SucheScriptoriumBuchversandArchiv IndexSponsor


 
Marschieren, marschieren
Scriptorium merkt an:
Einen weiteren Erlebnisbericht dieses Marsches finden Sie hier!

Es ging dann alles viel leichter, als ich es mir gedacht hatte. Als wir durch das nun breit geöffnete Tor in das Freie traten, sahen wir dicken, feuchten Morgennebel über dem Platz liegen; uns schlug eine bittere Kälte entgegen, es mochte fünf Uhr früh sein. Vor dem Schuppentor wühlten Hunderte von Menschen durcheinander; noch fehlte jede Ordnung. Ich drückte Schneider, der neben mir stand, kräftig die Hand; Ortwich sah ich nicht mehr, und ich hatte keine Zeit, mich nach ihm umzusehen. Es galt, die Augenblicke der ersten Unordnung zu benutzen. Ich tastete und drängte mich durch das Gewühl, erkannte an einigen großen Flecken in der Außenwand des Speichers, daß ich in der Nähe unseres Platzes sein mußte, aber ich konnte ja ohne Brille auf größere Entfernung niemand erkennen. Plötzlich rief mich eine bekannte Stimme bei meinem Namen. "Sie auch!" fügte er hinzu. "Natürlich, hier trifft sich alles, was Wert hat von uns." Vor mir stand ein großer, blonder Mann mit einem wuchernden Bart, in schäbiger, schmutziger Kleidung. Er hatte den Arm um einen höchstens vierzehn Jahre alten Jungen gelegt, der sich verirrt und ängstlich an ihn ankuschelte und mit großen aufgeschlagenen Augen das Getümmel um sich betrachtete. Ich erkannte mehr an der Stimme als am Gesicht Herrn von Rosenstiel aus Lipie. Die beiden standen wie eine große holzgeschnitzte Gruppe dicht vor mir, und die Gebärde, mit der Rosenstiel den Jungen umfaßt [73] hielt, als wolle er ihn gegen alles schützen, was ihm hier drohte, hat sich meinem Gedächtnis unverlierbar eingeprägt. Wir kamen nicht zu einem Gespräch, denn nun hörte ich plötzlich meinen Vornamen. "Wo? Wo?" hörte ich rufen. "Da steht er ja, da bei Rosenstiel, da ist er ja!" Lemke, Udo Roth, der alte Stübner und Wilhelm Meister - alle kamen auf mich zugestürzt, schüttelten mir die Hand wie einem Totgeglaubten, schlugen mir auf die Schulter, lachten und schrieen durcheinander. Einige Posten wurden auf uns aufmerksam, Lemke packte mich am Arm, zog mich fort, in die Gruppe hinein, zu der ich bisher gehört hatte. Sie standen schon abmarschbereit angetreten.

Ich begriff zunächst die freudige Aufregung nicht, und sie sahen wohl mein Erstaunen. Udo Roth flüsterte mir zu: "Du warst kaum fort gestern abend, da ist der Pfarrer Reder erschossen worden. Hier auf unserem Fabrikhof." Ich fragte nach Einzelheiten, aber niemand wußte Näheres außer der Tatsache selbst. Später stellte es sich heraus, daß Pfarrer Reder in der Zeit unmittelbar vor Kriegsausbruch Urlaub gehabt und ihn in der Nähe von Danzig, also außerhalb von Polen, verlebt hatte. Dort wurde ihm der Internierungsschein zugestellt. Er brach seinen Urlaub ab, fuhr in seinen Heimatort und stellte sich dort der polnischen Behörde, wurde sofort verhaftet, mit uns verschleppt - und hatte hier nun seine Treue zu seiner deutschen Gemeinde mit dem Tode besiegelt.

Das alles wußten wir damals nicht. Ich hatte Reder nicht gekannt; wir waren abgestumpft und nahmen sein Schicksal hin wie alle die anderen Nachrichten auch. Wichtiger als das Vergangene war, was nun kommen würde.

Wir haben an diesem Morgen zunächst sehr gefroren; wir tanzten von einem Fuß auf den andern, klopften uns gegenseitig auf den Rücken, schlugen mit den Armen. Wir waren übermüdet, hungrig, durchfroren, der Körper hatte keine Wärmereserven, und als die Sonne endlich den Nebel vertrieb, da erst wurde uns wohler. Es wurde ein sehr heißer Tag. Aber mit der Wärme kam die Müdigkeit über uns; jetzt in der Sonne hätten wir alle gern geschlafen.

[74] Plötzlich aber stürzte sich vom tiefblauen Himmel herab tiefes Schweigen über uns Deutsche. Niemand sprach mehr, niemand tanzte umher und schlug die Arme, über uns war ein leises Brummen hörbar, es kam schnell tiefer, jeder sah nun das Flugzeug, das in großen Schleifen wie eine silberne Lerche aus dem stillen Raum auf uns herabschwebte. Die starren Flügel blitzten in der Morgensonne, nun war es schon groß und deutlich erkennbar, aber es kam noch tiefer und immer tiefer. "Ich kann schon die Kreuze erkennen", sagte eine schwankende, heisere Stimme neben mir. Dann fiel ein Schatten über uns, die Motore donnerten über unseren aufwärts gewandten Gesichtern, keine Hand bei uns durfte sich rühren, kein Schrei war zu vernehmen. Aber wenn der stille Ruf unserer Herzen hörbar gewesen wäre, er hätte das Brausen der Motoren dort über uns übertönt.

Das Flugzeug donnerte krachend über uns hinweg, verschwand hinter den Bäumen der Landstraße, nun erst bemerkten wir, daß die Polen schrieen und tobten; nun erst nahm unser Ohr auf, daß auch einige Gewehrschüsse gefallen waren, aber da kam es schon wieder, etwas höher als vorhin, flog eine Kurve, die Maschine legte sich schief und wir glaubten, ein spähendes Gesicht zu erkennen. Schon war es wieder unseren Blicken entschwunden. Aber noch einmal kam der surrende Vogel zurück, nun flog er in noch größerer Höhe einen Bogen und dann entschwand er nach Nordosten in den Himmel hinein. Von uns dachte keiner mehr an Schlaf, an Kälte, an Hunger. Wir sahen uns an. Manch einen hatte die Erregung so stark gepackt, daß er in dem mühsamen Versuch, sich zu beherrschen, an allen Gliedern zitterte. Aber in allen Augen stand Mut und Hoffnung.

Wir mußten nun noch stundenlang in Reih und Glied stehenbleiben, die Posten liefen geschäftig auf und ab, teilten uns in Gruppen ein, Offiziere erschienen und schrieen Befehle herum, und schließlich war es Mittag. Seit fünf Uhr morgens hielten wir uns auf den Beinen, und noch immer war nicht abzusehen, wann eigentlich der Abmarsch beginnen [75] sollte. Daß es einen Marsch geben würde, war uns aus den Worten der Posten klar geworden.

Als wir schließlich, nachdem wir immer wieder hin- und hergeschoben worden waren, endgültig in vier große Gruppen eingeteilt waren, von denen jede wohl achthundert bis tausend Menschen stark war, erschien ein hochgewachsener, schlanker Offizier, dessen gelblich-blasses Gesicht von glattem schwarzem Haar umrahmt war. Er war sehr elegant angezogen, ging mit etwas schwingenden, aber doch straffen Schritten von einer Gruppe zur anderen und hielt überall eine kleine Ansprache. Bei uns baute er sich mit leicht gespreizten Beinen etwa zehn Meter vor dem ersten Gliede auf und erklärte nun mit gellender Kommandostimme, die Hände rechts und links in den Hüften gestützt, daß wir nun abmarschieren würden. Er verlangte strenge Disziplin. Die Posten hätten Befehl, jeden niederzuschießen, der ohne Erlaubnis die Reihen verlasse. Sie würden nach diesem Befehl auch handeln.

Nach dieser Ansprache, die kühl und sachlich war, wenn auch der gehässige Ton der Stimme deutlich zu spüren gewesen, ging er zur nächsten Abteilung weiter. Inzwischen kamen die Posten, die uns zugeteilt waren, heran und fast alle drohten uns, "sie würden uns schon zeigen", wenn wir widerspenstig sein sollten. Die Unteroffiziere verteilten die Wachleute so, daß sie nachher in regelmäßigen Abständen rechts und links neben dem Zuge gehen konnten. Einstweilen standen wir noch in vier Gliedern hintereinander, ich selbst im letzten Gliede, den Rücken zur Wand des Zuckerspeichers gekehrt, aber in einigem Abstand davon. Da fühlte ich mich leicht am Ellenbogen angestoßen und blickte seitwärts zu Mutschler hin, der neben mir stand. Er gab mir mit den Augen einen stummen Wink nach hinten. Ich wandte den Kopf noch mehr herum und sah, daß zwei Posten den alten Diesing hinter uns vorbeiführten. Sie hatten den alten Mann von beiden Seiten an den Armen gefaßt und so tappte er mühsam holpernd hinter mir vorbei. Sein graues Haar stand ihm wirr und zerzaust um den Schädel, [76] ein paar Strohhalme steckten darin; sein Gesicht war unendlich hager, und Kinn und Wangen von dichten, weißen Stoppeln bedeckt. Er sah vor sich auf die Erde, in einer Hand hielt er seinen alten grünen Filzhut. Ich wandte den Kopf nach rechts und sah ihm nach. Hinter ihm schritten noch zwei andere Posten. "Es ist also wahr", dachte ich, "sie laden die Alten doch auf Wagen." Es war vor zwei Stunden ein Gerücht durch unsere Reihen gegangen, daß Alte und Kranke sich am Tor melden könnten; dort stünden Wagen für sie bereit.

Halbrechts vor mir stand der alte Herr Stübner. Ich zupfte ihn am Ärmel. "Wollen Sie sich nicht auch melden, Stübner?" Er blickte zu mir zurück, er hatte meinen Gedankengang wohl erraten. Aber er sah mich aus bleichem Gesicht an, seine Augen starrten in erregter Besorgnis. "Warum gehen vier Posten mit ihm? Und alle mit Gewehr!" flüsterte er zurück. Mich erfaßte eine fürchterliche Vermutung, und plötzlich würgte mir ein Brechreiz in der Kehle. Ich sah wieder dem alten Diesing nach, gerade stolperte er mühsam um die Ecke des Zuckerspeichers herum. Alle Kameraden rechts von mir hielten den Kopf nach ihrer rechten Schulter zugedreht, alle horchten nach hinten. Es war still bei uns. Nur vorn sprachen die Posten, und auf dem Platz selbst war der gleiche Lärm wie bisher, das Sprechen war uns ja nicht verboten.

Ich sah, wie vor mir ein paar Kameraden leicht zusammenzuckten; auch mir war es, als hätte ich einen ängstlichen, aber nicht sehr lauten Ruf gehört. Dann krachten schnell hintereinander zwei Schüsse. Ich sah zwei Posten hinter uns und bis an die Ecke des Gebäudes rennen, noch einmal hörten wir jetzt deutlich einen Einzelschuß. "Die Schweine, die verfluchten Schweine! Einen alten, einen siebzigjährigen Mann!" knirschte Mutschler neben mir. "Ruhe!" flüsterte scharf Udo Roth. Wir schwiegen. Hinter uns kamen die vier Mörder zurück. Sie sprachen nicht und gingen an ihren Platz. Ich sah ihnen nach. Einer hatte am Schloß seines Gewehres zu tun. Von den drei- bis viertausend Deutschen, [77] die hier auf dem Fabrikhof standen, hatten nur wir vierzig oder fünfzig bemerkt, was geschehen war. Was aber trug sich in den anderen Gruppen zu?

