SucheScriptoriumBuchversandArchiv IndexSponsor


 
Der letzte Tag und die letzte Nacht

Ein großer Gutshof links an der Straße, mächtige, rote Gebäude, lange Viehställe, Scheunen, Speicher. Wir sahen die Spitze auf den Hof abbiegen. Wir trotteten durch das Tor. Links dahinter war eine aus einem Baumstamm gehöhlte Trinkrinne für das Vieh, sie war umlagert, umdrängt, umschrieen von verdurstenden Menschen. Uns trieben die Posten weiter: "Auf der Wiese bekommt ihr Wasser!" riefen sie.

Wir taumelten mehr als wir gingen über den Hof hinweg, zu einem Tor hinaus, an einer Mauer entlang. Auf einer Wiese lagerte die erste Abteilung unseres Zuges im Grase. Man wies uns unseren Platz daneben an, wir sanken zur Erde.

Der Platz war schattenlos, die Sonne stach unbarmherzig, aber wir durften doch wieder rasten. Das Herz pochte in der Brust, es tat immer noch seinen Dienst. Die Füße brannten. Wir lagen wohl eine halbe Stunde oder länger wie leblos. Da kam der junge Meister mit einem Eimer voll Wasser heran. Es wurde in unserer Gruppe verteilt; wir tranken den Eimer leer, und es blieb kein Tropfen übrig. Meister ging noch einmal auf den Hof, er nahm das junge Mädchen [93] mit, das uns auf dem Hof der Zuckerfabrik Brot besorgt hatte, er holte Wasser für die Frauen. Selbst diese Posten waren zugänglicher, wenn man mit einer Frau kam. Meister machte diesen Gang noch öfter. Er mußte sich Schimpfworte, Drohungen, Schläge gefallen lassen, aber er gab nicht nach, auch andere jüngere Kameraden schleppten Wasser heran. Später kam ein Wagen mit einer Trinktonne, es erhielt wohl jeder von uns ein wenig Wasser, und manche auch reichlich.

Wir waren seit dem frühen Morgen des vergangenen Tages auf den Füßen. Von sechs Uhr früh bis nachmittags um zwei Uhr hatten wir auf dem Hof der Zuckerfabrik gestanden, etwa um drei Uhr war der Abmarsch erfolgt. Den ganzen Nachmittag, die ganze Nacht und die Morgenstunden hindurch waren wir marschiert mit vielleicht zwei oder drei längeren Rasten. Gestern abend hatten wir eine Scheibe Brot erhalten, das war alles gewesen. In der Nacht hatten wir, wenn wir uns einmal kurz am Straßenrande niederlassen durften, Rüben und sogar rohe Kartoffeln gegessen, die wir mit den Fingern aus der Erde gebuddelt hatten, um unseren Durst etwas zu stillen.

Wir hatten kaum einen Blick für die nach uns eintreffenden beiden Abteilungen. Sie zogen müde, zerlumpt, wankend heran, mit grauen Gesichtern, staubbedeckt, mit stumpfen Augen und warfen sich in das Gras wie wir es getan hatten.

Namen von Erschossenen und Erschlagenen wurden weitergesagt: Albert Schröder aus Deutsch-Westfalen, Robert Bitzer aus Groß-Lonk, Franz Pankalla, Hugo Zühlke aus Netzwalde, ein Fünfzehnjähriger..., ich habe die wenigsten Namen behalten. Aber ich sah, daß Senator Busse noch lebte, und andere, die ich aufgegeben hatte, wankten heran, von ihren Nachbarn gestützt oder die letzten Schritte auch getragen. Wieviel schweigende, selbstverständliche Aufopferung, wieviel Hilfsbereitschaft, wieviel Zähigkeit überall!

Es kamen ein paar Wagen mit den Gebrechlichen, den Kranken, den Greisen. Man mußte sie von ihren Plätzen heben, in das Gras legen, ihre Stirnen, ihre Hände mit [94] Wasser benetzen. Ortwig, den ich hier wiedertraf, erzählte mir flüsternd, auf dem Gutshof stehe ein Wagen, auf dem etwa zehn oder zwölf tote Kameraden lägen. "Sind sie wirklich tot oder nur so erschöpft, daß sie sich nicht mehr bewegen konnten?" "Nein, sie liegen übereinander gestapelt, die Füße hängen hinten herunter. Sie sind tot", sagte er mit einer Stimme, in der am entsetzlichsten das Tote, Unlebendige, das Erstickte war.

Am Rande der Wiese war ein kleiner sumpfiger Tümpel. Ich sah, daß Kameraden sich dort wuschen, schleppte mich ebenfalls hin, zog Schuhe und Strümpfe aus, steckte die Füße in das Wasser, rieb mir Sohlen und Hacken ab, nahm grüne Blätter, umwickelte die Zehen und die Fersen damit, zog die Strümpfe darüber. Nun ließ es sich wieder auftreten. Fast fröhlich ging ich an meinen Platz zurück. Ich wurde angehalten. Schriftleiter Kuß, der in Hohensalza im gleichen Hause wie ich wohnte, hielt mir eine Zigarette hin. Ich nahm sie, rauchte ein paar Züge; mir war, als hätte ich ein stärkendes Frühstück zu mir genommen. Andere rauchten sie zu Ende.

Trotz der Hitze schlief ich einige Zeit. Am Nachmittag traten wir wieder an. Es ging weiter.

Als wir auf die Straße hinaustraten - es war immer noch die breite Betonstraße nach Warschau - gerieten wir wieder in den Strom der Flüchtlinge. Ein Volk floh nach Osten. Frauen in Autos, in eleganten Kleidern, geschminkt, mit bemalten Lippen; Bauern in abgerissenem Arbeitszeug gingen neben kleinen Panjewagen, in denen Kinder auf Betten und Kissen saßen, Schweine quiekten unter den hochgetürmten Ballen, barfüßige Jungen trieben eine Ziege oder eine Kuh, Hühner gackerten, Hunde bellten, dann wieder schoben sich hupend ein Privatauto oder Mietsdroschken aus Posen durch das Gedränge, eine bespannte Sanitätsabteilung rasselte an uns vorbei, auf dem Bock thronte der deutsche Apotheker aus Mogilno, den wir alle kannten, in polnischer Soldatenuniform. Keiner von uns rief ihn an, niemand wollte ihn verraten; er starrte auf uns herab, er wußte, daß [95] wir Deutsche waren, aber er hat wohl niemand von uns erkannt.

Eine Abteilung polnischer Truppen zog an uns vorbei nach Westen. Sie hatten keine Gewehre und Seitengewehre. Hatten die Polen so wenig Waffen oder traute man den eigenen Soldaten nicht? Der Offizier der ersten uns entgegenkommenden Kompanie hielt seine Leute zusammen, verbot ihnen Mißhandlungen. Aber schon die nächste Kompanie schlug mit Spaten und Knüppeln, die einige der Leute am Wege aufgelesen hatten, auf uns ein.

"Wie lange dauert das noch? Wie lange wollen sie das noch mit uns machen?" fragte plötzlich verzweifelt Lehmann-Nitsche, der ein lahmes Bein hatte und mit übermenschlicher Kraft bis hierher seinen Mut bewahrt hatte. Lemke schlug ihm auf die Schulter, unverwüstlich, Lemke war die Säule unserer kleinen Gruppe, er sagte: "Nicht länger als achtundvierzig Stunden, mein Ehrenwort, nicht länger. Seht sie euch an, wie sie fliehen. Die Unseren sind hinter ihnen her, und sie werden sie einholen."

Je mehr die Dämmerung sich über das Land senkte, um so stärker strömte es aus Wäldern und Gebüschen der Straße zu. Am Tage hielten sich viele aus Furcht vor den Fliegern versteckt, am Abend wagten sie sich heraus.

Wir waren zu Tode erschöpft, der Körper war leergepumpt, die große Hitze des Nachmittags hatte nicht einen Tropfen Schweiß aus uns herausgepreßt, die Zunge dörrte, wir taumelten, schlichen, humpelten vorwärts. Und doch ließen wir niemand liegen. Die Älteren begannen zu versagen; wir schleppten sie mit, faßten sie unter den Arm. Nur nicht zurückfallen, nicht am Wege liegen bleiben. Hinten krachten die Karabiner, und wir alle wußten, was das bedeutete. Und so stapften wir in den Abend hinein, bespieen, mit Steinen beworfen, beschimpft; wir hielten die Augen geradeaus gerichtet, wir sagten kein Wort, hielten uns gegenseitig an den Armen und marschierten.

Hinter uns dröhnte die Schlacht. Die Deutschen kamen, die deutschen Geschütze pochten mit harter Faust auf den [96] Boden hinter uns. Gegen den Abend zu wurde das Grollen lauter, sie kamen näher. Über die Felder trieb der Rauch brennender Dörfer. Schon waren die Abschüsse einzeln zu hören, und als es dunkel war, da zählten wir die Sekunden zwischen dem Aufleuchten des Feuerscheins und dem Dröhnen des Schusses. Wir kamen bis sechsundzwanzig. Neun Kilometer standen sie nur noch hinter uns. Auf allen Seiten, im Süden, im Norden waren Brände zu sehen, von überall her dröhnte und pochte und grollte es; wir waren im Kessel und nur im Osten war noch ein Loch.

Wilde Gerüchte flogen auf, die Polen riefen sich Einzelheiten zu, wir hörten gierig hin und glaubten nichts. Die Sterne leuchteten am klaren Himmel, aber wir sahen nicht nach oben. Wir blickten geradeaus, und unsere Ohren horchten nach hinten, unser ganzes Sein horchte. Kamen sie näher?

In dieser Nacht wurde Rehse geisteskrank. Er wollte aus der Reihe brechen, wir hielten ihn fest, wir mußten mit ihm kämpfen. Ich hielt ihn wohl eine Stunde lang mit Zureden im Glied, hatte ihn am Arm gepackt, trieb ihn, wenn er stehen bleiben wollte, mit Faustschlägen weiter. Er weinte, bat, wollte sich niederwerfen, wollte aus der Kolonne fliehen, ich verbiß mich in ihn. Später nahm Udo Roth ihn mir ab. Wir brachten auch ihn durch.

Vor uns, hinter uns krachten die Schüsse der Posten. Wir hörten auch die Niedergeschlagenen, die Niedergestochenen kaum noch schreien, sie stöhnten oder wimmerten nur noch. Einer bekam einen Tobsuchtsanfall, sprang auf einen Polen zu, es gab nur ein kurzes Ringen.

Ein Dorf tauchte vor uns auf, ein Kirchtum ragte groß und schwarz in die Luft. Neben der Kirche stand Artillerie, die ununterbrochen feuerte. Wir lagen im Straßengraben, eine Wasserfläche blinkte rechts der Straße, der Mond spiegelte sich darin, Bäume standen groß und rauschten. Einer brachte Wasser in einem Eimer, wir drängten uns um ihn, jeder bekam einen Schluck, es schmeckte nach Jauche, aber jeder trank, gierig, selig, dankbar.

[97] "In Lowitsch ist der Marsch zu Ende, in Lowitsch werden wir verladen." Niemand wußte, wer es gesagt hatte, es lief die Reihen entlang. Viele hofften auf das Verladen, nur nicht länger auf den Füßen bleiben. Aber wir sagten: "Geht langsam. Sie werden uns einholen. Sitzen wir erst im Zuge, so sind wir alle verloren." So flackerte immer wieder die Energie hoch. In jeder Gruppe gab es Männer wie Walter Lemke, Udo Roth, Stübner, sie waren hart, zäh, kaltblütig. Wir gingen noch langsamer, auch unsere Posten schleppten sich nur noch dahin. Und sie hatten doch Essen bekommen, erhielten so viel Wasser wie sie wollten.

Der Mond schien, es war etwas heller geworden. Um uns das Geschrei des fliehenden Volkes war leiser geworden, alles war müde.

Eine Kolonne Soldaten in Uniform überholte uns, sie marschierten im Gleichschritt. Sie hieben nicht auf uns ein, sie schimpften nicht, sie waren stumm. Ein leiser verbissener Ruf zu uns herüber: "Haltet aus! Sie kommen bald!" Das war ein Ruf in deutscher Sprache gewesen. Jetzt sahen wir, daß sie von anderen Soldaten bewacht wurden. Es waren Volksdeutsche, die in die polnische Armee gezwungen. Man traute ihnen nicht, hatte ihnen die Waffen abgenommen, schickte sie nach hinten. Ein Wunder, daß sie noch nicht erschossen worden waren.

Und die Artillerie dröhnte hinter uns. Wir humpelten, schoben uns noch langsamer vorwärts.

Eine Brücke über einen breiten Bach, schon in der Morgendämmerung. Ein Bauer springt über die steinerne Brüstung in das flache Gewässer hinein, die Posten schießen, er steht bis zu den Knien im Wasser, beugt sich nieder, füllt Wasser in seinen Hut, trinkt und trinkt. Die Geschosse klatschen neben ihm in die Flut, er trinkt und trinkt, schöpft noch einmal seinen Hut voll, watet zum Ufer, rennt die Böschung hinauf, tritt wieder in die Kolonne, er ist nicht getroffen, der Posten seiner Gruppe läßt ihn stumm eintreten, es ist einer von den wenigen, die das Morden nicht mitmachen. Der tropfende Hut wandert von einem zum [98] anderen, jeder trinkt ein paar Schlucke, reicht ihn weiter: zehn, zwölf Menschen brennt die Kehle nicht mehr so sehr wie bisher.

Ein Moorloch am Wege, einige wollen hinlaufen, Wasser holen. Die Polen treiben sie mit Kolbenhieben zurück. Ein Wachmann nimmt auf flehentliches Bitten die Feldflasche eines Kameraden, geht zu dem Wasserloch, läßt die Feldflasche voll laufen, bringt sie heran, zwei Hände strecken sich zitternd danach aus, zehn, zwanzig Augenpaare hängen an dem runden Gefäß, der Pole dreht die Feldflasche um, läßt ihren Inhalt zu Boden laufen, geht neben dem Zuge her, hält die Flasche im Marschieren vor sich her, das Wasser gluckert aus, rinnt in den Sand.

In diesem gleichen Moorloch sprangen aus der letzten Abteilung zwei Mann, die den Durst nicht länger ertrugen, aus dem Gliede heraus, sie liefen die wenigen Schritte, sie hatten keine Gefäße, sie knieten nieder, schöpften das braune Wasser mit den Händen. Zwei Polen traten über das Gras zu ihnen hin, faßten sie gleichzeitig von hinten an den Fußgelenken, kippten die beiden Trinkenden in das Wasser hinein, hielten sie an den Füßen fest, bis sie sich nicht mehr rührten. Dann ließen sie los. "Jetzt werden sie genug Wasser im Bauch haben", sagte der eine der Mörder.

Ein Eisenbahngleis lief von rechts heran, ein zweites, immer mehr Gleise. Wir näherten uns einem Bahnhof. Aus dem Nebel taucht eine Stadt, dicke Rauchwolken lagen über ihr, aus denen dann und wann Flammen schlugen. Es war hell geworden, heller Morgen, von ziehenden Rauch- und Nebelschwaden verdüstert. Die Nacht war ein wüster Traum. Soldaten hatten Handgranaten in unseren Zug geworfen, hatten mit Spaten auf uns eingeschlagen, weißhaarige Männer lagen ermordet am Wege. Jetzt sahen wir vor uns wieder die Frauen gehen. Wahrhaftig, sie hatten es auch ausgehalten. Nun war es hell, die Morgenkühle erfrischte.

Lemke neben mir bückte sich plötzlich. Er hatte genau so wenig Wasser bekommen wie wir, genau so wenig gegessen. [99] Woher nahm er die Kraft? Er hob etwas vom Boden auf, einen blinkenden Gegenstand, hielt ihn in die Höhe, zeigte ihn herum! "Heute gibt es noch etwas zu essen, Kameraden. Den Löffel habe ich schon gefunden!" Wie taten solche Worte gut.

Wir wurden von der Straße auf einen schmalen Weg hinuntergetrieben. Vor uns lag die brennende Stadt, links standen in langer Reihe kleine, viereckige Holzhäuser, dahinter war eine große flache Wiese zu sehen mit einem Kiefernwäldchen am jenseitigen Rande. Wir zogen an ihr entlang. Die Artillerie schwieg schon seit Stunden.

Plötzlich krachte es vor uns, giftige Rauchwolken wuchsen aus der Erde, dröhnende Explosionen. In der Luft über uns heulte es. Wir warfen uns an den Straßenrand, in den Graben. Ein eiserner Zaun stand da, auf einem weiten Hof große rote Gebäude. Die Posten brüllten und schrieen: "Auf! Zurück! Alles auf die Wiese." "Bloß vom Wege runter, von den Gleisen hier weg!" hörte ich Walter Lemke sagen. Seine Stimme war verwandelt, hart, rasch, ich blickte ihn an, er hatte die Lippen zusammengebissen, sein Gesicht war düster besonnt. "Mensch, Reinhold!" sagte er. Wir eilten gebückt den Straßengraben entlang, trieben die anderen an. "Rechts auf die Wiese!" rief auch Udo Roth, "von den Gleisen fort!" Was hatten sie? Seine Stimme war gellend und schrill, als stehe er wieder als Offizier vor einer Kompanie. Da war wieder das Heulen und Pfeifen über uns, ein infernalisches Krachen, wir liefen, hunderte liefen. Wo waren unsere Posten? Ich sah keinen. Sie waren fort, davongelaufen. "Nicht so weit, nicht so weit!" hörte ich jemand brüllen. Ein rasselndes Geräusch war in der Luft, ich warf mich in einen trockenen Graben, der im Zickzack über das Grasfeld lief. "Schützengräben?" dachte ich. "Hier?" Sie waren nur flüchtig ausgehoben. Immer noch rasselte das Maschinengewehr, wir duckten uns hinter die Grabenwände. Wir sahen uns in die flackernden Augen, da war eine Hoffnung. Großer Gott, sollte es wahr sein? Ein gellender Schrei: "Ein Flieger! Ein Flieger!" Wir sahen [100] hoch, aus dem Himmel schoß ein silbern gleißender Vogel herab, er kreiste über uns, wir konnten den Kopf nicht über den Grabenrand heben, denn das Maschinengewehr pfiff seine Garben dicht über die Gräser. Aber da gellte eine andere Stimme: "Er steckt eine rote Fahne heraus!" Eine dritte Stimme: "Er sieht uns, er sieht uns!" Wenige Sekunden nur noch, dann rauschte, heulte, fauchte es wieder über uns und nun schlug es ein, daß die Erde zitterte, daß der Sand von unseren Grabenwänden rieselte. Nun war ein neues Dröhnen in der Luft, Flugzeuge hoch über uns, mehrere Flugzeuge, acht oder zehn oder zwölf, und nun krachten und donnerten Bomben von oben herab, sie lagen entfernt von uns, den Polen zu. Sie waren da, sie trennten uns von den Polen. Sie waren herangeholt worden, wir waren gemeldet, das Vaterland vergaß uns nicht, es stieß zu, jetzt stieß es zu. Granaten und Fliegerbomben legten einen Vorhang zwischen uns und die Polen, wir waren im Kampfgelände zwischen den Fronten.

So ging es eine Stunde, es ließ nach, es kam wieder, vielleicht zwei Stunden. Dann auf einmal war es still. Und ein Ruf, eine strahlende, helle, klare Stimme, vom Jubel übermenschlich erhöht: "Deutsche Soldaten! Deutsche Soldaten sind an der Bahn!"

Da riß es uns hoch. Schreien, laufen, stolpern, Tränen, überlautes, gellendes Schreien, das ganze Feld ein Meer von vorwärtsstürmenden, lachenden, schluchzenden Menschen, wir fielen, sprangen auf, liefen, die Frauen mitten unter uns, wir rissen die Lahmen, die Kranken, die Alten mit, faßten sie unter den Armen, lautes Rufen, wie Gesang, eine gellende Woge, Heil Heil Heil Hitler! Heil Hitler! Die Stimme versagte und doch riefen wir, der Mund lachte, die Lippen bebten und die Tränen liefen. Das Herz? Hielt das Herz es denn aus, auch dies noch? Hielt es das aus?

Da standen sie, die Unseren, ein paar Menschen nur, lächerlich wenig, halbe Kinder, blond, lachend, im Stahlhelm, bestaubt, schwitzend, ließen sich umarmen, küssen, wehrten sich nicht. Wir standen herum, lagen auf der Erde, [101] schlugen den Boden mit den Beinen, mit den Fäusten, schrieen, lachten, schluchzten.

Bis dann - war viel Zeit vergangen, war wenig Zeit vergangen? Ich weiß es nicht - bis es dann still wurde, bis wir alle aufstanden und sangen. Der Gesang schwoll auf und ab; wie eine Welle klang es ab, daß nur wenige sangen, weil es die andern alle in der Kehle würgte, und wie eine Welle schwoll es dann wieder an, weil alle wieder Kraft zum Singen hatten. Die Arme hochgereckt zum Schwur. Deutschland war mitten unter uns. —

Seite zurückInhaltsübersichtSeite vor

Der Marsch nach Lowitsch
Erhard Wittek