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Bd. 8: Die Organisationen der Kriegführung, Dritter Teil:
Die Organisationen für das geistige Leben im Heere

[111] Kapitel 2: Das Militärstrafrechtswesen im Kriege
Kriegsgerichtsrat Dr. jur. h. c. Heinrich Dietz

A. Beurteilende Betrachtung.

1. Ziele, Bedeutung, Mängel und Leistungen des Militärstrafrechtswesens im Kriege.

Jegliches Militärrecht ist von der Rücksichtnahme auf die Zweckbestimmung der bewaffneten Macht beherrscht. Das deutsche Militärrecht vor dem Kriege bezweckte den Schutz des Staates im Kriege und Frieden, gegen äußere und innere Feinde. Der Militärstrafgesetzgebung fiel dabei die besondere Aufgabe zu, die Erfüllung der militärischen Pflichten des Soldaten zu sichern. Sie gliederte sich so ein in die Gesamtheit der Mittel zur Erhaltung der Mannszucht (Disziplin). Der materielle Zweck gab die Richtlinie ab. Nicht auszuschalten war dabei der sittliche Gedanke der Gerechtigkeit, den keine Strafrechtspflege missen kann.

Von dem Grundbegriff der Mannszucht ist auszugehen, wenn das deutsche Militärstrafrechtswesen im Kriege in seiner ganzen weittragenden, leider nie richtig gewürdigten Bedeutung erkannt werden soll.

Die Mannszucht des Soldaten ist die Hingabe aller körperlichen, geistigen und sittlichen Kräfte zur Erfüllung der Standes- und Berufspflichten, vom Standpunkt des Vorgesetzten untrennbar mit der Aufrechterhaltung des seiner Dienststellung innewohnenden Ansehens (Autorität), vom Standpunkt des Untergebenen untrennbar mit der Unterordnung des eigenen Willens unter einen höheren (Gehorsam) verknüpft. Sie ist der Grundpfeiler jeder Armee, die Vorbedingung für jeden Erfolg. Xenophon schon nannte sie das Heil der Heere: Generalfeldmarschall Graf Moltke bezeichnete sie als die Seele der Armee.

Mit der genauen, rein äußerlichen Erziehung und Ausbildung und mit dem einfachen Gehorsam des Soldaten ist das Wesen der Mannszucht nicht erschöpft. Der aus dem Verständnis für die hohen Aufgaben der Wehrmacht fließende Sinn für die Unterordnung unter das große Ganze sichert aber die Mannszucht in erster Linie. Es liegt klar, daß die große Masse der Soldaten noch einer von sittlichen Grundsätzen geleiteten Erziehung bedarf; vaterländischer Sinn, Ehr- [112] gefühl, Selbstgefühl, Mannhaftigkeit und Selbstbeherrschung müssen dauernd geweckt und belebt, auch der allgemeine Bildungsstand muß gehoben werden. Den Offizieren des alten Heeres als den berufsmäßigen Führern fiel die erzieherische Arbeit zu; sie waren der bleibende Kern des Heeres, die Träger des militärischen Geistes und der militärischen Ehre. Sie erst gaben, nach Jähns, der flüssigen Masse das Gepräge, die feste Form. Sie hüteten die Überlieferung und gaben dem Heere die Möglichkeit, sich als große moralische Persönlichkeit zu empfinden, die ihre Geschichte, ihre Ehre und ihre Zukunft hatte. Der Unteroffizierstand hatte die Stellung eines treuen Gehilfen. Die Erfolge der Ausbildung mußten um so größer sein, je größer die geistige, sittliche und technische Ausbildung der Vorgesetzten war. Die an den Dienstgrad oder an die Dienststellung mit Befehlsbefugnis gebundene Autorität der Vorgesetzten war das wichtige Gegenstück des Gehorsams; die gesetzliche Autorität als solche genügte aber nicht, Vorgesetzte und Untergebene mußten auch in rein menschlicher Achtung und in Treue gegenseitig verbunden sein; erst dadurch wurde die persönliche Autorität und die freudige Unterordnung gewährleistet.