Nach einer weiteren Stunde, es mochte gegen halb zwei Uhr nachmittags sein, sahen wir die erste Abteilung abmarschieren. Jetzt zeigte sich bei uns ein polnischer Oberleutnant. Er rief einige Wachsoldaten heran, offenbar die Unteroffiziere, und erteilte ihnen Befehle. Wir hatten rechtsum zu machen. Nach zwanzig Minuten setzte sich die Spitze in Bewegung. Ich hoffte, einen Blick hinter die Speicherecke tun zu können, wo der Leichnam des alten Diesing lag, aber die ersten mußten sofort links herum schwenken. Wir marschierten zum Hof hinaus; auf der Straße wartete schon eine Kolonne von etwa zweihundert Mann auf uns, an die wir uns anschließen mußten. Ganz vorn sah ich Frauen. Ich schätzte ihre Zahl auf etwa sechzig. Sie sollten also mit uns marschieren.

Nach erneutem Warten begann endlich der Marsch. Wir hatten weder an diesem Tage noch am Tage zuvor Verpflegung noch heute etwas zu Trinken erhalten. Da wir seit dem frühen Morgen in Reih und Glied standen, war es uns auch nicht möglich gewesen, durch Vermittlung der Frauen wieder etwas einzuhandeln. Wir waren schlaff und müde und ohne Kraft schon bei Beginn unseres Marsches.

Wir waren nun wieder auf der breiten Landstraße, auf der uns vor zwei Tagen die Wagen von Wloclawek herangefahren hatten. Sie zog sich an der ganzen Länge des Fabrikgeländes vorbei und schnurgerade nach Südosten.

Es war sehr heiß, der Himmel war völlig wolkenlos, wir trotteten in einer Wolke von Staub die sandige Straße entlang, der, von tausend müden Füßen aufgerührt, regungslos über und zwischen unseren Reihen schwebte. Es war völlig windstill. Rechts und links vom Wege standen in einiger Entfernung hohe, vom Herbst gefärbte Pappeln, durch die sich wie durch rauschende, goldene Säulen unser Marsch dahinschleppte. Die Straße zog sich einen niederen Höhenrücken hinauf, der sich quer vor uns legte und in dem eintönig [78] weiten, ebenen Lande, das von Zuckerrüben in endlosen grünen Schlägen bestanden war, wie eine große Erhebung wirkte. Auf der Höhe wandte ich mich einmal zurück. Hinter mir sah ich eine endlose schwarze Menschenschlange, die sich am Horizont verlor, über den sich dünn der hohe Schornstein der Zuckerfabrik in den Himmel reckte.

Nach einiger Zeit kamen wir durch das Städtchen Chodecz. Auf dem Marktplatz ließ unser Oberleutnant halten. Zu unserem Erstaunen verhielt sich die Bevölkerung ruhig. Ein Limonadewagen wurde angehalten; wer Geld hatte, konnte sich eine Flasche Limonade kaufen. Juden, die schon mit der vor uns dahinziehenden ersten Abteilung ihre Geschäfte gemacht hatten, schoben sich heran. "Wollen Se käufen Äpfel? Oder Eier? Oder Wasser?" Auch hier also besiegte die Aussicht darauf, ein Geschäft zu machen, allen Haß, den sie doch gegen uns Nazis fühlten. Sie brachten Obst, saure Gurken, Wasser. Männer und vor allem Frauen schleppten Wasser in Eimern herbei, ich erhielt eine große Schale voll wunderbar erquickender Buttermilch, die mir eine alte Bäuerin heranbrachte. Während ich trank, sah sie mir mit guten Augen zu, und als ich nach dem Preise fragte, sagte sie nach einem schnellen Blick in die Runde in polnischer Sprache, sie sei eine Deutsche, es seien viele Deutsche hier in Chodecz, dann lief sie geschäftig fort, um neue Erfrischungen zu holen. Ich aß und trank wahllos, was ich erhielt, der Körper lechzte nach Nahrung, ich stopfte außer der Buttermilch noch drei saure Gurken, Selterwasser, Äpfel und Birnen in mich hinein und trank dann noch Wasser hinterher. Erst als ich mich einigermaßen gefüllt fühlte, bedachte ich die Folgen, die eine solche Speisefolge haben mußte. Aber sie stellten sich nicht ein! Die ausgedörrten Organe nahmen und verdauten alles, was man ihnen bot, ohne zu rebellieren. Später erfuhr ich, daß in diesem verlassenen Städtchen mitten im früheren Russisch-Polen eine große deutsch-evangelische Gemeinde lebte. Ihr Pfarrer ist nicht verschleppt worden und hat an den durchziehenden deutschen Volksgenossen viel Gutes tun können.

[79] Wir hatten uns auf das Pflaster setzen dürfen, und da wohl in allen Gruppen jeder, der kein Geld und auch nicht das Glück hatte, an Deutsche zu geraten, von seinen Nachbarn verpflegt wurde, so sind wir mit frischen Kräften weitergezogen.


Nach einem Marsch, der uns endlos lang erschien, kamen wir an ein kleines Wäldchen. Rechts dahinter blinkten in einem Wiesentälchen zwei kleine, blaue Seen, die still unter dem klaren Herbsthimmel lagen. Der polnische Oberleutnant ließ halten. Zum ersten und einzigen Mal auf unserem Wege durch Polen fühlte ich, wie alle Kräfte plötzlich aus meinem Körper hinausströmten. Ich hatte ein unsinniges Verlangen, aus der Kolonne herauszutreten, und nur meine Schwäche hinderte mich daran, ihm zu folgen. Langsam bildeten sich Sätze in meinem schmerzenden Kopf. "Daran kann mich doch niemand hindern, an das Wasser hinunterzugehen und mich in das Gras zu legen. Es ist mein Recht. Ich habe doch gar nichts getan, ich bin ein freier Mann. Was haben die Polen mir zu sagen! Ich will jetzt baden, meine Füße sind zerschunden und schmutzig, ich muß sie waschen. Das ist mein gutes Recht, mein gutes Recht." Solche Gedanken schwammen nebelhaft in meinem Gehirn, sie wurden dadurch unterbrochen, daß ich einen harten Griff an meinem Oberarm fühlte, daß ich ein paar ruhige, blaue Augen vor mir sah, ein Gesicht, das klar und fest war. Hatte ich laut gesprochen? Ich glaubte meinen Namen zu hören. "Ist schon gut, Reinhold, das machen wir später, wenn wir zurückkommen." Hatte das jemand zu mir gesagt? Lemke? Oder Udo Roth? Ich habe es wohl selbst zu mir gesagt und wachte auf.

