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Zehn Jahre Freie Stadt Danzig. Einleitende Gedanken
über ihre Entstehung und gegenwärtige Lage.

Wenige Städte dürfte es geben, die im letzten Jahrzehnt so oft im Vordergrunde des tatsächlichen Geschehens und der politischen Erörterung gestanden haben wie gerade Danzig, dessen Name heute auch besonders in der ganzen politisch interessierten Welt bekannt ist und gar häufig genannt wird, während er früher außerhalb Deutschlands nur in gewissen Handelskreisen näher bekannt war. Erklärlich, denn die neueste Zeit hat so manche Umschichtung auch in wirtschaftlicher und namentlich in politischer Hinsicht gebracht; und man kann gerade nicht sagen, daß dabei alles natur- und vernunftgemäß zugegangen ist, ja nicht einmal politisch klug und zweckmäßig, sondern vielmehr aus dem Augenblick geboren, ohne genaue Kenntnis der Verhältnisse und der Geschichte, ohne reifliche Überlegung der praktischen Wirklichkeit und der wirtschaftlichen Zusammenhänge, ohne Achtung auf die kulturellen und nationalen Bedingtheiten, auf die Folgen der Widernatürlichkeiten, der Kämpfe, Streitigkeiten und Gefahren, die dadurch heraufbeschworen worden sind.

Nichtsdestoweniger hat man auch hierfür eine Begründung gesucht und gefunden, und man bildete sich weitab am grünen Tisch, völlig noch beeinflußt durch die Kriegspsychose und eine überaus geschickte und nachhaltige, aber auch ebenso unwahrhaftige und gewissenlose Propaganda, vielleicht sogar ein, eine gerechte und sogar besonders kluge Lösung einer verwickelten Situation gefunden zu haben. Man hat dabei nicht gemerkt, erkennt es vielleicht heute noch nicht, daß man gründlich betrogen worden ist und einen Zankapfel geschaffen hat, durch den die Öffentlichkeit nicht zur Ruhe kommt, bei dem die durch eine solche Entwicklung betroffene Bevölkerung selbst aber in erster Linie der Leidtragende, der geradezu Vergewaltigte ist. Ja man erkennt vielleicht heute noch nicht einmal, daß so Herde [14] politischer Beunruhigung und künftiger kriegerischer Verwicklungen angelegt worden sind, auf denen das Feuer geheim und verborgen glimmt, bis es, von einem günstigen Winde getroffen, zu heller Flamme entfacht wird, die wieder ganz Europa ergreifen und Unglück und Verderben bringen kann.

Diese Kennzeichnung der durch den Friedensvertrag von Versailles geschaffenen Lage trifft wie auf einige andere Gebiete, so in ihrem vollsten Ausmaß namentlich auf Danzig zu, das an einem der geographisch, wirtschaftlich und politisch bedeutsamsten Punkte liegt, dort, wo Höhe, Niederung und Meer an der Mündung eines großen Stromes mit langgestrecktem, weit entwicklungsfähigem Hafen zusammenstoßen, um dessen Besitz und Beeinflussung Völker verschiedenen Stammes und verschiedener Kultur ringen, seit Jahrhunderten gerungen haben. Heute so wie ehedem, nur daß man es heute, in einer Zeit, in der man so viel von Menschenrechten, von Freiheit und Selbstbestimmung der Völker, von dem Rechte der Nationalität u. s. w. redet, wo alles auf die Bildung von Nationalstaaten und die Zusammenfassung der national Gleichgerichteten wenn nur irgend möglich hindrängt, zum Schacherobjekt1 gemacht hat ganz ohne Rücksicht auf die Kultur- und Stammeszugehörigkeit, auf die Lebensnotwendigkeiten, die Wünsche und Forderungen der Bewohner, die wirtschaftliche Verbundenheit. Man könnte es geradezu eine Ironie der Weltgeschichte nennen, daß die Mächte der einstigen Entente, die so laut und feierlich das Recht der Selbstbestimmung der Völker verkündeten und dieserhalb gerade gegen Deutschland die allerschwersten Vorwürfe erhoben, ja die sogar vorgaben, gerade für diese Ideale den Krieg geführt zu haben, im gleichen Augenblick diese Grundsätze mit Füßen traten und im Osten Staatsgebilde und Grenzen schufen, die geradezu ein Hohn auf sie sind.

Eine der Grundforderungen der berühmten, durch ihre Auslegung und Anwendung heute schon berüchtigten vierzehn Punkte des Präsidenten Wilson war ja die These vom Selbstbestimmungsrecht der Völker. Aber wie bald war diese Grundforderung für die Beilegung des Weltkrieges, die Deutschland sich zu eigen gemacht hatte, bei der praktischen Arbeit beim Abschluß des Weltkrieges vergessen, wie verhältnismäßig schnell hatte Wilson sich den Einflüssen und Drohungen2 der polnischen Agitatoren in den Vereinigten Staaten und dem französischen Machtstreben gebeugt, so daß er selbst ganz Danzig zu opfern und an Polen auszuliefern bereit war.

[15] Um Danzig hat in Versailles ein überaus schweres Ringen stattgefunden, da sich England diesen Plänen widersetzte und es zeitweilig den Anschein hatte, als sollte die ganze Friedenskonferenz der Entente daran scheitern. Nur das Eintreten Lloyd Georges in den Pariser Zirkeln verhinderte, daß Danzig, wie es der Wunsch und das Streben der weitgehenden polnischen, von Frankreich unterstützten Pläne war, an Polen ausgeliefert wurde. So kam nach schweren Kämpfen und langem Feilschen das Kompromiß zustande, durch das Danzig eine "Freie Stadt" wurde, eine geradezu unglückliche Schöpfung, in der Polen weitgehende Rechte zugestanden wurden,3 durch die Danzig wirtschaftlich Polen sozusagen auf Gnade und Ungnade ausgeliefert worden ist. Als einziges Wiegengeschenk gab man dem jungen Staat eine ungeheure Schuldenlast mit auf den Weg und einen Nachbarn, dem, um mit den Worten des Danziger Residenten in Warschau aus dem Jahre 1454 zu reden, "die Lunge stark auf Danzig hängt". Und das alles tat man in Versailles, ohne den so feierlich verkündeten Grundsatz vom Selbstbestimmungsrecht der Völker zu beachten, ohne zu beachten, daß man Danzig wohl aus dem Verbande des Deutschen Reiches herausriß, es aber in seinen Grenzen von ihm nicht trennen konnte, so daß man nicht einmal die Ausrede hat, Danzig sei eine Enklave, rundum von einer Bevölkerung anderer Nationalität umgeben. Das alles, ohne die Danziger Bevölkerung irgendwie selbst zu befragen, ja gegen den nachdrücklichsten Protest der Danziger Bevölkerung, der sich in ganz gewaltiger Weise besonders kundtat am 23. März 1919, wo gegen 100 000 Danziger Bewohner in den Straßen und auf den Plätzen Danzigs öffentlich gegen die ihnen angetane Vergewaltigung Einspruch erhoben. Vergebens! Der alleinige Wille der Diktatoren von Versailles bestimmte.

Doch durch diese in Versailles getroffene "Regelung" der Danziger Frage ist tatsächlich erst der Kampf um Freiheit und Selbstbestimmung in die Lande an der Weichselmündung getragen worden, und dieser Kampf wird so lange unerbittlich fortdauern, als diese unnatürliche Grenzziehung bestehen bleibt. Ruhe wird es hier nicht geben, solange nicht eine Revision eingetreten ist. Hier lebt ein zähes, entschlossenes und kerndeutsches Geschlecht, das schon ärgere Stürme hat um sich brausen sehen als die gegenwärtigen, das ihnen aber stets mannhaft widerstanden hat, widerstanden, wenn es sein mußte, selbst mit der Waffe in der Hand. Denn es gibt wenige deutsche Städte, deren Werden und Wachsen sich in den Jahrhunderten mit solch drama- [16] tischer Spannung und solch heftigen Entladungen vollzogen hat, wie gerade dasjenige Danzigs, und wenige haben in früheren Jahrhunderten so heftig und zähe um Freiheit, Kultur und Deutschtum ringen müssen und haben so erfolgreich gerungen, wie gerade unsere alte Hansestadt an der Weichselmündung. Heute wiederholt sich nur, zwar unter etwas anderen und schwereren Verhältnissen und Bedingungen und in einem ganz anders gearteten Zeitabschnitt, was sich hier bereits in anderer Form vor Jahrhunderten abgespielt hat. Und wieder sind es dieselben Rivalen, die sich in der Kampfarena gegenüberstehen. Damals galt es für Polen, sich Danzig willfährig und zu einem Teile des polnischen Reiches zu machen, ihm deutsche Sprache, deutsche Sitte, deutsche Kultur zu nehmen und es zu polonisieren, heute gilt es ebenso für Polen, das Wort wahr zu machen, das der polnische Nationaldichter Mickiewicz seinen Helden sprechen läßt: "Danzig, einst das uns'rige, wird auch wieder unser werden!" Das ist der Traum aller Polen, das ist das Ziel der gesamten polnischen Politik auf allen Gebieten. Und doch hofft und vertraut die kleine Danziger Bevölkerung auf ihren Sieg, weil sie überzeugt ist, daß Recht und Gerechtigkeit schließlich doch den Sieg davontragen müssen, und weil sie weiß, daß beide auf ihrer Seite stehen und der Herrgott noch lebt.

Es kann ja gar nicht anders sein! Wer einen Blick in die tausendjährige Geschichte Danzigs tut, der findet auch in ihr diese Wahrheit nur bestätigt. Nie ist es gelungen, irgendwie den deutschen Charakter Danzigs zu verwischen, da Danzigs Bevölkerung sich allezeit ihrer Kraft und ihres Deutschtums, aber auch der Notwendigkeit geschlossenen Zusammenstehens bewußt war, und selbst Danzigs Steine und Danzigs Landschaft rufen es weit in alle Welt hinaus, daß es jeder, der seine Ohren und seine Sinne nicht absichtlich verschließt, vernehmen muß: Wir und Danzigs Bewohner sind deutsch seit Anbeginn; deutscher Geist, deutsche Arbeit, deutsche Kultur haben geschaffen und erhalten, was heute so herrlich vor uns steht, kerndeutsch sind Danzig und seine Bewohner bis auf den heutigen Tag. Und Danzigs Bevölkerung leistet den Schwur: Mag kommen was da will, mögen uns die Stürme noch so sehr umbrausen, mag die Not an unsere Türe pochen, mögen uns verführerische Lockrufe umschmeicheln, wir sind deutsch und bleiben deutsch, wir bieten alles auf, um die Polonisierung unserer Stadt und ihre Angliederung an Polen zu verhindern, wir wollen kämpfen und ringen bis zu dem heiß ersehnten Tage, da wir wieder mit unseren deutschen Stammesbrüdern in einem Reiche [17] vereinigt sein werden, in einem einigen, großen, besseren Deutschland.

Danzigs Deutschtum ist eine so unumstößliche Wahrheit, daß sie selbst die ehemaligen Feindbundmächte haben anerkennen müssen, wenn auch nur gezwungen und widerwillig und in abgeschwächter bzw. verschleierter Form. Ausdrücklich erklären sie in ihrer Antwortnote auf die Gegenvorschläge der deutschen Friedensdelegation vom 16. Juni 1919 im elften Abschnitt:

      "Die Danziger Bevölkerung ist der großen Mehrzahl nach deutsch und ist dies seit langer Zeit gewesen."

Nicht nur der "großen Mehrzahl nach" ist die Danziger Bevölkerung deutsch, sondern in ihrer gewaltigen Überzahl. Das haben nicht nur die Volkszählungen in der Vor- und Nachkriegszeit bewiesen, sondern auch alle politischen Wahlen, die völlig geheim geschahen, so daß von irgendeinem Druck auf die Bevölkerung und von einem Zwange nicht im entferntesten die Rede sein kann.

So ergab die Volkszählung für die ganze Freie Stadt Danzig vom 1. November 1923 unter 335 921 Danziger Staatsangehörigen nur 6 788 Personen, die ihre Muttersprache als polnisch, kassubisch oder masurisch angegeben, und 1 108 Personen, die sie als deutsch und polnisch bezeichnet hatten, wobei aber noch zu beachten ist, daß Kassubisch sowohl wie Masurisch wesentlich verschieden vom Polnischen ist, daß weiter diejenigen, die deutsch und polnisch als Muttersprache angegeben haben, noch lange nicht sämtlich Polen, im Gegenteil, meist völlige Deutsche sind, die beide Sprachen von Jugend auf geläufig sprechen. Aber selbst wenn man diese alle zusammenzählt und den Polen zurechnet, so ergibt das Resultat, daß unter den 335 921 Danziger Staatsangehörigen 1923 7 896, d. h. nur 2,35 Prozent Personen mit nicht rein deutscher Muttersprache waren. Und diese Zahlen beruhen auf den eigenen, unbeeinflußten Angaben der betreffenden Personen selbst.

Ähnlich war es vor dem Kriege. Nach der Volkszählung vom 1. Dezember 1910, der letzten vor dem Kriege, hatten wir in Danzig Stadt 3,5%, im Kreise Danziger Niederung 1%, im Kreise Marienburg, von dem ein Teil heute zum Gebiet der Freien Stadt Danzig gehört, 3%, im Kreise Danzig Höhe, von dem durch den Versailler Vertrag gleichfalls ein Teil losgerissen und zu Polen geschlagen worden ist, 11% Polen.

Nicht minder klar sind die Zahlen der Wahlen für das Danziger Parlament, den Volkstag, die geheim stattfinden. [18] Bei diesen Wahlen brachten die Polen trotz allerlebhaftester und rücksichtslosester Agitation im Jahre 1920 insgesamt 9 321 d. h. 6,08% der Gesamtheit der abgegebenen Stimmen auf und erhielten von 120 Abgeordnetensitzen nur 7, d. h. 5,8%. Im Jahre 1923 brachten sie nur 7 212 von 164 714 abgegebenen Stimmen, d. h. 4,37%; auf und erhielten somit von 120 Sitzen nur 5, d. h. also nur 4,16%. Bei der nächsten Wahl im Herbst 1927 erhielten sie von 182 836 abgegebenen Stimmen nur 5 764, d. h. 3,16% und erhielten von 120 Mandaten nur drei, d. h. 2,5%. Bei der letzten Wahl im November 1930 erhielten sie von 197 871 abgegebenen Stimmen nur 6 377 oder 3,23%, infolgedessen von den 72 Mandaten, auf die der Volkstag inzwischen verringert worden war, nur zwei, d. h. 2.78%.

Man sieht, die Zahlen sind sich im wesentlichen immer gleich geblieben, sie sind sogar von Wahl zu Wahl gefallen. Und dabei ist zu berücksichtigen, daß unsere Zahlen, bei denen wir die Zahl der tatsächlichen Wähler, nicht der Wahlberechtigten zu Grunde gelegt haben, für Polen noch sehr günstig sind, weil ihre Agitation mit polnischen staatlichen Mitteln geführt wurde, teilweise mit moralischen Druckmitteln, soweit es sich um Bedienstete namentlich der Eisenbahn handelte, teilweise mit Geld, mit Kleidungsstücken und dergl. Aber klarer kann die geradezu verschwindende polnische Minderheit in Danzig nicht zum Ausdruck gebracht werden, als es durch diese amtlichen Zahlen und die eigenen geheimen Kundgebungen der Bewohner selbst geschehen ist.

Es zeugt auch von einer schlechten Kenntnis der Danziger Geschichte, wenn in dem oben angeführten Satz der alliierten und assoziierten Mächte behauptet ist, daß Danzigs Bevölkerung "seit langer Zeit" deutsch ist, womit ganz zweifellos zum Ausdruck gebracht werden soll, daß sie nicht immer deutsch gewesen ist, wie es ja auch durch die polnische These behauptet wird. Diesem Satz stellen wir den andern entgegen: Danzigs Bewohner sind allezeit deutsch gewesen, Polen hat es unter ihnen auch in der sogenannten polnischen Zeit nur vereinzelte gegeben, und sie besaßen zudem kaum welche Rechte, sie waren Ausländer, standen unter Ausländerrecht und wurden dementsprechend behandelt.

Wir erkennen in dieser angeführten Wendung der alliierten und assoziierten Mächte sehr deutlich die Wirkung der polnischen Propaganda, die da ständig behauptete und auch heute noch behauptet, die ursprünglich polnische Danziger Bevölkerung sei in der preußischen Zeit zwangsweise germanisiert und eingedeutscht worden. Die Fassung des amtlichen Dokuments erinnert sehr stark an die Worte [19] der von Dmowski, dem polnischen nationaldemokratischen Führer und Hauptvorkämpfer für die Einverleibung ganz Ost- und Westpreußens in den neu errichteten polnischen Staat unter dem 8. Oktober 1918 für Wilson verfaßten Denkschrift, die da lauten: "Die offiziellen Zahlen, welche Danzig betreffen, stellen die Stadt als rein deutsch dar, indessen erweisen private Untersuchungen, auf polnischen Wegen geführt, daß fast die Hälfte der Bevölkerung polnisch ist, wenn auch oberflächlich eingedeutscht." Wir werden in dieser Arbeit später an einem Beispiel zeigen, auf welche Weise diese "privaten Untersuchungen auf polnischen Wegen" geführt worden sind und was von ihnen zu halten ist. Aber es ist angesichts dieser Behauptung Dmowskis dem Präsidenten Wilson gegenüber nicht uninteressant zu sehen, was er etwa ein Jahr vorher gesagt hatte. In seiner 1917 für den englischen Ministerpräsidenten Balfour verfaßten Denkschrift sagt er: "Das heutige Danzig ist deutsch", damit allerdings auch wieder andeutend, daß es ehemals anders gewesen sei.4

Ähnliche Behauptungen werden auch aufgestellt in einer 1919 veröffentlichten Denkschrift5, an der polnische Universitätsprofessoren wie u. a. Konopczynski, Buyak, Romer, Nitsch u. a. mitgearbeitet haben und die bestimmt war für die Kommission der alliierten und assoziierten Mächte, die mit der Festsetzung der Grenzen hier im Osten beauftragt war. In dieser Denkschrift heißt es nicht nur, daß Danzig schon seit dem Jahre 997 eine "polnische Stadt" sei, sondern in ihr wird auch erklärt:

      "Die Germanisierung Danzigs ist oberflächlich, und sobald die Polen das Recht haben werden, sich in der Stadt niederzulassen, wird sie wieder polnisch werden, wie Krakau und andere Städte in Polen... Danzig wird bald eine vorwiegend polnische Stadt werden, und das ohne irgend einen Druck und ohne quälende Maßnahmen von Seiten der polnischen Autoritäten."

Doch nichts ist unrichtiger als alle diese Behauptungen, die sich auch heute noch ständig wiederholen. Man erkennt aber ohne weiteres, daß die Väter des Versailler Vertrages von diesen falschen Voraussetzungen ausgegangen sind. Es wird ja Aufgabe dieser Arbeit sein, dies im Einzelnen noch näher darzulegen.

In der angezogenen Antwortnote der alliierten und assoziierten Mächte heißt es in diesem ganzen Zusammenhange:

[20]   "Die für Danzig vorgeschlagene Lösung (d. h. Danzig zu einer Freien Stadt zu machen. Der Verf.) ist mit genauester Sorgfalt ausgearbeitet worden und wird den Charakter bestätigen, den die Stadt Danzig durch Jahrhunderte bis zu dem Tage gehabt hat, an dem sie durch Gewalt und entgegen dem Willen ihrer Bewohner dem Preußischen Staate einverleibt worden ist. Die Danziger Bevölkerung ist der großen Mehrzahl nach deutsch und ist dies seit langer Zeit gewesen. Gerade aus diesem Grunde geht der Vorschlag nicht dahin, die Stadt dem polnischen Staate einzuverleiben. Aber als Danzig eine Hansestadt war, befand es sich, wie viele andere Hansestädte, außerhalb der politischen Grenzen Deutschlands und war mit Polen vereinigt, bei welchem Staate es sich jahrhundertelang weitgehender örtlicher Unabhängigkeit und einer großen Handelsblüte erfreut hat. Es wird sich nun von neuem in einer Lage befinden, die der während so vieler Jahrhunderte von ihm eingenommenen ähnlich ist. Die wirtschaftlichen Interessen Danzigs und Polens sind identisch. Danzig, der größte Weichselhafen, bedarf dringend engster Beziehungen zu Polen."

Man kann nur die Geschichtsunkenntnis - und man ist geneigt zu sagen die Weltfremdheit oder den grenzenlosen Zynismus jener Leute bewundern, die diese Sätze ausgedacht und niedergeschrieben haben, niedergeschrieben haben im 20. Jahrhundert. Man kann nur erstaunt sein, wie leicht die Väter des Versailler Vertrages der polnischen Agitation, Geschichtsfälschung und Überredungskunst zum Opfer gefallen sind, denn auch diese Sätze sind polnischen Geistes und Ursprungs und natürlich gleichfalls unwahr. Was in obigen Sätzen geschrieben steht, ist, soweit es die Vergangenheit betrifft, nicht nur eine einzige große geschichtliche Schiefheit und Unwahrheit, sondern es hat, nach obigen Sätzen zu urteilen, den Anschein, als ob die Staatsmänner von Versailles sich sogar die Kraft zugetraut haben, nicht nur das Rad der Geschichte, sondern auch der tatsächlichen praktischen politischen, wirtschaftlichen und technischen Entwicklung um eine Reihe von Jahrhunderten zurückzudrehen. Sie geben sich den Anschein, als wüßten sie nichts davon, daß in den verflossenen zwei bis drei Jahrhunderten ein grundlegender Wandel eingetreten ist nicht nur im Staatsleben, sondern auch ebenso im Wirtschaftsleben, in der Gestaltung der politischen Dinge und auch der [21] gesamten Verhältnisse; als wollten sie hier an der Mündung der Weichsel ein Staatswesen schaffen, für das noch die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse des 15. und 16., nicht aber des 20. Jahrhunderts maßgebend sind. Überall in der Welt, und namentlich auch in Deutschland, ist man glücklich, daß die üble Kleinstaaterei verschwunden ist und die ungezählten Schlagbäume der Grenzen gefallen sind, die Leben, Wirtschaft und Verkehr in der schlimmsten Weise lahmten und behinderten, die in dieser modernen Zeit der Eisenbahnen, Autos, Flugzeuge, Schnellschiffe, des Telegraphs, Fernsprechers und Radio ja auch völlig unmöglich sind. Den Männern von Versailles aber scheint - entgegen allen tatsächlichen Verhältnissen und jeder praktischen Vernunft - eine solche Kleinstaaterei hier an der Weichsel als Ideal vorgeschwebt zu haben, und sie haben es fertig gebracht - in der Theorie wenigstens -die Verhältnisse von vor zweihundert und mehr Jahren auf die heutige Zeit zu übertragen. Das hindert sie andererseits aber heute wieder nicht, den praktischen Bedürfnissen für ihre eigenen Länder Rechnung tragen zu wollen, eifrig von einem Paneuropa zu reden und es zu erstreben.

Es scheint tatsächlich so, daß man bei der Schaffung der Freien Stadt Danzig jeden Wirklichkeitssinn ausgeschaltet gehabt hat und unter völliger Unkenntnis der Geschichte und unter ebensolcher Verkennung der tatsächlichen Verhältnisse und Bedürfnisse der Gegenwart mitten im 20. Jahrhundert ein mittelalterliches Staatsgebilde hat schaffen wallen. Daß das eine Utopie gewesen ist, sehen, so glauben wir, diese klugen Männer heute auch schon ein und sie mögen wohl heute schon wünschen, damals auf die geschickte Irreführung und eigene Unkenntnis nicht hereingefallen zu sein, aber sie bringen immer noch nicht den Mut auf, dies einzugestehen und die notwendige Korrektur vorzunehmen. Von einer "mit genauester Sorgfalt ausgearbeiteten Lösung" kann hier wirklich nicht die Rede sein.

Es wird Aufgabe dieser Schrift sein, die in der oben angeführten Auslassung enthaltenen geschichtlichen Unwahrheiten und Fehlschlüsse aufzuzeigen und durch Tatsachen das Gegenteil zu beweisen. Aber die Staatsmänner von Versailles haben sich auch als sehr schlechte Propheten für die Zukunft erwiesen, denn auch die von ihnen nach dieser Richtung gezogenen Schlußfolgerungen haben sich schon in diesen verflossenen zehn Jahren als grundfalsch erwiesen, und sie mußten sich als verfehlt erweisen. Denn die heutige Stellung der Freien Stadt Danzig ist ja grundverschieden von der, die sie einstens eingenommen hat, und [22] noch mehr verschieden sind ihre Lebensbedingungen und Lebensnotwendigkeiten.

Danzig war nie mit dem polnischen Staate vereinigt gewesen in dem Sinne, daß es etwa einen Teil von ihm bildete, und gerade auf wirtschaftlichem Gebiete bildete es den Schlüssel für Polen, den es aber selbst in der Hand hatte, und zwar ganz allein, wie wir noch ausführlich darlegen werden, während es heute, wo es in wirtschaftlicher Hinsicht Polen auf Gedeih und Verderb geradezu ausgeliefert ist, umgekehrt der Fall ist. Danzig ist nicht einst emporgeblüht und zu Reichtum gelangt, weil es mit Polen vereinigt war, sondern trotzdem es in einer gewissen losen Verbindung mit ihm stand, aber weil es allein zu bestimmen hatte, was in seinem Hafen geschah, wer in Danzig sich niederließ und Handel trieb.

Von einer Handelsblüte, die man Danzig jetzt verheißen hat, ist wirklich nichts zu spüren, das gerade Gegenteil ist der Fall, wie heute schon aller Welt klar sein dürfte und wie der ständige wirtschaftliche Niedergang Danzigs und die steten Verhandlungen vor den Völkerbundsinstanzen beweisen, wie auch die immer umfangreichere Verlegung der polnischen Ein- und Ausfuhr von Danzig nach dem neu errichteten, kaum zehn Kilometer weit entfernten polnischen National- und Konkurrenzhafen Gdingen beweist; ebenso der nun mit französischem Gelde in der Vollendung begriffene Eisenbahnbau Kattowitz-Gdingen, der nicht nur strategischen Zwecken dient, sondern vornehmlich mit dazu, den Umschlag bequemer von Danzig nach Gdingen abzuleiten und Danzig wirtschaftlich noch mehr zu knebeln.

Die Gegenwart hat bewiesen, daß gerade die enge wirtschaftliche Verbindung Danzigs mit Polen Danzigs Niedergang bedeutet - entgegen der Annahme der Schöpfer des Versailler Vertrages - und es ist auch grundfalsch, daß Danzig und Polen ein einheitliches Wirtschaftsgebiet bilden. Derartige wirtschaftliche Gemeinsamkeiten lassen sich nicht durch ein Diktat oder durch einen Federstrich herstellen, auch wenn sie von interessierter Seite noch so sehr gewünscht werden. Sie lassen sich auch nicht dadurch schaffen, daß man ein Gebiet dem andern - wie hier Danzig Polen - wirtschaftlich unbedingt ausliefert und dem Stärkeren die Befugnis gibt, die notwendigen Gesetze ganz allein und einseitig zu schaffen. Einheitliche Wirtschaftsgebiete müssen organisch verbunden und gewachsen sein, sie müssen organisch ineinander greifen, eins muß das andere bedingen und die gleichen Bedingtheiten zeigen. Das aber ist hier ganz und gar nicht der Fall.

[23] Danzig bildete und bildet vielmehr mit Deutschland ein gemeinsames, einheitliches Wirtschaftsgebiet. Die Fäden liefen nicht von Norden nach Süden und umgekehrt, sondern von Westen nach Osten und von Osten nach Westen. Die Danziger Wirtschaft in Handel und Industrie, in Bank- und Kreditwesen war mit der gesamten deutschen Wirtschaft aufs engste verflochten und von ihr durchaus abhängig. Danzig war in der neueren Zeit wohl noch nach wie vor wichtiger Umschlags- und Handelsplatz, aber es war auch bereits eine nicht unbedeutende Industriestadt. Man denke nur an die große Werftindustrie, die Tausenden und Abertausenden Beschäftigung und Brot gab, und die ausschließlich von Deutschland gespeist wurde; man denke an die Eisenbahnwerkstätten und an die Gewehrfabrik, die gleichfalls ausschließlich von Deutschland die Aufträge erhielten. Deutschlands Geld pulsierte hier, und Danzig wie ganz Westpreußen waren allzeit ganz bedeutende Zuschußgebiete, die aus dem Reiche gespeist wurden und die darum nur so emporblühen konnten, weil das Reich bzw. Preußen allezeit helfend eingriff. Man denke an die Landwirtschaft des Danziger Gebietes, die eine außerordentliche Höhe und Rentabilität und darum auch einen Wohlstand auf wies, weil sie in Deutschland gute Absatzgebiete hatte und gute Preise erzielte. Demgegenüber ist unsere Danziger Industrie heute sozusagen vernichtet und unsere Danziger Landwirtschaft steht gerade infolge der wirtschaftlichen Verkuppelung Danzigs mit Polen vor dem völligen Ruin, da sie ihre hochwertigen Produkte weit unter Selbstkostenpreis abstoßen muß, da gerade die infolge niederer Löhne u. s. w. weit billiger produzierende polnische Landwirtschaft, die zudem noch durch die polnische Regierung finanziell gestützt wird, der gefährlichste Feind der Danziger Landwirtschaft ist. Man denke ferner an die hochstehende soziale Gesetzgebung Danzigs, die ja der deutschen vollkommen entspricht, und dementsprechend auch an das wesentlich höhere Lohn-und Kulturniveau der Danziger Arbeiterschaft, die gerade durch die Verkuppelung Danzigs mit Polen immer weiter zurückgeworfen wird. So ließen sich noch viele Momente aufzeigen, die dartun, wie grundverschieden beide Gebiete sind und wie alle bestehenden Fäden, Organisationen und Zusammenhänge ganz plötzlich zerrissen worden sind und Danzig in ein ihm wesensfremdes, ja wesensfeindliches Wirtschaftsgebiet eingegliedert worden ist, dessen Lebens- und Kulturgestaltung von dem Danziger grundverschieden ist.

Wir unterlassen es, auf alle diese Dinge hier im einzelnen näher einzugehen, sie sind überaus bedeutsam und [24] vielgestaltig und auch bereits in einer größeren Anzahl neuerer Schriften in allen ihren Einzelheiten, Zusammenhängen und Folgerungen untersucht und aufgezeigt worden. Wir begnügen uns darum, zur weiteren Orientierung auf diese Danziger Schriften zu verweisen.6 Uns kommt es hier nur darauf an, die Tatsachen zu betonen und in diesem Kapitel der Einführung die Zusammenhänge kurz aufzuzeigen, ohne Einzelheiten zu behandeln, da das nicht Aufgabe dieser Schrift ist. Wir unterlassen es hier auch, näher die von den alliierten und assoziierten Mächten zur Begründung der Schaffung der Freien Stadt Danzig angeführte Behauptung zu untersuchen, diese Regelung hätte getroffen werden müssen, weil dies der einzig mögliche Weg gewesen sei, Polen den ihm zugesicherten "freien und ungehinderten Zugang zum Meere" zu verschaffen. Das ist nicht wahr! Es gab genug andere Möglichkeiten. Präsident Wilson selbst hatte ja diese andere Möglichkeit vorgeschwebt, als er seinen vierzehn Punkten in seiner Ansprache an den Senat in Washington am 22. Januar 1917 die Auslegung gab, in der er u. a. sagte:

      "Außerdem sollte, soweit wie irgend durchführbar, jedem Volke.... ein direkter Zugang zu den Verkehrsstraßen des Meeres zugebilligt werden. Wo dieses durch Abtretung von Territorien nicht geschehen kann, kann es zweifellos durch die Neutralisierung direkter Wegerechte unter der allgemeinen Friedensbürgschaft geschehen."

Damit hatte also Wilson selbst den Weg gewiesen, auf dem Polen einen ungehinderten Zugang zum Meere erhalten konnte, auch ohne Losreißung Danzigs vom Deutschen Reiche. Und die deutsche Friedensdelegation hatte in ihrer am 29. Mai 1919 den alliierten und assoziierten Mächten überreichten Antwortnote dazu noch besonders ausgeführt:

      "Die Deutsche Regierung ist nach diesen Grundsätzen zur Erfüllung der von ihr übernommenen Verpflichtung, Polen einen freien und sicheren Zugang zum Meere zu geben, bereit, die Häfen von Memel, Königsberg und Danzig zu Freihäfen auszugestalten und in diesen Häfen Polen weitgehende Rechte einzuräumen. Durch eine entsprechende Vereinbarung könnte dem polnischen Staatswesen jede Möglichkeit zur Errichtung und Benutzung der in Freihäfen erforderlichen Anlagen (Docks, Anlegestellen, Schuppen, Kais u. s. w.) vertraglich zugesichert werden. Auch ist die Deutsche Regierung [25] bereit, durch ein besonderes Abkommen mit dem polnischen Staat hinsichtlich der Benutzung der Eisenbahnen zwischen Polen und anderen Gebieten des ehemaligen russischen Reiches einerseits und den Häfen von Memel, Königsberg und Danzig andererseits jede erforderliche Sicherheit gegen Differenzierung in den Tarifen und der Art der Benutzung zu geben....
      Ferner würde die Deutsche Regierung bereit sein, die von Polen, Litauen und Lettland durch Ost- und Westpreußen zur Ostsee führenden Wasserstraßen unter weitgehenden Sicherungen zur freien Benutzung und zum freien Durchgangsverkehr den Polen zur Verfügung zu stellen. Die Gegenseitigkeit der Leistung von polnischer Seite ist ebenfalls Voraussetzung."

Hier waren die Möglichkeiten und Wege aufgezeigt, mit denen man zu einer vernunftgemäßen, allen Teilen gerecht werdenden Regelung hätte kommen können. Die Mächte von Versailles aber lehnten es ab, diese Wege zu beschreiten. Einmal weil sie noch völlig in der Kriegspsychose befangen waren und ihnen alles daran lag, Deutschland so weit wie möglich zu demütigen und zu schwächen, dann aber vor allem, weil sie - vielleicht mit Ausnahme Englands - völlig unter dem Einfluß der polnischen Propaganda standen, deren Behauptungen und Darlegungen sie als bare Münze hinnahmen, ohne daß sie - vielleicht mit Ausnahme Frankreichs - die wahren Ziele und Absichten Polens durchschauten oder aber sie verkannten, und weil sie ihren neuen Verbündeten und ungestümen Drängern, zu deren Schützern sie sich aufgeworfen hatten, gern zu Willen sein wollten. So wurde die "Freie Stadt Danzig" geschaffen.

Polen hat trotz eifrigster Anstrengungen nicht erreicht, was es erstrebt hatte. Sein Ziel ging ja, wie aus allen Auslassungen unzweideutig hervorgeht, auf den Besitz Danzigs, ja auch auf den Besitz Ostpreußens etwa bis Königsberg hin. Dies Ziel ist in den polnischen Reden und Schriften, in den von Polen gezeichneten Karten der damaligen Zeit immer wieder zum Ausdruck gekommen, das ist von ihnen auch in der Folgezeit, mehr oder weniger deutlich betont worden, wenngleich die amtlichen Stellen sich nach dieser Richtung im Gegensatz zur ersten Zeit eine starke Reserve auferlegt haben. Dafür wird von den amtlichen Stellen aber um so nachhaltiger eine Politik getrieben, die ganz zielklar der Verwirklichung dieser Pläne zustrebt. Polen hat auch bis zur Stunde die Hoffnung noch nicht aufgegeben, daß in [26] nicht allzu ferner Zeit der Tag erscheinen werde, an dem Danzig einen Teil des polnischen Staates bilden wird. Auf dies Ziel geht Polens ganzes Streben, auch wenn es offiziell geleugnet wird, und zu seiner Erreichung ist ihm jedes Mittel recht, dazu vor allem sucht es die wirtschaftliche Verbindung und die wirtschaftliche Abhängigkeit Danzigs von Polen und auch besonders die ihm durch den Versailler Vertrag eingeräumten weitgehenden Rechte in Danzig zu benutzen. Die gesamten polnischen Stellen in Danzig sind die eifrigsten Träger systematischer Polonisierungsversuche, wobei der unmoralische Druck auf die Untergebenen nicht verschmäht wird, so daß sich Danzig wiederholt genötigt gesehen hat, sich beschwerdeführend an die Instanzen des Völkerbundes zu wenden. In skrupelloser Ausnutzung der Polen in Danzig gegebenen Rechte, ja in ihrem Mißbrauch, hofft es, daß die Zeit für es arbeiten und es seinem Ziele näher bringen wird. Denken wir an das bereits angeführte Wort der polnischen Gutachter für die Grenzfestsetzungskommission aus dem Jahre 1919: "Sobald Polen das Recht haben wird, sich in der Stadt (Danzig) niederzulassen, wird es (Danzig) wieder polnisch werden".

Und dieses Niederlassungsrecht ist den Polen leider uneingeschränkt durch den Versailler Vertrag, wie ihn Polen auslegt, gegeben. Auf Grund der Vertragsbestimmung:

      "Die alliierten und assoziierten Hauptmächte verpflichten sich, ein Übereinkommen zwischen der polnischen Regierung und der Freien Stadt Danzig zu vermitteln, das... den Zweck haben soll... 5. Vorsorge zu treffen, daß in der Freien Stadt Danzig kein Unterschied zum Schaden der polnischen Staatsangehörigen und anderer Personen polnischer Herkunft oder polnischer Zunge gemacht wird."

Dieser von den alliierten und assoziierten Hauptmächten zwischen Danzig und Polen vermittelte, d. h. Danzig aufgezwungene Vertrag ist der sogenannte Pariser Vertrag7 vom 9. November 1920, der seine Ergänzung gefunden hat im sogenannten Warschauer Abkommen8 vom 24. Oktober 1921. Polen legt diese Bestimmungen so aus, daß Danzig verpflichtet sei, alle polnischen Staatsangehörigen nicht nur ungehindert nach Danzig hereinzulassen und ihnen zu gestatten, hier Wohnung zu nehmen, sondern auch, daß Danzig verpflichtet sei, sie genau wie seine eigenen Staatsangehörigen zu behandeln, d. h. also, um nur ein paar Beispiele herauszugreifen, ihnen Wohnungen zuzuweisen wie den Danzigern, ihnen zu gestatten, überall und in unbegrenzter [27] Zahl Arbeit aufzunehmen, für ihren Schulunterricht zu sorgen u. s. w. Man beachte, daß es sich nicht etwa um Danziger Staatsangehörige polnischer Nationalität handelt, sondern um Polen polnischer Staatsangehörigkeit.

Diese Bestimmungen haben sich geradezu grotesk ausgewirkt, sie liegen aber ganz im polnischen System und dienen der Polonisierung Danzigs, der Überflutung Danzigs mit Polen nichtdanziger Staatsangehörigkeit. Da in Danzig ganz andere Kultur- und vor allem weit bessere Lohnverhältnisse sind, in Polen zudem auch Arbeitslosigkeit herrscht, streben zahlreiche Arbeitnehmer polnischer Staatsangehörigkeit nach Danzig, und die polnischen Stellen fördern diese Einwanderung. So ist es gekommen, daß wir gegenwärtig in Danzig gegen 20 000 polnische Staatsangehörige in Arbeit und Brot haben, während gleichzeitig rund 24 000 Arbeitnehmer Danziger Staatsangehörigkeit arbeitslos sind, die den Danziger Staat finanziell ungeheuer belasten, da jeder Arbeitslose ihn durchschnittlich jährlich mindestens 1 000 Gulden kostet. Danzig aber hat nicht die Möglichkeit, von Staatswegen gegen diesen Irrsinn etwas zu unternehmen, es muß tatenlos zusehen, wie seine eigenen Angehörigen arbeitslos sind und körperlich und seelisch der Verelendung anheimfallen, wie seine Finanzen zerrüttet werden, während Ausländer Beschäftigung und Brot haben. Man nenne uns einen einzigen Staat auf der Welt, wo etwas Derartiges zum zweiten Male vorkommt! In anderen Ländern werden die Einwanderungen beschränkt, je nachdem es die Bedürfnisse des Landes erheischen, nur bei uns ist das nicht möglich. Das ist eine der vielen Widersinnigkeiten der Danzig aufgezwungenen "Verträge". Sie sind, wie dies Beispiel erhellt, ganz absichtlich darauf angelegt, das polnische Element in Danzig immer mehr zu stärken, ja systematisch ein Polentum hier großzuziehen.

Noch eine zweite Widersinnigkeit, die abermals zeigt, was Polen im Schilde führt. Auf Grund der angezogenen Vertragsbestimmungen bzw. deren Auslegung durch Polen hat letzteres beim Hohen Kommissar des Völkerbundes vor einiger Zeit beantragt, daß Danzig verpflichtet sein soll, polnische Schulen aller Grade zu errichten und zu unterhalten, und zwar Volks-, Mittel- und höhere Schulen. Und zwar nicht nur etwa für die polnischen Kinder von Danziger Staatsangehörigen, sondern auch für alle Polen nichtdanziger Staatsangehörigkeit, gleichviel, woher sie kommen, und diese Schulen sollen den Danziger deutschen Schulen vollkommen gleichwertig sein und von Danzig natürlich ausgestattet und unterhalten werden. Das ist geradezu eine Ungeheuer- [28] lichkeit. Man denke, daß es gemäß dieser Forderung dahin kommen könnte und würde, daß Danzig dann die Unterrichtsanstalten schaffen und unterhalten müßte für einen Großteil der Ausländer, zumindest für weiteste polnische Kreise aus Pommerellen, die heute ja schon ihre Kinder in die Danziger polnischen Privatschulen schicken, um die nötige Schülerzahl zu haben, um sie überhaupt aufrecht erhalten zu können. Auch diese Forderung, die darauf hinausläuft, daß das kleine Danzig dem polnischen Staate einen Teil seiner Schullasten abnehmen soll, dürfte sonst nirgends in der Welt zu finden sein.

Polen geht in seinen kulturellen Forderungen namentlich in der letzten Zeit noch weiter. So hat es in der gleichen Note an den Hohen Kommissar des Völkerbundes gefordert, daß die polnische Sprache in Danzig der deutschen völlig gleichgestellt werden müsse, was der vom Völkerbund garantierten Danziger Verfassung zuwiderläuft, die als Amtssprache nur die deutsche Sprache kennt. Es fordert, gleichfalls im Gegensatz zur Danziger Verfassung, Mitwirkung bei der Einbürgerung u. s. w. Die Forderungen Polens werden von Tag zu Tag weitgehender, und es sucht sie durchzusetzen durch wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen gegen Danzig in der mannigfachsten Form. Das alles beweist, worauf Polen in Danzig hinaus will. Es ist das System der sogenannten "friedlichen Durchdringung", es ist der Versuch der Verwirklichung des angeführten Satzes der polnischen Denkschrift: "Sobald Polen das Recht haben wird, sich in der Stadt (Danzig) niederzulassen, wird es (Danzig) wieder polnisch werden."

Diesem Zweck dient auch die ganze polnische Wirtschaftspolitik, ihm wird die Eisenbahn, die gemäß dem Versailler Vertrag Polen ausgeliefert werden mußte, und die polnische Post, die es gemäß dem gleichen Vertrage neben der Danziger Post einrichten durfte, dienstbar gemacht; ihm dienen die reichen geldlichen Propagandamittel, in seinem Dienst steht die polnische diplomatische Vertretung in Danzig, wie namentlich die Vorgänge der letzten Zeit, die sich um das Rücktrittsgesuch des Ministers Strasburger gruppieren, beweisen; ihm dient der polnische Einfluß im Hafenausschuß, dienen die mit großen Geldmitteln unterhaltenen Schulen, Kleinkindergärten und Kinderhorte, dienen die "Liebesgaben" als Köder der armen Bevölkerung, dient der Druck auf die von polnischen amtlichen und nichtamtlichen Stellen, namentlich von der Eisenbahnverwaltung abhängigen Personen, sich polnischen Organisationen anzuschließen und ihre Kinder in polnische Schulen und [29] Kindergärten zu schicken, dient die mit großen Mitteln unterhaltene polnische Presse in Danzig, die bis vor wenigen Monaten zum Teil in deutscher Sprache erschien, sich als Danziger Blatt ausgab, ihren wahren Charakter verschleierte und überall hin unentgeltlich versandt wurde, namentlich an die maßgebenden Stellen des Auslandes, nur um Propaganda im rein polnischen Sinne zu treiben, und nicht selten wird der Charakter dieser Blätter im Auslande nicht erkannt, man hält sie für Danziger Blätter. Diesem genannten Zweck dienen tausenderlei offene und versteckte andere Maßnahmen neben der finanziellen und wirtschaftlichen Abdrosselung. So hofft Polen, nach und nach in Danzig Einfluß zu gewinnen und es mürbe zu machen, es "friedlich zu durchdringen", um es eines Tages als reife Frucht sich zufallen zu lassen.

Das ist, mit kurzen Strichen gezeichnet, die Lage und der Kampf Danzigs. Es geht hier nicht - wie es vielleicht manchmal den Anschein hat - um Kleinigkeiten, es geht um Sein und Nichtsein des deutschen Danzig und seiner deutschen Bewohner; es ist auch ein Kampf für die junge Generation, um deren Freiheit und Recht, um deren Deutschtum, schließlich auch um die wirtschaftliche Existenz. Denn darüber muß sich jeder klar sein, daß Polens Streben auf die systematische Zurückdrängung und die schließliche Ausrottung der Deutschen und des Deutschtums in Danzig gerichtet ist. Zunächst auf die völlige Abschneidung Danzigs von seinem deutschen Mutterlande, von der Verbindung mit ihm, die polnischerseits immer wieder und wieder in der Vergangenheit geleugnet wird. Darum ist es für alle Danziger, nicht minder aber für alle, die sich mit den Danziger Fragen beschäftigen oder für sie Interesse haben, gerade jetzt, gerade in diesem sehr heftigen und sehr ernsten Ringen erforderlich, daß sie den wahren Charakter Danzigs und der Danziger kennen, daß sie wissen, ob und wie Danzig und die Danziger mit Deutschland und dem Deutschtum verbunden sind. Dieser Erkenntnis soll diese Arbeit dienen, die sich nach dieser kurzen orientierenden Einleitung wohl ausschließlich mit der Vergangenheit befaßt, die zu wissen aber für jeden unerläßlich ist, der sich mit der Gegenwart Danzigs beschäftigt und sie verstehen will.

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1Eine gewisse Zusammenstellung dieses Feilschens gibt nach ausländischen Quellen - ohne jede Kritik - der ehem. Präsident des Danziger Senats Dr. Sahm unter dem Titel: "Material zur Geschichte der Freien Stadt Danzig" in einer achtseitigen Beilage der Danziger Neuesten Nachrichten vom 15. Nov. 1930. ...zurück...

2Vergl. Recke in: Die Entstehung der Freien Stadt Danzig. Danzig 1930, S. 9-20. ...zurück...

3Vergl. die Artikel 100-108 des Versailler Vertrages sowie die entsprechenden Abschnitte der bei den Verhandlungen gewechselten Noten. Zusammengestellt bei Lewinsky-Wagner: Danziger Staats- und Völkerrecht (Bd. 11 der Danziger Rechtsbibliothek) Danzig 1927 S. 187-196. ...zurück...

4Nähere weitgehende genaue Einzelheiten über die polnische Propaganda, namentlich auch über die Tätigkeit des Herrn Dmowski während des Krieges und bei dessen Abschluß vergl. in der erschöpfenden und vorzüglichen Schrift des Danziger Archivdirektors Dr. Recke, desgl. Dmowski, La Question polonaise. Traduit du polonais par V. Casztowit, revue et approuvée par l'auteur. 336 S. Paris 1909. ...zurück...

5Questions relatives aux territoires polonais sous la domination prussienne. ...zurück...

6Wir nennen folgende Schriften: Entscheidungen des Hohen Kommissars des Völkerbundes in der Freien Stadt Danzig. Zusammengestellt und herausgegeben vom Senat der Freien Stadt Danzig. 10 Hefte. - Funk: Wirtschaftspolitische Stellung und wirtschaftliche Bedeutung der Freien Stadt Danzig. Danzig 1923. - Joh. Fürst: Der Widersinn des polnischen Korridors ethnographisch, geschichtlich und wirtschaftlich dargestellt. Eine Entgegnung auf die Schrift von Dr. Slawinski: Polens Zugang zum Meere und die Interessen Ostpreußens. 147 S. Berlin 1926. - Berichte der Handelskammer zu Danzig über die Lage von Handel, Industrie und Schiffahrt. 1924-30. - H. A. Harder: Danzig, Polen und der Völkerbund. Eine politische Studie. 134 S. Berlin 1928. - O. Loening: Die Rechtsstellung der Freien Stadt Danzig. 34 S. Berlin 1928. - [292] A. v. Mühlenfels: Ostpreußen, Danzig und der polnische Korridor als Verkehrsproblem. 62 S. Berlin 1930. - K. Peiser: Strukturwandlungen des Danziger Außenhandels. 36 S. Danzig 1929. - F. Prill: Die öffentlich-rechtliche Stellung der Eisenbahn im Gebiete der Freien Stadt Danzig. 47 S. Danzig 1929. - Th. Rudolph: Ist Danzig Militär- und Marinestützpunkt Polens? 28 S. Danzig 1928. - Th. Rudolph: Die Rechtslage im Danzig-polnischen Gdingenkonflikt. 20 S. Danzig 1931. - F. Skibowski: Die polnische Post im Hafen von Danzig. 88 S. Danzig 1928. - St. Slawinski: Polens Zugang zum Meere und die Interessen Ostpreußens. 69 S. Danzig 1925. (Diese Schrift vertritt den polnischen Standpunkt und findet ihre Widerlegung durch die oben genannte Schrift von Fürst.) - E. Woermann: "Vorschläge zur Hebung der Rentabilität der Danziger Landwirtschaft." Heft 1 der Veröffentl. des landwirtschaftlichen Instituts der Techn. Hochschule zu Danzig. 54 S. Danzig 1928. - K. Wockenfoth: Danzig als Handelshafen seit Errichtung der Freien Stadt. 78 S. Danzig 1920. - Überaus umfangreiches und wichtiges Material erhalten auch die zahlreichen Denk- bzw. Gegenschriften des Senats, die an den Hohen Kommissar des Völkerbundes gerichtet und der Öffentlichkeit (in Maschinenschrift) zugänglich gemacht worden sind und die aktuelle Kultur- und Wirtschaftsfragen behandeln. ...zurück...

7Abgedruckt u. a. auch bei Lewinsky-Wagner: Danziger Staats- und Völkerrecht. S. 428-441. ...zurück...

8Abgedruckt u. a. auch ebendas. S. 442-547. ...zurück...

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4000 Jahre bezeugen Danzigs Deutschtum
Geschichte der ethnographischen, geschichtlichen, kulturellen, geistigen und künstlerischen
Verbundenheit Danzigs mit Deutschland von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart.

Franz Steffen