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Der grenzdeutsche Gürtel (Teil 10, Forts.)

Das Sudetendeutschtum
und die Deutschen in der Slowakei (Teil 2)

Sudetendeutsche Geschichte

Seit wann gibt es Deutsche in den Sudetenländern? Daß diese schon in entfernter vorgeschichtlicher Zeit von Menschen besiedelt waren, lehrt uns die moderne Wissenschaft des Spatens. Die ältesten gefundenen Überreste führen uns bis in die Altsteinzeit zurück, und von da ab reichen die Funde ununterbrochen durch die jüngere Steinzeit, die ältere und die jüngere Bronzezeit bis zum Beginn der geschichtlichen Periode. Erst in der jüngeren Eisenzeit, die etwa um 400 v. Chr. beginnt, sind wir imstande, einen bestimmten Völkernamen mit den böhmisch-mährischen Bodenfunden in Verbindung zu bringen, nämlich den des keltischen Volkes der Bojer. Um die Mitte des ersten Jahrhunderts v. Chr. haben die Bojer ihre Sitze in Böhmen verlassen; wohin und aus welchen Gründen ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Noch erinnern einige keltische Namen an ihre einstige Anwesenheit im Lande, so die der Flüsse Eger und Iser, und vor allen Dingen der Name "Böhmen" selbst. Die umwohnenden Germanen nannten das Land "Baihaim", lateinisch "Boihaemum", das ist Bojerheim; aus Baihaim entstand Beiheim und später Böhmen. Die deutsche Bezeichnung ist also gut 1000 Jahre älter als der slawische Landname Čechy.

Es gibt Anzeichen dafür, daß schon in der Keltenzeit, im 2. Jahrhundert v. Chr., an der Elbe in Nordböhmen Germanen, vermutlich Hermunduren (Thüringer) sich niedergelassen hatten und daß diese später elbaufwärts vorgedrungen sind. Bevor aber das ganze Land germanisch wurde, dauerte es noch eine Weile. Im 1. Jahrhundert v. Chr. finden wir am oberen Main, in der Gegend von Bamberg und Regensburg, die Markomannen ansässig, d. h. die Grenzleute. Sie gehörten mit ihren Nachbarn, den Quaden, als Teilstamm zu dem großen germanischen Hauptstamm der Sweben, der späteren Schwaben, die sich während der Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung im späteren Brandenburg und Thüringen und in den Mainlanden ausgedehnt hatten. Der Teil, der das ehemalige Grenzgebiet, die "Mark", bewohnte, hatte danach seinen Namen erhalten. Das Wort "Quaden" dagegen stammt vom alten deutschen "quât", soviel wie böse, schlimm, d. h. schlimm gegen die Feinde. Die Markomannen stießen während der Feldzüge der Römer in Germanien mit diesen zusammen und wichen unter der Führung Marbods in das von den Bojern verlassene, von Waldgebirgen wie von einer Festung umgebene Böhmen aus. Die Quaden und niedergermanische Stammessplitter zogen mit. Die Markomannen nahmen das Innere von Böhmen ein, die Quaden die Marchebene.

[155] Marbod besaß eine bedeutende Macht; auch die Quaden in Mähren, die Vandalen in Schlesien, die Semnonen in Brandenburg, die Langobarden an der unteren Elbe waren von ihm abhängig. Von Böhmen aus wurde also, wenn man will, zum ersten Male eine germanische Großmacht geschaffen. In Marbods Hauptstadt Marobodum, wo der König seinen Herrenhof und eine Festung hatte, ließen sich auch römische Kaufleute nieder. Die Lage dieses Platzes ist noch nicht sicher wieder aufgefunden. Nach der Schlacht im Teutoburger Walde versuchte Hermann der Cherusker den Marbod zu einem Bündnis gegen Rom zu bewegen, jedoch vergeblich. Statt dessen entstanden Kämpfe zwischen Markomannen und Cheruskern, die schließlich im Jahre 17 n. Chr. in einer gewaltigen Schlacht ausgetragen wurden. Marbod erlitt keine Niederlage, ging aber zurück und wurde im Jahre darauf von den Römern mit Hilfe der Goten gestürzt. Jedoch behielten die Markomannen und Quaden ihr Siedlungsgebiet, und diese besetzten auch Oberungarn, während jene bis an die Donau vorrückten. Beide machten den Römern schwer zu schaffen. Der Kaiser Marcus Aurelius war im Begriff, den zwölfjährigen Markomannen- und Quadenkrieg im Jahre 180 n. Chr. siegreich zu beenden und die Sudetenländer dem römischen Reiche einzuverleiben, als er unerwartet in Vindobona, im heutigen Wien, starb. Am Ende des 4. Jahrhunderts hören wir dann noch von einer Markomannen-Königin Fritigild, die für das Christentum gewonnen wird und nach Mailand reist, um den berühmten Bischof Ambrosius zu sehen.

Die große Frage ist nun, wo zwischen dem 5. und 7. Jahrhundert n. Chr. die bis dahin zweifellos germanischen Bewohner von Böhmen und Mähren hingeraten und wie die beiden Länder in den Besitz von Slawen, den späteren Tschechen, gekommen sind. Wir hören von dem Abzug der Quaden aus Mähren, in Gemeinschaft mit den Vandalen, denen sie zunächst Spanien erobern halfen. Danach werden wir sehr wahrscheinlich durch den Namen der Avaren auf die richtige Spur des Verschwindens der Markomannen aus Böhmen und des Erscheinens der Slawen geführt. Bis ins 6. Jahrhundert n. Chr. sind die Siedlungsfunde im böhmischen Boden germanisch; dann brechen sie ab, um erst nach Jahrhunderten neu einzusetzen und zwar mit deutlich slawischem Charakter. Die Avaren, ein berittenes, nomadisches, kriegerisches Volk asiatischer Herkunft, waren ein Nachschub der großen Völkerwanderung, die nach der herkömmlichen Betrachtung im Jahre 375 n. Chr. mit dem Erscheinen der Hunnen in Europa einsetzt. Ihre eigentlichen Ursachen liegen sicherlich viel tiefer; aber dennoch bedeutet der Einbruch der Hunnen einen wichtigen Abschnitt in der großen Bewegung. Es steht fest, daß den Hunnen zeitweilig auch germanische Stämme, wie die Goten, heerespflichtig angeschlossen waren. Die Überlegenheit eines asiatischen Reitervolkes über den kriegstüchtigen Germanen ist nur in der Ebene denkbar. Ungarn aber, das die Hunnen zuerst einnahmen, war ein durchaus offenes, ebenes Land, und das Innere von Böhmen und Mähren muß, wie wir bereits sahen, von Anfang an ähnlich beschaffen gewesen sein.

Goldenstein in Mähren

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      Goldenstein in Mähren.

[156] Es ist nicht möglich, daß die weniger kriegstüchtigen und weniger kultivierten Slawen selbst imstande gewesen sein sollten, ein germanisches Volk von der Stärke der Markomannen aus seinen Sitzen zu vertreiben. Der wirkliche Hergang der Dinge muß daher anders gewesen sein. Ein fränkischer Chronist, Fredegar, berichtet uns in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts, daß damals die Slawen in Böhmen Knechte der Avaren gewesen seien, die in der Herrschaft über die mittleren Donauländer den Hunnen gefolgt waren. Fredegar erzählt, die Slawen müßten für die Avaren kämpfen, und des Winters kämen diese nach Böhmen, quartierten sich bei den Slawen ein, schliefen bei ihren Frauen und fügten ihnen auch sonstige Unbill zu. Damit müssen wir den Bericht eines spanischen Juden, Ibrahim ibn Jakub, aus dem 9. Jahrhundert n. Chr. verbinden, der uns einen Bericht über seine Reise durch die damaligen europäischen Slawenländer hinterlassen hat. Er bemerkt, daß die Slawen in Böhmen, im Unterschied von den übrigen Slawen, nicht blond seien, sondern dunkel. Das muß auf die langdauernde Blutmischung mit den Avaren zurückgehen. Nicht die Slawen, die späteren Tschechen, haben also die Germanen aus Böhmen verdrängt, sondern die Avaren, die als berittenes Kriegsvolk die Überlegenheit über bewaffnete, wenn auch tapfere Fußkämpfer besaßen. Die Slawen aber gelangten nach Böhmen und Mähren als Untertanen der Avaren, die ihnen das Land zur Bestellung überließen, aber Tribut und das Recht des Einlagers forderten. Wie schrecklich die Avaren als überlegene Gewaltherren den Vorfahren der heutigen Tschechen gewesen sein müssen, geht daraus hervor, daß das tschechische Wort für "Riese" - obr - ursprünglich den Avaren bedeutet!

Einen Fingerzeig dafür, wo die Markomannen geblieben sind, bietet uns der Name "Bayern". Diese erscheinen im Beginn des Mittelalters als Bajuvaren oder Bojoaren, d. h. Leute aus dem Bojer Lande. Die Markomannen, vor dem avarischen Druck weichend, sind also über das Gebirge im Westen, den heutigen Böhmerwald, gezogen. Sie gelangten zuerst in den bayerischen Nordgau zwischen Donau und Fichtelgebirge, wo Teile ihres Volkes schon vor alters gesessen hatten und vielleicht auch noch saßen, und nahmen von dort aus auch das heutige Ober- und Niederbayern ein, wo sie sich so kräftig entwickelten, daß sie alsbald den Hauptteil an der Kolonisation des späteren Österreich und der Ostalpenländer bestreiten konnten.

An dieser Stelle vereinigt sich unsere Darstellung mit den Ergebnissen der Forschung eines sudetendeutschen Gelehrten, Bretholz, die er als Archivar in Brünn angestellt hat. Bretholz hat mit guten Gründen wahrscheinlich gemacht, daß die Sudetenländer eigentlich nie leer von Germanen geworden sind und daß die bisherige Anschauung, im 12. und 13. Jahrhundert hätte eine große und planmäßige Kolonisation in Böhmen und Mähren stattgefunden, keineswegs durch die Quellen so gestützt wird, wie man es bisher annahm. Die Kolonisationstheorie, wie überhaupt die bisherige Auffassung von der älteren Geschichte der Sudetenländer, stammt in der Hauptsache aus dem großen Werk des tschechischen Historikers Franz Palacky, [157] dessen Geschichte von Böhmen im Jahre 1836 zu erscheinen begann. Palacky seinerseits stand noch ganz unter dem Eindruck einer der größten und merkwürdigsten Fälschungen, die jemals auf dem Gebiet der geschichtlichen Quellenliteratur stattgefunden haben: der "Königinhofer Handschrift". Im Jahre 1817 wurden, angeblich in einem uralten Turm des Städtchens Königinhof, im östlichen Böhmen, eine Anzahl Pergamentblätter gefunden mit der Schrift des 13. Jahrhunderts, Bruchstücke epischer und lyrischer Dichtung in slawischer Sprache enthaltend. Auf einigen Blättern stand die Bezeichnung als 26., 27. und 28. Kapitel eines dritten Buches. Es schien also erwiesen, daß, bis auf diese zufällig gefundenen Seiten, eine große und entwickelte tschechische Literatur aus früherer Zeit verloren gegangen sei.

Die "Königinhofer Handschrift" wurde nicht nur in Böhmen, sondern auch in Deutschland, so von Goethe und den Gebrüdern Grimm, für echt gehalten. Erst vierzig Jahre nach ihrer Auffindung wurden begründete Zweifel wach, bis dann in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts der große "Handschriftenstreit" ausbrach, der die vermeintlichen Funde von Anfang bis zu Ende als Fälschungen entlarvte. Es war ein gewisser Wenzel Hanka in Königinhof, der sie aus übertriebenem tschechischen Patriotismus begangen hatte. Wir folgen nun für eine Weile der Darstellung von Bretholz selbst, die er im Archiv für Politik und Geschichte (Heft 9, Oktober 1924) gegeben hat:

      "Das Bild, das die »Handschriften« Palacky entrollten, war das eines durchaus slawischen Böhmens seit ältester Zeit, mit einer staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung auf rein slawischer Grundlage: slawisch das Fürstentum und der Adel, die beide redend und handelnd in den Gedichten auftreten; slawisch das Rechts- und Volksleben, das in einer Reihe charakteristischer Züge hervortritt; slawisch der Götterkult, dessen Hauptlinien erkennbar werden; rein slawisch die Sprache. In jenem Böhmen, von dem die »Gedichte« erzählten, gab es nach Palackys Überzeugung keinen Platz für Deutschtum; in der Zeit, über die die Königinhofer und Grüneberger Handschriften Auskunft gaben, d. h. vom 7. bis zum 13. Jahrhundert, konnten in diesem Lande keine Deutschen als Volk gelebt haben; Tschechen müssen die einzigen Bewohner gewesen sein. Und wenn auch in anderen Quellen sich dennoch deutliche Spuren von Deutschtum zeigen, so müsse das eben anders als durch Ansässigkeit erklärt werden.
      Das ging nun so, solang es ging. Aber dann kam Palacky mit seiner Geschichte ins 13. Säculum, in eine Zeit, da auch in Böhmen die Quellen schon reichlich fließen und zu Chronisten Urkunden treten, die in das Rechts- und Wirtschaftsleben sichereren Einblick gewähren als Lieder und Dichtungen. Und da gewahrte Palacky, daß in Böhmen und Mähren ein kräftiges, hochentwickeltes Deutschtum bestehe, deutsche Namen, deutsche Städte, deutsche Dörfer, deutsches Recht und deutsche Sitten mit solcher Klarheit und in solcher Stärke sich zeigen, daß an dem Bestand einer deutschen Bevölkerung überall im Lande nicht mehr zu zweifeln war. Auch Palacky konnte bei [158] allem Festhalten an den Handschriften diese Tatsache nicht übersehen und mußte sich und seinen Lesern die Frage beantworten: Woher kommen plötzlich diese Deutschen?
      Nun war seit jeher bekannt, weil gleichzeitige Quellen davon berichten, daß zwar nicht im 13., wohl aber im 12. Jahrhundert ehedem von Slawen bewohnte Gebiete Nordostdeutschlands mit einem Male deutsche Bevölkerung erhalten hatten. Konnte sich ein ähnlicher Prozeß nicht auch in Böhmen und Mähren vollzogen haben? Man hatte ähnliche Vermutungen in der Literatur gelegentlich schon ausgesprochen. Darin schien Palacky des Rätsels Lösung zu finden. Daß in Böhmen die Dinge von Grund aus anders lagen, wurde nicht berücksichtigt. Dort in Nordostdeutschland war slawisches Volk, weil es sich zum Heidentum bekannte und das Christentum nicht annehmen wollte, so lange bekämpft worden, bis der größte Teil ausgerottet war, das ganze Land öde und vernichtet dalag. Die böhmischen Slawen aber waren längst keine Heiden mehr. Hier führten keine deutschen Fürsten Krieg, hier entstand nicht Ödland, gab es keine leeren Burgen und ausgebrannten Dörfer. Nichts, was dort naturgemäß zu einer Kolonisation mit Deutschen führen mußte, sie zu einer geschichtlichen Notwendigkeit machte, paßt für Böhmen und Mähren im 13. oder 12. oder 11. Jahrhundert. Weder ein religiöser noch ein kriegerischer noch ein wirtschaftlicher Grund läßt sich anführen, weder die quellenmäßig bezeugte Ausbietung des Bodens noch die unanfechtbare Ankunft und Niederlassung der fremden Deutschen läßt sich erweisen. Trotzdem meinte Palacky, daß auf ähnliche Weise das böhmisch-mährische Deutschtum entstanden sei, durch eine Kolonisation, durch »wo nicht insgesamt, doch größtenteils aus dem nordwestlichen Deutschland und den Niederlanden einwandernde Kolonisten«. Überbevölkerung und Überschwemmung hätten den Anlaß geboten, was aber doch erst für das 13. Jahrhundert, geschweige für die Zeit Ottokars II., in welche Palacky die Hauptbewegung verlegt, nachgewiesen werden müßte.
      In Wirklichkeit ist also die Behauptung von dem ausschließlichen Tschechentum in Böhmen in der Zeit vom 7. bis zum 12. Jahrhundert nichts als eine Folgerung aus den Eindrücken der gefälschten Handschriften, und die Annahme eines deutschen Kolonistentums nichts als ein willkürlicher Analogieschluß."

Die Bretholzsche These lautet dahin, das deutsche Element sei nie ganz aus den Sudetenländern verschwunden gewesen, und schon in der später sogenannten Kolonisationszeit habe dort ein bedeutsames, einheimisches deutsches Element existiert. Die Debatte hierüber, die durch Bretholz in Fluß gebracht worden ist, hat ihren endgültigen Abschluß noch nicht gefunden. Man kann aber jetzt schon sagen, daß die frühere Anschauung, das Deutschtum in den Sudetenländern sei ganz durch Einwanderung vom 12. oder 13. Jahrhundert an entstanden, nicht gehalten werden kann. Für den jetzigen Streit der Tschechen und Deutschen über die Bodenständigkeit und Heimatberechtigung des Sudetendeutschtums sind die Auseinandersetzungen, die sich an die Bretholzschen Arbeiten geknüpft haben, sicher von Interesse, wenn auch in- [159] sofern von keiner entscheidenden Bedeutung, als das Recht des sudetendeutschen Volkes auf dem von ihm bewohnten Grund und Boden schon durch die vielhundertjährige Arbeit gegeben ist, mit der es diesen Boden aus Wald und Unland zu Kulturboden gemacht hat. Der tschechische Anspruch, der behauptet, ganz Böhmen und Mähren innerhalb seiner natürlichen Grenzen seien tschechisches Land, "unser Land", und nicht nur "unser" Land, sondern auch ein Land einer schon früh entwickelten national tschechischen Kultur, in das die Deutschen sich als Eindringlinge hineingeschoben hätten, war im negativen Sinne schon an dem Tage entschieden, als die Fälschung der Königinhofer Handschrift und ihrer verschiedenen, später aufgetauchten Geschwister von der Wissenschaft, auch von der tschechischen, zugegeben werden mußte.

Eine ursprünglich tschechische, überhaupt eine frühslawische Eigenkultur von höherer Entwicklung hat es nie gegeben, und dafür, daß die nach den Sudetenländern einwandernden Slawen auf einer tieferen Kulturstufe standen als die Germanen, dafür ist schon ihre heutige Sprache ein Beweis. Das Wort "chleb" für Brot ist aus dem gotischen hlaifs, d. H. Laib, entlehnt, und wir sehen daraus, daß die Slawen wirkliches Brot erst von den Germanen kennen lernten. Das Wort "pluh", Pflug, stammt ebenfalls aus dem Germanischen und zeigt, daß der germanische Pflug an Stelle des gewöhnlichen slawischen Hackens übernommen wurde. "Skot" für "Vieh" deckt sich mit dem deutschen Worte "Schatz", was ursprünglich auch Vieh bedeutet, und man sieht daraus, daß auch die Viehzucht der Slawen von den Germanen erlernt war. Der Kulturstand der in die Sudetenländer einwandernden Slawen muß noch so primitiv gewesen sein, daß es der urgeschichtlichen Bodenforschung nicht gelungen ist, aus der Zeit vom 7. bis zum 9. Jahrhundert nennenswerte Funde zu machen. Erst als die Slawen im 10. Jahrhundert unter deutschem Einfluß von der in roher Form geübten Leichenverbrennung zur Körperbestattung übergehen, finden wir in den Gräbern eiserne Messer, silberne oder bronzene "Schläfenringe" und eine einfache schmutziggraue Tonware. Kennzeichnend ist aber, daß dieser geringe Eigenvorrat durch weite Landstrecken begegnet, ohne Merkmale einer selbständigen Höherentwicklung. Auch die slawischen Befestigungen, Rundwälle, zeigen nur geringe technische Fertigkeiten. Karl der Große unterwarf Böhmen und gliederte es seinem Reiche an. Seitdem haben die Tschechen das Wort Kral für "König" in ihrer Sprache. Diese Entlehnung zeigt, ebenso wie die spätere Hofhaltung der böhmischen Fürsten, daß ihre staatlichen Einrichtungen den germanischen nachgebildet wurden. Auch wirtschaftlich erkennt man die Abhängigkeit von den Deutschen aus dem tschechischen Worte penize, d. h. Pfennig, für "Geld".


Am Ende des 9. Jahrhunderts hat der in der Mitte Böhmens ansässige Stamm der Tschechen die übrigen Teilstämme unter seine Herrschaft gebracht und das Haus der Přemysliden, das einzige Herrschergeschlecht, das die Tschechen selber hervor- [160] gebracht haben, tritt ins Licht der Geschichte.Die Přemysliden werden deutsche Reichsfürsten und erhalten schließlich die Königskrone; Böhmen wird als Lehen der deutschen Krone ein Bestandteil des deutschen Reichs, ja nicht nur das, sondern der König von Böhmen erhält den ersten Rang unter den vier weltlichen Kurfürsten, die zusammen mit den drei geistlichen den deutschen Kaiser zu wählen hatten. Was dem Přemysliden Ottokar II. noch mißglückte, das gelang dem Luxemburger Karl IV. als König von Böhmen: die Erlangung der deutschen Kaiserkrone. Seit dem Aussterben der Přemysliden im Jahre 1306 hat nur noch vorübergehend einmal, in der Person Georgs von Podiebrad (1458 - 1471), ein Tscheche den böhmischen Thron innegehabt. Schon in den letzten přemyslidischen Fürsten floß mehr deutsches als slawisches Blut. Ottokar II. war von mütterlicher Seite ein Enkel Barbarossas. Die deutschen Fürsten brachten ihr deutsches Gefolge mit; deutsche Adlige erwarben Grundbesitz. Der tschechische Adel übernahm deutsche Kleidung und
Burg Goldenstein, Eingang

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      Burg Goldenstein, Eingang.
Bewaffnung, deutsche Turniere und deutsches ritterliches Wesen. Deutsche Vornamen traten neben die slawischen. Baumeister errichteten die ersten Kirchen und bauten steinerne Burgen, die vielfach deutsche Namen erhielten, für die tschechischen Großen. Auch der deutsche Kaufmann wurde zum Träger der deutschen Kultur. Deutsche Kaufmannsniederlassungen entstanden am Fuße der Prager Burg und anderwärts. Den Vorteil davon schätzten die Přemysliden so hoch ein, daß sie den deutschen Kaufmann mit besonderen Vorrechten begabten. "Ich nehme die Deutschen, die im Burgflecken Prag leben, in meine Huld und meinen Schutz auf", beurkundet Herzog Sobieslaw (1174 - 1179) "und ich will, daß sie, wie sie als Volk verschieden sind von den Tschechen, so auch in ihren Rechten und Gewohnheiten von den Tschechen geschieden seien. Ich gewähre daher ihnen, den Deutschen, nach dem Gesetz und Recht der Deutschen zu leben (vivere secundum legem et justitiam Theutonicorum), das sie seit den Zeiten meines Großvaters, des Königs Wratislaw, inne haben". Wratislaw II. herrschte 1062 - 1092. Für seine Zeit wird also der Bestand einer deutschen Gemeinde in Prag erwiesen. Die Deutschen genießen die Selbstverwaltung; sie setzen sich selbst ihren deutschen Richter und wählen ihren Pfarrer. Von vielen drückenden Verpflichtungen sind sie frei: "denn wisset," sagt der Herzog, "daß die Deutschen freie Männer sind".

Die Beweisführung von Bretholz schließt nicht aus, daß die böhmischen Fürsten schon seit dem 11. Jahrhundert dieselbe Methode in bezug auf die Heranziehung von Deutschen befolgt haben wie im 12. und 13., teilweise auch noch später, die Könige von Ungarn und Polen. Ohne Zuwanderung von Deutschen war es überhaupt nicht möglich, den Kulturstand der Länder und vor allen Dingen die fürstlichen Einkünfte zu heben. Dazu kommt als ein weiterer Gesichtspunkt, den man sich für das Aufblühen und die Ausdehnung einer höher kultivierten deutschen Siedelung in Böhmen und Mähren vor Augen halten muß, daß es sich politisch nicht um fremden Boden handelt, sondern um deutsches Reichsgebiet, [161] und daß die Deutschen, mochten sie nun aus der Ferne gerufen werden oder aus ihren Walddörfern innerhalb der Landesgrenze kommen, den Tschechen keinen Grund und Boden in der fetten Mitte des Landes fortnahmen, sondern Ödland anbauten, Urwald rodeten und wüste Gegenden bevölkerten. Der Grundbesitzer erhielt von dem Boden, der ihm bisher nichts getragen hatte, reichliche Abgaben; König, Adel und Geistlichkeit machten so ihren Besitz ertragfähig. So bildete sich in den Gebirgsranden, wohin Slawen überhaupt noch nicht gedrungen waren oder nur spärlich längs der großen Flußläufe wohnten, ein geschlossenes deutsches Sprachgebiet.

Die Slawen kannten kein Städtewesen, sondern Städte wurden in den Sudetenländern erst durch die Deutschen geschaffen. Das gesteht auch Palacky in seiner Geschichte von Böhmen (Band 2, Seite 35) zu. Es gab Handelsplätze und Märkte in den Slawenländern, aber kein Bürgertum. Die deutschen Städte haben sich im Westen des Reichs während des 10. und 11. Jahrhunderts allmählich entwickelt. Diese fertige Form wurde in den folgenden Jahrhunderten auch nach dem Osten übertragen. In den Sudetenländern fanden deutsche Städtegründungen etwas später Eingang als in den benachbarten Ländern. In Mähren tauchen sie früher auf als in Böhmen. Die erste Gründung, die wir nachweisen können, ist Neustadt in Mähren 1213. Aber es gab in Böhmen und Mähren schon einige Orte, wo eine Stadt in allmählicher Entstehung begriffen war, wo es also zu keiner Neugründung, sondern nur zu einem Abschluß kam. Das war an den Herrschersitzen und wichtigen Verkehrspunkten der Fall, und es ergab sich gelegentlich auch später, besonders bei Bergstädten. Prag, Brünn, Olmütz, Leitmeritz, Königgrätz, Kuttenberg sind so geworden. Die städtische Verfassung bei ihnen ist drum nicht minder deutsch.

Rathaus in Reichenberg Rathaus und Stadtkirche in Leitmeritz
[140a]      Rathaus und Stadtkirche in Leitmeritz.


[140a] Rathaus in Reichenberg.

Brünn

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      Brünn.

Brünn, Rathausportal
[212a]      Brünn, Rathausportal.
Hof des Rathauses in Brünn
[212a]      Hof des Rathauses in Brünn.

In Prag entwickelte sich die deutsche Kaufmannsniederlassung allmählich zu einer den Markt beherrschenden Gemeinde, die Nürnberger Stadtrecht annahm. Ihr Gebiet wurde erst 1235 - 1240 ummauert, womit der Abschluß der Entwicklung zur Stadt vollzogen war. Die ersten Bürger, die uns genannt werden, sind der Münzer Dreilot und die Kaufleute Peter, Hermann, Bernard und Syreth. Den alten Freiheitsbrief Sobieslaws betrachten sie als ihre Magna Charta; von allen folgenden Königen wird er bestätigt und erweitert. Wenzel I. bestimmt: "Niemand soll in die Häuser und Straßen der Deutschen, in welche Schuld sie auch verfallen seien, weder in der Stadt noch in den Dörfern mit freventlicher Kühnheit einzubrechen wagen oder aber gewaltsame Hand an dieselben zu legen versuchen." Und er sagt zum Schlusse: "Wer aber vielleicht unsere Begnadigung zu verletzen wagt und die genannten Deutschen in ihren bewilligten Rechten angreifen sollte, der soll des Verbrechens der verletzten königlichen Majestät schuldig erkannt und bestraft werden, und überdies soll ihn der ewige Fluch des allmächtigen Gottes treffen gleichwie Dathan und Abiram." Man sieht, wie das Königtum die Deutschen schätzte und brauchte, und der Grund ist deutlich genug: die königlichen Einkünfte beruhten zum großen Teil auf dem durch die Deutschen [162] geschaffenen Handel und Gewerbfleiß. Auch Tschechen wurden in die Prager Stadtgemeinde aufgenommen; aber sie lebten dort nach deutschem Recht, und die Stadt blieb überwiegend deutsch. Als König Johann 1311 seinen Einzug hielt, da begrüßte ihn, meldet der Chronist, ein Teil der Menge tschechisch, aber der weitaus größte Teil, die Deutschen (sed ipsorum pars maxima Theutonicorum), in deutscher Sprache.

Die große Masse der Städte wurde planmäßig gegründet und gleichsam aus dem Nichts geschaffen. Vor allem ging der König beispielgebend voran. Die von den Herrschern angelegten Städte führten die Bezeichnung königliche Städte. Sie waren die größten und bedeutendsten Anlagen, an den Hauptorten der Landesverwaltung und den Knotenpunkten des Verkehrs. Nennen wir, um nur einige der wichtigsten hervorzuheben, in Böhmen Aussig, Brüx, Budweis, Kolin, Nimburg, Pilsen, Zittau (das damals noch zu Böhmen gehörte); in Mähren Gewitsch, Göding, Neustadt, Ungarisch-Hraditsch; in Schlesien Freudenthal, Troppau u. a.

Dem Beispiel des Herrschers folgten bald die anderen Großen des Landes, der Adel wie die Geistlichkeit. Bald hatte jede Herrschaft eine Stadt oder wenigstens ein Städtchen zum Mittelpunkt. Nach dem Muster der deutschen Städte wurden dann auch tschechische Landstädte gegründet. Die Zahl der Städte wuchs erstaunlich rasch. Bis zum Aussterben der Přemysliden, also im knappen Zeitraum von hundert Jahren, lassen sich über 150 nachweisen, und ihre Zahl war gewiß größer. Die Gründung der deutschen Städte blieb nicht auf den deutschen Osten beschränkt. Auch in den baltischen Ländern, in Österreich, in Ungarn sind die Städte deutschen Ursprungs, und nichts kennzeichnet ihre Bedeutung vielleicht besser als der Bericht des päpstlichen Nuntius aus Ungarn von 1463: "Außer den deutschen Städten ist nichts der Erwähnung wert."

Die Städte wurden nach deutschem Recht verwaltet. Weit verbreitet war das Nürnberger und noch mehr das Magdeburger Recht; diese Orte wurden als Oberhöfe in Rechtsangelegenheiten zu Rate gezogen, was den innigen Zusammenhang mit Deutschland zeigt. Aber man schwang sich auch zu eigener Abfassung geschriebenen Rechtes auf, wie es in Brünn und Iglau geschah. Die deutschen Bürger brachten deutsches Handwerk und deutsches Gewerbe mit ins Land. Wieviel davon unbekannt war, zeigen wieder die Menge deutscher Lehnswörter in der tschechischen Handwerkssprache. Am schlagendsten beweist den Fortschritt die Einführung der Tuchmacherei, während vordem im Land nur Leinwand gewoben wurde. Handel und Verkehr nahmen einen gewaltigen Aufschwung.

Iglau

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      Iglau.
Neben dem deutschen Bauern und Bürger müssen wir nun auch noch den deutschen Arbeiter nennen, wenigstens in der Gestalt des Bergmanns. Silberfunde, die man an der Igla machte, führten bald eine große Menge deutscher Bergleute dorthin, und die "Berggemeinde" entwickelte sich rasch zur Stadt Iglau. Der Gerichtshof in Bergsachen, der hier erwuchs, stieg zum Oberhof für alle Bergorte empor, und [163] sein Geltungsbereich erstreckte sich nicht nur über die Sudetenländer, sondern weit hinein nach Österreich und Mitteldeutschland. Neben Iglau entstanden bald Deutschbrod, Kuttenberg, "die Perle des Königreiches", und andere Orte. Den reichen Zinsen, welche die deutschen Bürger der Städte zahlten, und dem Silber, das die deutschen Bergleute aus dem Innern der Erde holten, verdankte der böhmische Herrscher vor allem seinen Reichtum; galt er doch als doppelt so reich wie der reichste unter den deutschen Fürsten.

Nicht nur Wohlfahrt und wirtschaftlicher Aufschwung, sondern auch geistiger Hochstand wurde dem böhmischen Königreich durch die Deutschen geschenkt. Kunst und Wissenschaft blühten auf. Das deutsche Schrifttum im Lande ist rund hundert Jahre älter als das tschechische. Deutsche Sänger weilten am přemyslidischen Hofe. König Wenzel dichtete deutsche Minnelieder. Ulrich von Eschenbach war der erste im Lande geborene deutsche Dichter. Am Ende des 13. Jahrhunderts gab Heinrich von Freiberg dem "Tristan" Gottfrieds einen nahezu ebenbürtigen Abschluß. 1400 schrieb Johannes von Saaz im "Ackermann aus Böhmen" das beste deutsche Prosawerk vor Luther. Im Kunstgewerbe, in der Malerei, in der Baukunst stand der Deutsche ebenfalls obenan. Es mag genügen, nur einen einzigen Mann zu nennen, Peter Parler aus Gmünd, in Baukunst und Plastik gleich hervorragend, der das Beste am Prager Veitsdom, die Karlsbrücke, die Kirche am Karlshof, die Anfänge der Bartholomäuskirche in Kolin, die Barbarakirche in Kuttenberg schuf. Das war in der Zeit Karls IV., in dessen Person der Herrscher Böhmens zum deutschen Kaiser aufstieg. Böhmen wurde dadurch geradezu das Vorland, Prag die Hauptstadt Deutschlands. So verstehen wir, daß, als der Kaiser die erste Universität in deutschen Landen stiftete, sie gerade in Prag zu stehen kommt. Dadurch wurde Prag der Mittelpunkt der Wissenschaften in Deutschland; vier Fünftel der Studenten waren Deutsche. Die Anfänge der deutschen Renaissance und des Humanismus lagen in Böhmen. Hier stand die Wiege der neuhochdeutschen Schriftsprache: der Sprachgebrauch der kaiserlichen Kanzlei der Luxemburger wurde maßgebend für die landesfürstlichen Kanzleien, auch für die kursächsische, deren Sprache Luther seiner Bibel zugrunde legte.


So die geschichtlichen Tatsachen. Als aber nach Beendigung des Krieges die Frage der Organisation der sogenannten österreichischen Nachfolgestaaten, insbesondere der tschechoslowakischen Republik, verhandelt wurde, da spielte auf den Friedenskonferenzen das von den Tschechen eingereichte sogenannte Memoire III eine entscheidende Rolle. In diesem war ausgeführt, daß der vom Präsidenten Wilson und den Alliierten aufgestellte Grundsatz des freien Selbstbestimmungsrechts der Völker auf die Deutschen in Böhmen und Mähren keine Anwendung finden könne mit der wörtlichen Begründung:

      "Die Deutschen haben sich in Böhmen künstlich festgesetzt als Kolonisten oder Beamte oder Bureaukraten, als gelehriges Element einer gewalttätigen Germanisation."

[164] Ebenso hieß es in den ersten Botschaften der tschechoslowakischen Regierung nach Begründung der Republik vom 22. Dezember 1918 und vom 1. Januar 1919:

      "Das von den Deutschen bewohnte Gebiet ist unser Gebiet und wird unser bleiben. Wir haben unsern Staat aufgebaut, wir haben ihn erhalten, wir bauen ihn von neuem auf... Wir haben unsern Staat gebildet; dadurch wird die staatsrechtliche Stellung unserer Deutschen bestimmt, welche ursprünglich in das Land als Emigranten und Kolonisten gekommen sind... Es ist auch ein offenbarer Unterschied in dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen, und wir Tschechen und Slowaken sind, bis auf kleine auswärtige Minoritäten, ein ganzes Volk beisammen. Unsere Deutschen sind kein ganzes Volk, sondern nur eine Kolonisation. Die Deutschen schickten ihre eroberungssüchtigen Kolonisten aus, und auch zu uns in unser Land."

"Unser Land" ist das Land, in das die Vorfahren der Tschechen als Knechte der Avaren kamen, und auch in diesem Sinne war es keineswegs das ganze Böhmen und Mähren, sondern es waren nur die freien, von Natur kulturfähigen Gebiete in der Mitte. Die Wälder auf den Gebirgen der böhmisch-mährischen Umwallung, und auch der Grenzurwald zwischen Böhmen und Mähren sind nicht von den Tschechen, sondern von den Deutschen gerodet, und die von Natur kargen Höhengebiete sind erst durch den deutschen Pflug in Kulturland verwandelt worden. In dem Memoire III wie in der ersten Botschaft der neuen Regierung, also in verantwortlichen Staatskundgebungen, ist mit der Behauptung, die Deutschen in den Sudetenländern hätten kein Recht auf den von ihnen bewohnten Boden, folglich auch kein Selbstbestimmungsrecht (!), die geschichtliche Wahrheit auf den Kopf gestellt. Nicht nur, daß die Deutschen im Gebiet der heutigen tschechoslowakischen Republik dasselbe Recht auf ihr Land haben wie die Tschechen, sondern noch darüber hinaus haben die Tschechen und das erste geschichtlich nachweisbare tschechische Staatswesen ihre bürgerliche und politische Kultur erst von den Deutschen erhalten. Die tschechischen Fürstenurkunden, die das beweisen und von denen wir einige weiter oben angeführt haben, sind so echt wie die Geschichte selbst. Die These aber vom vermeintlichen höheren Recht der Tschechen - worauf ruht sie, bei Lichte besehen? Auf dem Glauben an eine frühe geschichtliche Eigenkultur des tschechischen Volkes. Und woraus ist dieser Glaube entstanden? Aus der gefälschten Königinhofer Handschrift. Nicht was die Tschechen als Volk in moderner Zeit geleistet haben, soll ihnen verkleinert werden. Im Gegenteil, wir werden von diesen Leistungen noch viel zu sprechen haben. Was ihnen aber nicht gebührt, ist ein Vorzug in den Sudetenländern vor den Deutschen.

Niemand, der wissenschaftlich arbeitet und denkt, kann aus den Berichten und Urkunden, die uns erhalten sind, etwas anderes herauslesen, als daß der Reichtum, die Kultur und die Macht Böhmens am Ausgang des Mittelalters zu einem wesentlichen Teile auf der Arbeit seiner deutschen Bevölkerung beruhten. Den Nachkommen dieser Deutschen in Böhmen und Mähren heute ihr Heimatrecht auf dem Boden der Sudetenländer absprechen, sie auf ihm - [165] wenn nicht formell, so doch tatsächlich - unter ein geringeres Recht stellen zu wollen als die Tschechen, ist eine ebenso unsinnige wie brutale Fälschung.


Der Ausbruch der Hussitenkriege zu Beginn des 15. Jahrhunderts zeigt, daß trotz der großen Blüte des Landes und trotz aller Arbeit, die von den Deutschen in dieser Richtung geleistet war, unter den Tschechen eine bis zum Deutschenhaß gesteigerte Eifersucht sich entwickelt hatte. Wir erkennen daraus, daß allmählich im tschechischen Volke unter dem Einfluß der deutschen Kultur, des Städte- und Bildungswesens, Schichten emporgekommen sein müssen, die geistig und wirtschaftlich mit dem Deutschtum wetteiferten und ihren Anteil am öffentlichen Leben begehrten. Die Gegensätze erfuhren eine große Verschärfung, als sich mit dem nationalen und sozialen Widerstreit auch noch der religiöse Kampf verband. Johann Hus, der während des Konzils in Konstanz den Feuertod als Ketzer erlitt, war nicht nur in kirchlicher Beziehung ein unabhängiger Geist, sondern auch ein leidenschaftlicher Tscheche. Sein Tod fachte den in Böhmen unter der Asche schwelenden Brand zu lodernder Flamme an. In den deutschen Städten Böhmens war man kirchlich-katholisch gesinnt, unter dem tschechischen Landvolk und bei einem großen Teil des Adels hussitisch. Der innere Krieg, der darüber in Böhmen entbrannte, war aus diesem Grund zugleich ein Religions- und ein Völkerkampf. Die deutschen Städte wurden in ihrer Vereinzelung zumeist erstürmt oder zur Übergabe gezwungen. Nur wenige vermochten sich dauernd zu halten. Die Greuel der Hussitenkriege endeten im Jahre 1436 mit einem Vertrag zwischen dem deutschen Kaiser und böhmischen König Sigismund auf der einen, der gemäßigten Richtung unter den Hussiten auf der anderen Seite. Die Alleinherrschaft der tschechischen Sprache im Landrecht wurde festgelegt. Kein "Ausländer" sollte ein Amt innehaben, und der König sollte sich nur "böhmischer", d. h. tschechischer Räte bedienen. In die Landtafel durften nur tschechische Eintragungen gemacht, bei allen Gerichten die Verhandlungen nur tschechisch geführt werden. Den Höhepunkt erreichte diese Gesetzgebung im Jahre 1615. Da wurde verfügt, daß kein Ausländer im Lande oder als Stadtbürger aufgenommen werden dürfe, der nicht tschechisch könne. Nachkommen von Ausländern bleiben bis ins dritte Glied von den Ämtern ausgeschlossen; die Kinder müssen von Jugend auf tschechisch lernen; nur tschechisch sprechende Kinder sind voll erbberechtigt. Wer als Inwohner der tschechischen Sprache kundig ist, aber nicht tschechisch sprechen will oder andere davon abhält, soll des Landes verwiesen werden. Und dabei saßen längst wieder deutsche Habsburger auf dem Throne, die selbst nicht tschechisch konnten und für die deutsche Übersetzungen der Amtsstücke angefertigt werden mußten!

Eben diese wiederholten und verschärften Sprachengesetze zeigen, daß man des Deutschtums, das sich langsam aber stetig wieder aufrichtete, nicht Herr wurde. Der wirtschaftliche Bedarf war doch stärker. Man brauchte die Deutschen in Handwerk [166] und Gewerbe. Das Deutschtum der Städte in den Randgebieten war nur tschechisch übertüncht worden, und selbst im inneren Böhmen waren noch Minderheiten verblieben, die bald wieder erstarkten. Neuer Bergsegen war im Erzgebirge erschlossen worden, und in Scharen zogen deutsche Bergleute herbei. In Joachimstal wird jetzt die Münze geschlagen, die als (Joachims)-"Taler" und dann als "Dollar" Weltgeltung erlangte. Eine neuen Bewegung drang mit der Reformation über die böhmischen Berge und nach Mähren. Sie fand wohlvorbereiteten Boden. Die Böhmischen Brüder, die aus den gemäßigten Hussiten hervorgegangen waren und auch deutsche Gemeinden zählten, fühlten sich zu Luther hingezogen. Mit der Reformation kamen auch wieder deutsche Prediger ins Land. Tschechische Geistliche empfingen ihre Ausbildung oft in Deutschland, besonders in Wittenberg. Ja, trotzdem es amtlich kein Deutschtum im Lande gab, kann man im 16. Jahrhundert geradezu von einer Blüte deutschen Geistes und Schrifttums in den Sudetenländern sprechen. Michael Weiß schuf den deutschen Brüdergemeinden ihr wunderbares Gesangbuch. In Joachimstal ist Nikolaus Herman einer der bedeutendsten Liederdichter, Johannes Mathesius einer der größten Prediger des Protestantismus geworden. Der Meistersang blüht namentlich in Mähren, eine regelrechte Meistersingerschule gedeiht in Iglau. So wurde schon im 16. Jahrhundert viel von dem Verlorenen zurückgewonnen.

Nachteilig für die Deutschen war, daß sie in zwei Glaubenslager geschieden waren. Als der Dreißigjährige Krieg ausbrach, finden wir auf der Seite des Winterkönigs Deutsche im Verein mit den Tschechen, und als nach der verlorenen Schlacht auf dem Weißen Berge Böhmen der Macht des Kaisers sich beugen muß, da bluteten auch deutsche Herren auf dem Altstädter Ring zu Prag. Bei den Tschechen hat sich die Volksmeinung eingewurzelt, auf dem Weißen Berg hätte Böhmen die "Unabhängigkeit" verloren und die "Germanisation" begonnen. Beides ist irrtümlich. Die Macht des Adels wurde gebrochen, der Protestantismus vernichtet. Die Beschränkungen für den Gebrauch der deutschen Sprache fielen, beide Sprachen sollten fortan gleichberechtigt sein, aber eine Germanisierung lag den Habsburgern dabei fern. Das tschechische Volkstum wurde nicht gewaltsam bedrängt, seine Sprache nicht unterdrückt. Aber Adel und Beamtentum, überhaupt die Gebildeten, fügten sich der neuen Richtung und bevorzugten den Gebrauch der deutschen Sprache. Auch in innerböhmischen Städten machte das Deutsche Fortschritte, immer noch unterstützt durch Zuwanderung deutscher Handwerker. An der Sprachgrenze, namentlich im Westen und Nordwesten, gewann der deutsche Bauer an Boden. Die innere deutsche Amtssprache erwuchs im wesentlichen von selbst im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts. Die tschechische Sprache trat mehr und mehr zurück. Maria Theresia hielt es sogar für notwendig, diese "verfallene Sprache wiederumb emporzubringen" und sorgte für tschechischen Unterricht. Am Ende des 18. Jahrhunderts befürchtete man ernstlich den Untergang der tschechischen Sprache. Erst Kaiser Josef II. machte den Versuch, das Deutsche zur alleinigen Amtssprache zu erheben, [167] aber nicht aus deutschvölkischem Empfinden, zum Zwecke der "Germanisierung", sondern um die Staatsverwaltung zu vereinheitlichen.

Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert trat im deutschen Geistesleben an die Stelle des klassisch-weltbürgerlich gerichteten Denkens eine romantisch-völkerländische Richtung, und dieser neue, als Romantik bezeichnete Geist, dessen Hinauswirken über die deutschen Grenzen im allgemeinen ja bekannt ist, hatte in Böhmen zunächst die Wiedererweckung der tschechischen Sprache zur Folge. Dabei wurde freilich der Irrtum begangen, die beiden Begriffe "böhmisch" und "tschechisch" gleichzusetzen. Deutsche wie Tschechen machten sich daran, die slawische Vergangenheit der Sudetenländer zu erforschen, die "böhmische" Sprache zu bearbeiten und die tschechische Dichtung zu fördern. Der Eifer, mit dem die Tschechen ans Werk gingen, war bewundernswert; ihre ersten großen literarischen Führer Dobrowsky und Jungmann konnten dabei in ihrer Jugend nicht einmal tschechisch. Deutsche Gelehrte und Dichter halfen ihnen getreulich bei der Arbeit. Wie rasch und schrankenlos die Begeisterung für das tschechische Volkstum erstarkte, zeigen ja gerade die berühmten Fälschungen aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts: weil man des Echten zu wenig aus alter Zeit fand, stellte man selber alttschechische Heldenlieder und andere Dichtungen her. Was anfänglich nur eine sprachlich-literarische Bewegung war, schlug aber bald ins Politische um. Vor dem Jahre 1848 hatte man auf sudetendeutschem Boden noch keine Voraussicht von der Bedeutung dieser Dinge. Als dann nach der 48er Revolution in Kremsier in Mähren der konstituierende österreichische Reichstag (vom 22. November 1848 bis 7. März 1849) zusammengetreten war, kam es dort zu einer deutsch-tschechischen Einigung, nach der eine nationale Abgrenzung auf Grundlage des beiderseitigen Sprachgebiets stattfinden sollte. Diese einzigartige Gelegenheit, den Frieden zwischen den beiden Völkern zu begründen, wurde vom österreichischen Staate versäumt. In der Folgezeit richteten die Tschechen ihr Streben darauf, eine bundesstaatliche Gliederung Österreichs zu erreichen mit Wahrung der "historischen" Grenzen der Länder. Das hätte die Auslieferung der Deutschen in Böhmen und Mähren an die Tschechen bedeutet. In den Krieg von 1866 zogen die österreichischen Deutschen mit großdeutscher Gesinnung, während die Tschechen die Erfüllung ihrer Wünsche von Preußen erhofften. Als nach der "kleindeutschen" Lösung der deutschen Frage die Deutschen in Österreich die Rolle des staatserhaltenden Volkes zugewiesen bekamen, dem allein an der Einheit des Staates gelegen war, war die Politik der Regierung in Wien oft genug versucht, andere Wege zu gehen. Es war ein Stück von der Tragik des Staatsvolkes, daß jede Erweiterung des Wahlrechts, der entgegenzutreten unmöglich war, doch seine Schwächung zur Folge hatte. Wenige einsichtige Deutsche verlangten die Zweiteilung Böhmens. Die Mehrheit war dagegen, um das Deutschtum in Prag nicht zu opfern. Als man im Weltkrieg endlich allgemein einsah, was not- [168] wendig war, und im Mai 1918 die Teilung beschloß, war es zu spät. Die Sudetendeutschen haben dann unmittelbar nach dem Umsturz den Versuch gemacht, sich auf ihrem angestammten Grund und Boden als ein Bestandteil der Republik Deutsch-Österreich zu organisieren, d. h. sich staatlich von den Tschechen zu trennen. Geographisch behindert, besaßen sie innerlich doch ein Recht dazu kraft ihres selbständigen und geschlossenen Volkstums und kraft der Ausschließung, die von tschechischer Seite gegen das Deutschtum in bezug auf Mitbeteiligung an der zukünftigen Staatlichkeit der "tschechoslowakischen" Republik verfügt wurde. Die Sudetendeutschen stehen heute dort, wo sie nach den Hussitenkriegen standen. Die Formen des Kampfes haben sich geändert; ihr Sinn ist heute derselbe wie vor 500 Jahren.

Der große Erfolg der tschechischen nationalen Bewegung, der schließlich zur Gründung eines Staatswesens geführt hat, in dem die Tschechen als eine nationale Minderheit eine Mehrheit ihnen teils verwandter, teils stammesfremder Elemente beherrschen, ist nicht allein der geistigen Erweckung zu Anfang des 19. Jahrhunderts zuzuschreiben, sondern er hat seine zweite - entscheidende - Grundlage auf dem Gebiet der Völkervermehrung und Völkerwanderung. Noch im 18. Jahrhundert wanderten Deutsche nach Böhmen zu. Im 19. Jahrhundert schlägt das aus wirtschaftlichen Gründen ins Gegenteil um. Die Industrie, die aus der Erwerbsnot der Bevölkerung in den von Natur wenig begünstigten deutschen Randgebieten entstanden war, hob sich durch die Intelligenz und Arbeitskraft des Deutschtums bald zur Blüte und brauchte mehr Arbeitskräfte, als ihr aus dem Nachwuchs der deutsch bevölkerten Gegenden zur Verfügung standen. Als die deutsche Zuwanderung nach den Städten von Innerböhmen aufhörte, mußten dort durch das Zuströmen der tschechischen Landbevölkerung die Deutschen immer mehr in die Minderheit geraten, während umgekehrt in den deutschen Industrieorten ein tschechischer Bevölkerungsteil sich bildete. Allmählich sammelte sich so in den Industrieorten, vor allem in den Kohlengebieten, eine stärker und selbstbewußter werdende tschechische Minderheit an, und nicht nur das, sondern der sudetendeutsche Nachwuchs verließ auch vielfach die Heimat, um im besser zahlenden Ausland einen Platz oder irgendwo auf dem weiten Boden des österreichischen Staates im Zivil- oder Militärdienst eine höhere Stellung und einen größeren Wirkungskreis zu finden. Diese Vorgänge waren unvermeidlich, von den Zeitgenossen nur zum kleineren Teile erkannt, vielfach übersehen; aber in ihrer Gesamtwirkung haben sie sehr viel dazu beigetragen, daß die anfangs nur romantisch-nationale tschechische Bewegung ihre Wendung ins Politische nehmen und sich den dazu notwendigen materiellen Unterbau schaffen konnte.

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50 Jahre Vertreibung. Der Völkermord an den Deutschen. Ostdeutschland - Sudetenland: Rückgabe statt Verzicht

Benesch und der Völkermord an den Sudetendeutschen. Zeitzeugen klagen an

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Der "Brünner Todesmarsch" 1945. Die Vertreibung und Mißhandlung der Deutschen aus Brünn. Nemci ven! Die Deutschen raus! Eine Dokumentation

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Kein Schlußstrich. Die Sudetendeutschen und die Tschechen in Geschichte und Gegenwart

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Weg mit den Benesch-Dekreten! Das ungesühnte Jahrhundert-Verbrechen

Wir suchten die Freiheit. Schicksalsweg der Sudetendeutschen


200 000 Sudetendeutsche zuviel! Der tschechische Vernichtungskampf gegen 3,5 Millionen Sudetendeutsche und seine volkspolitischen Auswirkungen.

Das andere Lidice: Die Tragödie der Sudetendeutschen

Das Buch der deutschen Heimat, besonders das Kapitel "Sudeten".

Deutsches Land: Das Buch von Volk und Heimat, besonders das Kapitel "Schlesien".

Dokumente zur Austreibung der Sudetendeutschen

Das Grenzlanddeutschtum: Das Sudetendeutschtum

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Deutschtum in Not!
Die Schicksale der Deutschen in Europa außerhalb des Reiches.
Paul Rohrbach