Ein paar Frauen gingen in den Wald hinein. "Was tun die denn?" fragte ich leise meinen Nachbarn.

"Anständig von dem Oberleutnant, daß er den Frauen erlaubt, in das Gebüsch zu gehen!" hörte ich jemand sagen. Ja, so weit waren wir schon, daß wir diese selbstverständliche Rücksichtnahme als Zeichen von Ritterlichkeit auffaßten. [80] Wir Männer mußten auf dem freien Felde links der Straße austreten.

Ich war wieder ganz wach. Ich sah ein altes Weiblein in den Wald hineinhumpeln, weißhaarig, bucklig und auf einem Fuße gelähmt. Sie war mir in Hohensalza schon einmal aufgefallen. Auch sie war den Polen so staatsgefährlich erschienen, daß man sie verhaftet hatte und nun hier mit uns mitschleppte. Eine andere Greisin, groß und hochgewachsen, wurde von zwei jungen Mädchen geführt, die dünne, seidene Sommerstrümpfe und halbe Schuhe mit hohen Absätzen trugen. Eine Bauernfrau in Holzpantoffeln sah ich, die einen Säugling auf dem Arm trug. Wie sollte die Frau aus ihrem durstenden Körper Nahrung für das Kind schaffen. Sie mußte in diesen Tagen zusehen, wie das teure Leben in ihrem Arm langsam verhungerte.

Unsere Wachen hatten in Chodecz Anzeichen von menschlichem Gefühl bewiesen; sie waren selbst hungrig und durstig, hatten wie wir gegessen und getrunken, und das hatte wohl so etwas wie ein Empfinden von Zusammengehörigkeit in ihnen erweckt. Jetzt zeigte sich die Reaktion. Sie schämten sich offenbar, daß sie weich geworden waren. Als wir wieder in Bewegung kamen, begannen sie zu treiben. Es war immer noch sehr heiß, wir schleppten uns mühsam durch den Sand. Einige trugen Koffer, die die Frauen stehen gelassen hatten; Lemke hatte im Städtchen einen Eimer gekauft, in dem er Keks und Obst aufbewahrte, um Zusammenbrechende damit stärken zu können. Die Wachen trieben und schimpften, unsere Gangart war ihnen zu langsam.

Wir bogen von der gepflasterten Straße auf einen breiten Landweg ab. Links am Wege stand eine Kirche aus roten Backsteinen. Ein paar Pappeln, ein paar Weiden und Birken. Rechts und links Zuckerrübenfelder, eben, eintönig. Über uns die Sonne. Der Staub setzte sich auf die Lippen, in die Haare; der Weg war von Wagenspuren tief ausgefahren. Der Sand setzte sich in die Schuhe. Einige Bauern, die in Pantoffeln gingen, so wie man sie morgens aus dem Hause geholt hatte, nahmen sie in die Hand und gingen auf [81] Strümpfen oder barfuß. Immer wieder zog einer die Schuhe aus. Die kleine Stärkung, die uns die Rast in Chodecz gebracht hatte, war längst verbraucht.

Dann und wann standen polnische Bauern am Wege, sie schimpften und drohten. Eine alte Hexe geriet so in Wut, daß sie sich umdrehte, die Röcke hob und uns ihren nackten Hintern zeigte. Mutschler knurrte leise: "Wenn sie wenigstens jung wäre!" Die Posten verspotteten das hitzige Weib, da keifte sie los, hob einen Stein und warf ihn in die Kolonne. Er traf nicht.

Von vorn kam Geschrei. Die Posten fragten, was los sei. Dann riefen sie: "Alles an die rechte Straßenseite!" Wir zogen gerade eine leichte Anhöhe hinab, in einen Erlenbruch hinunter; es begann zu dämmern. Dunkles Wasser stand zwischen dichtem Gras. An der linken Straßenböschung lag ein Mann, zusammengekrümmt, das Gesicht in den Sand gedrückt, der Hut lag neben ihm im Gras, sein schneeweißes, volles Haar war von tropfendem Blut gerötet. Er röchelte leise. Beide Arme waren weit ausgebreitet, als wolle er im Sterben die Erde an sich pressen. Die Posten trieben uns nach rechts hinüber, wir sollten das nicht sehen. Aber sie waren so gierig nach dem Anblick, daß sie im richtigen Augenblick zu wenig auf uns achteten.

Auf der Höhe hinter dem Erlenwäldchen trat ein paar Reihen vor mir ein jüngerer Mann aus dem marschierenden Glied, bückte sich nieder, um die Schnürsenkel seiner Schuhe aufzubinden. Ein Posten trat heran, stieß ihn von hinten in den Straßengraben; der Kamerad fiel, und bevor er sich noch erheben konnte, hatte der Pole ihm die Mündung seines Gewehres an die Schläfe gesetzt und abgedrückt. Es war am späten Nachmittag, es dämmerte schon, aber es war doch noch hell, heller Tag. Ein deutscher Mensch hatte sich die Schuhe fester binden wollen.

Aus einem Gehöft kam über das Feld eine Frau herangelaufen. Sie war noch jung, sie lief schnell. Wir sahen ihren Rock im Winde flattern. In der Hand trug sie einen Eimer. Wir sahen ihr zu, wie sie näher kam. Sie brachte [82] Wasser heran, sie wollte, von Erbarmen gepackt, helfen. Ein Posten nahm ihr das Gefäß ab, mit dem man fünfzig Menschen hätte erquicken können, schimpfte unflätig, groß das Wasser auf die Erde. Die Frau stand erstarrt, sie sah den Mann an, nahm zögernd den leeren Eimer über den Arm, plötzlich stürzten ihr Tränen aus den Augen, sie wandte sich weinend ab und schlug beide Hände vor das Gesicht. So ging sie zu ihrem Hof zurück.

Vor uns tauchte eine Stadt auf. Sie war durch die erste Abteilung, die vor uns den gleichen Weg dahinzog, vorbereitet. Die Wachtposten hatten die Bewohner aufgeklärt.

Nun kamen wieder die Beschimpfungen, drohende Fäuste, verzerrte Gesichter. Viele spieen uns an. Auf dem Marktplatz, den wir in der Diagnonale zu überqueren hatten, drangen sie mit Stöcken und Zaunlatten auf uns ein, Kinder und Mädchen warfen Steine.

Vor mir ging Rosenstiel, groß, blond. "Von polnischer Wurst hat er sich so vollgefressen, von unserem Speck, von unserem Brot." Er bekam Faustschläge, Fußtritte, aber er sah geradeaus und hielt an der linken Hand seinen kleinen Schützling, den vierzehnjährigen Hans Beierling aus Thorn. "Seht geradeaus, seht niemand an!" sagte Walter Lemke neben mir. Mir war wohl, daß ich keine Brille trug. Endlos war der Marsch durch die Stadt.

"Gebt sie uns heraus! Warum bewacht ihr sie? Wir werden ihnen schon die Gedärme herausreißen!" Es war das alte, immer das Gleiche. Das Tierische.

Wir sahen geradeaus. Nur keine Angst zeigen! Aber die meisten von uns hatten keine Furcht. Wir waren gleichgültig geworden. Nur die Beschimpfungen! Es zerrte am Stolz.

Nun war es dunkel, wir hatten die Stadt hinter uns gelassen. Seit fünf Uhr morgens waren wir mit zwei Rasten auf den Füßen. Die Kolonne war stumm. Wir waren keine Soldaten. Auch für Soldaten wäre es schwer gewesen, ohne Wasser, ohne Essen. Aber wir waren ja fünfzig Jahre alt und älter, Herzkranke, Greise, Menschen, die gelähmt waren oder die lahm geschlagen worden waren, wir hatten [83] Halbschuhe an und dünne Strümpfe, einige liefen barfuß, einer in Hausschuhen. Und vorn die Frauen, die erlebten das alles mit. Ihnen hatte man die niedrigsten Beleidigungen zugerufen, hatte den Posten gute Ratschläge gegeben: "Nehmt euch die für die Nacht, die ist noch jung, die hat vorn noch was..." Es war das mildeste, was sie anzuhören hatten. Junge Burschen waren neben ihnen hergezogen, hatten über die oder jene gesprochen, mit den Händen auf sie gezeigt, hatten sich mit triefenden Mäulern ausgemalt, was sie mit ihr anfangen wollten... Nun war es wenigstens dunkel, die Nacht schützte, jetzt durften die Frauen weinen, niemand sah ihre Tränen.

Wir faßten uns unter den Armen. Nur nicht nachgeben. Einer schleppte den anderen, viele bissen die Zähne zusammen, es ging immer noch. Viel Stolz war spürbar, viel Geduld und Mut.

Aber wie langsam ging der Marsch. Das Schlürfen der Füße über den Sand, ein Eimer klapperte, irgendwo ein Seufzer, wie groß waren die Sterne, viel größer als sonst!

Die alten Polizisten waren zum Teil abgelöst worden, jetzt hatten wir junge Leute als Bewachung, Siebzehnjährige, sogenannte Strzelce, Angehörige jugendlicher Schützenverbände. Sie waren frisch, sie drohten und schrieen. "Marszerowac! Marszerowac!" Hinten krachte dann und wann ein Schuß. Ein Baum am Wege wuchs aus der Dunkelheit; wir kamen ihm unsagbar langsam nahe, ließen ihn hinter uns. Rechts lief ein Eisenbahngleis die Straße entlang, eine Kleinbahn oder vielleicht auch eine Zuckerrübenbahn. Hinter uns schossen sie wieder einmal.

Plötzlich schrie dicht vor mir eine Stimme: "Wo ist der Kerl, wo ist er? Er wollte mich erschießen, er hat mir mit dem Revolver gedroht." Es war Rehse, der vor mir ging. Udo Roths Stimme beruhigte, redete gut zu, ein Strzelec stürzte herbei, schrie und fluchte, stolperte glücklicherweise in der Dunkelheit und fiel hin, Rehse war schon wieder ruhig, er hatte wohl geträumt. Denn wir taumelten alle im Halbschlaf.

[84] "Waffenstillstand", sagte eine Stimme hinter mir. Das Wort war schon einige Male gefallen, es setzte sich bei uns fest. Es wurde eine fixe Idee, wir glaubten daran, einige wußten schon, daß zwischen den Polen und den Deutschen Verhandlungen im Gange seien. Ich versuchte nach den Sternen am Himmel die Richtung festzustellen, in der wir marschierten. Die Sterne waren viel größer als sonst; spät erst erkannte ich, daß sie, weil ich keine Brille trug, mir nur so groß erschienen. Es ging nach Süden, fast nach Südwesten, glaubte ich. Sie führen uns schon der schlesischen Grenze zu. Das Wort spukte die Kolonne entlang, "Waffenstillstand" - alles hoffte. Selbst das Stöhnen derer, die kaum noch weiter konnten, wurde seltener.

Von rechts kam über die Felder ein heller Schein, er flammte auf, erlosch, wanderte hin und her in großen Kurven. Da fuhr ein Auto auf Landwegen zu uns heran. Kam es, uns zu melden, daß wir endlich entlassen werden sollten? Schon konnten wir die beiden Scheinwerfer erkennen, jetzt verschwanden sie wieder hinter einem Gebüsch, leuchteten erneut auf, erloschen. Wir warteten; wir stolperten weiter, aber wir blickten alle nach rechts über das Feld. Es blieb dunkel. Kein Licht leuchtete. Es blieb dunkel.

Unsere Posten schrieen, trieben uns an. Wir schleppten uns weiter. Waffenstillstand?

Links vom Wege eine niedrige Gartenmauer, darüber rauschende Baumkronen. Wir fühlten den stummen Frieden unter den nachtdunklen Parkbäumen. Es war ein großes Gut, ein Herrensitz. Wir dachten an stille Zimmer, an Gartenwege, an Wasser, Schlafen. Wir schleppten uns auf der Straße. Die Mauer nahm kein Ende. Wir stolperten und wankten vorbei. Der Durst. Der Durst. Die Zunge klebte, war geschwollen, auf den Lippen saß der Staub, im Rachen, in den Atemwegen.

