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Auf den Straßen des Todes. Leidensweg der 
Volksdeutschen in Polen.
 
In polnischen Gefängnissen
Erlebnisbericht des volksdeutschen Schriftleiters Fenske

Der Herr Reichsaußenminister erwähnte in seiner Danziger Rede eine Meldung über die unerhörten deutschfeindlichen Ausschreitungen in Westpolen insbesondere in Bromberg im März 1939. Ich habe damals diese Meldung als Westpreußen-Berichterstatter des Deutschen Nachrichtenbüros an meine Berliner Schriftleitung weitergegeben. Sie wurde der unmittelbare Grund zu meiner Verhaftung am 29. März dieses Jahres.

[47] Ich wurde nachts um ½1 Uhr auf dem hiesigen Postamt von Beamten der polnischen politischen Polizei festgenommen, gefesselt in den Polizeiarrest eingeliefert, am nächsten Tage nach Thorn gebracht und dort dem Untersuchungsrichter für besondere Angelegenheiten vorgeführt. Er sagte mir auf den Kopf zu, ich hätte zugunsten Deutschlands Spionage getrieben. Meine Arbeit für das Deutsche Nachrichtenbüro sei nur ein Vorwand gewesen, ich hätte vielmehr nicht an das Deutsche Nachrichtenbüro meine Meldungen weitergegeben, sondern an die Deutsche Reichsregierung. Es sei im übrigen überflüssig, darüber viele Worte zu verlieren, denn jeder deutsche Journalist sei ja ein Spion. Als ich ihn darauf hinwies, daß er als polnischer Untersuchungsrichter mit der Formulierung derartiger Vorwürfe immerhin etwas vorsichtiger umgehen müsse, unterbrachen die anwesenden Offiziere der polnischen Spionageabwehr meinen Satz und fuhren mich wutschnaubend an: "Sie befinden sich hier in einem militärischen Lokal und haben nichts zu sagen, wenn Sie nicht gefragt werden! Euren Hitler werden wir sowieso in nächster Zeit erledigen! Wir sind nicht die Tschechen. Wir haben einen Nichtangriffspakt mit Deutschland nicht nötig. England und Frankreich werden uns schon helfen! Es ist nur traurig, daß man euch deutschen Schweine hier in Polen noch in die Gefängnisse werfen und mit den Spargroschen des polnischen Bürgers ernähren muß. Man sollte euch einfach abknallen."

Damit war das erste und einzige Verhör, dem ich mich während meiner ganzen Haft unterziehen mußte, abgeschlossen. Ich wurde dann sofort schwer gefesselt in das Thorner Gefängnis eingeliefert. Am Morgen des 15. April wurde ich, als gerade das erste Licht des werdenden Tages in meine dunkle, nasse Einzelzelle fiel, herausgeholt und unter Bedeckung von zwei bewaffneten Polizeibeamten zum Thorner Bahnhof abtransportiert. Unser Weg führte über die Thorner Weichselbrücke. Es war ein wundervoller Mor- [48] gen, dieser letzte Morgen in der Luft der Heimat. Im Osten stand der glutrote Feuerball der Sonne über den Mauern und Türmen der alten Ordensstadt. Nachts hatte es geregnet, die Weidenkämpen, die die beiden Weichselufer säumen, glänzten im ersten Licht des neuen Tages. Die Wiesen dampften, und über der ganzen Landschaft und dem breiten Band der Weichsel lag eine erste Ahnung des kommenden Frühlings. Zwei Polen kamen uns auf der Brücke entgegen und sahen, daß ich gefesselt abgeführt wurde. Sie blieben stehen, spuckten aus und sagten: "Ha, wieder so ein deutsches Schwein!" Ich hörte es kaum, denn unter mir rauschte der Strom meiner Heimat sein starkes, altes und doch so ewig junges Lied. Ich nahm es mit auf meine weite Reise, als letzten Gruß meiner Heimat und als Hoffnung auf eine große, bessere Zeit.

Die Fahrt ging nach Sieradz, einer kleinen Stadt am Oberlauf der Warthe. Dort befindet sich ein großes Zuchthaus, in das in jenen Apriltagen alle unter Spionageverdacht stehenden Volksdeutschen aus Westpolen, die inzwischen verhaftet worden waren, eingeliefert wurden. Wir wurden, da wir über 200 Untersuchungshäftlinge waren, auf mehrere Häuserblöcke der Strafanstalt verteilt. Ein Teil von uns kam in den sogenannten Block 1, in dem annähernd 1000 Schwerverbrecher mit Mindeststrafen von sechs Jahren Zuchthaus untergebracht waren. Mit Vorliebe wurden von dem Gefängnisvorsteher solche Zellen ausgesucht, die mit Juden belegt waren. In tierischer Lust zwangen die Gefängnisbeamten meine Kameraden, in diesen Zellen die schmutzigsten Arbeiten zu verrichten. Wollte ein Volksdeutscher eines Tages nicht mehr den Koteimer leeren, der in der Zelle stand und von den Juden nun besonders ausgiebig benutzt wurde, so wurde er mit mehreren Tagen Dunkelzelle bestraft. Diese Dunkelzelle war ein mehrere Meter unter der Erde gelegenes tiefes Loch, in das vorher acht bis zehn Eimer Wasser geschüttet wurden, um jegliches Liegen oder [49] Sitzen von vornherein unmöglich zu machen. Kamen die auf diese Weise Gequälten nach zwei bis drei Tagen wieder grau und zitternd ans Tageslicht, so mußten sie selbst aus diesem vollkommen abgedunkelten Kellerloch das Wasser, in dem sie gestanden hatten, wieder herausschöpfen. Gelang ihnen dies infolge ihrer restlosen körperlichen Erschöpfung nicht mehr, so wurden sie mit den Stiefeln oder den schweren eisernen Gefängnisschlüsseln so lange bearbeitet, bis sie ohnmächtig liegenblieben. Es spielte nämlich, wie man uns des öfteren brutal ins Gesicht sagte, gar keine Rolle, wie viele von uns auf diese Art aus der Welt geschafft wurden.

In den Zellen selbst durften sich die deutschen Häftlinge nicht etwa frei bewegen, sondern sie mußten den ganzen Tag über still in einer Ecke auf dem Fußboden sitzen. Ebenso durften sie nachts nur auf der harten Erde schlafen, während es sich die Juden, denen die Gefängnisleitung in jeder Form Verfügungsrecht über uns Volksdeutsche eingeräumt hatte, auf immerhin erträglichen Strohsäcken wohl sein ließen.

Infolge der fortgesetzten Mißhandlungen sind im Laufe des Frühjahrs und des Sommers mehrere deutsche Untersuchungsgefangene gestorben. So wurde beispielsweise der volksdeutsche Baumeister Bernecke, ein Greis, dessen Sohn ebenfalls im Zuchthaus von Sieradz saß, einmal in der Form bestraft, daß man ihn mit dem Rücken nach oben auf eine Holzbank legte, seinen Rücken mit nassen Säcken bedeckte, und dann so lange mit Brettern und Zaunlatten auf ihn einschlug, bis er keinen Laut mehr von sich gab. Bernecke ist mehrere Tage darauf in dem sogenannten Gefängnisspital, das nichts weiter als eine unbeschreibliche, schmutzige Brutstätte von Bazillen aller Art war, gestorben.

Das Essen, das aus 300 Gramm Brot und zwei Liter Suppe täglich bestand, war darauf eingerichtet, uns körperlich soweit wie möglich zu schwächen und zu zermürben. Unter allen möglichen Vorwänden wußte man ständig Pa- [50] kete, die wir von unseren Verwandten von draußen erhalten konnten, zurückzubehalten, oder, wie man das so schön nannte, zu konfiszieren. Ähnlich wurde mit den Briefen verfahren. Auch von unseren Briefen, die wir monatlich einmal nach Hause schreiben durften, ist, wie wir später feststellen konnten, kaum einer angekommen

Ärztliche Hilfe und Arzneien wurden uns in einer solchen Form gewährt, daß wir praktisch nicht den geringsten Nutzen davon haben konnten. Die meisten von uns erkrankten schon nach wenigen Wochen an schwersten Magen- und Darmbeschwerden, die durch das kaum genießbare Schwarzbrot verursacht wurden.

