgefährten nur warnend zurufen, daß sie vom Fenster
zurücktreten sollten.
Wir kamen von Kutno auf eine Nebenlinie der
Hauptbahn nach Czerniewice, von wo wir den Fußmarsch nach der
Zuckerfabrik Chodcen antraten. Hier verließ uns leider unsere bisherige
Begleitung, und wir gerieten in die Hände von Teufeln in Menschengestalt.
Schon die Gesichter unserer neuen Herren ließen uns ahnen, was uns
bevorstand. Die Hilfspolizisten wurden durch die berüchtigten
Schützen – Strzelcy – und kongreßpolnische Polizisten
ersetzt. Wir wurden in einem großen Schuppen untergebracht. Dieser hatte
eine Länge von 50 Metern, eine Höhe von
ca. 12 Metern und eine Breite von ca. 15 Metern. Als
Ausgang diente eine einzige Öffnung von Mannsbreite und anderthalb
Mannshöhe. Die Ventilation des im übrigen genügend
belichteten Raumes – es befanden sich an den Schmalseiten des Schuppens
große Fenster – wurde durch eine einzige 50x50 Zentimeter
große Klappe an der Westseite vermittelt. Die Deckenventilation war nicht
in Ordnung. Gegenzug war nicht vorhanden. Der Boden war mit frischem Stroh
ausgelegt. Wir wurden angewiesen, Gänge in ½ Meter Breite
und Strohlager aufzuschütten. Es durfte kein Zwischenraum zwischen den
einzelnen Lagerstätten bleiben. Wir waren schließlich zu
800 Mann in dem Schuppen untergebracht. Es herrschte bald eine
erstickende Luft in dieser scheußlichen Höhle. Namentlich in den
ersten Stunden, als sich die aufgeregten Menschen noch nicht zum Hinlegen
entschließen konnten, glaubte man vor Staub und Hitze umkommen zu
müssen. Dazu gesellte sich bald ein unbeschreiblicher Geruch, da die Leute
gezwungen waren, ihre schon seit vielen Stunden zurückgehaltene Notdurft
zu verrichten. Und als Eingang und Ausgang stand für die Hunderte von
Menschen nur die schmale Pforte zur Benutzung. Wir errechneten, daß wir
mindestens gute drei Stunden benötigten, um einmal in den Genuß
des Austretens gelangen zu können. Ebensoviel Zeit nahm das
Essenempfangen in Anspruch: wir erhielten in den drei Tagen Aufenthalt nur
zweimal einen Tassenkopf warmer Brühe mit Kartoffeln und Kohl.
Große Sorge bereitete uns die Beschaffung von Trinkwasser: die
hereingereichten Kübel waren sofort
ver- [51] griffen. Wer kein
Trinkgefäß sein eigen nannte, ging leer aus. Ich hatte unter den
Durstqualen entsetzlich zu leiden, da ich mich nicht genügend sattrinken
konnte und auf die Hilfe meiner Graudenzer Kameraden angewiesen war, deren
Vorräte auch nur knapp waren. Hunger verspürten wir im
allgemeinen nur wenig. Ich habe beispielsweise fünf Tage außer einer
halben Schnitte trockenen Brotes und einem Zipfelchen Wurst nichts zu mir
genommen und keinerlei Zeichen von Schwäche dabei empfunden. Was
mir allerdings sehr zu schaffen machte, das war der ständige Durst. Es war
ein großes Glück, daß sich bei der unregelmäßigen
Verpflegung keine stärkeren Verdauungsstörungen besonders bei den
vielen schlecht genährten Leidensgefährten und älteren Leuten
einstellten. Da unser Aufenthaltsraum um Punkt 8 Uhr abends geschlossen
wurde, hätte eine Durchfallsepidemie zu katastrophalen Folgen
führen müssen. Natürlich wurden hier und da die
Lagerstätten verunreinigt, aber das hielt sich noch in erträglichen
Grenzen. Wenn man aus der frischen Luft kommend den großen Schuppen
betrat, schlug einem trotzdem eine Luft entgegen, die zum Umfallen
nötigte. Die polnische Lagerleitung hatte sich, um das Maß
vollzumachen, geradezu sadistische Methoden ersonnen, um uns, besonders
unsere Frauen, zu demütigen. Es durfte nur eine beschränkte Anzahl
von Personen, zunächst fünf, später zehn, gleichzeitig
austreten. Die Frauen begleiteten zum Abort etwa fünfzehnjährige
Burschen, die, mit schweren Eichenknüppeln bewaffnet, neben den Frauen
bei Verrichtung ihrer Notdurft Stellung nahmen und ihre helle Freude verrieten,
an den verhaßten Deutschen auf diese Weise ihr Mütchen
kühlen zu dürfen. Für uns Männer hatten die Polen auch
eine fein ausgeklügelte Maßnahme erdacht, um uns zu erniedrigen
und selbst die Verrichtung der Notdurft zu einer Qual zu gestalten. Die Latrinen
waren so angelegt, daß unsere Frauen beim Wasserholen
rückwärts an uns vorübergehen mußten. Wenn man an
das bei vielen Männern auftretende sogenannte "Harnstottern" in
Gegenwart anderer denkt, so wird einem klar werden, daß es vielen unserer
männlichen Volksgenossen unmöglich war, die kurze Frist zur
Erledigung ihrer Bedürfnisse einzuhalten. Und die Wachmannschaften
sorgten schon dafür, daß die Frist von fünf Minuten nicht
überschritten wurde. So wurde das Austreten für die meisten eine
Qual.
