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Vorwort
Die Arbeitsmethoden des Völkerbundes sind noch nicht zu einem starren
System geworden. Die politische Entwicklung formt sie ständig um. Dieser
Beitrag soll an einem konkreten Beispiel ihre bisherigen Erfolge und
Mißerfolge, ihre Möglichkeiten und Grenzen erläutern.
Die Arbeit wurde angefertigt mit Unterstützung des Instituts für
Auswärtige Politik in Hamburg und der Laura Spelman Rockefeller
Memorial.
Hamburg, Jahresschluß 1927, H. A. H.
Die Hinweise auf die nach dem Schluß vereinigten Quellenangaben sind durch (1) bezeichnet. Die
Numerierung dieser Angaben beginnt für jedes Kapitel sowie für
Einleitung und Schluß jeweils wieder mit (1).
[6=leer] [7]
Einleitung
Bei der Neugestaltung Europas im Jahre 1919 hing das Schicksal Danzigs eng mit
der Lösung zusammen, die für die polnische Frage gefunden werden
würde. Diese machte aber dadurch besondere Schwierigkeiten, daß
sowohl ethnographische, als auch geographische (und dadurch wirtschaftliche)
und historische Gesichtspunkte geltend gemacht wurden, die gleichzeitig zu
berücksichtigen aber eine Unmöglichkeit war. Jeder einzelne
Gesichtspunkt hätte eine andere Lösung erheischt. Nun war die
Pariser Friedenskonferenz, auch wenn sie Sachverständige in
größerem Maße heranzog, keineswegs ein Kongreß von
Wissenschaftlern, die unter steter Berücksichtigung der Gesetze der Logik
ein in sich einheitliches und bis in die Details wohlgerundetes Werk erstrebten. In
Paris
galt - wie überall in der Politik - nur das Argument, das Erfolg
hatte. Einer wissenschaftlichen Kritik, besonders wenn sie nach der erlangten
Entscheidung kam, brauchte ein solches Argument nicht durchaus standzuhalten.
Dies trifft auch die in der polnischen und der mit ihr in Verbindung stehenden
Danziger Frage verwendeten Argumente. Die Pariser Lösung zeigt deutlich,
daß man sich bemüht hat, allen drei Gesichtspunkten Rechnung zu
tragen, soweit dem neuen polnischen Staat dadurch ein Mehr zugewendet werden
konnte. Gar zu offensichtliche Ungerechtigkeiten, die selbst damals in der
öffentlichen Meinung Europas lebhafteren Widerspruch hervorgerufen
hätten, suchte man jedoch zu vorsichtig zu meiden.(1)
Als Grundsätze für den zu schließenden Frieden waren die
Proklamationen des Präsidenten Wilson, insbesondere seine "Vierzehn
Punkte" vereinbart worden.(2) Zwei von diesen Grundsätzen1 bezogen
sich, oder waren doch anwendbar auf die polnische und damit auf die Danziger
Frage. Es waren dies [8] erstens der allgemeine Satz von der
ethnographischen Zugehörigkeit der Bevölkerung und zweitens der
besondere Satz von einem polnischen Zugang zum Meere.
Auf die gleichen Grundsätze hatten sich in einer gemeinsamen
Erklärung2 die Premierminister von Großbritannien,
Frankreich und
Italien festgelegt. Im übrigen scheinen die Vertreter der Entente nicht mit
weiteren Bindungen in bezug auf die Danziger Frage nach Paris gekommen zu
sein,3 obgleich [9] Versuche in dieser Richtung von polnischer Seite
gemacht worden sind.4 Es verdient festgehalten zu werden, daß nach
der
damaligen Meinung dieser vier Staatsmänner, die später als die Big
Four von so ausschlaggebender Bedeutung für die Pariser Resultate
geworden sind, der Umfang des polnischen Staates nicht etwa auf Grund
"historischen Rechts", sondern durch das Nationalitätsprinzip bestimmt
werden sollte. Wenn dieses Prinzip auch nichts besagt über das Schicksal
gemischtsprachlicher Gebiete, oder gar über wirtschaftliche
Zusammengehörigkeiten, so hätte es klug, d. h. unter
Berücksichtigung der Folgen, angewandt, doch den Schlüssel liefern
können zur Lösung der polnischen Frage. Der polnische Staat
wäre damit zwar kleiner, aber in sich einheitlicher und nach außen
geschlossener, mit weniger
innen- und außenpolitischen Schwierigkeiten belastet, erstanden.
