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Bd. 8: Die Organisationen der Kriegführung, Dritter Teil:
Die Organisationen für das geistige Leben im Heere

  Kapitel 2: Das Militärstrafrechtswesen im Kriege   (Forts.)
Kriegsgerichtsrat Dr. jur. h. c. Heinrich Dietz

F. Disziplinarstrafrecht, Beschwerderecht und Ehrengerichtsbarkeit.

1. Disziplinarstrafrecht.

Die Disziplinarstrafordnung für das deutsche Heer vom 31. Dezember 1872, die fast wörtlich übereinstimmende bayerische Disziplinarstrafordnung vom 12. Dezember 1872 und die Disziplinarstrafordnung für die Kaiserliche Marine vom 24. April 1914 galten auch während des Krieges. Auch die durch Allerhöchste Kabinettsorder vom 2. März 1893 vorgeschriebenen Strafbücher und Prüfungshefte waren, einerlei ob es sich um mobile oder immobile Truppen handelte, in dem Umfange zu führen, der durch die Disziplinarstrafordnungen vorgeschrieben war.

Disziplinarisch bestraft wurden Disziplinarübertretungen und Disziplinarvergehen. Erstere waren die reinen Verstöße gegen den soldatischen Geist, die nicht schon durch Strafrechtssätze erfaßt waren. Disziplinarvergehen waren bestimmt bezeichnete Vergehen nach dem Militärstrafgesetzbuch, die in leichten Fällen auf dem Disziplinarwege mit der gesetzlich vorgeschriebenen Arrestart geahndet werden durften; durch richtige Disziplinarbestrafung dieser Vergehen wurde die gerichtliche Bestrafung ausgeschlossen. Der Kreis dieser Disziplinarvergehen wurde durch Reichsgesetz vom 25. April 1917 erweitert. Die Milderung gewisser Militärstrafgesetze durch Gesetz vom 25. Juli 1918 - es wurde mittlerer Arrest neben strengem Arrest zugelassen - hatte auch seine Rückwirkung auf die Bestrafung dieser Vergehen im Disziplinarwege.

Der Kreis der den Disziplinarstrafordnungen unterworfenen Personen war im Kriege bedeutend erweitert; es sind vor allem zu nennen die Kriegsgefangenen und das Heeresgefolge, Hilfsdienstpflichtige im besetzten Gebiet, ferner Militärpersonen verbündeter Staaten auf Grund besonderer Vereinbarungen: durch Allerhöchste Kabinettsorder vom 22. April 1915 und 29. Juni 1916 wurden Angehörige der k. u. k. österreichisch-ungarischen Armee dem reinen deutschen Disziplinarstrafrecht (Disziplinarübertretungen) für bestimmte Fälle, besonders in preußischen Lazaretten und Kuranstalten, unterworfen (Gegenseitigkeit).

[144] Das den Dienstgraden angepaßte Strafensystem blieb während des Krieges unverändert. Die Strafgewalt kam an sich nur Offizieren (Sanitätsoffizieren) zu, denen der Befehl über eine Truppenabteilung, eine Behörde usw. mit Verantwortung für die militärische Disziplin übertragen war; sie wurde grundsätzlich nur innerhalb des Befehlsbereichs ausgeübt. Sie wuchs mit der höheren Dienststelle. Soweit nicht schon allgemein durch Dienstvorschriften und besondere Order die Disziplinarstrafgewalt geregelt war, wurde sie besonders übertragen; der Krieg bot hierfür außerordentlich viele Beispiele. Der Umfang der Disziplinarstrafgewalt wurde in diesen Fällen gleichzeitig festgestellt. Beachtenswert ist: Während des Krieges wurde auch Offizierstellvertretern (sie waren Unteroffiziere), wenn sie bei vorübergehendem Fehlen aller Offiziere einer Formation die Kompagnie usw. führten, die Disziplinarstrafgewalt eines Kompagniechefs gewährt. Österreichisch-ungarische Offiziere, die zu deutschen Truppen kommandiert waren, erhielten die Disziplinarstrafgewalt ihrer Dienststellen über die ihnen unterstellten Truppenangehörigen (Allerhöchste Kabinettsorder, mitgeteilt durch das preußische Kriegsministerium unterm 22. November 1916; gegenseitige Vereinbarung).