Ich berief mich daher eines Tages auf die angeblichen Rechte, die wir auf Grund der Gefängnisordnung besitzen sollten und meldete mich zum Arzt. Trotzdem ich auf die Dringlichkeit meines Falles sogar den Oberstaatsanwalt hingewiesen hatte, der monatlich einmal das Zuchthaus kontrollierte, mußte ich sechs Wochen warten, bis mich der vermeintliche Arzt holen ließ. Er entpuppte sich als einfacher Kurpfuscher, fragte mich kurz, was ich für Beschwerden hätte und sagte dann, mit einem Blick auf meinen Zivilanzug, den ich damals noch tragen durfte: "Sage einmal, wo hast du deine Hosen machen lassen, in Wien oder in Berlin?" Da uns trotz strengster Isolierung gerade in jenen Tagen die ersten Nachrichten von der Zuspitzung der politischen Lage in Danzig erreicht hatten, antwortete ich ihm: "Nicht in Berlin und nicht in Wien, Herr Medikus, aber in Danzig!" Ich durfte daraufhin sofort das Zimmer verlassen und wurde in meine Zelle abgeführt. Ähnlich erging es den wenigen meiner Kameraden, die überhaupt das Glück hatten, vor den "Arzt" gebracht zu worden. In den meisten Fällen kam es gar nicht so weit, sondern man begnügte sich damit, jedem Kranken einige Tropfen Baldriantinktur oder ein schmerzstillendes Mittel zu verabfolgen. Dann durften sie mindestens eine ganze Woche [51] lang nichts mehr von ihrer Krankheit sagen, andernfalls gab es Dunkelzelle.

Die Zuspitzung des deutsch-polnischen Verhältnisses im Laufe des vergangenen Sommers hatte natürlich auch verschärfte Maßnahmen der Gefängnisbehörden uns Häftlingen gegenüber zur Folge. Schläge wurden immer häufiger, der Führer und auch wir als Angehörige des deutschen Volkes wurden nur noch mit Ausdrücken bezeichnet, die hier einfach nicht wiederzugeben sind.

Zeitungen und Bücher wurden uns nicht erlaubt, die Suppe wurde immer wäßriger. Auch in den Gesprächen, die die Zuchthauswärter unter sich führten, konnte man deutlich etwas von dem unheimlichen Haß spüren, den die größenwahnsinnige und verantwortungslose polnische Regierung zusammen mit ehrlosen polnischen Geistlichen dem polnischen Volk einzuimpfen verstand.

An jedem Sonntag hielt der katholische Gefängnisgeistliche, der für die Seelen der 511 Raubmörder zu sorgen hatte, die mit uns zusammen im Block 3 saßen, lange Predigten, in denen er immer wieder darauf hinwies, daß Polen die christliche Verpflichtung und geschichtliche Sendung habe, mit allen Mitteln und der Waffe in der Hand das barbarische Deutschland zu vernichten. Hochwürden waren immer sehr gerührt, wenn die Diebe und Raubmörder, die zum Teil lebenslängliche Strafen zu verbüßen hatten, seinen Ausführungen anhaltendes Händeklatschen spendeten.

Die letzten Tage des Monats August waren kaum noch erträglich. Am 30. nachmittags wurden wir plötzlich in das Gefängnismagazin abgeführt. Dort wurden uns unsere Zivilkleider ausgezogen und uns dafür alte zerlumpte, schmutzige Sträflingskleider eingehändigt. In der darauffolgenden Nacht holte man uns aus dem Schlaf. Wir wurden zusammengekettet und mußten unter starker polizeilicher Bedeckung, die mehrere Bluthunde mit sich führte, zum Bahnhof. Wieder einmal ein Transport. Wir mußten [52] mit Rücksicht auf die drohende Kriegsgefahr weit im polnischen Osten sichergestellt werden.

Zur gleichen Zeit, als wir in den nach Warschau gehenden Zug verladen wurden, schenkte man allen anderen Insassen des Zuchthauses großzügig die Freiheit, so dem ganzen Mordgesindel und den Juden. Da sie gegen die Deutschen genügend aufgehetzt waren, wird auf ihre Kosten so mancher gräßliche Mord an Volksdeutschen zu schreiben sein.

Wir waren einen ganzen Tag unterwegs, sahen in allen Städten und auf allen Bahnhöfen, durch die wir kamen, die umfangreichen Mobilisationsmaßnahmen, die die Polen getroffen hatten und wurden nach all dem Elend, das wir viele Monate hindurch in den engen Zellen über uns ergehen lassen mußten, unendlich froh darüber, daß eine endgültige und klare Entscheidung bevorzustehen schien. Seit jenen Stunden wurde uns das graue Zuchthauskleid, das auf diesem Transport Tausende von feindlichen Blicken auf uns lenkte und uns aber Tausende von gehässigen feindlichen Schimpfworten einbrachte, zu einem Ehrenkleid, das wir mit Stolz trugen. Hier auf diesem Transport sahen wir auch eigentlich zum ersten Male, wie wahllos die Polen alles verhaftet hatten, was ihnen irgendwie verdächtig erschien. Der deutsche Arbeiter saß hier neben dem Rechtsanwalt, der deutsche Kolonist neben dem deutschen Großgrundbesitzer, der Jüngling neben dem Greis. 11 deutsche Frauen waren ebenfalls unter uns, gekleidet und gefesselt wie wir.

Nach einer endlos scheinenden Fahrt wurden wir in Siedlce ausgeladen und kamen in das dortige berüchtigte Isolationsgefängnis. Das war am Vortage des Kriegsausbruchs. Das Gefängnis in Siedlce war wesentlich kleine als das in Sieradz. So kam es, daß die strengen Vorschriften über unsere Isolierung nicht mehr eingehalten werden konnten. Wir wurden zu viert in Einzelzellen gesteckt. Schon in den ersten Stunden unserer Anwesenheit konnten [53] wir bemerken, daß bereits am Vorabend des Kriegsausbruches der gesamte Gefängnisbetrieb völlig desorganisiert war.

Am 5. September erschienen die ersten deutschen Bomber über Siedlce. Wir begrüßten sie durch unser kleines Zellenfenster, das uns nur einen bescheidenen Blick auf einen kleinen Himmelsausschnitt gewährte. Als die ersten Bomben fielen, verschwand im Nu die Mehrzahl der Gefängnisbeamten auf Nimmerwiedersehen. Die wenigen, die geblieben waren, konnten natürlich in keiner Weise für eine ausreichende Verpflegung der Zuchthausinsassen sorgen. Am 6. September bekamen wir zum letzten Male eine warme Suppe. Dann gab es nur noch täglich ein Stück Brot, dessen Gewicht sich ständig verkleinerte. Als nach mehreren Bombenangriffen unserer Flieger die Wasserzufuhr nicht mehr klappte, bekamen wir die letzten zwei Tage lang kein Trinkwasser mehr in die Zelle. Inzwischen hatten unsere Bomber den Bahnhof und militärisch wichtige Anlagen von Siedlce vernichtet. Die Polen verließen in voller Auflösung die Stadt und nahmen die Feuerwehr mit. Mehrere kleine Brände, die durch Bombeneinwirkungen entstanden waren, dehnten sich auf die gesamte Stadt aus. Nun hielten es auch die letzten Gefängnisbeamten nicht mehr bei uns aus. Sie rückten aus und überantworteten uns einer polnischen Militärabteilung.