Aber die Polen stützen ihre Ansprüche5 auf das historische Recht.
Sie verlangten die Grenzen des polnischen Königreichs, wie ihm im Jahre
1772 durch die erste Teilung Polens ein Ende bereitet wurde. Damals aber hatte
der polnische Staat von der Ostsee bis zu den Karpathen und von dem Dnjestr bis
zur Düna und bis zum Dnjepr gereicht, also das Gebiet des heutigen
Litauens, eines Teiles von Lettland und der Ukraine, sowie Westpreußen
mit umfaßt. Es waren dies Forderungen, die mit dem
Nationalitätsprinzip schlechterdings unvereinbar waren. Wären doch
außer den schon jetzt dem polnischen Staat einverleibten Minderheiten noch
fast alle Weißrussen, sowie Litauer, Letten [10] und Ukrainer einbezogen worden. Innerhalb
dieser Grenzen wäre Polen vielleicht in höherem Maße eine
geographische Einheit geworden als jetzt. Wenigstens machten die polnischen
Geographen auf der Friedenskonferenz geltend, daß in bezug auf
Gliederung, Klima, Erzeugnisse und Flußsysteme das von See zu See
reichende "historische Polen" die ideale polnische Abgrenzung darstellen
würde.(8) Aber schon im alten Staat dürfte noch nicht die
Hälfte der Bevölkerung polnischer Nationalität gewesen sein.
In einem neuen Staat von diesem Umfang wären die Polen in noch
stärkerem Maße in die Minderheit gekommen, und damit hätte
der Staat der Auflösung verfallen müssen.(9) Zeitweilig schien es,
als ob die Konferenz die polnischen Forderungen, soweit sie die Grenzen
gegenüber Deutschland betrafen, bewilligen würden. Der unter dem
Vorsitz von Jules Cambon tagenden "Commission des affaires polonaises"(10) war die seinerzeit dem Präsidenten Wilson von Dmowski
übergebene Denkschrift von der polnischen Delegation als offizielle
Stellungnahme eingereicht worden. In ihrer Note vom 28. Februar 1919
spezifizierte die polnische Delegation ihre auf die Westgrenzen bezüglichen
Gebietsforderungen: hier wurde auch Danzig verlangt. Von dem am 17.
März 1919 gefaßten Beschluß der Kommission für
polnische Angelegenheiten war die polnische Delegation "im allgemeinen"
befriedigt,(11) ein Beweis für das von dieser Kommission den Polen
gewährte Maß von Entgegenkommen. Dem Obersten Rat erstattete
die Kommission ihren Bericht am 19. März.(12) Er sah die bedingungslose
Einverlei- [11] bung von Danzig(13) und Ostoberschlesien in
den polnischen Staat vor. Den Bemühungen der polnischen Vertreter schien
also dank der Unterstützung der französischen Staatsmänner6 und durch die Zustimmung der englischen und
amerikanischen
Sachverständigen der Erfolg beschieden zu sein. Der Kommissionsbericht
hatte Aussicht, vom Obersten Rat unverändert angenommen zu werden.(16) "Plötzlich änderte
Lloyd George seine bisher zur Schau
getragene Gleichgültigkeit und zeigte
aggressive Anteilnahme..... Er saß vornüber gebeugt in
seinem Sessel, sprach mit ernster Stimme, zerriß den Bericht in
Stücke, und das von ihm angewandte Argument verscheuchte das
Lächeln aus den Gesichtern und trieb Furcht in die Herzen seiner
Zuhörer. 'Meine Herren', sagte er, 'wenn wir Danzig den Polen geben,
werden die Deutschen den Vertrag nicht unterzeichnen. Und wenn sie ihn nicht
unterzeichnen, ist unsere Arbeit hier ein Fehlschlag. Ich versichere Sie, daß
Deutschland einen solchen Vertrag nicht unterzeichnen wird'. Es folgte eine
hörbare Stille. Lloyd George hatte ein Schreckgespenst hineingebracht, und
dieses hatte gewirkt..."(17)7 Wilson wurde umgestimmt8 und ebenso sehr gegen seine Neigung
Clémenceau. Die [12] weiteren Bemühungen der polnischen
Delegation, insbesondere des am 5. April in Paris eingetroffenen polnischen
Ministerpräsidenten Paderewski, sowie der Widerspruch der Kommission
für polnische Angelegenheiten9 waren vergebens.(21) Der englische Plan, der den Kommissionsbericht ersetzte, sah die
Errichtung der Freien Stadt Danzig vor. Das durch den Versailler Vertrag und den