Die wichtige Disziplinarstrafgewalt der örtlichen Befehlshaber (Gouverneure, Kommandanten, Garnisonälteste, Etappen-, Orts- und Lagerkommandanten, kommandierender General als Befehlshaber eines besonders abgegrenzten Teiles des Operationsgebietes) wurde durch mehrfache Allerhöchste Order geregelt.

Die Grundsätze über die Handhabung der Disziplinarstrafgewalt blieben unverändert. Für die Strafvollstreckung enthielt die Militärstrafvollstreckungsvorschrift die ergänzenden Bestimmungen. Das für die aushilfsweise Vollstreckung des strengen Arrestes zulässige Anbinden wurde durch Armeebefehl vom 18. Mai 1917 beseitigt (vgl. unter Strafvollstreckung). Die Milderung oder der Erlaß von Disziplinarstrafen durch höhere Befehlshaber im Kriege auf Antrag der Stelle, die die Strafen verhängt hatte, war vorgesehen. Durch die allgemeinen Gnadenerlasse wurden regelmäßig auch Disziplinarstrafen getroffen. Durch Allerhöchste Kabinettsorder vom 17. Juli 1917 wurden die vorher nur für Kapitulanten geltenden Bestimmungen über Löschung von Strafen in Strafbüchern auf die Militärpersonen vom Feldwebel abwärts für die Dauer des Krieges erstreckt.

Die Grundgedanken der Disziplinarstrafverordnungen waren anerkannt gut. Sie haben sich im Kriege vortrefflich bewährt. Leicht zu handhaben war das Disziplinarstrafrecht nicht. Es setzte neben Menschenkenntnis und persönlichen Erfahrungen eine gute Kenntnis der einschlägigen Bestimmungen, des Geistes der Verordnungen und des Zusammenhangs mit sonstigen Rechtssatzungen voraus. Daran hat es begreiflicherweise, besonders bei jüngeren Offizieren, in deren Hand die Disziplinarstrafgewalt gelegt werden mußte, gelegentlich gefehlt.


[145] 2. Beschwerderecht.

Heer und Marine hatten je zwei Beschwerdeordnungen, deren eine für die Beschwerdeführung der Offiziere, Sanitätsoffiziere, Veterinäroffiziere und Beamten (B.O. I), die andere für die Mannschaften vom Feldwebel (Deckoffizier) abwärts (B.O. II) erlassen war; sie galten auch für die Personen des Beurlaubtenstandes. Das bayerische Heer hatte eigene Beschwerdeordnungen, die aber sonst mit den für das Heer geltenden fast wörtlich übereinstimmten. Alle Beschwerdeordnungen stammten aus den Jahren 1894 - 96. Sie galten auch während des Krieges. Durch das preußische Kriegsministerium wurden am 31. Januar 1917 erläuternde Bestimmungen über den Beschwerdeweg in Lazaretten, Genesungsheimen usw. erlassen.

Ein geordnetes Beschwerderecht war militärisches Bedürfnis. Jeder Soldat sollte wissen, daß er auch auf Schutz gegenüber kleinem Unrecht zu rechnen hatte. In der Beschwerde kam das Verlangen nach dienstlicher Abhilfe zum Ausdruck. Das Verlangen konnte jeder stellen, der glaubte, daß ihm unrecht geschehen sei. Vor allem kamen unwürdige Behandlung, strafbare Handlungen der Vorgesetzten und Kameraden, Verletzung und Schädigung dienstlicher Gerechtsame und berechtigten Standesbewußtseins in Betracht. Das gesetzlich jedermann zustehende Recht der Strafanzeige bestand unabhängig neben dem Beschwerderecht. Zur Entscheidung über Beschwerden war regelmäßig der mit Disziplinargewalt ausgestattete nächste Befehlshaber berufen. Gegen die Entscheidung war weitere Beschwerde zulässig, die in allen Fällen durch die ganze Reihe der Vorgesetzten bis zur allerhöchsten Stelle lief.

