[21] I.
Um die Rechtsstellung Danzigs
Die Polen auf Grund der Bestimmungen des Versailler Vertrages
zuzugestehenden Rechte in Danzig sind zwischen Polen und Danzig in dem
Pariser Vertrage vom 9. November 1920 vereinbart worden. Die Rechtsnatur der
Freien Stadt aber blieb im Halbdunkel der Unklarheit. Der Danziger Entwurf hatte
eine jeden Zweifel ausschließende Feststellung vorgesehen: "Danzig ist ein
souveräner Staat, der unter dem Schutze des Völkerbundes
steht". Der endgültige Text der Pariser Konvention schweigt über
diese Frage. In dem vom Völkerbunde genehmigten Text der Verfassung ist
die Freie Stadt als ein "Freistaat" angesprochen worden. Die nicht beseitigte
Unklarheit ist von polnischer Seite benutzt worden, um die polnische
Souveränität über Danzig zu behaupten:(1) Danzig sei nur eine
Selbstverwaltungskörperschaft innerhalb des polnischen Staates.(2)1 Der Zweck dieser Behauptung ist klar:
Gelänge es Polen für diese These Anerkennung zu finden, dann
bedürfte es keiner besonderen Anstrengung mehr, um den Zustand zu
einem Faktum zu machen, der hier als eine Rechtsbeziehung postuliert wird. Es
ist dieses also ein Vorstoß gegen Danzig, der gleich aufs Ganze geht und die
Selbständigkeit der Freien Stadt mit einem Schlage durch eine einfache
Rechtskonstruktion beseitigen soll. Die hierbei verwandten Argumente sind zu
prüfen und die hierin unternommenen Schritte zu verfolgen.
Die von polnischer Seite in bezug auf die Rechtslage Danzigs geltend gemachten
Argumente sind von dem Professor an der Schule für politische
Wissenschaft und der Handelshochschule in Warschau, Julien Makowski, in einer
Schrift "La Situation [22] juridique du territoire de la Ville libre de
Dantzig",(4) zusammengefaßt worden.
a) Als wichtigstes Argument benutzt Makowski die Verknüpfung von Einst
und Jetzt durch die von der Entente an Deutschland gerichtete Note vom 16. Juni
1919: "Elle [Danzig] va se trouver désormais placée de nouveau a une
position
semblable a celle quelle a occuppée pendant tant de siècles", und sagt, es
erscheine jedenfalls sicher, daß die Urheber des Versailler Vertrages Danzig
wiederum in dieselbe Stellung hätten bringen wollen, in der es sich vor der
Zertrümmerung Polens befand.(5) Aber einmal ist das zwischen Danzig und Polen auf
Grund des Versailler Vertrages bestehende Rechtsverhältnis ein durchaus
anderes, wie sich schon aus dem Katalog der Rechte der Hansestadt Danzig(6) ergibt. Und zweitens hatte die Ententenote auch nur
von einer Ähnlichkeit, aber nicht von einer Gleichheit der
Rechtsverhältnisse von damals und jetzt gesprochen, so daß hieraus
schwerlich überhaupt etwas über die Rechtsnatur der Freien Stadt
schlüssig abzuleiten ist.
b) Weiter führt er ins Feld,(7) daß das Schicksal Danzigs mit Polen
vereinbart worden sei, nicht aber mit Danzig selbst.2 Erstens stimmt der
behauptete Tatbestand nicht. Die Entscheidung der vier Ministerpräsidenten
ist entgegen den Wünschen Polens gefallen.(9) Alle polnischen Bemühungen, um eine
Abänderung der Entscheidung zu erreichen, sind vergebens gewesen. Von
einer Vereinbarung zwischen den Alliierten und Polen über das Schicksal
Danzigs kann also keine Rede sein, will man dem Sinn der Worte nicht Gewalt
antun. Zweitens aber würde, selbst wenn die Behauptung zutreffen
würde, die daraus gezogene Folgerung ein Trugschluß sein. Danzig
gehörte zur Zeit der Friedensverhandlungen noch dem Deutschen Reiche
an, konnte also völkerrechtlich handelnd damals nicht auftreten. Der
Versailler Vertrag, durch den Danzig aus dem Gebiete des Reichs gelöst
und die Souveränität auf die alliierten Hauptmächte
übertragen wurde (Artikel 100), wurde für Danzig verbindlich durch
das Deutsche Reich abgeschlossen. Die alliierten Hauptmächte
verpflichteten sich, die
Stadt Danzig mit Umgebung als Freie Stadt zu
gründen (Artikel 102) und einen Vertrag, dessen Grundzüge hier
schon festgelegt wurden, zwischen Danzig und Polen zu "vermitteln". (Artikel
104). Verträge aber können nur zwischen formell gleichberechtigten
Staaten abge- [23] schlossen und vermittelt werden.3 Sowohl nach
den Vorgängen, die in Paris zum Danziger Kompromiß geführt
haben, als auch nach dem Wortlaut des Versailler Vertrages ist Polen ebenso wie
Danzig Objekt des Versailler Vertrages gewesen. Auch dieses Argument
zerfließt also bei näherer Betrachtung ins Nichts.
c) Schließlich müssen noch eine Reihe von Nebengründen und
Analogieschlüssen herhalten, um die polnische These zu stützen. Es
sei am 17. Juli 1920 zwischen den Vertretern der Alliierten in Memel und in
Danzig ein Abkommen über einen gemeinsamen obersten Gerichtshof
abgeschlossen worden: "Dieses Abkommen ist dadurch für uns von
Interesse, weil es zwischen den Mandataren einer und derselben Besitzerin der
souveränen Macht abgeschlossen worden ist, da sowohl Danzig als auch
Memel damals
unter dem Kondominium der vier alliierten Hauptmächte
standen. Es ist ein Beweis dafür, daß die Tatsache des Abschlusses
eines Abkommens irgendwelcher Art nicht dafür angeführt werden
kann, um einem der Kontrahenten die Eigenschaft einer Person des
Völkerrechts zu verleihen".(12) Was beweist dieser Tatbestand für die
völkerrechtliche Geschäftsfähigkeit der Freien Stadt Danzig,
die erst am 15. November 1920, also vier Monate später, gegründet
wurde? Nichts. - Der Vertrag vom 9. November 1920 enthalte nicht die
Ratifikationsklausel. Trotz der dringenden Vorstellungen der Danziger Delegation
habe die Botschafterkonferenz nicht ihre Zustimmung [24] zur Einfügung dieser Klausel gegeben,
offenbar um dieser Konvention nicht den Charakter eines internationalen
Vertrages zu verleihen.(13)4 Da nach Artikel 40 der Vertrag gleichzeitig mit
der Errichtung einer Freien Stadt in Kraft treten sollte, wäre das Verlangen
einer vorherigen Ratifikation nicht erfüllbar gewesen. Ratifikation ist
zudem ein im einzelstaatlichen Staatrecht festgelegtes Erfordernis. Aus der
Tatsache, daß der Pariser Vertrag nicht die Ratifikationsklausel
enthält, kann jedenfalls nichts geschlossen werden, was gegen den
Staatscharakter der Freien Stadt
spräche. - Der Artikel 34 des Pariser Vertrages sähe vor,
daß die Einbürgerungsbedingungen in der Freien Stadt im
Einvernehmen mit Polen festzusetzen seien. Durch die
Nichtberücksichtigung der Danziger Einwände hätten die
alliierten Hauptmächte noch einmal bewiesen, daß es durchaus nicht
in ihrer Absicht läge, einen unabhängigen Staat Danzig zu
schaffen.(15) Es ist dies eine Sonderbestimmung, um eine in der
damaligen Situation vielleicht mögliche Benachteiligung von polnischen
Staatsangehörigen zu verhindern(16) und Polen dadurch den freien Gebrauch des
Danzigers Hafens zu gewährleisten. Nach Festlegung der
Einbürgerungsbedingungen aber ist die Handlungsfreiheit der Danziger
Staatsorgane in diesem Rahmen nicht eingeengt
worden. - Der Völkerbundkommissar habe am 22. August 1922
entschieden, daß in Danzig Kommunalanleihe und Staatsanleihe dasselbe
sei. Diese Meinung scheine indirekt die These zu bestätigen, nach der
Danzig kein Staat, sondern eine kommunale Selbstverwaltungskörperschaft
sei.(17) Wenn der
Völkerbundkommissar - es war der britische Generalleutnant
Haking - in der angezogenen Entscheidung Anleihen der Stadtgemeinde
"oder einer ähnlichen Einrichtung des Staates" als unter Art. 7 des Pariser
Vertrages fallend
er- [25] klärte, so werden finanzielle
Transaktionen dieser Art dadurch in seine und des Völkerbundes
Kompetenz gezogen (Ziffer 7 der Entscheidung). Man kann diese Entscheidung
als eine vom Kommissar vorgenommene Kompetenzerweiterung kritisieren, aber
über das Verhältnis von Danzig und Polen kann nichts aus ihr
entnommen werden.
Selbst Polen wohlwollend Urteilende werden die Beweisstücke für
die polnische These, daß Danzig nur ein Selbstverwaltungskörper im
Bereiche des polnischen Staates sei, nicht als irgendwie stichhaltig anerkennen
können. Der Wunsch ist nur zu deutlich der Vater dieser Konstruktion.5
Es ist hier jedoch nicht der Ort, um die Rechtslage der Freien Stadt Danzig
ausführlich zu erörtern. Der Hinweis sei jedoch gestattet, daß
Danzig unzweifelhaft ein Staat ist.(19) Es gibt ein genau umgrenztes Danziger
Staatsgebiet, eine Danziger Staatsangehörigkeit (die in der Regel die
polnische Staatsangehörigkeit ausschließt),(20) und eine eigene Staatsgewalt. Die Polen durch
Vertrag zugestandenen Rechte können von ihm selbst nicht erweitert
werden. Dieses sichere Merkmal widerlegt die Behauptung von der
Selbstverwaltungskörperschaft im Bereiche des polnischen Staates. Die
Unabhängigkeit nach außen ist dadurch, daß Polen die
auswärtigen Angelegenheiten Danzigs führt, eingeschränkt.
Nun ist aber die Unabhängigkeit nach außen, auch wenn die
Staatsmänner von heute noch so sehr den Schein zu wahren suchen, durch
den Völkerbund, wenn vielleicht auch tatsächlich mehr als rechtlich,
bei allen dem Bunde angehörenden Staaten, in einem Maße
beschränkt worden, daß, wenn man ehrlich sein will, von einer
uneingeschränkten Souveränität der Staaten nicht mehr die
Rede sein kann.(21)6 Der Begriff der [26] Souveränität ist eine reichlich
abgegriffene Münze geworden, die heute nur noch mit Mühe in
Zahlung gegeben werden kann. Will oder muß man den Begriff aber aus
irgendwelchen Gründen heute doch noch anwenden, dann kann man es nur
im Hinblick auf einen bestimmten Tatbestand tun. In bezug auf die Danziger
Frage wird es alsdann Fälle geben, in denen die Souveränität
zu bejahen ist,7 und andere, in denen
eine Beschränkung besteht.
Allgemein ist aber daran festzuhalten, daß der Besitz der
Souveränität die Regel ist, und daß auch in
Zweifelsfällen die Vermutung hierfür spricht. Jede einzelne
Beschränkung muß besonders aus dem Pariser Vertrag oder dem
Versailler Vertrag nachgewiesen werden.8 Wie bei der Frage der
auswärtigen Angelegenheiten zu zeigen sein wird, ist Danzig Mitglied der
Völkerrechtsgemeinschaft. Als solches ist es von der höchsten
internationalen richterlichen Instanz, dem Ständigen Internationalen
Gerichtshof im Haag, zudem ausdrücklich anerkannt
worden.9 Auch hat
das Sekretariat des Völkerbundes gemäß [27] Artikel 18 des Pakts (auf Grund eines polnischen
Antrages) den zwischen Danzig und Polen am 9. November 1920
abgeschlossenen
Vertrag - neben einer Reihe von weiteren Verträgen, an denen
Danzig beteiligt
ist - registriert.10
Der erste Versuch, die polnische Auffassung von der Rechtsstellung Danzigs
international zur Geltung zu bringen, wurde bereits bei der XI. Tagung des Rats,
am 14. November 1920, gemacht. Paderewski verlangte damals Streichung des
Wortes "Souveränität" und Abänderung des Ausdruckes
"Freistaat"' in "autonomen Staat" im Verfassungsentwurf.(42) Ein zweiter solcher Versuch erfolgte bei der XII.
Ratstagung durch die von Askenazy am 20. Februar 1921 übergebene
Denkschrift,(43) durch die wiederum der Ausdruck "Freistaat" aus
dem Verfassungsentwurf getilgt werden sollte. Diese Formel, wurde gesagt,
bildete "eine juristische Neuheit, welche die unangenehmsten
Mißverständnisse nach sich ziehen könnte" ("une nouveauté
juridique capable de créer des malentendus les plus regrettables"). Volle
Souveränität entspräche weder der tatsächlichen noch
der rechtlichen Lage Danzigs.
Bei den vielfach nötig gewordenen Vertragsverhandlungen zwischen
Danzig und Polen entstanden regelmäßig Schwierigkeiten daraus,
daß Polen sich weigerte, in den Verträgen Danzig das Attribut "Staat"
und seinem obersten Organ die Bezeichnung "Regierung" zukommen zu lassen
sowie die
Ver- [28] träge mit der Ratifikationsklausel zu
versehen.11 Danzig sah in dieser
Formfrage mit Recht eine Frage von
grundsätzlicher Bedeutung für seine internationale Rechtsstellung,
insbesondere gegenüber der Polnischen Republik, und rief, als Polen sich
weigerte, das Abkommen vom 22. Juli 1922 über die Tarife der polnischen
Eisenbahn auf Danziger Gebiet, wie vereinbart, zu ratifizieren, den
Völkerbundkommissar an. Dieser, es war MacDonnell, fällte am 7.
November 1924 eine Entscheidung, die an Eindeutigkeit nichts zu
wünschen übrig ließ. In der Begründung sagte er: "Der
Ausdruck 'Auswärtige Angelegenheiten' schließt in den Augen der Welt
eine staatliche Existenz in sich, denn wenn die Freie Stadt als solche keine
staatliche Existenz hätte, so würde sie keine auswärtigen
Angelegenheiten mit anderen Ländern zu verhandeln haben," und
entschied: "Die
Danzig-polnischen Beziehungen sind Beziehungen zwischen Staaten,..." und
"Danzig ist ein Staat im völkerrechtlichen Sinne des Wortes, und ist zum
Gebrauch von Ausdrücken, welche diese Tatsache erkennbar machen,
berechtigt".12
Die polnische Regierung legte gegen diese Entscheidung Berufung beim
Völkerbundrat ein. Auf Grund eines Berichtes des spanischen Vertreters,
Quiñones de Léon,(44) bestätigte dieser die Entscheidung seines
Kommissars, daß vertragliche vorgesehene Ratifikationen ausgeführt
werden müssen. In der prinzipiellen Frage aber, die in der Entscheidung des
Kommissars angeschnitten worden war, wich er aus. "Was den Ausdruck Staat
betrifft, so ist er so wenig genau und wird unter so verschiedenen Bedingungen
angewandt, daß der Rat es nicht für nötig hält, in die
Untersuchung der Bedeutung dieses Ausdrucks [29] und seiner Anwendung auf Danzig einzutreten.
Das internationale Statut der Freien Stadt ist durch den Vertrag von Versailles
festgelegt." ("défini.") Auf Grund einer (wohl nur dekorativ gemeinten)
Bemerkung des Kommissars MacDonnell wurde dann noch im Protokoll die
Hoffnung des Rats ausgesprochen, daß künftig keine Fragen
über diesen Gegenstand bei ihm anhängig gemacht werden. Es ist
jedoch festzustellen, daß der Rat die Entscheidung seines Kommissars,
daß Danzig ein Staat ist, nicht etwa aufgehoben hat.
Der Völkerbundrat ist in Danzig-polnischen Streitfällen die letzte
Berufungsinstanz. Er entscheidet endgültig. In diesem Falle hat er sich aber,
statt eine den Streit beendende Entscheidung zu fällen, mit einer
diplomatischen Formel aus der Affäre gezogen und hat zum Ausdruck
gebracht, daß er auch in Zukunft nicht mehr mit dieser Frage befaßt
zu werden wünsche. Der Streit zwischen Danzig und Polen über die
internationale Rechtsstellung der Freien Stadt ging daher weiter.
Bereits ein Jahr, bevor der Rat sich mit der Frage der rechtlichen Stellung der
Freien Stadt beschäftigte, war von der polnischen Regierung ein Versuch
unternommen worden, vor dem Rat eine Erweiterung seiner Rechte über
die Bestimmungen des Pariser Vertrages hinaus zu erlangen.
Um die Wende des Jahres 1922 auf 1923 herrschte eine Spannung in den
Beziehungen zwischen Danzig und Polen. Der polnische diplomatische Vertreter
Plucinski war der Exponent einer Politik des scharfen polnischen Zufassens. Er
erklärte beispielsweise in einem Interview die vom Senat erfolgte
Ablehnung des Titels "Generalkommissar" für den diplomatischen
Vertreter Polens in Danzig für "kindisch" und äußerte sich bei
dieser Gelegenheit weiter dahin, daß die Streitigkeiten zwischen Danzig und
Polen nur solange dauern würden, wie eine Danziger Autonomie
bestünde.(45)13 In einem weiteren, wenige Tage später
veröffentlichten Interview wurde er noch deutlicher und sagte: "Hier haben
wir zwei Auswege: Entweder wir ersuchen den Völkerbund um
Entscheidung, oder wir zwingen es [Danzig] durch Zwangsmaßnahmen, in
dem wir einige unserer für Danzig günstigen Abmachungen nicht
einlösen". In dem gleichen Interview sprach er auch davon, daß er als
Repressalie für das [30] Zögern des Senats, die polnischen
Ein- und Ausfuhrvorschriften einzuführen, ein teilweises Einfuhrverbot
erlassen hätte.(46)14 In bezug auf die Schärfe der Tonart stand dem
polnischen Vertreter in Danzig das polnische Staatsoberhaupt nicht nach. Der
polnische Staatspräsident erklärte in einer am 28. April 1923
in Karthaus gehaltenen Rede: "Man muß Danzig alle diejenigen
lebenswichtigen Säfte unterbinden, die es Polen nimmt, und dies solange,
bis in Danzig eine andere dauerhafte Richtung die Oberhand gewinnt, die keinen
Kampf und keine Aufrichtung von Schwierigkeiten will, sondern die eine loyale
Zusammenarbeit sucht und Polen als Großstaat und Macht anerkennt, der in
Danzig nicht nur geschriebene, sondern auch natürliche Rechte
hat".(47)
Beide Äußerungen verdeutlichen den einmütigen Willen der
polnischen Politik, eine Änderung der
Danzig-polnischen Beziehungen von Grund auf herbeizuführen, d. h.
die Polen durch den Pariser Vertrag zugesprochenen Rechte zu erweitern. Wie
sich das damalige Spannungsverhältnis auch in den Formen des Verkehrs
von Staat zu Staat auswirkte, zeigt ein weiteres Vorkommnis. Nach Pariser
Muster wurde eine Danziger Note in der Frage der Ausweisung von 16 Danziger
Staatsangehörigen (vom 16. Juni 1923) vom polnischen diplomatischen
Vertreter, "da sie Sätze enthält, welche nicht in geziemendem und
der allgemeinen Höflichkeit entsprechendem Tone abgefaßt ist",
zurückgeschickt. In der Danziger Note war unter anderem gesagt worden,
daß das polnische Vorgehen "in der Bevölkerung der Freien Stadt
Danzig als Erpressung empfunden" würde.(49)
Die damalige Situation wurde dann wenige Tage später, in der Sitzung des
Völkerbundrats vom 4. Juli 1923, vom Völkerbundkommissar
MacDonnell umrissen.(50) Das zur Schlichtung von
Danzig-polnischen Streitfällen vorgesehene Verfahren wäre in der
letzten Zeit mißlungen, weil 1. die polnische
Re- [31] gierung den Weg der direkten Aktion beschritten
hätte, 2. der polnische Vertreter es abgelehnt hätte, mit den
Vertretern des Senats zum Zwecke der Verhandlung zusammenzukommen, und 3.
eine in Polen stattgefundene offizielle Kampagne und heftige
Preßkampagne eine Spannung zwischen den beiden Parteien zur Folge
gehabt hätte.
Diese Feststellungen des Kommissars zeigten die Kampffront auf und gaben
zugleich den Auftakt zu dem nunmehr erfolgenden polnischen Generalangriff.
Der polnische Vertreter, es war Plucinski, lief vor allem Sturm gegen den Vertrag
vom 9. November 1920, dessen Artikel 39 es ermöglichte, jede Streitfrage
und auch solche, die zur Verwaltung und Gerichtsbarkeit Polens gehören,
von Seiten Danzigs vor den Völkerbundkommissar zu bringen.15 Polen
wünschte die Wirksamkeit dieses Vertrages dadurch eingeschränkt
zu wissen, daß die Auslegung an dem Wortlaut von Artikel 103 und 104 des
Versailler Vertrages gebunden würde.
Im einzelnen richteten sich die Angriffe(52) 1. gegen die Zollverwaltung in Danzig, an der die
Freie Stadt festhält, 2. gegen dem Hafenausschuß als einen "Staat im
Staate", der sich mit lokalen Verwaltungsaufgaben, also Fragen sekundärer
Natur, beschäftige, darüber aber seine Hauptaufgabe, Polen die
Freiheit und die Entwicklung seiner
Ein- und Ausfuhr zu garantieren, vollkommen vernachlässige, der Polen
außerdem finanzielle Lasten auferlege, ihm aber keine Rechte gebe. Man
müßte glauben, daß der Hafen von Danzig des
Hafenausschusses wegen da wäre, was der Schließung des Hafens
für Polen gleichkäme; 3. gegen die
Nicht-Zugestehung der Exterritorialität an mehr als 10 polnische Beamte, 4.
gegen die Beschränkung im Gebrauch polnischen Staatseigentums durch
die Wohnungszwangswirtschaft, 5. gegen die Beschränkung des freien
Zuzugs von polnischen Staatsangehörigen durch Polizei und
Demobilmachungsamt.
Der Rat maß diesem Vorstoß offenbar nicht die gleiche
Wich- [32] tigkeit bei wie Polen. In dem Bericht des
spanischen Vertreters, Quiñones de Léon,(53) der am 7. Juli 1923 die Billigung des Rats fand,
wurde Polen (und Danzig) die Empfehlung zuteil, jede ernste Beschwerde, die ein
Teil gegen den anderen hegte, dem Völkerbundkommissar zur
Entscheidung vorzulegen. "Une précision générale" wurde
abgelehnt.
Lord Robert Cecil, der Vertreter Großbritanniens, richtete jedoch bei dieser
Gelegenheit an den polnischen Vertreter die Frage, ob Polen den Pariser Vertrag
unterzeichnet hätte und sich daran gebunden fühlte. Plucinski
mußte beide Fragen bejahen.
Anschließend fanden zwischen den Regierungen über die strittigen Fragen
Verhandlungen statt. Schon nach drei Tagen war über die Grundlage, auf
die die weiteren Verhandlungen sich stützen konnten,
Übereinstimmung erzielt. In seinem Bericht an den Rat vom 31. August
1923(54) stellte der Kommissar MacDonnell fest,
"daß die Verhandlungen durchweg in einer Atmosphäre des guten
Willens geführt wurden, und daß beide Parteien den Wunsch nach
völliger Verständigung über alle
polnisch-Danziger Beziehungen zum Ausdruck gebracht haben". In einer langen
Reihe von Fragen praktischer Natur war man, dank eines gewissen Einlenkens
von Danziger Seite, zu einer Vereinbarung gelangt. Im übrigen aber wurde
der bisherige Rechtszustand vollauf bestätigt. An mehreren Stellen der
Vereinbarung wurde ausdrücklich auf die Berufungsinstanz des
Völkerbundkommissars und die Anwendung des Artikels 39 des Pariser
Vertrages verwiesen. Nur über die Frage der Rechtsstellung der polnischen
Staatsangehörigen in Danzig (Auslegung von Artikel 33 des Pariser
Vertrages) wurde keine Übereinstimmung erreicht. Aber zur Vermeidung
von Weiterungen sollte unter Mitwirkung des Kommissars jeder einzelne Fall
einer Meinungsverschiedenheit einer vorläufigen Beilegung
entgegengeführt werden. Von einer allgemeinen Revision des bisherigen
Regimes, wie Polen sie gefordert hatte, war jedoch keine Rede mehr.
Damit war die polnische Aktion ergebnislos verpufft. Der Völkerbundrat
als eine Forderungen, Argumente und Rechte abwägende Instanz, hatte
soweit beruhigend gewirkt, daß es nicht zu der drohenden Anwendung staatlicher
Machtmittel kam, mit deren Hilfe es Polen vielleicht möglich gewesen
wäre, sich das Maß an Rechten zu beschaffen, das es zu erhalten
begehrte.
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