Es wird sicher aufschlußreich sein, zu erfahren, wie sich der Mensch
verhält, wenn er tagelang einem seelischen Druck und
außergewöhnlicher Belastung ausgesetzt wird: der sogenannte
"Innere Schweinehund" hat sich bei mir eigentlich nur gemeldet, als die
Beschießung von Graudenz losging. Im Gegensatz zu meiner Frau und
unserer Hausgehilfin, die ihrer gewohnten Beschäftigung nachgingen oder
sich künstlich zu schaffen machten, war ich [52] unruhig und wanderte
von einem Zimmer ins andere. Mit dem Augenblick der Verhaftung hatte ich mein
seelisches Gleichgewicht wiedererlangt. Gewiß gab es recht
ungemütliche Augenblicke, als wir z. B. in dem mit Verschleppten
und Flüchtlingen vollgepackten Zuge der Gefahr ausgesetzt waren, durch
eine Fliegerbombe zu Hunderten in Atome zerrissen zu werden, gewiß war
es kein schönes Gefühl auf dem Marsche, mit Aufbietung aller
Kräfte trotz furchtbarer Müdigkeit, Durst und Schmerzen sich
weiterschleppen zu müssen, immer den Tod angesichts der Ermordung von
zurückbleibenden Leidensgenossen vor Augen. Ich hatte mir als bestes
Mittel gegen das Lockerwerden der Vorstellungskraft, gegen das Schweifen der
Phantasie in das Gebiet des Grauens vorgenommen, überhaupt nichts mehr
zu denken, auch nichts mehr zu sprechen. Ich sagte mir, durch das Führen
eines auch noch so belanglosen Gespräches baut sich deine ohnehin nur
noch knapp bemessene geistige Spannkraft ab. Als wir kurz vor unserer Befreiung
durch unsere nervös gewordene Begleitung immer häufiger
beschossen wurden, da drängte sich mir auf einmal die Befürchtung
auf, ich könnte einen
Rückenmark- oder Blasenschuß erhalten. Und diese Vorstellung war
für mich um so grauenhafter, als ich in meinem Spezialberuf eindrucksvolle
Bilder dieser beiden Leiden zu sehen häufig Gelegenheit gehabt hatte.
Dwinger hat uns in
seinem Buch "Die Armee hinter Stacheldraht"
anschaulich geschildert, wie sich unter Eingeschlossenen allmählich die
Erscheinungen einer seelischen krankhaften Umstellung verbreiten, die man wohl
unter der geläufigeren Form als
Haft-, Gefängnis-, Situationspsychose antrifft, und zwar auch im
gewöhnlichen Leben, da allerdings nicht als Massenerkrankung. Ich hatte
mir vorgenommen, sofort nach der Verhaftung auf alles zu achten, natürlich
auch bei mir selbst, was aus der Grenze des Normalen herausfiel. Darunter
verstehe ich die Qualen des Durstes, die Strapazen der Gewaltmärsche, den
Anblick der sich vor unseren Augen vollziehenden Ermordung von
Leidensgefährten, das allmähliche Wissen um die Tatsache des
In-den-Tod-Getriebenwerdens.
Ich denke aber auch an die kleinen Selbstverständlichkeiten und
Alltäglichkeiten! Wie wurden wir damit fertig?
Nun, diese Selbstverständlichkeiten wurden für uns ein Erlebnis,
spielten in unserer armseligen Umgebung eine ausschlaggebende Rolle und waren
damit ihrer Alltäglichkeit entkleidet. Ich schilderte bereits die qualvolle
Erwartung, rechtzeitig in den Genuß des Austretens gelangen zu
dürfen, sich den Genuß des Verweilens in der frischen Luft für
ein paar kärgliche Minuten verschaffen zu können. Obschon wir nur
drei Tage in einem allerdings zur Hölle hergerichteten Lager verweilen
mußten, war unsere Stimmung schon am zweiten Tage auf dem Siedepunkt
angelangt. Wir sahen [53] die kleinen
Schwächen bei den meisten von uns, noch mehr natürlich die
Kennzeichen der krassen Selbstsucht bei einigen Ausnahmen unter uns
gewissermaßen unter dem Mikroskop. Not macht bekanntlich erfinderisch
und hellhörig! Und sehr rasch ging eine gereizte, nach Gelegenheit zur
Entladung drängende Stimmung durch unsere Reihen. Daß wir die
wenigen unkameradschaftlich Eingestellten bald herausgefunden hatten, ist
selbstverständlich. Ich sehe noch vor mir einen mit ausgesprochenem
Turmschädel bedachten jungen Menschen, dessen äußeres
Erscheinungsbild ganz zu dem sonstigen Verhalten paßte. Als sich dieser
ausgerechnet den unerhörten Luxus erlaubte, nach dem Waschen, für
das uns ja nur knappe Minuten zur Verfügung standen, auch noch der
Pflege der Zähne einige Minuten zu widmen, Minuten, die uns wie Stunden
erschienen, da war das Maß voll. Wir hätten den Ahnungslosen, der
mit einer selbstverständlichen Rücksichtslosigkeit handelte, nach der
Rückkehr in die Halle am liebsten verprügelt, ja mit wahrer
genießerischer Wollust warteten wir auf den geringsten Anlaß des
Eingreifens, obschon wir uns darüber klar waren, daß der Fall einer
Disziplinlosigkeit nicht auszudenkende Folgen für uns gehabt hätte.
Nicht weniger brachte uns das Verhalten eines anderen Volksgenossen, dem
allerdings sein besonderer Beruf besondere Verpflichtungen hätte
auferlegen sollen, in seelischen Aufruhr. Denn es gehört schon eine
Unverfrorenheit, eine Gedankenlosigkeit sondergleichen dazu, sich von einem
Leidensgefährten, der selbst von beruflicher Arbeit gebeugt und in den
Tagen der Verschleppung besonders abgefallen war, den mit Vorräten prall
gefüllten Koffer schleppen zu lassen. Wenn jemand von Berufs wegen die
Liebe zum Nächsten zu verkünden hat, dann muß man
wenigstens so tun, als wenn man den schüchternen Versuch machte,
entsprechend zu handeln. Kein Wunder, daß dieser Vertreter der
transzendentalen Fakultät von mir sehr robust zur Rede gestellt wurde, und
daß die anderen Leidensgefährten je nach Temperament mit ihm
ähnlich verfuhren. Ich wartete mit einer wahren Wollust auf den
Augenblick, daß der zur Rede Gestellte etwas erwiderte, um mich dann auf
ihn zu stürzen. Er war zum Glück für uns alle so klug, nichts
zu erwidern. Von meiner Seite handelte es sich nicht um einen
gewöhnlichen Affektausbruch, es war vielmehr bereits eine krankhafte
Neigung, Händel zu suchen; die Fliege an der Wand begann uns bereits zu
ärgern, wohlgemerkt schon am zweiten Tage des Lageraufenthalts! Man
war ebenso wütend darüber, daß der Vereinzelte trotz der
trostlosen Umgebung seine Eßlust nicht verlor, wie darüber,
daß der liebe Nächste überhaupt keinen Anlaß zu
Zusammenstößen bot. Die heiteren und ausgeglichenen
Temperamente kamen unter uns natürlich am besten weg. Zum
Schluß, kurz vor unserer Befreiung, befanden wir uns freilich alle in einem
[54] Zustand restloser
Ergebenheit in unser Schicksal und torkelten im wahren Sinne des Wortes daher
wie die Schafe, die zur Schlachtbank getrieben werden.
Drei Tage weilten wir in Chodcen: wir ahnten dort zum Glück nicht,
daß uns noch viel Schlimmeres bevorstand. Wir gaben uns der
trügerischen Hoffnung hin, daß wir allmählich nach
Einrichtung und Verteilung in diesem Lager in geordnetere Verhältnisse
kommen würden, zumal man die Frauen und Mädchen am dritten
Tage von uns sonderte. Mich hatte freilich eine unbestimmte Ahnung befallen,
daß irgend etwas nicht stimmte. Und so hatte ich meinen
Leidensgefährten den Rat gegeben, erstens nur die notwendigsten
Bewegungen zu machen, d. h. auf der Lagerstätte zu liegen und zu
dösen, an nichts zu denken. Wir waren ja von jeder Nachricht aus der Welt
abgeschnitten, und allerhand Gerüchte schwollen lawinenartig an. Zwar
glaubten wir nichts, was unsere freundlichen Aufseher mitteilten, z. B.
daß das Rheinland besetzt und Ostpreußen in polnischer Hand sei.
Aber ich empfahl, grundsätzlich nur günstig klingende Nachrichten
weiterzuverbreiten, auch wenn sie noch so unglaubwürdig klangen. Denn
ich sagte mir: Mit deiner Energie mußt du haushalten, wie mit der knappen
dir zur Verfügung stehenden Nahrung.
Inzwischen hatte sich das
Ungewisse und scheinbar Hoffnungslose unserer Lage immer mehr auf den
Gemütszustand unserer Leidensgefährten ausgewirkt. Wir
Graudenzer waren zwar eine verschworene Schicksalsgemeinschaft geworden,
und wenn einer zu verzagen begann, dann richtete der Nachbar ihn wieder auf und
umgekehrt. Aber in den anderen Gruppen griffen bald Verzweiflung bis zum
Ausbruch von Geistesstörungen um sich. Ich wurde wiederholt zu Leuten
gerufen, die das offene Bild von Psychosen boten. In der Nacht vom 6. zum
7. September rief man mich zu einem jungen Menschen, der sich mit einem
Taschenmesser die Kehle durchgeschnitten hatte. Die Verletzungen waren,
obwohl die Luftröhre unterhalb des Kehlkopfes glatt durchgeschnitten war
und der Mann wie beim Luftröhrenschnitt atmete, nicht
lebensgefährlich; denn es waren keine Schlagadern, sondern nur die Venen
und Halsmuskeln verletzt. Ich konnte nichts weiter machen, als den Kranken
notdürftig beim Schein einer schwach leuchtenden Taschenlampe zu
verbinden. Dann machte ich dem Posten Mitteilung. Aber weit gefehlt! Statt den
Verletzten wenigstens hinauszutransportieren, ließ man ihn bis zum Morgen
liegen. Und als dann der Abtransport erfolgte, mußte der Unselige
mitmarschieren. Ich kann mir nur vorstellen, daß ein melancholischer
Zustand, bei dem bekanntlich unter dem Eindruck seelischer Qual jedes
körperliche Schmerzgefühl zu schwinden pflegt, den Kranken zu
dieser übermenschlichen Kraftleistung befähigte.
Unter den Insassen
des Schuppens fiel eine größere Gruppe, [55] etwa 70 Mann,
auf, die nur polnisch sprach und sich durch ihre Kleidung sofort als Kongreßpolen kennzeichnete. Ich fragte diese Leute, weshalb man sie
verhaftet hätte. Sie gaben an, aus der Nähe des Lagers zu stammen
und evangelischen Glaubens zu sein. Sie hatten alle deutsche Namen, wie
Marehnke, Schmidt, Meyer usw.; im übrigen bekannten sie sich zum
polnischen Volkstum. Eine in der düster wirkenden Umgebung durch ihre
Haltung und Kleidung günstig auffallende Dame gab an, nur vier Kilometer
entfernt von einem Rittergut zu stammen. Sie sprach noch fließend deutsch
und bekannte sich noch zum Deutschtum. Die Kinder waren sämtlich
fanatische Polen, die Söhne sowie die Schwiegersöhne standen in der
polnischen Armee als Offiziere. Wie später festgestellt wurde, hat die
Unglückliche unter den Tritten eines
Strzelec-Schützen ihr Leben ausgehaucht.
Am 7. September morgens um ½6 Uhr wurden wir zum Antreten
kommandiert. Da wir den großen Raum nur durch die schmale, knapp
mannsbreite Pforte verlassen konnten, dauerte es fast vier Stunden, bis wir
eingeordnet waren, zumal sich nicht nur unsere etwa 800 Mann starke
Gruppe, sondern auch die anderen Leidensgefährten zum Abmarsch bereit
machen mußten. Wir zählten zusammen schätzungsweise
5000 Mann. Bis an die Zähne bewaffnete Hilfspolizisten,
Staatspolizisten und Angehörige der Schützenverbände
umgaben uns. Nun begann der Zug des Grauens. Die Begleitmannschaft sprach
mit uns kein Wort; es war daher ausgeschlossen, etwas über das Wohin
auch nur andeutungsweise zu erfahren. Es war ein Glück, daß wir uns
noch immer von der trügerischen Hoffnung umgaukeln ließen, wir
würden nach einer Verladestation gebracht, und der Fußmarsch sei
wegen der schwer benutzbaren, mit Truppentransporten überbeanspruchten
Haupteisenbahnstrecken nur vorläufig. Um 10 Uhr morgens
marschierten wir los, das Wetter war herrlich, die Stimmung der Wachmannschaft
scheinbar günstiger, man ließ uns trinken, einzelne der
Wachmannschaften holten uns sogar Wasser. Da die in der Nacht immer
stärker werdende Kanonade verstummt war, deutsche Flieger nicht zu
sehen waren, bildete ich mir ein und teilte diese meine Hoffnung meinen
Kameraden mit, daß ein Waffenstillstand bevorstände. In dieser
Annahme bestärkte mich noch die Wahrnehmung, daß ein polnischer
Flieger in ganz niedriger Höhe nach der deutschen Front zu strich. Wir
hatten sonst polnische Flieger nur ganz vereinzelt gesehen. Unsere Stimmung
begann sich also zu beleben, zumal wir durch landschaftlich schöne
Gegenden kamen, wenn ich nicht irre, um die Stadt Chodeczek. Nach
zweistündigem Marsch änderte aber die Landschaft ihr
Gepräge, unseren traurigen Zug verschlang die öde
kongreßpolnische Landschaft, die in ihrer Trostlosigkeit und Armseligkeit
gar nicht auszu- [56] denken ist. Weit und
breit kein Baum, kein Strauch, kein Bächlein, keine grüne Wiese.