Danzig-polnischen Vertrag vom 9. November 1920 für Danzig vereinbarte
Regime wurde im Prinzip damals schon festgelegt.(22)
Während in der Frage Oberschlesien der Einfluß der englischen
Arbeiterpartei Lloyd George später zu seiner Meinungsänderung
veranlaßte,(23) die die Abstimmung zur Folge hatte, scheint in der
Danziger Frage die Stellungnahme englischer
Finanz- und Handelskreise - "Trade is the Life of the British
Empire"(24) -, die für ihre Interessen in Polen ein politisch und
rechtlich gesichertes Einfallstor suchten, bewirkt zu haben, daß Danzig nicht polnisch
wurde.(25)
Die Entscheidung über das Schicksal Danzigs fiel im Rat der Big Four, der
gerade eingerichtet worden war. Die Grenzen der Freien Stadt wurden wenige
Tage später von dem Mitglied der britischen Delegation, Patton, und dem
der amerikanischen Delegation, Bowman, "between four and six o'clock"
festgelegt.(26) Damit war auch die äußere Gestaltung Danzigs
bestimmt.
Nach dieser Entscheidung wurden noch drei Versuche, zwei von polnischer und
einer von deutscher Seite, unternommen, um das in Paris bestimmte Schicksal
Danzigs zu ändern. Beim ersten Versuch sollte im Januar 1919 der
polnische Aufstand, der schon die ganze Provinz Posen von Deutschland getrennt
hatte, auch nach
West- und Ostpreußen getragen werden. "Unverkennbar war das Bestreben
der Polen, für die Friedenskonferenz vollendete Tatsachen zu schaffen".(27) Durch den deutschen Grenzschutz wurde diese auch Danzig
bedrohende
Gefahr beseitigt. Der zweite Versuch war mit den Truppen des Generals Haller
geplant. Durch Art. 16 des Waffenstillstandsvertrages hatte Deutschland die
Verpflichtung übernommen, den Alliierten den Durchzug von Truppen
über Danzig zu gestatten. Marschall Foch versuchte durchzusetzen,
daß auch General Hallers Truppen in Danzig gelandet würden.
Welches die Folgen einer solchen [13] Landung gewesen sein würden, hat
Paderewski unzweideutig ausgesprochen: "Westpreußen und Danzig
würden polnisch sein, sobald Hallers Divisionen auf Danziger Boden
stehen".(28) Es gelang den deutschen Unterhändlern zu erreichen,
daß Hallers
Truppen - gegen Garantierung der Sicherheit des Transports seitens der
deutschen
Regierung - auf der Bahn quer durch Deutschland geführt
wurden10. Damit war das zweite Mal eine Danzig drohende
Gefahr gebannt. Der
dritte Versuch erfolgte mit der gegenteiligen Absicht durch die deutsche
Friedensdelegation. In der damaligen Situation war es ein Beginnen mit
untauglichen Mitteln, die Gegner durch Noten11 von einer mühsam
errungenen und gegen weitergehende polnischfranzösische
Ansprüche festgehaltene Position abbringen zu wollen.
Da die in Paris verwandten Argumente auch in der politischen Diskussion von
heute noch eine Rolle spielen, wird es angezeigt sein, sie an dieser Stelle
näher zu erörtern.
Der erste der von Wilson für die Neugestaltung Polens aufgestellten
Grundsätze betraf die ethnographische Zugehörigkeit der
Bevölkerung. Trotz der in der Denkschrift von Dmowski erhobenen
Behauptung, daß die Hälfte der Danziger Bevölkerung
polnisch sei,12 und selbst wenn man in die amtliche
Bevölkerungsstatistik
Zweifel setzen wollte, hat der Gang der Ereignisse in Danzig und um Danzig
keinen Zweifel darüber aufkommen lassen können, daß
Danzig, um mit der deutschen Note an die Friedenskonferenz vom 29. Mai 1919
zu sprechen, "kerndeutsch" ist. Zum mindesten haben die Wahlen zum Danziger
Parlament (1920: 7, 1923: 5, 1927: 3 Polen von
120 Abgeordneten) es deutlich
gemacht. Auch die der Mantelnote vom 16. Juni 1919 beigefügte
Denkschrift der Alliierten erkannte an: "la population de
Dantzig est et a été
depuis longtemps en grande majorité allemande". Der ethnographische Charakter
Danzigs wird nicht mehr bestritten. Er bedarf keiner weiteren Prüfung.
Bei dem zweiten seiner hier angewandten Grundsätze scheint Wilson
zunächst an einen Zugang zum Meere für
Österreich- [14] Ungarn gedacht zu haben.(30) Jedenfalls
involvierte der Begriff "Zugang zum Meer"13 für den Präsidenten
Wilson keinesfalls eine Gebietsabtrennung.(31) Deutlich ergibt sich dies aus dem
von Dmowski selbst geschilderten Gang einer Unterredung zwischen diesem und
Wilson, wie er nach den polnischen Quellen bei Recke wiedergegeben worden ist.(32) "Als Dmowski seinen Vortrag beendet hatte, entgegnete Wilson:
'Genügt Ihnen denn nicht die Neutralisierung der Weichsel und die
Schaffung eines Freihafens in Danzig?' 'Herr Präsident', bemerkte
Dmowski, 'das würde bedeuten, daß Sie sagten: Ihr werdet
vollkommene Freiheit zu atmen haben, nur werden die Deutschen dauernd die
Hand an Eurer Gurgel haben.'" Recke fährt dann fort: "So hatte Dmowski
in seiner ersten Unterredung mit Wilson feststellen müssen, daß
dieser bei seiner Forderung eines freien und sicheren Zugangs zum Meere nicht
im entferntesten daran gedacht hatte, dem polnischen Staat deshalb den Besitz
Westpreußens zuzuerkennen. Wilson wollte diese Frage nur durch die
Neutralisierung der Weichsel und die Einräumung eines Freihafengebietes
in Danzig an die Polen gelöst wissen. Ganz Westpreußen sollte nach
dem festen Entschluß des Präsidenten, zu dem er sich noch bis in den
November 1918 hinein bekannte, bei Deutschland bleiben! Und wie aus Wilsons
weiteren Bemerkungen hervorging, sollte gerade diese Regelung der Frage des
Zugangs Polens zur Ostsee ein integrierender Bestandteil der
Völkerbunds-Organisation werden, durch welche Wilson [den] großen
Schwierigkeiten, welche die nationale Gemengelage im Osten bot, Herr zu
werden versuchte".(33) Wilson dachte damals überhaupt nicht daran,
irgendein Stück des deutschen Reichsgebiets dem neuen polnischen Staat
zuzuerkennen.(34) Wenn er in Paris schließlich doch mit der Abtrennung
deutschen Gebietes zu Gunsten Polens einverstanden war, so dürfte dies zur
Hauptsache auf zwei Umstände zurückzuführen sein. Auf die
überaus geschickte Propaganda der amerikanischen Polen,(35) deren
eventuell ausschlaggebende Bedeutung für die Präsidentenwahl
Wilson noch bei der Abschiedsunterredung von Dmowski vor Augen
geführt worden war,(36) und auf den Einfluß des Professors der
Geschichte an der
Harvard-Universität, Lord,(37) welchem schon im Sommer 1918 die
[15] wissenschaftliche Vorbereitung einer
Lösung der polnischen Frage anvertraut worden war, und welcher dann bei
der Friedenskonferenz der Anwalt der polnischen Interessen bei Wilson wurde.
Wilson "wurde in Paris zum allgemeinen Erstaunen aus einem Mann, der bisher
den Polen objektiv und reserviert gegenübergestanden hatte, zu einem
ausgesprochenen Polenfreunde... und erklärte sich ebenfalls für die
Schaffung eines Korridors".(38) So ist im Laufe der Friedensdiskussion der
Begriff "Zugang zum Meere" in geschickter Weise, mit dem fast
tausendjährigen polnischen Drang zum Meere,(39) zu einer einheitlichen
Formel verschmolzen, die noch heute den polnischen Staatsmännern
für Forderungen und Plädoyers unschätzbare Dienste leistet.
Es zeigt sich hier zugleich die Verbundenheit der Danziger Frage mit dem
Korridor-Problem. Trotzdem Polen durch den Korridor eine direkte und unter
seiner ausschließlichen Hoheit stehende Landverbindung besitzt, und
trotzdem ihm durch das Danziger Regime auch in Danzig ein unter allen
Umständen zur Verfügung stehender Zugang zum Meere
verbürgt wird, wird heute noch von polnischer Seite mit Nachdruck betont,
daß die Freie Stadt
Danzig nur zu dem Zwecke gegründet worden sei,
um Polen einen freien und ungehinderten Zugang zum Meere zu verschaffen14.
Da Polen das, was es schon zweifach innehat, doch schwerlich noch ein drittes
Mal zu erwerben wünscht, steht man vor der Frage, was die Polen meinen,
wenn sie sagen "Zugang zum Meer", und wenn sie noch weiter fordern "Zugang
zum Meer".
Es kann kein Zweifel darüber bestehen, wie auch Wilsonworte, Versailler
Vertrag und Pariser Vertrag zwischen Danzig und Polen zeigen, daß Zugang
zum Meer ein wirtschaftliches Recht bedeuten sollte,
Ein- und Ausfuhr, Schiffahrt und [16] Eisenbahnverkehr, ohne Behinderung durch den
möglicherweise nicht ausschließlich auf das Fördern dieser
wirtschaftlichen Bedürfnisse Polens gerichteten Willen eines fremden
Staates. Und damit taucht die weitere Frage auf, ob Polen seiner wirtschaftlichen
Konstruktion und seiner Verkehrslage nach einen Zugang zum Meer in der ihm in
Paris zugestandenen Form braucht, oder ob gar die heute noch erhobene
Forderung Polens nach der Einverleibung Danzigs unter wirtschaftlichem
Gesichtspunkte berechtigt erscheint. Die Prüfung dieser Frage(41) aber
ergibt, daß der Außenhandel über
Danzig - da man die Kohlenausfuhr als eine Konjunkturerscheinung von
nichtbleibendem Charakter bewerten
muß - nach der Zollunion mit Polen gegenüber der
Vorkriegszeit um ein Drittel zurückgegangen ist und selbst im Jahre 1925
unter dem Einfluß von Inflation und Zollkrieg (durch die dadurch
erhöhte Kohlenausfuhr) erst sechs Siebentel des Vorkriegsumschlages
erreicht hat15. Von dem Gesamtwarenverkehr
Polens ging in dem Jahre 1922 bis
1924 zwischen 68 und 54% der Einfuhr und zwischen 94 und 80% der Ausfuhr
über die trockene Grenze. Der Wert des gesamten Außenhandels
Polens (das der Ausdehnung nach in Europa an sechster Stelle steht) ist aber in
einem Jahre nur etwa so groß wie der des deutschen Außenhandels in
einem Monat. Der Beweis für die Notwendigkeit des gegenwärtigen
Danziger Regimes oder gar für die Forderung auf Ausweitung der
polnischen Rechte in Danzig ist die Wirtschaft des polnischen Freistaats schuldig
geblieben. Wenn Polen also auch heute noch sein Verlangen nach einem freien
Zugang zum Meere für nicht befriedigt hält, so kann es diesem
Begriff nicht nur wirtschaftliche Bedeutung beimessen. Für Polen
muß er einen sehr viel umfassenderen Sinn haben.16
In diesem Zusammenhange stoßen wir auf ein sehr interessantes Argument.
Die Entscheidung über Danzig widersprach unzweifelhaft dem gerade von
alliierter Seite propagierten Selbstbestimmungsrecht der Völker. Auf den
Gedanken, die Danziger selbst um ihre Meinung über ihr zukünftiges
Schicksal [17] zu befragen, ist man in Paris nicht gekommen.
Über die dort doch offenbar leise auftauchenden Bedenken setzte man sich
mit historischen Beweisgründen, auf die noch zurückzukommen sein
wird, sowie mit einer weiteren nicht unwichtigen Deduktion(43) hinweg. Man
sagte nämlich, daß, wenn nationale Ansprüche eines kleinen
Gemeinwesens mit Lebensnotwendigkeiten eines großen Gemeinwesens
zusammenstoßen, die Interessen des großen denen des kleinen
vorgehen müßten. Da hier nun 350 000 Danziger gegen 25 Millionen
Polen standen, mußte die Entscheidung gegen Danzig ausfallen. Wenn aber
in gleichem Atemzug von Deutschland als dem "Erbfeind" Polens und von der
Zerschneidung deutschen
Gebiets durch den polnischen Korridor gesprochen
wurde, so war man sich wohl nicht bewußt, daß dieses Argument von
dem Vorrang der Ansprüche des Größeren gegenüber
denen des Kleineren in einer anderen Situation sich auch einmal gegen Polen, das
ohne ausgeprägte geographische Grenzen zwischen dem deutschen und
russischen Reich eingebettet liegt, richten könnte.
Und endlich kommen wir zum historischen Argument, das zwar nicht
offensichtlich die Pariser Entscheidung beeinflußt
hat - wenngleich die dem Ultimatum der Entente angefügte
Denkschrift es
erwähnt17 -, das aber dennoch in Paris ausgespielt
worden ist, und
das auch heute noch gelegentlich benutzt wird. Das historische Argument in
polnischer Anwendung behauptet eine rechtliche Verbundenheit der Hansestadt
Danzig mit dem Königreich Polen derart, daß Danzig eine dem
Polnischen Reiche einverleibte Stadt gewesen wäre. Das
Rechtsverhältnis zwischen Danzig und Polen in der Zeit von 1454 bis 1793
ist schwer eindeutig und vollständig unbestreitbar zu bestimmen.
Während Albrecht(44) von einem souveränen Staate spricht, da er
Geschäfts- und Deliktfähigkeit besaß, bezeichnen andere
Forscher(45) die Beziehungen Danzigs zu Polen
als je nach der Zeit schwankend
und unklar18. Wichtiger als die
Subsummie- [18] rung unter einen juristischen Begriff, den man
bei Begründung der
Danzig-polnischen Beziehungen noch nicht gekannt hatte, und an den man
infolgedessen damals die Rechtsbeziehungen noch nicht hatte ausrichten
können, ist die Feststellung der beiderseitigen tatsächlichen
Rechte.
Auf Grund des großen Privilegs des Königs Kasimir vom 14. Mai
1457 war Danzig nur dem polnischen Könige, nicht aber dem polnischen
Staat untergeben.(48) Es wurde daher auch nur dem polnischen Könige der
Huldigungseid geleistet.(49) Seine Rechte waren: 1. Der König unterhielt
in Danzig einen Burggrafen. Die Kandidaten wurden jedoch vom Rat
präsentiert. Dem Könige stand nur das Recht der Auswahl zu.(50) 2.
Der König zog aus Danzig gewisse Einnahmen, die gegen entsprechende
Gegenleistungen mehrfach erhöht wurden.(51) 3. Der König war in
einer beschränkten Zahl von Fällen oberste richterliche
Berufungsinstanz.(52) Die vom Könige vorgenommenen
Änderungen der Danziger Verfassung und Schlichtungen von Streitigkeiten(53) war oktroyiert, erfolgten also entgegen dem Recht.
Die Rechte der Stadt Danzig werden von verschiedenen Forschern(54) (55) wie
nachstehend aufgezählt:(56)
1. Die Mitgliedschaft der Hansa und dadurch selbständige auswärtige
Politik. Danzig schloß Verträge ab, führte und beteiligte sich
an Kriegen, verweigerte auch Polen die Waffenhilfe, wenn es seinen eigenen
Verträgen zuwider war.(57) Im Jahre 1630 schloß Danzig gegen den
Willen des Königs von Polen einen Neutralitätsvertrag mit
Schweden ab, obwohl zwischen Polen und Schweden ein Erbfolgekrieg entbrannt
war. Widerstände der polnischen Krone gegen eine eigene
Außenpolitik wurden durch Geldzahlungen beseitigt. Gelegentlich
verteidigte die Stadt ihre Unabhängigkeit gegen den König von Polen
mit Waffengewalt, so z. B. 1577 gegen Stefan Bathory. Der Verkehr mit
fremden Staatshäuptern vollzog sich in den unter Souveränen
üblichen Formen. Thronbesteigungen und Todesfälle in den
regierenden Häusern wurden dem Rat mitgeteilt. Die englischen und
französischen Könige bezeichneten den Rat als ihre "carissimi
amici" oder "très chers et bons amis".(59)
2. Das Gesandtschaftrecht. Danzig unterhielt bei den meisten europäischen
Höfen, so auch in Warschau,(60) ständige Gesandtschaften. Vielfach
bediente es sich der hanseatischen [19] Gesandtschaften bei den Höfen, in
einzelnen Fällen auch bei polnischen.(61) (62)
3. Das Besatzungs- und Befestigungsrecht. Danzig hatte das Recht, eigene
Truppen zu halten. Eine Verpflichtung zur Aufnahme fremder, insbesondere
polnischer Truppen bestand nicht. Den Truppen, die die polnischen Könige
bei ihren Besuchen in Danzig begleiteten, war das Betreten der Stadt verwehrt.
Die Befestigungsanlagen waren von der Stadt angelegt und wurden von ihr
unterhalten.(63)
4. Das Hafen- und Schiffahrtsrecht. Danzig hatte das Recht, frei über seinen
Hafen zu verfügen und die Schiffahrt in den Meeren der polnischen Lande
frei auszuüben. Der polnische König hat allerdings mehrfach, aber
ohne Erfolg, versucht, dieses Recht einzuengen.(64)
5. Das Recht eigener Gesetzgebung und die Finanzhoheit. Danzig gab sich seine
Gesetze selbst. Königliche Verordnungen bedurften zu ihrer
Rechtsgültigkeit der Zustimmung der Danziger
verfassungsmäßigen Organe. Polnische Reichsgesetze hatten in
Danzig überhaupt keine Gültigkeit. Die Stadt schrieb aus und erhob
Steuern. Danzig schlug eigene Münzen.(65)
6. Das Flaggenrecht. Danzig führte eine eigene Flagge. Die goldene Krone
über den beiden Kreuzen ist nach Kaufmann das Sinnbild höchster
Machtvollkommenheit.(66)
Es dürfte nach vorstehendem keinem Zweifel unterliegen, daß die
Selbständigkeit Danzigs(67) früher erheblich größer
gewesen ist als unter dem gegenwärtigen Regime.(68)19 Wenn aber Polen
diese Argumente in die Debatte wirft, so wird damit die Richtung seines Wollens
gekennzeichnet. Und in der Tat: Das Kompromiß von 1919 hat eine
Lösung der Danziger Frage nicht gebracht. Im Gegenteil, sie hat ein
ständiges Spannungsverhältnis zur Folge gehabt. Zur
Verhütung von Explosionen, deren Folgen sich nach dem Beispiel von
1914 jeder Voraussage entziehen würden, hat der Völkerbund die
Funktion des Sicherheitsventils übernehmen müssen. Will man
beurteilen, wie der Völkerbund diese Aufgabe erfüllt hat, so hat man
die einzelnen Linien der seit 1919 gehenden Bemühungen Polens, um die
Ausweitung seiner Rechte in Danzig zu verfolgen, und auf ihre für [20] die Selbständigkeit Danzigs sich
ergebenden Folgen zu prüfen. Es wird sich vielleicht nicht vermeiden
lassen, sich öfter mehr mit der Politik Polens als mit der der Freien Stadt
oder gar mit der Tätigkeit des Völkerbundes zu beschäftigen.
Ist doch Polen der stets aggressive Teil, dem es um die Veränderung des
bestehenden Zustandes zu tun ist. Danzig dagegen befindet sich
regelmäßig in der Abwehr und hat nicht einmal die
Möglichkeit, die als die beste gerühmte Verteidigungswaffe, den
Angriff, und wenn es nur der Präventivangriff wäre, anzuwenden.
Und der Völkerbund kann erst auf Anrufen einer Partei tätig werden.
Sein Eingreifen hat also Kampf zur Voraussetzung. Dies ist seine Stärke,
weil er so als Uninteressierter die Vermittlung und den Ausgleich versuchen kann.
Dies ist aber auch seine Schwäche, weil all sein Vergleichen und
Dämpfen des Übermaßes
schwül-heißen nationalen
Gefühls niemals den Kampfzustand selbst beenden kann. Dem
Völkerbund ist die Erhaltung (die Festigung, der
Ein- und Ausbau) des Status' von 1920 als Aufgabe zugewiesen. Dies ist der
Inhalt der Umschreibungen "Schutz der Freien Stadt" und "Garantie seiner
Verfassung". Die sich notwendigerweise hieraus ergebende Passivität
seiner Haltung und Begrenzung seiner
Schützer- und Garanten-Tätigkeit muß die
Lösung der
Danzig-polnischen Frage durch den Völkerbund ausschließen. Die
Danzig-polnische Frage wird in vollem Umfange bestehen bleiben.
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