Plötzlich ist vor uns Unruhe. Wir wollen sie nicht hören. Die Bäume rauschen und schläfern so schön ein. Aber da ist die Mauer zu Ende. Eine Taschenlampe blitzt auf, strahlt uns an, noch eine. Lemke flüstert plötzlich ganz wach: "Da [85] stehen ja Geschütze!" Wir hören dem Gespräch zwischen unseren Wachmännern und ein paar Soldaten zu. Ja, da steht ein Geschütz; hier liegt die Feldwache eines Artillerieregiments.

Aber wir sind im Halbschlaf, wir fassen nicht sogleich, was das bedeutet, daß hier eine Artilleriestellung ist. Doch dann sagt es der eine leise dem anderen. Wir sind im Kampfgebiet. Sie sind schon nahe, werden uns noch einholen. Niemand spricht es aus, jeder denkt es: "sie" - das sind die Unseren, die deutschen Soldaten; wir haben keinen anderen Namen für sie, wir brauchen keinen Namen.

Als wir das Gut hinter uns gelassen haben, sehen wir links in weiter Ferne Feuerschein. Da brennen Häuser! Da brennt ein Dorf. Dort wird gekämpft. Sie sind uns nahe. Schreie in der Kolonne. Flüstern, wir rücken näher zusammen, obwohl die Füße glühen und brennen, wir rücken auf. Hinter uns fällt ein Schuß, gleich darauf noch einer. Ein Strzelec schreit wütend, weit hinten fallen immer mehr Schüsse, das ist nicht mehr in unserer Abteilung.

Nun hören wir auch das dumpfe Geräusch, ab und zu, es ist nicht häufig - aber wenn es da ist, dann grollt die Luft und zitterte in Wellen über die flache Erde dahin. Artillerie schießt. Auch rechts, im Südwesten sehen wir jetzt Feuerschein. Und auch dort grollt und brummelt es, und immer wieder ist ein schnell verglühender Schein am Himmel, der wie ein heller Fächer aufspringt und vergeht.

Wir kommen wieder durch eine Stadt. Es ist tiefe Nacht, kein Mensch ist auf den Straßen. Das holperige Pflaster tut unseren durchgelaufenen Füßen entsetzlich weh, meine abgescheuerten Zehen brennen wie Feuer, aber die Deutschen sind nahe, unsere Soldaten. Die Polen sind nervös, besonders die Jungen, man hört es. Vor uns höre ich einen Wortwechsel, ich verstehe nichts, aber ich höre Drohungen. Dann schläft alles wieder ein.

Hinter der Stadt - es war Krosniewice - ist eine Rast. Wir hocken uns in den Straßengraben, in das feuchte Gras. Einer fragt nach Wasser. "Dort, wo das Feuer ist, da be- [86] kommst du Wasser", sagt ein Posten. Der Kamerad steht auf, blickt in die bezeichnete Richtung. "Ist es auch wahr? Bekommen wir da Wasser?" "Ja, der Leutnant hat es gesagt", antwortet der Posten. "Es ist nicht weit bis zu dem Feuer", sagt unser Kamerad, "denn es ist sehr hell." Nun können auch wir das Feuer sehen, wir sind alle aufgestanden, es ist ein glühend roter Schein am Horizont. Aber dann setzen wir uns still hin. Es war der aufgehende Mond, der dicht am Horizont wie ein Brand leuchtete. Ja, auf dem Monde, da werden wir wohl Wasser bekommen.

"Seht, wie der Mond über der schlafenden Welt aufgeht", sagt eine beschwörende Stimme in unseren Reihen, wohl zehn oder zwölf Glieder hinter uns. "So geht er in jeder Nacht über der Erde auf. Und auch die Sterne stehen am Himmel und leuchten auf uns herab, wie sie seit Ewigkeiten tun. Haltet euch an die Sterne, liebe Brüder, einmal werden auch wir den Frieden der Ewigkeit haben..."

Es war ein erstauntes Schweigen um uns. Ein Pastor redete. Ich fühlte eine nervöse Wut in mir hochsteigen. Da sagte schon eine harte Stimme: "Haut dem Esel eins aufs Maul!" Der Pastor verstummte.

Drei Gestalten kamen suchend die lagernden Reihen entlang, Polen. Sie riefen einen Namen, ein Wachmann antwortete. Sie gingen auf ihn zu. "Wo ist er, wo?" fragte eine entsetzliche Stimme. "Das ist er, da!"

"So, jetzt haben wir dich, jetzt werden wir dir zeigen!" schrie der Pole in gellender Wut. Er mußte irgendeine alte Rache haben. Wir hörten einen Schrei und zugleich einen dumpfen Schlag, wie wenn ein harter Gegenstand auf einen menschlichen Körper trifft. Ein Polizist sprang auf, rief uns zu: "Alles hinlegen! Werdet ihr euch wohl hinlegen. Wer den Kopf hebt, auf den wird geschossen..." Überall in unserer Nähe standen sie mit vorgehaltenem Gewehr in der Dunkelheit vor uns, wir durften uns nicht rühren... Von vorn aber kam ein gellendes Schreien, ein deutscher Kamerad schrie und dazwischen immer die Worte der Polen: [87] "Da hast du! Und da! Und da!" Wir hörten die Kolbenschläge auf den Körper fallen.

Unser Kamerad wimmerte nur noch: "Schießt mich doch tot, ich bin Soldat gewesen, schießt mich tot, aber erschlagt mich doch nicht."

Wir lagen da in der Nacht, es war dunkel, die Sterne standen am Himmel und der schmale Mond, ich lag mit dem Gesicht nach oben, auf der Böschung des Straßengrabens und hörte das dumpfe Aufschlagen des Kolbens auf Leib und Arme eines Menschen, eines Kameraden, es geschah kaum zehn Meter von mir. Jetzt zogen sie ihn über das Feld hin.

Die Ohren nahmen alles auf, das Geräusch des über den Acker, durch Rüben gezerrten Körpers.

"Hier ist ein Busch, hier machen wir ihn fertig!" sagten sie heiser von ihrer Arbeit, wir hörten jedes Wort, es krallte sich alles in uns hinein, jedes Stöhnen, jedes Wimmern und Kreischen und das Geräusch jedes Schlages. Und jetzt traten sie mit Füßen auf ihn.

Die Sterne leuchteten und auch der Mond; über das Feld strich der Nachtwind. Wir traten an, als der Befehl kam und schleppten uns weiter.

Wir hatten das Erlebnis nach zwei Minuten Marsch vergessen. Die Füße brannten unerträglich, ich hatte mir mit dem Messer den rechten Schuh hinten aufgeschnitten, so ging es besser.

Ein Zug rollte von hinten her an uns vorbei, auf den Schienen der Kleinbahn. Wir mußten halten, er querte vor uns den Weg. Wir lehnten uns aneinander und schliefen. Wir schwankten hin und her, manch einer sprach im Schlaf, stöhnte und seufzte. Ich schlief nicht, meine Augen brannten vor Übermüdung. Auch Lemke, der links neben mir stand, war wach. Die Erschöpften hingen sich auf die Wachenden von allen Seiten; so standen wir gestützt von denen, die am Rande ihrer Kräfte waren; ihr Atem war um uns, und wir stützten sie. Am Himmel leuchtete gelb der Mond, eine Fledermaus huschte über uns dahin, hin und her. Dann rückten wir wieder an, der Weg war frei, taumelnd setzten [88] wir uns in Bewegung. "Marszerowac! Marszerowac!" schrieen die Begleitmannschaften.

Von seitwärts drang Schreien zu uns herüber. Der Lärm von fahrenden Wagen wurde immer lauter. Peitschenknallen, Menschenstimmen, Flüche, Weinen. Wir näherten uns einer großen Straße. Dort flüchtete ein gejagtes Volk. Es war die Betonchaussee von Posen nach Warschau. Wir schoben uns in den Strom hinein. Was um uns vorging, war nicht so wichtig, wichtiger war, daß der glatte Betonbelag der Straße unsere Füße erquickte. Das war kein holperiges Steinpflaster mehr, kein ausgefahrener Landweg mit Löchern und Wagenspuren. Wir brauchten die Füße nicht mehr zu heben, wir brauchten sie nur über den Boden schleifend nach vorn zu schieben. Das brachte vielen im letzten Augenblick die Rettung.

Autos fuhren völlig abgeblendet, städtische Droschken, hochbepackt mit Betten, mit Kisten, mit Möbeln und Körben, unter denen die Menschen kaum sichtbar waren; Panjewagen, auf denen Frauen saßen und Kinder schliefen, Radfahrer, Fußgänger, die eine Schubkarre vor sich herschoben oder einen mit Gepäck überladenen Kinderwagen. Infanteriekolonnen kamen uns entgegen, Munitionswagen, Proviantwagen, pferdebespannt, dann wieder breitete sich der Strom der Fliehenden über die ganze Fahrbahn aus. Viele schrieen auf uns ein, da und dort hörten wir einen Schmerzensschrei, aber die meisten waren zu müde, zu abgespannt. Die in den Wagen saßen, schliefen oder starrten vor sich hin, Frauen weinten. Wir wurden vorwärtsgeschoben.

Vor uns wurde es heller. Der Morgen kam. Nebel stiegen aus den Feldern. Wir schliefen im Gehen, hielten uns untergehakt, wir waren müde, müde. Einer stützte den anderen. Stübner war zweiundsiebzig Jahre alt, Heinecke war über sechzig und herzkrank, Lehmann-Nitsche über sechzig und lahm auf einem Bein, Naue litt noch an der Kopfverletzung, die ihm zwei Jahre vorher ein Pole mit einer Zaunlatte beigebracht hatte, Milbradt hatte Gelenkrheumatismus, er konnte kaum noch humpeln. Sie alle wurden unter den Arm [89] gefaßt von uns anderen, die wir jünger, kräftiger, gesünder waren. In unserer Gruppe sollte niemand zurückbleiben. Denn wir hörten die Schreie, die vom Ende des Zuges her zu uns drangen, hörten die Schüsse und das Fluchen der Posten; und wir wußten, was sie bedeuteten. Das riß uns immer wieder hoch, nein, niemand zurücklassen, niemand. Rehse jammerte vor sich hin; er glaubte, auf ihn hätten die Polen es abgesehen, ihn wollten sie herausholen. "Versteckt mich!" bat er weinend, "versteckt mich, verratet mich nicht!" Er war schon in dieser Nacht halb ohne Besinnung.

In der Morgendämmerung sahen die Strohschober rechts und links der Straße wie dunkle Berge aus.

Wir kamen über Bahngleise. Rechts standen Mühlen. Ein Bahnhof, schwarze Mauern, vom Feuer geschwärzt, keine Dächer mehr auf den Gebäuden, keine Fenster in den Wänden, Rauchschwaden. Eine Schiene, eine dicke eiserne Schiene ragte, zu einem Halbkreis gebogen, in die Luft hinauf, daneben ein großer Trichter, auf dessen Grund ein eisernes Rad lag. Wir gingen taumelnd vorbei.

Eine Stadt tauchte vor uns aus dem Nebel. Rauchschwaden zogen über sie hin. Wir hielten schon wieder, wurden abgezählt. Man reichte Brote in unseren Zug hinein, auf sechzehn Mann ein Brot. Die Morgenkälte hatte uns aufgeweckt. Wir durften keine Messer haben, man hatte sie uns abgenommen, aber irgendeiner hatte doch eins. Udo Roth teilte das Brot in sechzehn Teile, niemand konnte es essen. Der Gaumen gab keinen Speichel mehr her, der Mund, die Lippen, die Rachenhöhle waren ausgetrocknet. "Steckt es in die Tasche, wir werden schon noch Wasser bekommen, dann läßt es sich essen", sagte Lemke. Sein Eimer war leer; er hatte auf diesem Nachtmarsch alles Obst und die Keksreste verteilt, die er noch darin gehabt hatte.

Wir stolperten weiter, in die Stadt hinein, die noch schlafend lag. Auf dem Marktplatz mußten wir uns niedersetzen. Wir blickten uns um. Viele Häuser waren zusammengeschlagen, andere standen noch. Irgend jemand sagte, das sei Kutno; die Posten riefen es sich zu. Ja, es war Kutno.

[90] Es wurde hell, die ersten Bewohner der Stadt zeigten sich an den Kellereingängen oder in den Türen, in den Fensteröffnungen. Nun gellte wieder das Geheul über uns hinweg, in wenigen Minuten war der Platz kochendvoll, immer dieselben Worte, dieselben Drohungen, dieselben Gebärden. Juden, meistens Juden. Uns fielen die Köpfe auf die Knie, wir schliefen inmitten des Tobens.

Nach einer Stunde schon kam der Befehl zum Weitermarsch nach Osten. Die Rast hatte doch neue Kraft gegeben, aber als wir uns erheben sollten, war es, als gingen wir über glühendes Eisen. Die ersten Schritte waren fast über die Kraft. Aber die Posten gebrauchten Kolben und Stöcke, wir mußten Kameraden, die noch schwächer waren, hochreißen, stützen, mitschleppen, ihnen, die einfach liegen bleiben wollten, zureden, sie auch wohl grob anfahren - das half über die ersten Minuten hinweg.

Hinter Kutno taumelte zehn Reihen vor uns ein Mann aus der Reihe hinaus, in den Straßengraben hinein, fiel in das Gras. Ein Strzelec verlor die Geduld, er lief hin, schrie wüste Schimpfworte, setzte ihm die Karabinermündung an den Schädel und schoß. Unser Kamerad rollte ohne einen Laut ganz in den Graben hinein, sein Gesicht starrte nach oben. Der Schütze, ein junger Mensch von höchstens sechzehn Jahren, stand wie aus Stein neben ihm. Plötzlich begann er entsetzlich zu schreien. "Ich habe ihn erschossen, mein Gott, mein Gott, ich habe ihn erschossen, ich bin ein Mörder, Muttergottes, hilf mir, ich habe ihn erschossen!" Er schwankte über das Feld davon, ging ein paar Schritte, die Stimme überschlug sich, er sank in die Zuckerrüben hinein, sein Schreien klang dumpfer: "Ich habe ihn gemordet, einen Unschuldigen, einen Menschen gemordet, matka boska, matka boska..."

Andere Posten liefen hin, suchten den Schreienden zu beruhigen; wir zogen weiter, an dem leblosen Körper unseres Kameraden vorbei, dessen Kopf in einer Blutlache lag. Er hatte ein buntes Hemd an - es war grün- und weißkariert - ein paar zerrissene Hosen und graue Strümpfe an den [91] Füßen, aber keine Schuhe. Die linke Hand krampfte sich um ein kleines Bündel, in dem seine Habseligkeiten waren.

Da lief plötzlich ein Mann über einen Feldrain davon. Ich hatte nicht gesehen, wie er sich von unserem Zuge löste, ich wurde erst auf ihn aufmerksam, als die Posten zu rufen begannen. Sie knieten nieder, schossen hinter dem Fliehenden her. Es war sinnlos, jetzt zu fliehen, es war ja heller Tag, er wollte sterben oder der Geist hatte sich ihm verwirrt. Ein Schuß traf ihn, oder wollte er die Leute täuschen? Er fiel in eine Bodenmulde hinein. Zwei Polen liefen hinüber, zwei, drei, vier Schüsse aus ihren Karabinern. Sie kamen langsam zurück. Diese beiden schrieen nicht, weil sie einen Menschen umgebracht hatten.

"Seht hoch!" sagte eine deutsche Stimme hinter mir, sie sagte es halblaut. "Seht hoch, Kameraden, über uns, seht hoch!" Der Mann schluchzte, aber es war zu hören, daß es ein Schluchzer der Freude war. (Alle unsere Sinne waren geschärft in diesen Tagen.)

Wir sahen empor, in den Morgenhimmel hinein, wir hörten das Brummen über uns, das zum Dröhnen wurde. Ein deutscher Flieger raste von vorn über uns hinweg, die Maschine stand schief in der Luft, sie sahen von ihren Sitzen auf uns herab, sie rasten die ganze Straße, den ganzen ungeheuren Zug entlang. Sie mußten, ja sie mußten erkennen, um wen es sich bei uns handelte, sie mußten ja die aufgepflanzten Bajonette zu beiden Seiten der Kolonne sehen und auch, daß wir selbst waffenlos waren. Flüchtlingszüge der Polen sahen anders aus, da waren Panjewagen, Autos, Lastkraftwagen dabei, da war Unordnung, Gewimmel, Geschrei. Wir aber zogen in Gliedern zu vieren über die Straße, sie mußten uns erkennen. Holt Hilfe! Sagt es hinten bei den Unseren, was ihr gesehen habt, holt sie herbei, sie sollen sich beeilen, dreitausend Deutsche werden hier zu Tode gehetzt, geschlagen, am Wege erschossen, beeilt euch...

Keiner von uns sprach ein Wort, kein Schrei rang sich los, niemand winkte. Nur die Augen folgten seinem Fluge.

[92] Da war er noch einmal, viel höher diesmal. Er zog große Kreise über uns, immer wieder, er schraubte sich höher. Von dort oben aus mußten sie die ganze Länge unseres Zuges überblicken können.

Dann war er plötzlich in das Blau des Himmels hineingetaucht. Wir sahen und hörten ihn nicht mehr.

"Er meldet, wo wir sind", sagte eine Stimme. Nicht laut, aber fest. War ich es gewesen? Oder Walter Lemke? Oder der alte Stübner, der, obwohl der alte Körper fast versagen wollte, doch zu jeder Sekunde ungebrochenen Geistes war? Es war gleichgültig. Jeder dachte es: "Er meldet, was er hier gesehen hat."

Es wurde wieder heiß. Aber der Besuch des deutschen Flugzeuges hatte uns Kraft gegeben. Wir marschierten und marschierten.

Seite zurückInhaltsübersichtSeite vor

Der Marsch nach Lowitsch
Erhard Wittek