Nur in Schmutz und Verkommenheit versunkene erbärmlichste
Hütten, der Boden dürftigstes Kartoffelland. Wenn wir
größere Ortschaften berührten (so gelangten wir durch eine
Stadt, wenn ich nicht irre, Dabrowka), dann konnten wir sicher sein, daß
uns das auserlesene Volk in seinen widerwärtigsten und
kümmerlichsten Vertretern begrüßte.
Die eben erwähnte Stadt Dabrowka war nichts weiter wie eine aus
zahllosen erbärmlichen, zerfallenen Hütten zusammengesetzte
Aneinanderreihung von Behausungen. Was mir besonders auffiel, war der
Umstand, daß sogar die Kirche und das Pfarrhaus sich nicht wesentlich von
der Umgebung hervorhob. Ich habe sonst gefunden, daß im Gegensatz zu
den armseligen Wohnstätten die sog. Boza
menka – das Marterl im
Bayrischen – stets geschmückt und gepflegt war und vorteilhaft von
dem düsteren schmutzigen Milieu abstach. Allmählich wurden, nicht
zuletzt unter dem Einfluß der uns umgebenden Trostlosigkeit, Stimmen des
Unmutes und des Verzagens laut. Dabei waren wir erst im ganzen vier Stunden
marschiert. Es wurden nun die ersten Pausen eingelegt. Wir durften uns am
Straßenrand für zehn Minuten niederlegen, durften aber
natürlich eine bestimmte Absperrungslinie nicht überschreiten. Wer
es trotzdem wagte, um sein Bedürfnis nicht in Gegenwart der anderen zu
verrichten, wurde sofort angebrüllt und mit Kolbenstößen zur
Vernunft gebracht, wenn er nicht sofort gehorchte.
Da in unseren Reihen eine
Menge älterer Leute, schwächlicher und kränklicher
Volksgenossen marschierte, hatte man sich gezwungen gesehen, Wagen und
Pferde zu requirieren. Man hätte sonst mit dem Totschlagen und
Erschießen schon zu Beginn unserer Wanderung anfangen müssen,
wie es später zur Regel wurde. Jedes Zurückbleiben bedeutete
Gehorsamsverweigerung oder Fluchtversuch, und dafür gab es nur eine
Abhilfe: Totschlagen mit dem Kolben oder Erschießen. Auch dem
Ahnungslosen, dem Unverwüstlichen unter uns wurde nun
allmählich klar, wozu wir ausersehen waren. Wir hatten nur noch nicht den
Mut, es gegenseitig offen zuzugestehen: nur in unseren Herzen nistete schon die
grausige Erkenntnis dessen, was uns bevorstand. So war es vielleicht als ein
Glück zu bezeichnen, daß uns die körperlichen Beschwerden
immer mehr zusetzten, der Durst, die Müdigkeit, das Sichwundlaufen, das
Spießrutenlaufen durch die aufgehetzte Bevölkerung, das Anschreien
und die Kolbenstöße der Begleitmannschaften. So marschierten wir
durch das Land, das schon durch seine Trostlosigkeit wie eine Wüste
wirkte, immer stummer und verzweifelter werdend. Es nahte der Abend, irgendein
Optimist hatte es sich zusammenkombiniert, daß "wir auf ein schönes
Gut kämen", wo wir für einige Zeit Unterkunft finden
könnten. Wir marschierten aber und marschierten, immer [57] nur mit kleinen
Ruhepausen zum Stehen oder zum Liegen. Wehe, wenn wir bei unserem Marsch
nicht ausgerichtet blieben, die Viererreihen nicht einhielten oder den
Anschluß an den Vordermann verpaßten. Wie eine Erlösung
kam es uns vor, als wir nach etwa fünfzehnstündiger Wanderung an
einen schönen See gelangten, wo man uns eine etwa vierstündige
Rast, sowie die Versorgung mit Trinkwasser gönnte. Ich war vollkommen
erschöpft; ich weiß, daß ich mich, allen Warnungen meiner
Kameraden zum Trotz, einfach in das moorige Wiesengelände niederfallen
ließ, erhitzt, wie ich war; mir war alles gleichgültig, und ich
hätte den Tod als eine Erlösung empfunden. Ich kann mich nur
besinnen, daß mir hilfsbereite Kameraden eine Decke unterlegten, und
daß ich dann in einen bleiernen Schlaf fiel. Beim Erwachen fühlte ich
mich bis auf einen starken Muskelkater wie neugeboren und war imstande, die
weitere Wanderung anzutreten. Unser Ziel war, wie sich allmählich
herausstellte, Kutno, das wir erst vor wenigen Tagen mit der Eisenbahn passiert
hatten, um von hier auf der Nebenbahn
Czerniewice–Woclawek nach der stillgelegten Zuckerfabrik Chodcen als
vorläufigem Sammellager transportiert zu werden.
Die Schilderung des
Marsches durch die Judenstadt Kutno will ich mir ersparen. Wenn man uns nicht
zu Besserem ersehen hätte, d. h. einem Totschlagen oder
Abschießen im Verlaufe eines satanisch ausgedachten
Erschöpfungsmarsches, dann hätte man uns schon jetzt freigeben
können, damit die Judenmegären uns die Kehle durchbissen oder die
Augen aus dem Kopfe rissen, wie diese Bestien uns mit höllischen
kreischenden Zurufen in Aussicht stellen. Das waren nicht mehr Menschen,
sondern vor geilem Haß Irrsinnige, deren Augen uns entgegenlichterten, wie
ich es oft bei Geisteskranken beobachten konnte. Ich bin überzeugt,
daß nur das Wissen um unser
Los – in den Erschöpfungstod getrieben zu
werden – diese Bestien davon abhielt, unsere sogenannte
Bedeckungsmannschaft über den Haufen zu rennen und uns den Garaus zu
machen. Der Marsch durch das langgestreckte Kutno dauerte eine gute Stunde,
und wir gelangten nun auf die gut ausgebaute, glatt ausgelegte Straße
Kutno–Warschau. Das war eine große Erleichterung für
unsere immer mehr zunehmenden Fußkranken bzw. Durchgelaufenen. Die
Leute marschierten teilweise bereits ohne Schuhwerk, da das bis dahin benutzte
nur noch aus Fetzen bestand und mehr hinderte als half. Die Fußsohlen
bestanden bei manchen Volksgenossen nur noch aus aufgequollenen und
verschmutzten Wundflächen. Wir hatten von der Zuckerfabrik bis Kutno
etwa 42 Kilometer zurückgelegt, und nun marschierten wir auf einer
wohlgepflegten Hauptstraße von Kutno Warschau entgegen; das konnten
wir aus den Wegweisern ablesen. Mit uns zog, uns oft überholend, ein
unübersehbarer Flüchtlingsstrom aus den Kreisen Inowraclaw, jetzt
Hohensalza, Wirsitz und [58] Gnesen.
Ich will mir die
Schilderung des Elends ersparen. Die Leute machten einen abgehetzten und
verzweifelten Eindruck, so daß sie nicht einmal mehr zu
Haßausbrüchen fähig waren, sondern stumpf alles über
sich ergehen ließen. Immer mehr tauchten auch die Trümmer der
geschlagenen polnischen Armee auf. Ein Segen, daß es diese
durcheinandergewürfelten, aus dem Zusammenhang gerissenen, sich selbst
überlassenen Restbestände von Truppeneinheiten so eilig hatten und
sich aus dem Staube machten, als ob ihnen der Teufel auf den Fersen wäre.
Sonst hätten sie uns mit Handgranaten und Gewehrschüssen wie die Hasen
abgeknallt. Es war der 8. September. Wir marschierten und marschierten!
Immer stärker machte sich nicht nur eine stumpfe Ergebenheit, sondern
auch eine nach Entladung drängende wütende Verzweiflung unter
uns bemerkbar. Es gab keinen mehr, der nicht den Kopf hängen ließ,
unsere Unentwegten, die immer noch einen schlechten Witz bei der Hand gehabt
hatten, schritten stumm mit gesenktem Kopf. Nun begann das Schlußdrama
sich bereits an einigen unserer Brüder zu erfüllen. Wir marschierten
durch ein Dorf mit einem Tümpel, auf dem die Enten das ihrige getan
hatten, um das Wasser widerlich und ungenießbar zu machen.
Plötzlich stürmte eine hinter uns marschierende Gruppe von
Ukrainern aus der Reihe und stürzte sich in den Tümpel, um die
widerliche Jauche mit gierigen Schlucken zu trinken. Man wollte die armen
Teufel wohl nicht streng nach der Instruktion abknallen, waren auch wohl zu
viele; und so ließ man sie gewähren, ebenso wie einen deutschen
Volksgenossen, der schon seit Stunden irre Reden führend, in dem
Tümpel ein Erfrischungsbad nahm. Ich sehe noch das glückliche
Gesicht dieses armen Menschen, der immer wieder laut ausrief, sich wie eine Ente
die Brust mit der schmutzigen Jauche benetzend: Ach, wie ist das Bad
schön, ach, wie ist das Bad schön!
Die Stimmung unserer
Begleitmannschaft, die selbst nichts zu essen bekam und ermüdet war, stieg
immer mehr auf den Siedepunkt, zumal sich auch unsere Haltung zu lockern
begann. Das Wandern auf der zwar bequemen aber in ihrer Eintönigkeit zur
Verzweiflung treibenden Straße nach Warschau wurde immer mehr zur
Qual. Es wurden schon Vermutungen laut, daß man uns bis nach
Warschau – ich las, wenn ich nicht irre, auf einem Meilenstein eine
Entfernung von
158 Kilometer – jagen wollte. Jedenfalls war der ganze Tag, der
8. September, mit nur kurzen Unterbrechungen von Marschieren ausgefüllt.
Da es sehr drückend war, begrüßten wir den Sonnenuntergang,
obschon keine Aussicht bestand, daß wir zu einer Nachtruhe gelangen
würden. Nun erlebten wir die ersten schrecklichen Fälle von
Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht. Zuerst mußte ein Irrer daran
glauben, der durch lautes Schreien und Protestieren schon bei Beginn unserer
Wanderung der Begleitung zu schaffen gemacht hatte. Dann suchte ein
jün- [59] gerer Mensch
feldeinwärts das Weite zu suchen. Er wurde nicht von unserer
Begleitmannschaft, die sich ja die Mühe des Nachlaufens sparen konnte,
sondern von einem bewaffneten Zivilisten aus einer der umliegenden
Hütten erst niedergeschossen und dann durch einen
Rückenschuß erledig. Besonders tragisch wirkte, obschon wir
allmählich immer abgestumpfter wurden, das Niedermetzeln eines alten,
etwa 65jährigen Mannes, der, ganz irre geworden, plötzlich unsere
Reihen verließ. Er hatte sich, unangefochten durch unsere Begleiter, etwa
fünf Minuten der goldenen Freiheit erfreuen dürfen. Dann stellte ihn
ein bewaffneter Strzelec (Schütze), wie sie zahlreich in der Umgebung der
Straße herumwimmelten und schlug ihn nieder. Und nun wurde mir ein
Anblick zuteil, den ich nie vergessen werde: Auf den am Boden Liegenden
schlugen etwa 15 bewaffnete polnische Soldaten mit ihren Kolben ein, die nach
und nach auftauchten, bis der Unglückliche seinen Geist
aufgab. –
Die Dämmerung senkte sich herab, und noch immer war
des Marschierens kein Ende. Aus dem immer mehr an Stärke zunehmenden
Geschützfeuer sowie deutlicher werdenden Maschinengewehrgeknatter
schlossen wir, daß wir uns der Front näherten. Die Nacht war infolge
der im Umkreise brennenden Gehöfte und Ortschaften fast mondscheinhell.
Wir gelangten, ohne noch eine Ahnung zu haben, wohin uns eigentlich der Weg
führen sollte, in eine Gegend, für die bei sonst vollkommener
Einförmigkeit der Bestand von vereinzelten hohen Pappeln charakteristisch
war. Diese hoben sich in unheimlicher Düsterkeit von der in ein
unbeschreibliches Dämmerlicht gehüllten gespenstischen Landschaft
ab. Vor uns tauchten dann plötzlich zwei hell erleuchtete, wie
glühende Augen wirkende Feuerscheine auf. Wir wanderten etwa zwei
Stunden darauf zu, ohne daß wir den Eindruck hatten, ihnen näher zu
kommen. Diese unwirkliche Umgebung brachte die meisten von uns um den Rest
der Selbstbesinnung. Keiner sprach mehr ein Wort; mit weitaufgerissenen Augen
torkelten wir dahin und verloren allmählich ganz den Sinn für die
Wirklichkeit. Ich merkte, wie ich mich nicht mehr in der Umgebung zurechtfand;
ich sah plötzlich am Wege eine nicht endenwollende Kirchhofsmauer, die
gespenstischen Pappeln nahmen die Gestalt von Kirchtürmen an, zwischen
denen sich Gestalten bewegten. Das Grauenvollste aber war das
undurchdringliche Schweigen. Und es ging nicht nur mir so! Aus den angstvoll
aufgerissenen Augen meiner Leidensgefährten sprach dieselbe irre Angst,
entweder den Verstand zu verlieren oder sich wirklich schon in der Hölle
zu befinden. Erst, als allmählich der Morgen zu tagen begann, verlor die
Umgebung ihren spukhaften Eindruck; wir näherten uns einem Bahnhof,
und die gespenstischen Augen erwiesen sich als die Brandstätten eines
Dorfes in der Nähe einer Stadt, wie sich bald herausstellen sollte: Lowicz.
Am Bahnhof überholten uns ganz zügellos und wie toll sich [60] gebärdende, in
Auflösung begriffene Truppen des polnischen Heeres; sie schossen in
unsere Gruppe hinein, glücklicherweise ohne zu treffen, nur mit
Gewehrkolben wurden wir bedroht. Einzig dem Umstand, daß sie es sehr
eilig hatten, hatten wir es zu verdanken, daß Verluste in unseren Reihen
nicht zu verzeichnen waren.
Scriptorium merkt an:
Einen weiteren Erlebnisbericht dieses Marsches finden Sie hier! |
|
Wir wurden vom Bahnhof Lowicz weiter getrieben,
obschon sich auch die Widerstandsfähigen und Unverwüstlichen
kaum noch auf den Beinen halten konnten; soweit wir in Erfahrung bringen
konnten, sollten wir von einem Nebenbahnhof der Stadt Lowicz weiterverladen
werden. Wieder marschierten wir zwei Stunden lang. Es war inzwischen
9 Uhr morgens geworden. Zu unserem Jammer paßte gar nicht das
herrliche Wetter. Der Flüchtlingsstrom von Soldaten und
Bauernfuhrwerken nahm immer bedrohlichere Formen ab; kein Mensch
hörte mehr auf ein Kommando, wilde Angst und Verzweiflung sprach auch
aus den Zügen der Soldaten, Offiziere bekamen wir überhaupt nicht
zu Gesicht. Um uns kümmerte man sich kaum noch, alles hetzte in der
Richtung Warschau. Unsere Begleitmannschaft verlor immer mehr die Herrschaft
über uns, man ließ es nunmehr bloß noch bei Befehlen: Erste
Gruppe hierher, dritte, zu der ich gehörte, hierher, bewenden. Dabei
gerieten wir immer mehr in Unordnung und auseinander, unsere geschlossene
Schar von ein paar tausend zersplitterte sich in kleinere Haufen von ein paar
hundert Leuten. Immer näher kommende Granateneinschläge
machten die Leute schon recht ungemütlich. Wir merkten bald, daß
es sich um ein planmäßiges Einschießen der deutschen
Artillerie handeln mußte, denn aus nördlicher Richtung kamen in
regelmäßigen Abständen die Einschläge ständig
näher auf uns zu; mit ohrenbetäubendem Krach ging etwa
200 Meter von uns ein Gebäude durch Volltreffer in
Trümmer. Ich höre noch das Aufschreien unserer sonst beherrschten
Frauen, und wir waren uns darüber klar, daß der nächste
Treffer in unsere Gruppe einschlagen mußte. Aber wie durch ein Wunder
hörte das Schießen plötzlich auf. Unsere Flieger, die
während unserer Wanderung wiederholt unsere Bergleiter gewesen waren,
hatten das Schießen der Artillerie augenscheinlich genau geleitet. Bald
vernahmen wir hinter uns auch das immer mehr an Stärke zunehmende
Tacken von Maschinengewehren, und vorsichtig hinter uns blickend, sahen wir
helmbewehrte Soldaten, teilweise auf Motorrädern. Unsere Begleitung,
die bisher noch aus Gewehren in uns hineingeschossen hatte, um ein zu
frühes Entweichen zu verhindern, hatte sich dünne gemacht. Und
unsere Befürchtung, daß es sich hinter uns doch noch um polnische
Soldaten handeln könnte, wurde rasch zerstreut; denn die ersten
Volksgenossen, die überliefen, winkten uns bald mit Taschentüchern,
eine Aufforderung, der ich allerdings nur unter größten Schmerzen,
auf einen treuen, hilfsbereiten Kameraden gestützt, Folge leisten konnte.
Denn mein linkes Bein [61] konnte ich vor
Schmerzen kaum noch rühren. Bald umringten wir die
pulverrauchgeschwärzten Maschinengewehrschützen einer
sächsischen Abteilung.
So waren wir frei, und nach einigen Stunden
Ausruhens brachte man uns nach der stark zerschossenen Stadt Lowicz. Es war
eigentlich geplant worden, uns nach kurzem Erholungsaufenthalt hier in
Sammeltransporten nach der Heimat zurückzubefördern. Die
Durchbruchsabsichten der Polen, die damals die größte
Umklammerungsschlacht der Weltgeschichte an der Bzura und am
Weichselbogen einleiteten, vernichteten aber alle Hoffnungen auf einen
planmäßigen Abtransport von Lowicz aus. Wir merkten an dem
zunehmenden Geschützfeuer, daß sich etwas vorbereitete. Grauenvoll
in der Erinnerung sind uns besonders noch die Stunden in der Kirche von Lowicz,
die ich ausgesucht hatte, um etwas Schutz vor der in der Nacht schon
empfindlichen Kälte zu suchen. Das durch die Kirchenfenster fallende
Licht der brennenden Häuser der Stadt gab dem Kircheninnern ein
besonders unheimliches und düsteres Aussehen; dazu denke man sich die
armseligen Flüchtlingsgestalten in ihren zerrissenen, nach Schweiß
und Unrat riechenden Kleidern, ihr angstvolles Umherwandern und halblautes
Jammern. Und über allem die kalte, überladene Pracht der
Heiligen- und Marienbilder sowie der zahlreichen Altäre. Ich war trotz der
erstickenden Luft vor Übermüdung doch etwas eingeschlummert, als
mich ein tierisches Angstgeschrei aus vielen menschlichen Kehlen aufschreckte:
"Die Polen kommen!" Sofort fing die in der Kirche eingepferchte Masse an, nach
den Ausgängen zu drängen. Ich verblieb an meinem Platz, da ich mir
sagte, daß ich nur so der Gefahr des Zertretenwerdens beim Kampf um die
Ausgänge entrinnen könnte. Wenn ich dieses Aufschreien mit dem
einer gequälten Kreatur vergleiche, so kommt dieser Vergleich der
Wirklichkeit am nächsten. Als ich vor Jahren einmal als Schularzt des
Graudenzer Goethegymnasiums
das Schlachthaus besuchen mußte, um den
Schülern die sanitären Einrichtungen einer Stadt zu zeigen, da
mußte ich Zeuge sein, wie eine junge Sterke geschächtet wurde. Der
Anblick, das Stöhnen und qualvolle Brüllen des dem grauenvollen
Tode ausgelieferten Geschöpfes ist aus meiner Erinnerung nicht
auszulöschen gewesen, obschon Jahre seitdem verflossen sind. Und als ich
das Angstgeschrei der in der Kirche Eingeschlossenen hörte, da wurde das
Bild aus dem Schlachthause vor meinen Augen lebendiger denn je.
Glücklicherweise trat ebenso rasch eine Beruhigung ein, und mit dem
dämmernden Morgen verließ ich die Stätte des
nächtlichen Grauens. An demselben Morgen wurden die Vorbereitungen
zur vollständigen Räumung der Stadt getroffen, und mit dem
Schwarm der Flüchtlinge gelangte ich über Lodsch, Breslau,
Schneidemühl endlich nach Hause. Da ich mir, wie schon erwähnt,
eine sehr schmerzhafte Muskelzerrung in der linken Oberschenkelmuskulatur
zugezogen hatte, wurde es mir
er- [62] möglicht, ein
Auto zur Heimfahrt zu benutzen, die uns über 1300 Kilometer
führte.
Nun zum Schluß noch ein paar Worte über den Geist, der nicht nur in
unserer kleinen Gruppe, sondern, wie ich annehme, auch in allen anderen
herrschte. Ich muß dabei betonen, daß unsere Graudenzer Gruppe
gegenüber den anderen vom Glück geradezu begünstigt wurde.
Denn wie grauenvoll hatten es z. B. die Schwetzer oder Bromberger oder
auch Einzelpersonen angetroffen. Wie furchtbar zugerichtet war z. B. ein
Kollege, dessen Körper kaum frei war von blutunterlaufenen Stellen als
Folgen von Kolbenhieben, dessen linke Augenhöhle einen wüst
entstellten Anblick darbot, zum Glück ohne ernstere Verletzung des inneren
Auges. Allerdings handelte es sich um einen sehr kräftig gebauten Mann;
jeder andere wäre voraussichtlich nicht mit dem Leben
davongekommen.–
Wir wußten, nach anfänglichen ganz trügerischen Hoffnungen,
daß es um unser Leben ging, daß jeder Versuch, auch nur
zurückzubleiben, den sicheren Tod bedeutete. Und so kettete uns ein
Zusammengehörigkeitsgefühl aneinander, das zu den
schönsten Beispielen treuer, kameradschaftlicher Verbundenheit
gehört. Was besonders erhebend war, war der Umstand, daß es nie zu
Ausbrüchen fassungsloser Verzweiflung gekommen ist, daß auch nie
ein Wort des Vorwurfs laut wurde, etwa in dem Sinne: warum ist uns dieser
furchtbare Gang nicht erspart geblieben, der Führer hätte doch auch
einen anderen Weg wählen können. Nein, nur der Glaube an den
Führer hat uns aufrechterhalten. Wir waren schließlich auf das Letzte
gefaßt und einsatzbereit. Außerdem glaubt man ja gar nicht, wieviel
der Mensch in der höchsten Not aushalten kann. Ich selbst bin leider jedem
Sport abgeneigt. Und wenn mir jemand gesagt hätte, daß ich in zwei
Tagen bei im ganzen kaum sechs Stunden Schlaf, ohne einen Bissen zu essen,
dabei von qualvollem Durst geplagt, 50 Kilometer würde
zurücklegen können, dann hätte ich das einfach für
unmöglich gehalten. Auch der Umstand, daß der Mensch vier und
fünf Tage hungern kann, ohne etwas Besonderes dabei zu empfinden, ist
gar nicht so unvorstellbar. Die meisten von uns hatten ja jedes
Hungergefühl vollkommen verloren und zehrten in des Wortes wahrster
Bedeutung von ihrem Fett. Nur ein paar starke Esser unter uns, Landwirte, die
einen gesteigerten Stoffwechsel hatten und immer gewöhnt gewesen waren,
aus dem Vollen zu essen, empfanden auch das Hungern als große
Entbehrung und verfielen viel rascher als die Schlankwächsigen unter uns.
Die meisten quälte der furchtbare Durst, dessen Qualen durch die Aussicht,
sich nie richtig satt trinken zu können, gesteigert wurden. Und wenn vor
unseren Augen die Begleitmannschaft erquickt, das verbleibende Wasser aber vor
unseren Augen ausgeschüttet wurde, so machten wir wahre Tantalusqualen
durch. Aber es [63] gab auch Menschen mit
Mitgefühl. So erinnere ich mich einer ärmlichen Behausung, deren
Bewohner, trotz des Anschreiens durch unsere Wächter, in unsere Reihen
Wasser schleppten und die angebotene Bezahlung mit Entrüstung
zurückwiesen. Das soll zur Ehre dieser Leute gesagt sein. Auch daß
in einem Dorfe einer Leidensgefährtin in deutscher Sprache
zugeflüstert wurde: Harrt nur aus, denn ihr werdet bald erlöst, soll
nicht unerwähnt bleiben.
Wenn das von mir Geschilderte schon ungeheuerlich klingt, so bedeutet das noch
wenig gegenüber den furchtbaren Erlebnissen anderer Volksgenossen. Es
sind Ungeheuerlichkeiten begangen worden, die in einem für die
Öffentlichkeit bestimmten Bericht einfach nicht wiedergegeben werden
können. Man fragt sich nun mit Recht: Sind das alles nur
Folge- bzw. Begleiterscheinungen einer plötzlichen Lockerung der
Ordnung innerhalb eines Volkes, für das der Begriff Ordnung immer schon
nur etwas Nebelhaftes bedeutete? Sind das nur Reaktionen auf das
plötzliche Wissen um die Tatsache, daß der Traum um eine
Großmachtstellung ausgeträumt ist? Suchte man sich dafür zu
rächen, solange man eben noch die Möglichkeit hatte? Nein, es ging
eine jahrzehntelang gehegte und gepflegte Haßsaat auf, hatte man doch seit
Bestehen des polnischen Staates immerfort gepredigt, daß der Deutsche der
ewige Feind des polnischen Volkes sei! Es kann keinem Zweifel unterliegen,
daß es sich bei der Verschleppung der Geiseln und der Hinmordung von
über 5000 Volksgenossen um ein von langer Hand vorbereitetes, ganz
planmäßiges Vorgehen der polnischen Regierungskreise gehandelt
hat. Man wollte das führende Deutschtum, insbesondere die Intelligenz, mit
einem Schlage ausrotten! Natürlich ganz legal! Denn ein Widerstand, ein
Fluchtversuch waren doch Handlungen, die mit Recht unter die Kriegsgesetze
fielen. Die polnische Auslegungsfähigkeit hätte vor der Geschichte
glänzend bestanden. Was wollt ihr denn, hätte man der
Untersuchungskommission entgegengehalten: Wir sind das frömmste Volk
der Welt, des Heiligen Vaters Lieblingskinder. Wir sollten jemand ermorden, und
noch auf solche gemeine Weise?
Man hatte sich eben gründlich verrechnet. Den "Strategen" der polnischen
Armee schwebten die Erfahrungen des Weltkrieges vor Augen. Man rechnete mit
einem mindestens sechsmonatigen Widerstand des etwa Zweimillionenheeres, ein
Stellungskrieg schien so gut wie gesichert, wie konnte man auch voraussehen,
daß die deutsche Luftwaffe durch Zerstörungen der
rückwärtigen Verbindungen, durch ein Lahmlegen der
Bewegungsfreiheit der Truppenverbände vom ersten Tage an alle
Berechnungen über den Haufen werfen würde. Das hätte sich
der große "Marschall"
Rydz-Smigly, seine Malkunst in Ehren, denn er ist, wenn ich nicht sehr irre,
seines Zeichens Maler, [64] anders ausgemalt. War
man auch auf ein so klägliches Versagen der polnischen Fliegerei
gefaßt gewesen? Das Ausbleiben der französischen und englischen
Hilfe soll dabei ganz außer Betracht bleiben. Aber noch eine andere
haßgrinsende Fratze wird im Hintergrund der Geschehnisse der
Septembertage sichtbar, ich meine den polnischen Teil der allein seligmachenden
Kirche. Im Auftrage der Schutzheiligen des allerkatholischsten Polens suchte man
so nebenher auch die Andersgläubigen, da sie anders nicht zu bekehren
waren, auszumerzen, und zwar aus Gegenden, wo sie noch gehäuft
anzutreffen waren. Denn welchen Sinn hatte sonst die Mitverschleppung der
denselben grausigen Qualen unterworfenen evangelischen Polen. Da war nun
ausnahmsweise "alles in Ordnung". Diese Leute hatten außer ihren rein
deutschen Namen und dem evangelischen Glauben nichts, aber auch gar nichts
mit unserem deutschen Volkstum mehr gemeinsam, sie waren die allerechtesten
"Kongresser", die unverfälschten "Anteks" (Spitzname für die
Kongreßpolen), die man sich vorstellen kann. Besonders bedauerlich ist das
Verhalten von Kardinal Hlond. Er wurde ja sozusagen in flagranti ertappt,
als er an dem Leidensweg der Verschleppten unbewegt vorüberging und gar
nicht daran dachte, dem Jammer ein Ende zu bereiten oder wenigstens ein
tröstendes Wort zu sprechen. So sind sie! Über den für den
christlichen Glauben eintretenden Zeitungen stand als Leitmotiv: Niech
będzie pochwalony Jezus Christus, d. H. gelobt sei Jesus
Christus, und darunter unmittelbar ein haßtriefender Artikel gegen die
Deutschen.
Die Akten über das entsetzlichste Drama der systematischen
Hinmordung von Abertausenden von Deutschen sind noch nicht angelegt,
geschweige denn geschlossen, und es werden Monate, ja Jahre vergehen, ehe das
Material zusammengetragen und gesichtet sein wird; aber eines steht schon heute
fest, nämlich, daß eine von satanischem Haß gegen alles
Deutsche geleitete polnische Oberschicht den Versuch unternahm, mit der
Vernichtung ganze Arbeit zu machen, und daß ihr dabei die
allerchristlichste Kirche in Polen wie in den Tagen der finstersten Inquisition von
ganzem Herzen behilflich zu sein sich bemühte. Im Schutze der
allergnädigsten Schutzheiligen von Polen, der Jungfrau Maria."
|