In der Nacht vom 10. auf den 11. September wurde plötzlich in sehr überstürzter Form unser Weitertransport veranlaßt. Mitten in der Nacht wurden wir geweckt und in großer Eile auf den Gefängnishof getrieben, über dem noch immer der helle Feuerschein brennender Häuser stand. Wir wurden zu einem langen Zuge formiert, zu dessen Seiten links und rechts polnische Soldaten mit entsichertem Gewehr und aufgepflanztem Bajonett Aufstellung nahmen. Dann wurden uns mehrere schwere Säcke übergeben, die wir tragen sollten. Sie enthielten unsere Untersuchungs- [54] akten und den Proviant für unsere Begleitmannschaft. An unsere Verpflegung hatte man natürlich nicht gedacht.

Auch mehrere Schwerkranke, die unter uns waren, wurden mitgeschleift. Ich werde es nie vergessen, wie ein paar Meter hinter mir ein schwerkranker Volksdeutscher von vier Kameraden, lediglich mit einem dünnen kurzen Gefängnishemd angetan, mitgeschleppt wurde. Er konnte vor Schwäche nicht mehr gehen und mußte daher an Armen und Beinen getragen werden. Er war das erste Opfer der Blutgier unserer Begleitmannschaft, denn man hatte uns vorher bekanntgegeben, daß niemand von uns lebend zurückgelassen werden dürfe. Als wir etwa 10 Kilometer marschiert waren, und die dünne Mondsichel vor dem heraufkommenden Tage mehr und mehr verblaßte, fielen draußen auf der Landstraße zwischen Siedlce und Brest-Litowsk, auf der neben unserem endlosen Zuge der polnische Rückzug im Schutze der Dunkelheit nach Osten hastete, die ersten Schüsse. Sie galten diesem armen, unglücklichen Kameraden. Als es hell geworden war, bogen wir von der Landstraße ab und kamen in einen kleinen Wald, in dem sich unsere Begleitmannschaft vor jeder Verfolgung durch deutsche Flugzeuge sicher fühlte. Hier wurde auf Befehl des polnischen Leutnants, der die Soldaten befehligte, weiter mit uns aufgeräumt. Mehrere Ukrainer, die mit uns zusammen aus politischen Gründen in Siedlce eingesperrt worden waren, mußten hier ihr Leben lassen.

Nachmittags ging der Marsch weiter. Der polnische Leutnant trieb ständig zur Eile an. Er war furchtbar wütend, als fernes Artilleriefeuer zu hören war und nahm sicher die Schadenfreude wahr, mit der wir diese Tatsache quittierten. Wir kamen durch ein Dorf, in dem polnische Panzertruppen lagen. Ferner bemerkten wir dort viele Flüchtlinge aus der Stadt und erfuhren aus Gesprächen der Ortsbewohner mit unserer Begleitmannschaft von dem schnellen Vormarsch unserer siegreichen Wehrmacht. Das [55] gab uns neue Hoffnung. In diesem Dorfe versuchten wir von einem Brunnen Wasser zu holen. Wir wurden mit Bajonettstichen und Kolbenhieben zurückgetrieben. Den polnischen Bauern sagte man, sie sollten uns unter keinen Umständen Wasser geben, denn wir seien deutsche Spione, die sowieso sterben müßten. Gegen Abend wiederum eine mehrstündige Rast in einem kleinen Waldstück. Unsere Begleitmannschaft benutzte sie zu einem ausgiebigen Abendbrot. Wir bekamen nichts. Bei Einbruch der Nacht ging es wieder zurück auf die Landstraße, die wir morgens verlassen hatten. Hunger und Durst und nicht zuletzt der Staub der endlosen Straße setzten uns furchtbar zu. Niemand sprach ein Wort. In schwankenden Reihen, einer den anderen unter dem Arm führend, schoben wir uns in langer Marschkolonne, dauernd von den Soldaten neben uns angetrieben und mit dem Bajonett bedroht, nach Osten.

Die Nacht war furchtbar. Jeder, der vor Erschöpfung das Marschtempo nicht durchhalten konnte, sackte von Reihe zu Reihe nach hinten ab und wurde, wenn er am Ende des Zuges früher oder später zusammenbrach, abgeknallt wie ein räudiger Hund. Trotzdem hinter uns ständig geschossen wurde und auch die neben uns nach Osten fliehenden, aufgelösten polnischen Soldaten immer wieder in unsere Haufen hineinfeuerten, war unserm Leutnant der Zug noch immer zu groß. Er ging mit seinen Leuten, die fortgesetzt brüllten und uns zum Laufschritt zwingen wollten, von Zeit zu Zeit durch unsere Reihen, holte sich jedesmal mehrere von uns heraus und ließ sie mit Fußtritten und Kolbenhieben nach hinten treiben. Dort mußten sie niederknien und bekamen eine Kugel ins Genick und den Fangstoß mit dem Seitengewehr. Viele von ihnen sind sicher nicht gleich gestorben, sondern schwerverwundet liegengeblieben.

So wurde mehrere Tage später von deutschen Soldaten der volksdeutsche Abiturient Nast aus Thorn, der auch als [56] angeblicher Spion in unserem Zuge verschleppt wurde, noch lebend gefunden. Der Genickschuß hatte nicht gut getroffen. Das rechte Ohr war abgerissen. Sein Körper wies neben zwei schweren Lungenschüssen einen Bajonettstich im Rücken, einen Schuß in den Unterleib und tiefe Wunden an Kopf, Armen und Beinen auf. Er hat unter unmenschlichen Qualen noch sechs Tage gelebt und ist bei vollem Bewußtsein in einem deutschen Feldlazarett gestorben.

Von 280 Angehörigen dieses Zuges blieben beinahe 80 an den Straßenrändern und in den Wäldern zwischen Siedlce und Brest-Litowsk. So marschierten wir drei Tage und drei Nächte. Immer näher rückte das Artilleriefeuer der Front, das uns auf unserm ganzen Wege begleitete und ebenso tröstete, wie das eiserne Kreuz, das wir immer wieder über uns sahen, wenn unsere Luftwaffe in unmittelbarer Nahe von uns mit Bomben und Maschinengewehr polnische Truppenverbände zerschlug.

Stinkendes Wasser aus Pfützen und Sumpflöchern, rohe Kartoffeln und wenn es hoch kam, einige Mohrrüben, die wir an den Feldrändern unauffällig ausreißen konnten, das war alles, was unser ausgemergelter Leib in diesen langen Tagen bekam.

Jeder Schritt schmerzte wie höllisches Feuer. Auch die Körper der Leute waren durch Fußtritte und Kolbenstöße überall blutunterlaufen und von krustigen Wunden bedeckt. Viele von ihnen waren so abgemagert, daß ihnen die Knochen ganz spitz in der faltigen Haut standen. Aber nicht Hunger und Durst und nicht die schmerzenden Glieder und die wundgelaufenen eiternden Füße konnten auch nur ein einziges Mal irgend jemand von uns veranlassen, weich zu werden oder gar um Gnade zu betteln. Stumm und stolz trugen wir alle unser Schicksal, denn wir wußten, daß jeder von uns, und sei es in noch so bescheidenem Rahmen, sein Opfer für die Befreiung unserer Heimat vom polnischen Joch bringen mußte oder schon gebracht hatte. Über allen [57] stand das ungeschriebene Gesetz der Kameradschaft, wie ich sie so aufopferungsvoll nur einmal in meinem Leben, nämlich auf diesem Marsche, erleben konnte.

In Brest-Litowsk, das wir mit letzter Anstrengung erreichen konnten, wurden wir im dortigen Festungsgefängnis untergebracht. Der Raum reicht bei weitem nicht aus, so daß einzelne ZelIen, die für höchstens zwei Insassen eingerichtet waren, acht, zehn oder noch mehr Kameraden von uns beherbergten. Zu essen gab man uns nichts mehr, Wasser bekamen wir einen Becher für jede Zelle täglich. In meiner Zelle lag ein Volksdeutscher aus Oberschlesien, dem sich während des Marsches das Fleisch der Fußsohlen buchstäblich von den Knochen gelöst hatte. Da er barfuß marschieren mußte, war der Staub und der Schmutz der Straße in die Wunden gekommen, und nun lag er stöhnend und ächzend mit eitertriefenden Füßen in der Ecke unserer Zelle. Als wir am ersten Tage unseren Becher Wasser bekamen, hätte sicher jeder von uns nach den tagelangen Entbehrungen wenigstens einige Tropfen davon gerne getrunken. Aber es fand sich nicht einer, der in diesem Augenblick an sich dachte: Der Wasserbecher wanderte sofort zu dem Kränksten von uns, zu diesem oberschlesischen Volksdeutschen. Er konnte seine Wunden waschen, und als er damit fertig war, da glitt ein leises Lächeln über sein schmerzverzerrtes Gesicht, und wir haben daraufhin gern auf den nächsten Tag mit einem neuen Becher Wasser gewartet.

Schon wenige Stunden nach unserer Einlieferung in die Festung begann um unser Gefängnis herum ein wahrer Höllentanz. Die deutsche Artillerie, die vierundzwanzig Stunden hindurch vollkommen geschwiegen hatte, war plötzlich in unmittelbarer Nähe der Festung aufgefahren und belegte das gesamte Festungsgelände mit Trommelfeuer. Drei Tage lang zerschlugen deutsche Granaten ein Festungswerk nach dem anderen. Batterie um Batterie der Polen wurde zum Schweigen gebracht. Munitionslager flogen in [58] die Luft. Draußen, wo sich von uns aus nicht sichtbar polnische Truppen befinden mußten, schlug eine volle Salve nach der anderen ein. Es ist ein großes Wunder, daß bei dieser vernichtenden Beschießung der Festung Brest-Litowsk niemand von uns zu Schaden kam, trotzdem sogar der Gefängnisflügel, in dem wir uns befanden, mehrere Male von Artilleriegeschossen getroffen wurde und 20 Mann der Gefängniswache dabei ums Leben kamen.

Einmal sprang durch den Luftdruck einer einschlagenden Granate sogar die Tür einer Zelle aus den Angeln, so daß die Insassen ausbrechen und auch andere Zellen öffnen konnten. Einige von uns versuchten sofort zu fliehen. Ich selbst lief zunächst zu der großen Regentonne in der Hofecke, um etwas Wasser zu holen. Das Wasser sah ganz grün aus. Es schwammen die verwesten Teile eines großen Huhnes darin, aber ich habe die Augen zugemacht, den Topf gefüllt und bin damit schnell in die Zelle gerast. Inzwischen waren aber die Bewachungsmannschaften, die sich in den Keller geflüchtet hatten, wieder hervorgekommen und fingen an zu schießen. Wir sind daher schnellstens in die Zelle zurückgelaufen, weil wir dort am sichersten waren. Am Sonnabend abend, es war der 16. September, hörten wir plötzlich in allernächster Nähe intensives Maschinengewehrfeuer. Wir sahen eine Leuchtrakete nach der anderen in den dunklen Nachthimmel steigen. Da wußten wir, daß unsere Brüder nicht mehr weit sein konnten. Am Abend dieses 16. Septembers kam dann ein Soldat der Bewachungsmannschaft in unseren Gefängnisflügel, ging von Zelle zu Zelle und teilte uns mit, daß wir am nächsten Morgen erschossen werden sollten. Wir nahmen diese Nachricht sehr ruhig auf, denn wir alle hatten die feste Hoffnung, daß wir bis dahin befreit sein würden. Natürlich wurde auch der Gedanke erörtert, ob jemand ausbrechen und unsere Truppen benachrichtigen könnte. Die Bewachung war aber inzwischen wieder verstärkt worden. Die ganze Nacht hindurch hörten wir [59] in nächster Nähe des Gefängnisses Gewehr-, Maschinengewehr- und Artilleriefeuer.