Alle Beschwerdeordnungen hatten eine Reihe gemeinsamer Grundsätze. Der Hauptunterschied zwischen den zwei Beschwerdeordnungen I und II bestand darin, daß Offiziere usw. gehalten waren, regelmäßig vor der erstmaligen Beschwerde einen Offizier als Vermittler anzugehen. Mannschaften dagegen hatten ihre Beschwerde regelmäßig dem Kompagnie- usw. Chef unmittelbar vorzutragen. Weitere Einzelheiten sind hier nicht darzustellen.

Man hat die Beschwerdeordnungen vielfach angefochten. Gewiß waren ihre Bestimmungen verbesserungsbedürftig, und eine freiere Handhabung des Verfahrens unter dem leitenden Gesichtspunkte, Gerechtigkeit und Mannszucht in richtigen Einklang zu bringen, wäre sicher möglich gewesen. Aber die Grundgedanken der Beschwerdeordnungen waren durchaus gut; der Beweis ist dadurch geführt, daß sie in der neuen Beschwerdeordnung für die Wehrmacht vom 15. November 1921 alle wiederkehren.


3. Ehrengerichtsbarkeit.

Die Ehrengerichte dienten der Pflege der bewährten Überlieferungen ritterlichen Sinnes im Offizierstand. Sie sollten die gemeinsame Ehre des Standes und die Ehre des einzelnen wahren und schützen (Bestrafung Schuldiger, [146] Reinigung der unbegründet Verdächtigten). Die Standesgenossen selbst sollten in erster Linie urteilen, ob die Ehre des Standes oder des einzelnen gefährdet oder verletzt war. Dementsprechend lautete auch der Spruch auf Freisprechung, auf Schuldig der Gefährdung der Standesehre unter Beantragung einer Warnung, auf Schuldig der Verletzung der Standesehre unter Beantragung der Entlassung mit schlichtem Abschied, auf Schuldig der Verletzung der Standesehre unter erschwerenden Umständen mit dem Antrage auf Entfernung aus dem Offizierstande. Der Spruch war im Grunde nur ein Gutachten. Durch Entscheidung der Allerhöchsten Stelle (Bayern: teilweise des Kriegsministeriums) wurde das eigentliche und alleinige Urteil im Ehrengerichtsverfahren gesprochen.

Auch während des Krieges galten die Ehrengerichtsverordnungen für die Offiziere und Sanitätsoffiziere des Heeres vom 15. Juli 1910, für die Offiziere der Marine vom 15. Mai 1911, für die Sanitätsoffiziere der Marine vom 24. Oktober 1911, für die bayerischen Offiziere und Sanitätsoffiziere vom 27. Februar 1911. Auch die sog. Ergänzungsorder der Einführungsorder zur Ehrengerichtsverordnung vom 1. Januar 1897, betr. Ehrenhändel, blieb in Kraft.

Nur wenige ergänzende Bestimmungen mußten während des Krieges erlassen werden. Zur Klärung von Zweifeln wurde durch allerhöchste Kabinettsorder vom 15. Juli 1915 bestimmt, daß während des Kriegszustandes alle Offiziere und Sanitätsoffiziere, die im aktiven Heere in einer Offiziers- oder Sanitätsoffiziersstelle verwandt wurden, in ehrengerichtlicher Hinsicht den Offizieren und Sanitätsoffizieren des aktiven Dienststandes gleichzuachten waren. Durch Allerhöchste Kabinettsorder vom 18. Juli 1917 wurde die kriegsgliederungsmäßige Unterstellung ohne Rücksicht auf die Kontingentszugehörigkeit für die Behandlung ehrengerichtlicher Angelegenheiten als maßgebend erklärt. Von Einzelheiten des Verfahrens muß hier abgesehen werden. Im Felde spielte die Ehrengerichtsbarkeit keine bemerkenswerte Rolle. Ehrengerichtliche Untersuchungen waren dort schwer durchzuführen; Angeschuldigte wurden daher regelmäßig den heimatlichen Verbänden überwiesen.

Zweikämpfe während des Krieges widersprachen den überlieferten Anschauungen des Offizierstandes.

Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte