[154]
Der grenzdeutsche
Gürtel (Teil 10, Forts.)
Das Sudetendeutschtum
und die Deutschen in der Slowakei (Teil 2)
Sudetendeutsche Geschichte
Seit wann gibt es Deutsche in den Sudetenländern? Daß diese schon
in entfernter vorgeschichtlicher Zeit von Menschen besiedelt waren, lehrt uns die
moderne Wissenschaft des Spatens. Die ältesten gefundenen
Überreste führen uns bis in die Altsteinzeit zurück, und von da
ab reichen die Funde ununterbrochen durch die jüngere Steinzeit, die
ältere und die jüngere Bronzezeit bis zum Beginn der geschichtlichen
Periode. Erst in der jüngeren Eisenzeit, die etwa um
400 v. Chr. beginnt, sind wir imstande, einen bestimmten
Völkernamen mit den böhmisch-mährischen Bodenfunden in
Verbindung zu bringen, nämlich den des keltischen Volkes der Bojer. Um
die Mitte des ersten Jahrhunderts v. Chr. haben die Bojer ihre Sitze in
Böhmen verlassen; wohin und aus welchen Gründen ist nicht mit
Sicherheit zu sagen. Noch erinnern einige keltische Namen an ihre einstige
Anwesenheit im Lande, so die der Flüsse Eger und Iser, und vor allen
Dingen der Name "Böhmen" selbst. Die umwohnenden Germanen nannten
das Land "Baihaim", lateinisch "Boihaemum", das ist Bojerheim; aus
Baihaim entstand Beiheim und später Böhmen. Die deutsche
Bezeichnung ist also gut 1000 Jahre älter als der slawische Landname
Čechy.
Es gibt Anzeichen dafür, daß schon in der Keltenzeit, im 2.
Jahrhundert v. Chr., an der Elbe in Nordböhmen Germanen,
vermutlich Hermunduren (Thüringer) sich niedergelassen hatten und
daß diese später elbaufwärts vorgedrungen sind. Bevor aber
das ganze Land germanisch wurde, dauerte es noch eine Weile. Im
1. Jahrhundert v. Chr. finden wir am oberen Main, in der Gegend
von Bamberg und Regensburg, die Markomannen ansässig, d. h. die
Grenzleute. Sie gehörten mit ihren Nachbarn, den Quaden, als Teilstamm
zu dem großen germanischen Hauptstamm der Sweben, der späteren
Schwaben, die sich während der Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung im
späteren Brandenburg und Thüringen und in den Mainlanden
ausgedehnt hatten. Der Teil, der das ehemalige Grenzgebiet, die "Mark",
bewohnte, hatte danach seinen Namen erhalten. Das Wort "Quaden" dagegen
stammt vom alten deutschen "quât", soviel wie böse,
schlimm, d. h. schlimm gegen die Feinde. Die Markomannen stießen
während der Feldzüge der Römer in Germanien mit diesen
zusammen und wichen unter der Führung Marbods in das von den Bojern
verlassene, von Waldgebirgen wie von einer Festung umgebene Böhmen
aus. Die Quaden und niedergermanische Stammessplitter zogen mit. Die
Markomannen nahmen das Innere von Böhmen ein, die Quaden die
Marchebene.
[155] Marbod besaß
eine bedeutende Macht; auch die Quaden in Mähren, die Vandalen in
Schlesien, die Semnonen in Brandenburg, die Langobarden an der unteren Elbe
waren von ihm abhängig. Von Böhmen aus wurde also, wenn man
will, zum ersten Male eine germanische Großmacht geschaffen. In Marbods
Hauptstadt Marobodum, wo der König seinen Herrenhof und eine Festung
hatte, ließen sich auch römische Kaufleute nieder. Die Lage dieses
Platzes ist noch nicht sicher wieder aufgefunden. Nach der Schlacht im
Teutoburger Walde versuchte Hermann der Cherusker den Marbod zu einem
Bündnis gegen Rom zu bewegen, jedoch vergeblich. Statt dessen
entstanden Kämpfe zwischen Markomannen und Cheruskern, die
schließlich im Jahre 17 n. Chr. in einer gewaltigen Schlacht
ausgetragen wurden. Marbod erlitt keine Niederlage, ging aber zurück und
wurde im Jahre darauf von den Römern mit Hilfe der Goten gestürzt.
Jedoch behielten die Markomannen und Quaden ihr Siedlungsgebiet, und diese
besetzten auch Oberungarn, während jene bis an die Donau
vorrückten. Beide machten den Römern schwer zu schaffen. Der
Kaiser Marcus Aurelius war im Begriff, den zwölfjährigen
Markomannen- und Quadenkrieg im Jahre 180 n. Chr. siegreich zu
beenden und die Sudetenländer dem römischen Reiche
einzuverleiben, als er unerwartet in Vindobona, im heutigen Wien, starb. Am
Ende des 4. Jahrhunderts hören wir dann noch von einer
Markomannen-Königin Fritigild, die für das Christentum gewonnen
wird und nach Mailand reist, um den berühmten Bischof Ambrosius zu
sehen.
Die große Frage ist nun, wo zwischen dem 5. und 7. Jahrhundert
n. Chr. die bis dahin zweifellos germanischen Bewohner von
Böhmen und Mähren hingeraten und wie die beiden Länder in
den Besitz von Slawen, den späteren Tschechen, gekommen sind. Wir
hören von dem Abzug der Quaden aus Mähren, in Gemeinschaft mit
den Vandalen, denen sie zunächst Spanien erobern halfen. Danach werden
wir sehr wahrscheinlich durch den Namen der Avaren auf die richtige Spur des
Verschwindens der Markomannen aus Böhmen und des Erscheinens der
Slawen geführt. Bis ins 6. Jahrhundert n. Chr. sind die
Siedlungsfunde im böhmischen Boden germanisch; dann brechen sie ab,
um erst nach Jahrhunderten neu einzusetzen und zwar mit deutlich slawischem
Charakter. Die Avaren, ein berittenes, nomadisches, kriegerisches Volk
asiatischer Herkunft, waren ein Nachschub der großen
Völkerwanderung, die nach der herkömmlichen Betrachtung im
Jahre 375 n. Chr. mit dem Erscheinen der Hunnen in Europa
einsetzt. Ihre eigentlichen Ursachen liegen sicherlich viel tiefer; aber dennoch
bedeutet der Einbruch der Hunnen einen wichtigen Abschnitt in der großen
Bewegung. Es steht fest, daß den Hunnen zeitweilig auch germanische
Stämme, wie die Goten, heerespflichtig angeschlossen waren. Die
Überlegenheit eines asiatischen Reitervolkes über den
kriegstüchtigen Germanen ist nur in der Ebene denkbar. Ungarn aber, das
die Hunnen zuerst einnahmen, war ein durchaus offenes, ebenes Land, und das
Innere von Böhmen und Mähren muß, wie wir bereits sahen,
von Anfang an ähnlich beschaffen gewesen sein.
[156] Es ist nicht
möglich, daß die weniger kriegstüchtigen und weniger
kultivierten Slawen selbst imstande gewesen sein sollten, ein germanisches Volk
von der Stärke der Markomannen aus seinen Sitzen zu vertreiben. Der
wirkliche Hergang der Dinge muß daher anders gewesen sein. Ein
fränkischer Chronist, Fredegar, berichtet uns in der ersten Hälfte des
7. Jahrhunderts, daß damals die Slawen in Böhmen Knechte
der Avaren gewesen seien, die in der Herrschaft über die mittleren
Donauländer den Hunnen gefolgt waren. Fredegar erzählt, die
Slawen müßten für die Avaren kämpfen, und des
Winters kämen diese nach Böhmen, quartierten sich bei den Slawen
ein, schliefen bei ihren Frauen und fügten ihnen auch sonstige Unbill zu.
Damit müssen wir den Bericht eines spanischen Juden, Ibrahim ibn Jakub,
aus dem 9. Jahrhundert n. Chr. verbinden, der uns einen Bericht
über seine Reise durch die damaligen europäischen
Slawenländer hinterlassen hat. Er bemerkt, daß die Slawen in
Böhmen, im Unterschied von den übrigen Slawen, nicht blond seien,
sondern dunkel. Das muß auf die langdauernde Blutmischung mit den
Avaren zurückgehen. Nicht die Slawen, die späteren Tschechen,
haben also die Germanen aus Böhmen verdrängt, sondern die
Avaren, die als berittenes Kriegsvolk die Überlegenheit über
bewaffnete, wenn auch tapfere Fußkämpfer besaßen. Die
Slawen aber gelangten nach Böhmen und Mähren als Untertanen der
Avaren, die ihnen das Land zur Bestellung überließen, aber Tribut
und das Recht des Einlagers forderten. Wie schrecklich die Avaren als
überlegene Gewaltherren den Vorfahren der heutigen Tschechen gewesen
sein müssen, geht daraus hervor, daß das tschechische Wort für
"Riese" - obr - ursprünglich den Avaren bedeutet!
Einen Fingerzeig dafür, wo die Markomannen geblieben sind, bietet uns der
Name "Bayern". Diese erscheinen im Beginn des Mittelalters als Bajuvaren oder
Bojoaren, d. h. Leute aus dem Bojer Lande. Die Markomannen, vor dem
avarischen Druck weichend, sind also über das Gebirge im Westen, den
heutigen Böhmerwald, gezogen. Sie gelangten zuerst in den bayerischen
Nordgau zwischen Donau und Fichtelgebirge, wo Teile ihres Volkes schon vor
alters gesessen hatten und vielleicht auch noch saßen, und nahmen von dort
aus auch das heutige Ober- und Niederbayern ein, wo sie sich so kräftig
entwickelten, daß sie alsbald den Hauptteil an der Kolonisation des
späteren Österreich und der Ostalpenländer bestreiten
konnten.
An dieser Stelle vereinigt sich unsere Darstellung
mit den Ergebnissen der Forschung eines sudetendeutschen Gelehrten, Bretholz,
die er als Archivar in Brünn angestellt hat. Bretholz hat mit guten
Gründen wahrscheinlich gemacht, daß die Sudetenländer
eigentlich nie leer von Germanen geworden sind und daß die bisherige
Anschauung, im 12. und 13. Jahrhundert hätte eine große und
planmäßige Kolonisation in Böhmen und Mähren
stattgefunden, keineswegs durch die Quellen so gestützt wird, wie man es
bisher annahm. Die Kolonisationstheorie, wie überhaupt die bisherige
Auffassung von der älteren Geschichte der Sudetenländer, stammt in
der Hauptsache aus dem großen Werk des tschechischen Historikers Franz
Palacky, [157] dessen Geschichte
von Böhmen im Jahre 1836 zu erscheinen begann. Palacky seinerseits
stand noch ganz unter dem Eindruck einer der größten und
merkwürdigsten Fälschungen, die jemals auf dem Gebiet der
geschichtlichen Quellenliteratur stattgefunden haben: der "Königinhofer
Handschrift". Im Jahre 1817 wurden, angeblich in einem uralten Turm des
Städtchens Königinhof, im östlichen Böhmen, eine
Anzahl Pergamentblätter gefunden mit der Schrift des
13. Jahrhunderts, Bruchstücke epischer und lyrischer Dichtung in
slawischer Sprache enthaltend. Auf einigen Blättern stand die Bezeichnung
als 26., 27. und 28. Kapitel eines dritten Buches. Es schien also erwiesen,
daß, bis auf diese zufällig gefundenen Seiten, eine große und
entwickelte tschechische Literatur aus früherer Zeit verloren gegangen
sei.
Die "Königinhofer Handschrift" wurde nicht nur in Böhmen,
sondern auch in Deutschland, so von Goethe und den Gebrüdern Grimm,
für echt gehalten. Erst vierzig Jahre nach ihrer Auffindung wurden
begründete Zweifel wach, bis dann in den achtziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts der große "Handschriftenstreit" ausbrach, der die
vermeintlichen Funde von Anfang bis zu Ende als Fälschungen entlarvte.
Es war ein gewisser Wenzel Hanka in Königinhof, der sie aus
übertriebenem tschechischen Patriotismus begangen hatte. Wir folgen nun
für eine Weile der Darstellung von Bretholz selbst, die er im Archiv
für Politik und Geschichte (Heft 9, Oktober 1924) gegeben hat:
"Das Bild, das die
»Handschriften« Palacky entrollten, war das eines durchaus
slawischen Böhmens seit ältester Zeit, mit einer staatlichen und
gesellschaftlichen Ordnung auf rein slawischer Grundlage: slawisch das
Fürstentum und der Adel, die beide redend und handelnd in den Gedichten
auftreten; slawisch das Rechts- und Volksleben, das in einer Reihe
charakteristischer Züge hervortritt; slawisch der Götterkult, dessen
Hauptlinien erkennbar werden; rein slawisch die Sprache. In jenem
Böhmen, von dem die »Gedichte« erzählten, gab es
nach Palackys Überzeugung keinen Platz für Deutschtum; in der
Zeit, über die die Königinhofer und Grüneberger
Handschriften Auskunft gaben, d. h. vom 7. bis zum
13. Jahrhundert, konnten in diesem Lande keine Deutschen als Volk gelebt
haben; Tschechen müssen die einzigen Bewohner gewesen sein. Und wenn
auch in anderen Quellen sich dennoch deutliche Spuren von Deutschtum zeigen,
so müsse das eben anders als durch Ansässigkeit erklärt
werden.
Das ging nun so, solang es ging. Aber dann kam Palacky
mit seiner Geschichte ins 13. Säculum, in eine Zeit, da auch in
Böhmen die Quellen schon reichlich fließen und zu Chronisten
Urkunden treten, die in das Rechts- und Wirtschaftsleben sichereren Einblick
gewähren als Lieder und Dichtungen. Und da gewahrte Palacky, daß
in Böhmen und Mähren ein kräftiges, hochentwickeltes
Deutschtum bestehe, deutsche Namen, deutsche Städte, deutsche
Dörfer, deutsches Recht und deutsche Sitten mit solcher Klarheit und in
solcher Stärke sich zeigen, daß an dem Bestand einer deutschen
Bevölkerung überall im Lande nicht mehr zu zweifeln war. Auch
Palacky konnte bei [158] allem Festhalten an den
Handschriften diese Tatsache nicht übersehen und mußte sich und
seinen Lesern die Frage beantworten: Woher kommen plötzlich diese
Deutschen?
Nun war seit jeher bekannt, weil gleichzeitige Quellen
davon berichten, daß zwar nicht im 13., wohl aber im 12. Jahrhundert
ehedem von Slawen bewohnte Gebiete Nordostdeutschlands mit einem Male
deutsche Bevölkerung erhalten hatten. Konnte sich ein ähnlicher
Prozeß nicht auch in Böhmen und Mähren vollzogen haben?
Man hatte ähnliche Vermutungen in der Literatur gelegentlich schon
ausgesprochen. Darin schien Palacky des Rätsels Lösung zu finden.
Daß in Böhmen die Dinge von Grund aus anders lagen, wurde nicht
berücksichtigt. Dort in Nordostdeutschland war slawisches Volk, weil es
sich zum Heidentum bekannte und das Christentum nicht annehmen wollte, so
lange bekämpft worden, bis der größte Teil ausgerottet war,
das ganze Land öde und vernichtet dalag. Die böhmischen Slawen
aber waren längst keine Heiden mehr. Hier führten keine deutschen
Fürsten Krieg, hier entstand nicht Ödland, gab es keine leeren
Burgen und ausgebrannten Dörfer. Nichts, was dort
naturgemäß zu einer Kolonisation mit Deutschen führen
mußte, sie zu einer geschichtlichen Notwendigkeit machte, paßt
für Böhmen und Mähren im 13. oder 12. oder
11. Jahrhundert. Weder ein religiöser noch ein kriegerischer noch ein
wirtschaftlicher Grund läßt sich anführen, weder die
quellenmäßig bezeugte Ausbietung des Bodens noch die
unanfechtbare Ankunft und Niederlassung der fremden Deutschen
läßt sich erweisen. Trotzdem meinte Palacky, daß auf
ähnliche Weise das böhmisch-mährische Deutschtum
entstanden sei, durch eine Kolonisation, durch »wo nicht insgesamt, doch
größtenteils aus dem nordwestlichen Deutschland und den
Niederlanden einwandernde Kolonisten«. Überbevölkerung
und Überschwemmung hätten den Anlaß geboten, was aber
doch erst für das 13. Jahrhundert, geschweige für die Zeit
Ottokars II., in welche Palacky die Hauptbewegung verlegt, nachgewiesen
werden müßte.
In Wirklichkeit ist also die Behauptung von dem
ausschließlichen Tschechentum in Böhmen in der Zeit vom 7. bis
zum 12. Jahrhundert nichts als eine Folgerung aus den Eindrücken
der gefälschten Handschriften, und die Annahme eines deutschen
Kolonistentums nichts als ein willkürlicher
Analogieschluß."
Die Bretholzsche These lautet dahin, das deutsche Element sei nie ganz aus den
Sudetenländern verschwunden gewesen, und schon in der später
sogenannten Kolonisationszeit habe dort ein bedeutsames, einheimisches
deutsches Element existiert. Die Debatte hierüber, die durch Bretholz in
Fluß gebracht worden ist, hat ihren endgültigen Abschluß noch
nicht gefunden. Man kann aber jetzt schon sagen, daß die frühere
Anschauung, das Deutschtum in den Sudetenländern sei ganz durch
Einwanderung vom 12. oder 13. Jahrhundert an entstanden, nicht gehalten
werden kann. Für den jetzigen Streit der Tschechen und Deutschen
über die Bodenständigkeit und Heimatberechtigung des
Sudetendeutschtums sind die Auseinandersetzungen, die sich an die
Bretholzschen Arbeiten geknüpft haben, sicher von Interesse, wenn auch
in- [159] sofern von keiner
entscheidenden Bedeutung, als das Recht des sudetendeutschen Volkes auf dem
von ihm bewohnten Grund und Boden schon durch die vielhundertjährige
Arbeit gegeben ist, mit der es diesen Boden aus Wald und Unland zu Kulturboden
gemacht hat. Der tschechische Anspruch, der behauptet, ganz Böhmen und
Mähren innerhalb seiner natürlichen Grenzen seien tschechisches
Land, "unser Land", und nicht nur "unser" Land, sondern auch ein Land einer
schon früh entwickelten national tschechischen Kultur, in das die
Deutschen sich als Eindringlinge hineingeschoben hätten, war im
negativen Sinne schon an dem Tage entschieden, als die Fälschung der
Königinhofer Handschrift und ihrer verschiedenen, später
aufgetauchten Geschwister von der Wissenschaft, auch von der tschechischen,
zugegeben werden mußte.
Eine ursprünglich tschechische, überhaupt eine frühslawische
Eigenkultur von höherer Entwicklung hat es nie gegeben, und dafür,
daß die nach den Sudetenländern einwandernden Slawen auf einer
tieferen Kulturstufe standen als die Germanen, dafür ist schon ihre heutige
Sprache ein Beweis. Das Wort "chleb" für Brot ist aus dem
gotischen hlaifs, d. H. Laib, entlehnt, und wir sehen daraus,
daß die Slawen wirkliches Brot erst von den Germanen kennen lernten. Das
Wort "pluh", Pflug, stammt ebenfalls aus dem Germanischen und zeigt,
daß der germanische Pflug an Stelle des gewöhnlichen slawischen
Hackens übernommen wurde. "Skot" für "Vieh" deckt sich
mit dem deutschen Worte "Schatz", was ursprünglich auch Vieh bedeutet,
und man sieht daraus, daß auch die Viehzucht der Slawen von den
Germanen erlernt war. Der Kulturstand der in die Sudetenländer
einwandernden Slawen muß noch so primitiv gewesen sein, daß es
der urgeschichtlichen Bodenforschung nicht gelungen ist, aus der Zeit vom 7. bis
zum 9. Jahrhundert nennenswerte Funde zu machen. Erst als die Slawen im
10. Jahrhundert unter deutschem Einfluß von der in roher Form
geübten Leichenverbrennung zur Körperbestattung übergehen,
finden wir in den Gräbern eiserne Messer, silberne oder bronzene
"Schläfenringe" und eine einfache schmutziggraue Tonware.
Kennzeichnend ist aber, daß dieser geringe Eigenvorrat durch weite
Landstrecken begegnet, ohne Merkmale einer selbständigen
Höherentwicklung. Auch die slawischen Befestigungen, Rundwälle,
zeigen nur geringe technische Fertigkeiten. Karl der Große unterwarf
Böhmen und gliederte es seinem Reiche an. Seitdem haben die Tschechen
das Wort Kral für "König" in ihrer Sprache. Diese
Entlehnung zeigt, ebenso wie die spätere Hofhaltung der böhmischen
Fürsten, daß ihre staatlichen Einrichtungen den germanischen
nachgebildet wurden. Auch wirtschaftlich erkennt man die Abhängigkeit
von den Deutschen aus dem tschechischen Worte penize, d. h.
Pfennig, für "Geld".
Am Ende des 9. Jahrhunderts hat der in der Mitte Böhmens
ansässige Stamm der Tschechen die übrigen Teilstämme unter
seine Herrschaft gebracht und das Haus der Přemysliden, das einzige
Herrschergeschlecht, das die Tschechen selber
hervor- [160] gebracht haben, tritt ins
Licht der Geschichte.Die Přemysliden werden deutsche
Reichsfürsten und erhalten schließlich die Königskrone;
Böhmen wird als Lehen der deutschen Krone ein Bestandteil des deutschen
Reichs, ja nicht nur das, sondern der König von Böhmen erhält
den ersten Rang unter den vier weltlichen Kurfürsten, die zusammen mit
den drei geistlichen den deutschen Kaiser zu wählen hatten. Was dem
Přemysliden Ottokar II. noch mißglückte, das gelang
dem Luxemburger Karl IV.
als König von Böhmen: die
Erlangung der deutschen Kaiserkrone. Seit dem Aussterben der
Přemysliden im Jahre 1306 hat nur noch vorübergehend einmal, in
der Person Georgs von Podiebrad (1458 - 1471), ein Tscheche den
böhmischen Thron innegehabt. Schon in den letzten přemyslidischen
Fürsten floß mehr deutsches als slawisches Blut. Ottokar II.
war von mütterlicher Seite ein Enkel Barbarossas. Die deutschen
Fürsten brachten ihr deutsches Gefolge mit; deutsche Adlige erwarben
Grundbesitz. Der tschechische Adel übernahm deutsche Kleidung und
[204b]
Burg Goldenstein, Eingang.
|
Bewaffnung, deutsche Turniere und deutsches ritterliches Wesen. Deutsche
Vornamen traten neben die slawischen. Baumeister errichteten die ersten Kirchen
und bauten steinerne Burgen, die vielfach deutsche Namen erhielten, für die
tschechischen Großen. Auch der deutsche Kaufmann wurde zum
Träger der deutschen Kultur. Deutsche Kaufmannsniederlassungen
entstanden am Fuße der Prager Burg und anderwärts. Den Vorteil
davon schätzten die Přemysliden so hoch ein, daß sie den
deutschen Kaufmann mit besonderen Vorrechten begabten. "Ich nehme die
Deutschen, die im Burgflecken Prag leben, in meine Huld und meinen Schutz
auf", beurkundet Herzog Sobieslaw (1174 - 1179) "und ich will,
daß sie, wie sie als Volk verschieden sind von den Tschechen, so auch in
ihren Rechten und Gewohnheiten von den Tschechen geschieden seien. Ich
gewähre daher ihnen, den Deutschen, nach dem Gesetz und Recht der
Deutschen zu leben (vivere secundum legem et justitiam Theutonicorum),
das sie seit den Zeiten meines Großvaters, des Königs Wratislaw,
inne haben". Wratislaw II.
herrschte 1062 - 1092. Für seine Zeit wird also der Bestand
einer deutschen Gemeinde in Prag erwiesen. Die Deutschen genießen die
Selbstverwaltung; sie setzen sich selbst ihren deutschen Richter und wählen
ihren Pfarrer. Von vielen drückenden Verpflichtungen sind sie frei: "denn
wisset," sagt der Herzog, "daß die Deutschen freie Männer sind".
Die Beweisführung von Bretholz schließt nicht aus, daß die
böhmischen Fürsten schon seit dem 11. Jahrhundert dieselbe
Methode in bezug auf die Heranziehung von Deutschen befolgt haben
wie im 12. und 13., teilweise auch noch später, die Könige von
Ungarn und Polen. Ohne Zuwanderung von Deutschen war es
überhaupt nicht möglich, den Kulturstand der Länder und vor
allen Dingen die fürstlichen Einkünfte zu heben. Dazu kommt
als ein weiterer Gesichtspunkt, den man sich für das Aufblühen und
die Ausdehnung einer höher kultivierten deutschen Siedelung in
Böhmen und Mähren vor Augen halten muß, daß es sich
politisch nicht um fremden Boden handelt, sondern um deutsches Reichsgebiet,
[161] und daß die
Deutschen, mochten sie nun aus der Ferne gerufen werden oder aus ihren
Walddörfern innerhalb der Landesgrenze kommen, den Tschechen
keinen Grund und Boden in der fetten Mitte des Landes fortnahmen, sondern
Ödland anbauten, Urwald rodeten und wüste Gegenden
bevölkerten. Der Grundbesitzer erhielt von dem Boden, der ihm bisher
nichts getragen hatte, reichliche Abgaben; König, Adel und Geistlichkeit
machten so ihren Besitz ertragfähig. So bildete sich in den Gebirgsranden,
wohin Slawen überhaupt noch nicht gedrungen waren oder nur
spärlich längs der großen Flußläufe wohnten, ein
geschlossenes deutsches Sprachgebiet.
Die Slawen kannten kein Städtewesen, sondern Städte wurden in den
Sudetenländern erst durch die Deutschen geschaffen. Das gesteht auch
Palacky in seiner Geschichte von Böhmen (Band 2,
Seite 35) zu. Es gab Handelsplätze und Märkte in den
Slawenländern, aber kein Bürgertum. Die deutschen Städte
haben sich im Westen des Reichs während des 10. und
11. Jahrhunderts allmählich entwickelt. Diese fertige Form wurde in
den folgenden Jahrhunderten auch nach dem Osten übertragen. In den
Sudetenländern fanden deutsche Städtegründungen etwas
später Eingang als in den benachbarten Ländern. In Mähren
tauchen sie früher auf als in Böhmen. Die erste Gründung, die
wir nachweisen können, ist Neustadt in Mähren 1213. Aber es gab in
Böhmen und Mähren schon einige Orte, wo eine Stadt in
allmählicher Entstehung begriffen war, wo es also zu keiner
Neugründung, sondern nur zu einem Abschluß kam. Das war an den
Herrschersitzen und wichtigen Verkehrspunkten der Fall, und es ergab sich
gelegentlich auch später, besonders bei Bergstädten. Prag,
Brünn, Olmütz, Leitmeritz, Königgrätz, Kuttenberg sind
so geworden. Die städtische Verfassung bei ihnen ist drum nicht minder
deutsch.
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[140a]
Rathaus und Stadtkirche in
Leitmeritz.
[140a]
Rathaus in Reichenberg.
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[212a]
Brünn, Rathausportal.
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[212a]
Hof des Rathauses in Brünn. |
In Prag entwickelte sich die deutsche Kaufmannsniederlassung
allmählich zu einer den Markt beherrschenden Gemeinde, die
Nürnberger Stadtrecht annahm. Ihr Gebiet wurde erst
1235 - 1240 ummauert, womit der Abschluß der Entwicklung
zur Stadt vollzogen war. Die ersten Bürger, die uns genannt werden, sind
der Münzer Dreilot und die Kaufleute Peter, Hermann, Bernard und Syreth.
Den alten Freiheitsbrief Sobieslaws betrachten sie als ihre Magna Charta;
von allen folgenden Königen wird er bestätigt und erweitert.
Wenzel I. bestimmt: "Niemand soll in die Häuser und Straßen
der Deutschen, in welche Schuld sie auch verfallen seien, weder in der Stadt noch
in den Dörfern mit freventlicher Kühnheit einzubrechen wagen oder
aber gewaltsame Hand an dieselben zu legen versuchen." Und er sagt zum
Schlusse: "Wer aber vielleicht unsere Begnadigung zu verletzen wagt und die
genannten Deutschen in ihren bewilligten Rechten angreifen sollte, der soll des
Verbrechens der verletzten königlichen Majestät schuldig erkannt
und bestraft werden, und überdies soll ihn der ewige Fluch des
allmächtigen Gottes treffen gleichwie Dathan und Abiram." Man sieht, wie
das Königtum die Deutschen schätzte und brauchte, und der Grund
ist deutlich genug: die königlichen Einkünfte beruhten zum
großen Teil auf dem durch die Deutschen [162] geschaffenen Handel
und Gewerbfleiß. Auch Tschechen wurden in die Prager Stadtgemeinde
aufgenommen; aber sie lebten dort nach deutschem Recht, und die Stadt blieb
überwiegend deutsch. Als König Johann 1311 seinen Einzug hielt, da
begrüßte ihn, meldet der Chronist, ein Teil der Menge tschechisch,
aber der weitaus größte Teil, die Deutschen (sed ipsorum pars
maxima Theutonicorum), in deutscher Sprache.
Die große Masse der Städte wurde planmäßig
gegründet und gleichsam aus dem Nichts geschaffen. Vor allem ging der
König beispielgebend voran. Die von den Herrschern angelegten
Städte führten die Bezeichnung königliche Städte. Sie
waren die größten und bedeutendsten Anlagen, an den Hauptorten der
Landesverwaltung und den Knotenpunkten des Verkehrs. Nennen wir, um nur
einige der wichtigsten hervorzuheben, in Böhmen Aussig, Brüx,
Budweis, Kolin, Nimburg, Pilsen, Zittau (das damals noch zu Böhmen
gehörte); in Mähren Gewitsch, Göding, Neustadt,
Ungarisch-Hraditsch; in Schlesien Freudenthal, Troppau u. a.
Dem Beispiel des Herrschers folgten bald die anderen Großen des Landes,
der Adel wie die Geistlichkeit. Bald hatte jede Herrschaft eine Stadt oder
wenigstens ein Städtchen zum Mittelpunkt. Nach dem Muster der
deutschen Städte wurden dann auch tschechische Landstädte
gegründet. Die Zahl der Städte wuchs erstaunlich rasch. Bis zum
Aussterben der Přemysliden, also im knappen Zeitraum von hundert
Jahren, lassen sich über 150 nachweisen, und ihre Zahl war gewiß
größer. Die Gründung der deutschen Städte blieb nicht
auf den deutschen Osten beschränkt. Auch in den baltischen
Ländern, in Österreich, in Ungarn sind die Städte deutschen
Ursprungs, und nichts kennzeichnet ihre Bedeutung vielleicht besser als der
Bericht des päpstlichen Nuntius aus Ungarn von 1463: "Außer den
deutschen Städten ist nichts der Erwähnung wert."
Die Städte wurden nach deutschem Recht verwaltet. Weit verbreitet war
das Nürnberger und noch mehr das Magdeburger Recht; diese Orte wurden
als Oberhöfe in Rechtsangelegenheiten zu Rate gezogen, was den innigen
Zusammenhang mit Deutschland zeigt. Aber man schwang sich auch zu eigener
Abfassung geschriebenen Rechtes auf, wie es in Brünn und Iglau geschah.
Die deutschen Bürger brachten deutsches Handwerk und deutsches
Gewerbe mit ins Land. Wieviel davon unbekannt war, zeigen wieder die Menge
deutscher Lehnswörter in der tschechischen Handwerkssprache. Am
schlagendsten beweist den Fortschritt die Einführung der Tuchmacherei,
während vordem im Land nur Leinwand gewoben wurde. Handel und
Verkehr nahmen einen gewaltigen Aufschwung.
Neben dem deutschen Bauern und Bürger müssen wir nun auch noch
den deutschen Arbeiter nennen, wenigstens in der Gestalt des Bergmanns.
Silberfunde, die man an der Igla machte, führten bald eine große
Menge deutscher Bergleute dorthin, und die "Berggemeinde" entwickelte sich
rasch zur Stadt Iglau. Der Gerichtshof in Bergsachen, der hier erwuchs, stieg zum
Oberhof für alle Bergorte empor, und [163] sein Geltungsbereich
erstreckte sich nicht nur über die Sudetenländer, sondern weit hinein
nach Österreich und Mitteldeutschland. Neben Iglau entstanden bald
Deutschbrod, Kuttenberg, "die Perle des Königreiches", und andere Orte.
Den reichen Zinsen, welche die deutschen Bürger der Städte zahlten,
und dem Silber, das die deutschen Bergleute aus dem Innern der Erde holten,
verdankte der böhmische Herrscher vor allem seinen Reichtum; galt er
doch als doppelt so reich wie der reichste unter den deutschen Fürsten.
Nicht nur Wohlfahrt und wirtschaftlicher Aufschwung, sondern auch geistiger
Hochstand wurde dem böhmischen Königreich durch die Deutschen
geschenkt. Kunst und Wissenschaft blühten auf. Das deutsche Schrifttum
im Lande ist rund hundert Jahre älter als das tschechische. Deutsche
Sänger weilten am přemyslidischen Hofe. König Wenzel
dichtete deutsche Minnelieder. Ulrich von Eschenbach war der erste im Lande
geborene deutsche Dichter. Am Ende des 13. Jahrhunderts gab Heinrich
von Freiberg dem "Tristan" Gottfrieds einen nahezu ebenbürtigen
Abschluß. 1400 schrieb Johannes von Saaz im "Ackermann aus
Böhmen" das beste deutsche Prosawerk vor Luther. Im Kunstgewerbe, in
der Malerei, in der Baukunst stand der Deutsche ebenfalls obenan. Es mag
genügen, nur einen einzigen Mann zu nennen, Peter Parler aus
Gmünd, in Baukunst und Plastik gleich hervorragend, der das Beste am
Prager Veitsdom, die Karlsbrücke, die Kirche am Karlshof, die
Anfänge der Bartholomäuskirche in Kolin, die Barbarakirche in
Kuttenberg schuf. Das war in der Zeit Karls IV., in dessen Person der
Herrscher Böhmens zum deutschen Kaiser aufstieg. Böhmen wurde
dadurch geradezu das Vorland, Prag die Hauptstadt Deutschlands. So verstehen
wir, daß, als der Kaiser die erste Universität in deutschen Landen
stiftete, sie gerade in Prag zu stehen kommt. Dadurch wurde Prag der Mittelpunkt
der Wissenschaften in Deutschland; vier Fünftel der Studenten waren
Deutsche. Die Anfänge der deutschen Renaissance und des Humanismus
lagen in Böhmen. Hier stand die Wiege der neuhochdeutschen
Schriftsprache: der Sprachgebrauch der kaiserlichen Kanzlei der Luxemburger
wurde maßgebend für die landesfürstlichen Kanzleien, auch
für die kursächsische, deren Sprache Luther seiner Bibel zugrunde
legte.
So die geschichtlichen Tatsachen. Als aber nach Beendigung des Krieges die
Frage der Organisation der sogenannten österreichischen Nachfolgestaaten,
insbesondere der tschechoslowakischen Republik, verhandelt wurde, da spielte
auf den Friedenskonferenzen das von den Tschechen eingereichte sogenannte
Memoire III eine entscheidende Rolle. In diesem war ausgeführt,
daß der vom Präsidenten Wilson und den Alliierten aufgestellte
Grundsatz des freien Selbstbestimmungsrechts der Völker auf die
Deutschen in Böhmen und Mähren keine Anwendung finden
könne mit der wörtlichen Begründung:
"Die Deutschen haben sich in
Böhmen künstlich festgesetzt als Kolonisten oder Beamte oder
Bureaukraten, als gelehriges Element einer gewalttätigen
Germanisation."
[164] Ebenso hieß es in
den ersten Botschaften der tschechoslowakischen Regierung nach
Begründung der Republik vom 22. Dezember 1918 und vom 1. Januar
1919:
"Das von den Deutschen bewohnte
Gebiet ist unser Gebiet und wird unser bleiben. Wir haben unsern Staat aufgebaut,
wir haben ihn erhalten, wir bauen ihn von neuem auf... Wir haben unsern Staat
gebildet; dadurch wird die staatsrechtliche Stellung unserer Deutschen bestimmt,
welche ursprünglich in das Land als Emigranten und Kolonisten gekommen
sind... Es ist auch ein offenbarer Unterschied in dem Selbstbestimmungsrecht der
Nationen, und wir Tschechen und Slowaken sind, bis auf kleine auswärtige
Minoritäten, ein ganzes Volk beisammen. Unsere Deutschen sind kein
ganzes Volk, sondern nur eine Kolonisation. Die Deutschen schickten ihre
eroberungssüchtigen Kolonisten aus, und auch zu uns in unser
Land."
"Unser Land" ist das Land, in das die Vorfahren der Tschechen als Knechte der
Avaren kamen, und auch in diesem Sinne war es keineswegs das ganze
Böhmen und Mähren, sondern es waren nur die freien, von Natur
kulturfähigen Gebiete in der Mitte. Die Wälder auf den Gebirgen der
böhmisch-mährischen Umwallung, und auch der Grenzurwald
zwischen Böhmen und Mähren sind nicht von den Tschechen,
sondern von den Deutschen gerodet, und die von Natur kargen
Höhengebiete sind erst durch den deutschen Pflug in Kulturland verwandelt
worden. In dem Memoire III wie in der ersten Botschaft der neuen
Regierung, also in verantwortlichen Staatskundgebungen, ist mit der Behauptung,
die Deutschen in den Sudetenländern hätten kein Recht auf den von
ihnen bewohnten Boden, folglich auch kein Selbstbestimmungsrecht (!),
die geschichtliche Wahrheit auf den Kopf gestellt. Nicht nur, daß die
Deutschen im Gebiet der heutigen tschechoslowakischen Republik dasselbe Recht
auf ihr Land haben wie die Tschechen, sondern noch darüber hinaus haben
die Tschechen und das erste geschichtlich nachweisbare tschechische Staatswesen
ihre bürgerliche und politische Kultur erst von den Deutschen erhalten. Die
tschechischen Fürstenurkunden, die das beweisen und von denen wir einige
weiter oben angeführt haben, sind so echt wie die Geschichte selbst. Die
These aber vom vermeintlichen höheren Recht der
Tschechen - worauf ruht sie, bei Lichte besehen? Auf dem Glauben an eine
frühe geschichtliche Eigenkultur des tschechischen Volkes. Und woraus ist
dieser Glaube entstanden? Aus der gefälschten Königinhofer
Handschrift. Nicht was die Tschechen als Volk in moderner Zeit geleistet haben,
soll ihnen verkleinert werden. Im Gegenteil, wir werden von diesen Leistungen
noch viel zu sprechen haben. Was ihnen aber nicht gebührt, ist ein Vorzug
in den Sudetenländern vor den Deutschen.
Niemand, der wissenschaftlich arbeitet und denkt, kann aus den Berichten und
Urkunden, die uns erhalten sind, etwas anderes herauslesen, als daß der
Reichtum, die Kultur und die Macht Böhmens am Ausgang des Mittelalters
zu einem wesentlichen Teile auf der Arbeit seiner deutschen Bevölkerung
beruhten. Den Nachkommen dieser Deutschen in Böhmen und
Mähren heute ihr Heimatrecht auf dem Boden der Sudetenländer
absprechen, sie auf ihm - [165] wenn nicht formell, so doch
tatsächlich - unter ein geringeres Recht stellen zu wollen als die
Tschechen, ist eine ebenso unsinnige wie brutale Fälschung.
Der Ausbruch der Hussitenkriege zu Beginn des 15. Jahrhunderts zeigt, daß
trotz der großen Blüte des Landes und trotz aller Arbeit, die von den
Deutschen in dieser Richtung geleistet war, unter den Tschechen eine bis zum
Deutschenhaß gesteigerte Eifersucht sich entwickelt hatte. Wir erkennen
daraus, daß allmählich im tschechischen Volke unter dem
Einfluß der deutschen Kultur, des Städte- und Bildungswesens,
Schichten emporgekommen sein müssen, die geistig und wirtschaftlich mit
dem Deutschtum wetteiferten und ihren Anteil am öffentlichen Leben
begehrten. Die Gegensätze erfuhren eine große Verschärfung,
als sich mit dem nationalen und sozialen Widerstreit auch noch der
religiöse Kampf verband. Johann Hus, der während des Konzils in
Konstanz den Feuertod als Ketzer erlitt, war nicht nur in kirchlicher Beziehung
ein unabhängiger Geist, sondern auch ein leidenschaftlicher Tscheche. Sein
Tod fachte den in Böhmen unter der Asche schwelenden Brand zu
lodernder Flamme an. In den deutschen
Städten Böhmens war man kirchlich-katholisch gesinnt, unter dem
tschechischen Landvolk und bei einem großen Teil des Adels hussitisch.
Der innere Krieg, der darüber in Böhmen entbrannte, war aus diesem
Grund zugleich ein Religions- und ein Völkerkampf. Die deutschen
Städte wurden in ihrer Vereinzelung zumeist erstürmt oder zur
Übergabe gezwungen. Nur wenige vermochten sich dauernd zu halten. Die
Greuel der Hussitenkriege endeten im Jahre 1436 mit einem Vertrag zwischen
dem deutschen Kaiser und böhmischen König Sigismund auf der
einen, der gemäßigten Richtung unter den Hussiten auf der anderen
Seite. Die Alleinherrschaft der tschechischen Sprache im Landrecht wurde
festgelegt. Kein "Ausländer" sollte ein Amt innehaben, und der
König sollte sich nur "böhmischer", d. h. tschechischer
Räte bedienen. In die Landtafel durften nur tschechische Eintragungen
gemacht, bei allen Gerichten die Verhandlungen nur tschechisch geführt
werden. Den Höhepunkt erreichte diese Gesetzgebung im Jahre 1615. Da
wurde verfügt, daß kein Ausländer im Lande oder als
Stadtbürger aufgenommen werden dürfe, der nicht tschechisch
könne. Nachkommen von Ausländern bleiben bis ins dritte Glied von
den Ämtern ausgeschlossen; die Kinder müssen von Jugend auf
tschechisch lernen; nur tschechisch sprechende Kinder sind voll erbberechtigt.
Wer als Inwohner der tschechischen Sprache kundig ist, aber nicht tschechisch
sprechen will oder andere davon abhält, soll des Landes verwiesen werden.
Und dabei saßen längst wieder deutsche Habsburger auf dem Throne,
die selbst nicht tschechisch konnten und für die deutsche
Übersetzungen der Amtsstücke angefertigt werden
mußten!
Eben diese wiederholten und verschärften Sprachengesetze zeigen,
daß man des Deutschtums, das sich langsam aber stetig wieder aufrichtete,
nicht Herr wurde. Der wirtschaftliche Bedarf war doch stärker. Man
brauchte die Deutschen in Handwerk [166] und Gewerbe. Das
Deutschtum der Städte in den Randgebieten war nur tschechisch
übertüncht worden, und selbst im inneren Böhmen waren noch
Minderheiten verblieben, die bald wieder erstarkten. Neuer Bergsegen war im
Erzgebirge erschlossen worden, und in Scharen zogen deutsche Bergleute herbei.
In Joachimstal wird jetzt die Münze geschlagen, die als
(Joachims)-"Taler" und dann als "Dollar" Weltgeltung erlangte. Eine neuen
Bewegung drang mit der Reformation über die böhmischen Berge
und nach Mähren. Sie fand wohlvorbereiteten Boden. Die
Böhmischen Brüder, die aus den gemäßigten Hussiten
hervorgegangen waren und auch deutsche Gemeinden zählten,
fühlten sich zu Luther hingezogen. Mit der Reformation kamen auch wieder
deutsche Prediger ins Land. Tschechische Geistliche empfingen ihre Ausbildung
oft in Deutschland, besonders in Wittenberg. Ja, trotzdem es amtlich kein
Deutschtum im Lande gab, kann man im 16. Jahrhundert geradezu von
einer Blüte deutschen Geistes und Schrifttums in den Sudetenländern
sprechen. Michael Weiß schuf den deutschen Brüdergemeinden ihr
wunderbares Gesangbuch. In Joachimstal ist Nikolaus Herman einer der
bedeutendsten Liederdichter, Johannes Mathesius einer der größten
Prediger des Protestantismus geworden. Der Meistersang blüht namentlich
in Mähren, eine regelrechte Meistersingerschule gedeiht in Iglau. So wurde
schon im 16. Jahrhundert viel von dem Verlorenen
zurückgewonnen.
Nachteilig für die Deutschen war, daß sie in zwei Glaubenslager
geschieden waren. Als der Dreißigjährige Krieg ausbrach, finden wir
auf der Seite des Winterkönigs Deutsche im Verein mit den Tschechen, und
als nach der verlorenen Schlacht auf dem Weißen Berge Böhmen der
Macht des Kaisers sich beugen muß, da bluteten auch deutsche Herren auf
dem Altstädter Ring zu Prag. Bei den Tschechen hat sich die Volksmeinung
eingewurzelt, auf dem Weißen Berg hätte Böhmen die
"Unabhängigkeit" verloren und die "Germanisation" begonnen. Beides ist
irrtümlich. Die Macht des Adels wurde gebrochen, der Protestantismus
vernichtet. Die Beschränkungen für den Gebrauch der deutschen
Sprache fielen, beide Sprachen sollten fortan gleichberechtigt sein, aber eine
Germanisierung lag den Habsburgern dabei fern. Das tschechische Volkstum
wurde nicht gewaltsam bedrängt, seine Sprache nicht unterdrückt.
Aber Adel und Beamtentum, überhaupt die Gebildeten, fügten sich
der neuen Richtung und bevorzugten den Gebrauch der deutschen Sprache. Auch
in innerböhmischen Städten machte das Deutsche Fortschritte,
immer noch unterstützt durch Zuwanderung deutscher Handwerker. An der
Sprachgrenze, namentlich im Westen und Nordwesten, gewann der deutsche
Bauer an Boden. Die innere deutsche Amtssprache erwuchs im wesentlichen von
selbst im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts. Die tschechische Sprache trat
mehr und mehr zurück. Maria Theresia
hielt es sogar für notwendig,
diese "verfallene Sprache wiederumb emporzubringen" und sorgte für
tschechischen Unterricht. Am Ende des 18. Jahrhunderts befürchtete
man ernstlich den Untergang der tschechischen Sprache. Erst Kaiser
Josef II. machte den Versuch, das Deutsche zur alleinigen Amtssprache zu
erheben, [167] aber nicht aus
deutschvölkischem Empfinden, zum Zwecke der "Germanisierung",
sondern um die Staatsverwaltung zu vereinheitlichen.
Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert trat im deutschen Geistesleben an
die Stelle des klassisch-weltbürgerlich gerichteten Denkens eine
romantisch-völkerländische Richtung, und dieser neue, als
Romantik bezeichnete Geist, dessen Hinauswirken über die deutschen
Grenzen im allgemeinen ja bekannt ist, hatte in Böhmen zunächst die
Wiedererweckung der tschechischen Sprache zur Folge. Dabei wurde freilich
der Irrtum begangen, die beiden Begriffe "böhmisch" und "tschechisch"
gleichzusetzen. Deutsche wie Tschechen machten sich daran, die slawische
Vergangenheit der Sudetenländer zu erforschen, die "böhmische"
Sprache zu bearbeiten und die tschechische Dichtung zu fördern. Der Eifer,
mit dem die Tschechen ans Werk gingen, war bewundernswert; ihre ersten
großen literarischen Führer Dobrowsky und Jungmann konnten dabei
in ihrer Jugend nicht einmal tschechisch. Deutsche Gelehrte und Dichter halfen
ihnen getreulich bei der Arbeit. Wie rasch und schrankenlos die Begeisterung
für das tschechische Volkstum erstarkte, zeigen ja gerade die
berühmten Fälschungen aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts:
weil man des Echten zu wenig aus alter Zeit fand, stellte man selber
alttschechische Heldenlieder und andere Dichtungen her. Was anfänglich
nur eine sprachlich-literarische Bewegung war, schlug aber bald ins Politische
um. Vor dem Jahre 1848 hatte man auf sudetendeutschem Boden noch keine
Voraussicht von der Bedeutung dieser Dinge. Als dann nach der 48er Revolution
in Kremsier in Mähren der konstituierende österreichische Reichstag
(vom 22. November 1848 bis 7. März 1849) zusammengetreten war, kam
es dort zu einer deutsch-tschechischen Einigung, nach der eine nationale
Abgrenzung auf Grundlage des beiderseitigen Sprachgebiets stattfinden sollte.
Diese einzigartige Gelegenheit, den Frieden zwischen den beiden Völkern
zu begründen, wurde vom österreichischen Staate versäumt. In
der Folgezeit richteten die Tschechen ihr Streben darauf, eine bundesstaatliche
Gliederung Österreichs zu erreichen mit Wahrung der "historischen"
Grenzen der Länder. Das hätte die Auslieferung der Deutschen in
Böhmen und Mähren an die Tschechen bedeutet. In den Krieg von
1866 zogen die österreichischen Deutschen mit großdeutscher
Gesinnung, während die Tschechen die Erfüllung ihrer
Wünsche von Preußen erhofften. Als nach der "kleindeutschen"
Lösung der deutschen Frage die Deutschen in Österreich die Rolle
des staatserhaltenden Volkes zugewiesen bekamen, dem allein an der Einheit des
Staates gelegen war, war die Politik der Regierung in Wien oft genug versucht,
andere Wege zu gehen. Es war ein Stück von der Tragik des Staatsvolkes,
daß jede Erweiterung des Wahlrechts, der entgegenzutreten
unmöglich war, doch seine Schwächung zur Folge hatte. Wenige
einsichtige Deutsche verlangten die Zweiteilung Böhmens. Die Mehrheit
war dagegen, um das Deutschtum in Prag nicht zu opfern. Als man im Weltkrieg
endlich allgemein einsah, was not- [168] wendig war, und im
Mai 1918 die Teilung beschloß, war es zu spät. Die
Sudetendeutschen haben dann unmittelbar nach dem Umsturz den Versuch
gemacht, sich auf ihrem angestammten Grund und Boden als ein Bestandteil der
Republik Deutsch-Österreich zu organisieren, d. h. sich staatlich von
den Tschechen zu trennen. Geographisch behindert, besaßen sie innerlich
doch ein Recht dazu kraft ihres selbständigen und geschlossenen
Volkstums und kraft der Ausschließung, die von tschechischer Seite gegen
das Deutschtum in bezug auf Mitbeteiligung an der zukünftigen
Staatlichkeit der "tschechoslowakischen" Republik verfügt wurde. Die
Sudetendeutschen stehen heute dort, wo sie nach den Hussitenkriegen standen.
Die Formen des Kampfes haben sich geändert; ihr Sinn ist heute derselbe
wie vor 500 Jahren.
Der große Erfolg der tschechischen nationalen Bewegung, der
schließlich zur Gründung eines Staatswesens geführt hat, in
dem die Tschechen als eine nationale Minderheit eine Mehrheit ihnen teils
verwandter, teils stammesfremder Elemente beherrschen, ist nicht allein der
geistigen Erweckung zu Anfang des 19. Jahrhunderts zuzuschreiben,
sondern er hat seine zweite - entscheidende - Grundlage auf dem
Gebiet der Völkervermehrung und Völkerwanderung. Noch im
18. Jahrhundert wanderten Deutsche nach Böhmen zu. Im
19. Jahrhundert schlägt das aus wirtschaftlichen Gründen ins
Gegenteil um. Die Industrie, die aus der Erwerbsnot der Bevölkerung in
den von Natur wenig begünstigten deutschen Randgebieten entstanden war,
hob sich durch die Intelligenz und Arbeitskraft des Deutschtums bald zur
Blüte und brauchte mehr Arbeitskräfte, als ihr aus dem Nachwuchs
der deutsch bevölkerten Gegenden zur Verfügung standen. Als die
deutsche Zuwanderung nach den Städten von Innerböhmen
aufhörte, mußten dort durch das Zuströmen der tschechischen
Landbevölkerung die Deutschen immer mehr in die Minderheit geraten,
während umgekehrt in den deutschen Industrieorten ein tschechischer
Bevölkerungsteil sich bildete. Allmählich sammelte sich so in den
Industrieorten, vor allem in den Kohlengebieten, eine stärker und
selbstbewußter werdende tschechische Minderheit an, und nicht nur das,
sondern der sudetendeutsche Nachwuchs verließ auch vielfach die Heimat,
um im besser zahlenden Ausland einen Platz oder irgendwo auf dem weiten
Boden des österreichischen Staates im Zivil- oder Militärdienst eine
höhere Stellung und einen größeren Wirkungskreis zu finden.
Diese Vorgänge waren unvermeidlich, von den Zeitgenossen nur zum
kleineren Teile erkannt, vielfach übersehen; aber in ihrer Gesamtwirkung
haben sie sehr viel dazu beigetragen, daß die anfangs nur
romantisch-nationale tschechische Bewegung ihre Wendung ins Politische
nehmen und sich den dazu notwendigen materiellen Unterbau schaffen
konnte.
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