Der nächste Morgen war der Sonntag. Es wurde 7 Uhr und unsere Truppen waren noch nicht da. Um 9 Uhr sollten wir erschossen werden. Die Minuten wurden zu Stunden. Das Schießen hatte gänzlich aufgehört. In uns stieg die Spannung bis aufs äußerste. Was war geschehen? Hatten sich die deutschen Truppen zurückschlagen lassen oder hatten die Polen kapituliert? War ein Waffenstillstand eingetreten? Es wurde 8 Uhr und immer höher stieg die Sonne. Nun mußte es doch bald 9 Uhr sein.

Nach diesen ungewissen Stunden hörten wir plötzlich von der Gefängnismauer her Stimmengewirr und lautes Rufen. Wir konnten zuerst nicht unterscheiden, ob das deutsche oder polnische Stimmen waren. Würden wir nun jetzt zur Erschießung geholt werden? Viele von uns haben das geglaubt. Und als plötzlich die Türen des Gefängnisses zu klappern begannen, und wir laute Schritte hörten, da erscholl ein fast unmenschlicher Schrei aus Hunderten von Kehlen durch die langen Gefängnisgänge. Nun kommen sie! Und plötzlich hörten wir durch diesen Schrei deutsche Laute. "Ruhe bewahren, deutsche Soldaten sind da!" Diese Stimme klang uns wie Engelsmusik. In diesem Augenblick hatten wohl alle von uns Tränen in den Augen, und manche sackten zusammen und mußten sich erst einmal auf den Boden setzen. Wir zitterten am ganzen Leibe! Mit lautem Knall wurde nun eine Zellentür nach der anderen gesprengt, alles drängte hinaus auf die Gänge. Wir fielen uns gegenseitig in die Arme und wußten nicht, was wir sagen sollten. Wir konnten kaum verständlich sprechen, denn durch den Wassermangel waren die Kehlen zugeschwollen, unsere Lippen völlig ausgetrocknet und krustig geworden. Wir konnten es noch nicht glauben, daß wir nun frei waren und als freie Menschen mitten in der warmen Septembersonne stehen durften. Auf dem Hof stand ein deutscher Leutnant [60] mit mehreren Soldaten. Er hatte die polnische Wache entwaffnet und gefangengenommen. Auch in den Gesichtern der Soldaten sah man ein glückliches Leuchten. Wir hatten Durst und stürzten uns sofort auf die Regentonne. Dann zogen wir, geführt von dem Leutnant, in die Stadt. Wir waren krank und schwach und müssen einen grauenvollen Anblick geboten haben. Wir waren kahl geschoren, unrasiert, von oben bis unten mit Wunden bedeckt, unglaublich schmutzig und völlig ausgemergelt, grau im Gesicht, die meisten von uns darm- und magenkrank und so schwach, daß sie kaum gehen konnten. Wir waren nur mit wenigen Lumpen bekleidet und hatten keine Schuhe. Aber wir waren so glücklich wie noch nie im Leben, hatten das unendlich beglückende Gefühl im Herzen, frei zu sein und wieder in die Heimat zurückkehren zu dürfen.

Noch zwei Tage blieben wir in Brest-Litowsk, um uns zu erholen. Die Soldaten sorgten rührend für uns. Sie brachten uns zu essen, wir wurden verbunden, die Musikkapelle eines Regiments brachte ein Ständchen, und obwohl jeder Soldat genug mit sich selbst zu tun hatte, dachten sie alle noch an uns.

Eine Episode möchte ich noch hier erwähnen, aus der Stunde, da wir auf dem Gefängnishof standen. Während die Soldaten der polnischen Wache ihre Gewehre an der Gefängnismauer zerschlugen, traten wir zusammen und sangen für alle, die diese Stunde nicht mehr erleben durften, das Lied vom guten Kameraden. Dann ging es hinaus in die Freiheit!



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