Die militärische Ausbildung im alten Heere bediente sich zur Überwindung der naturgegebenen Hemmungen zunächst reiner Erziehungsmittel: des aneifernden, belebenden Wortes, der Ermahnung, des Tadels, der Zurechtweisung und der Warnung. Halfen sie nichts, so mußten Strafen eintreten; auch hier in vorsichtiger, der Person und dem Sachverhalt angepaßter Steigerung. Zunächst für die Disziplinarübertretungen (§ 1 Ziffer 1 Disziplinarstrafordnung) die kleineren und die schärferen Disziplinarstrafen, die als Verwaltungsstrafen von den für die Mannszucht verautwortlichen Führern verhängt wurden; doch war auch in leichteren Fällen bestimmter militärischer Vergehen Disziplinarbestrafung zugelassen (§ 1 Ziffer 2 der Disziplinarstrafordnung, siehe Disziplinarstrafrecht S. 143). Bei Verletzungen der Strafgesetze, der allgemeinen und der militärischen, trat die peinliche Strafe, die Rechtsstrafe ein, die im geordneten militärischen Strafverfahren durch Gerichte verhängt wurde (siehe unten: Militärstrafverfahren S. 131). Im Militärstrafgesetzbuch waren besondere, zum Teil rein militärische Strafen für die ernsteren Verstöße gegen die Standes- und Berufspflichten angedroht; sie steigerten sich im Kriege (Kriegsgesetze; siehe Militärstrafrecht S. 126). Den besonderen Verhältnissen des Offizierstandes dienten die Ehrengerichtsverordnungen (siehe S. 145). Auch sie trugen zur Erhaltung der Mannszucht bei. Gleiches galt für die militärischen Beschwerdeordnungen (siehe S. 145). Gerade sie brachten neben dem Disziplinarstrafrecht den ungemein wichtigen Gedanken zum Ausdruck, daß Gerechtigkeit und Mannszucht keine Gegensätze sind, sondern einander ergänzen. Es gibt keine wahre Mannszucht auf Kosten der Gerechtigkeit. Jede Ungerechtigkeit ist ein Schaden für die Mannszucht. Auch das Verordnungsrecht über Ausländer und das für Ausländer geltende, abgekürzte Verfahren (siehe S. 135) unterstand diesem Leitsatz.

[113] Justitia et disciplina, Aufrechterhaltung der Mannszucht unter Wahrung des Gerechtigkeitsgedankens war das hohe Ziel des ganzen Militärstrafrechtswesens. Es befaßte sich, wie jede Strafrechtspflege, mit den höchsten irdischen Gütern, mit Ehre, Freiheit und Leben der ihm Unterworfenen. Hält man sich vor Augen, daß im großen Kriege sich der Personenkreis derer, die den militärischen Strafsatzungen unterworfen waren, von Jahr zu Jahr gesteigert hat, um schließlich fast die gesamte waffenfähige Bevölkerung von der reiferen Jugend bis zum kräftigen Mannesalter zu umfassen, daß daneben viele Millionen von Kriegsgefangenen und die Angehörigen fremder Staaten im besetzten Gebiet der deutschen Militärstrafgewalt unterworfen waren, daß mit der langen Dauer des Krieges die Zahl der Straffälligen und der Straftaten sich immer mehr steigern mußte, so wird die Größe und die Schwierigkeit der Aufgabe erkennbar, die von den militärischen Führern, besonders von allen Disziplinarvorgesetzten, von den Gerichten und allen sonstigen Organen der militärgerichtlichen Strafverfolgung zu leisten war.

Diese Leistungen lassen sich nur dann richtig würdigen, wenn man von den Verhältnissen ausgeht, die vor dem Kriege bestanden. Nach den gekennzeichneten Grundsätzen wurde vor dem Kriege in der deutschen Wehrmacht zu ihrem Vorteil gearbeitet. Vor allem der in der älteren Lehre noch wenig beachtete, vereinzelt umstrittene Gedanke, daß Gerechtigkeit und Mannszucht einander bedingen, schien in seiner sieghaften Klarheit und Reinheit immer mehr Gemeingut des deutschen Heeres zu werden. Das neuere militärrechtliche Schrifttum hatte sich seiner Pflege mit besonderer Liebe angenommen und dadurch die militärdienstliche Praxis in veredelndem Sinne beeinflußt. Es fehlte freilich nicht an Hemmungen und Erschwerungen. Die preußische Militärverwaltung mit ihrem an sich berechtigten Grundzug, Bestehendes zu erhalten, zeigte sich einer zeitgemäßen Fortbildung und Auslegung gerade der militärischen Strafsatzungen wenig geneigt; im Gegensatz zu den übrigen Kontingenten, die sich aber nicht durchsetzen konnten. Daß sich Militärjuristen so nachhaltig mit disziplinaren Fragen, mit Beschwerderecht und gar mit der Ehrengerichtsbarkeit, diesen in erster Linie den Offizieren vorbehaltenen oder sie allein angehenden, teilweise geheim behandelten Gebieten beschäftigten, wurde auch bei manchen hohen militärischen Befehlsstellen unliebsam empfunden. Man scheute neue, der amtlichen Auffassung zuwiderlaufende Auslegungen. Man verkannte sogar gelegentlich das Wesen der wissenschaftlichen Freiheit und Kritik.

Unter Berufung für die Mannszucht trat man durchaus berechtigten Meinungen oder Wünschen entgegen, die sich ohne Schädigung der Mannszucht hätten verwirklichen lassen. Das führte sogar vereinzelt zu ganz unnötiger, der Stellung und dem Ansehen des Heeres schädlicher Erweiterung der militärischen Machtbefugnisse - man denke an die leider auch von den höchsten Gerichtshöfen gegen den Geist der bestehenden Militärgesetzgebung behandelte Frage der [114] Kontrollversammlungen; es war der Mannszucht und dem Staatswohl nicht dienlich, die zur Kontrollversammlung einberufenen Soldaten des Beurlaubtenstandes den ganzen Einberufungstag, über den eigentlichen Kontrolldienst hinaus, als den Militärstrafgesetzen unterworfen zu erklären. Die oft bitterernsten Rechtsfolgen dieser Lehre in Einzelfällen widersprachen dem allgemeinen Rechtsempfinden.

Es bestand im Heere auch vielfach das Übergewicht der Vorstellung, daß die Autorität des Vorgesetzten, selbst wenn er falsch oder ungerecht gehandelt hatte, unter allen Umständen zu schützen sei. Das zeigte sich gelegentlich in der Neigung zu ungerechtfertigt milder Beurteilung der Fälle des Mißbrauchs der Dienstgewalt und bei der Behandlung von Beschwerden; der Gerechtigkeitsgedanke kam hier manchmal auf Kosten des Untergebenen zu kurz. Gewiß war die Behandlung des Verhältnisses von Gerechtigkeit und Mannszucht (Staatswohl) nicht leicht; es besteht daher kein Anlaß anzunehmen, daß die Dienststellen nicht auch der Gerechtigkeit in gewissenhaftester Auffassung nachgestrebt haben. Man kann die Gerechtigkeit mehr im Hinblick auf das Staatswohl messen oder mehr im Hinblick auf das Wohl des einzelnen, dem sie zuteil werden soll. Ersteres wird z. B. der Fall sein, wenn man eine Strafe als gerecht bezeichnet, die militärisch zweckmäßig und notwendig ist. Nennt man sie gerecht, weil sie den Anforderungen der Mannszucht genügt und gleichzeitig im richtigen Verhältnis zur Tat steht, so tritt die Berücksichtigung der Persönlichkeit des Täters, von der die Tat nie losgelöst werden kann, schärfer hervor. Gewiß auch konnten in Beurteilung der Frage, was der Mannszucht im Einzelfall am besten diene, die Ansichten gelegentlich auseinandergehen. Das typische, den ganzen Dienstbetrieb erfassende Beispiel ist die Streitfrage, ob der militärische Ungehorsam (§§ 92, 93 M.St.G.B.) auch fahrlässig begangen werden kann. Das Reichsmilitärgericht und die amtliche Auslegung bejahten, die namhaftesten Praktiker und Theoretiker verneinten sie und konnten auch dabei auf die tägliche Übung der Disziplinarvorgesetzten hinweisen. Die schärfere Auffassung war eben undurchführbar. Sie diente durchaus nicht immer in Wahrheit der Mannszucht, wie selbstverständlich Milde am falschen Platz militärisch unverzeihlich sein konnte. In Zweifelsfällen, was der Mannszucht am besten diente, mußten Wissenschaft und Praxis den richtigen Weg suchen, letzten Endes mußte der Gesetzgeber entscheiden. Jedenfalls durfte das Heeresrecht nicht erstarren; es mußte so fortbildungsfähig sein, daß es den herrschenden Rechts- und Kulturanschauungen genügte.

Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte