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Bd. 8: Die Organisationen der Kriegführung, Dritter Teil:
Die Organisationen für das geistige Leben im Heere

  Kapitel 2: Das Militärstrafrechtswesen im Kriege   (Forts.)
Kriegsgerichtsrat Dr. jur. h. c. Heinrich Dietz

[126] B. Das Militärstrafrecht.

Aus der Fülle des Stoffgebiets greift die Betrachtung als besonders beachtenswert heraus: Die Quellen des im Kriege angewandten Strafrechts, die Bedeutung der Kriegsgesetze, die Kriegsgemeinschaft in ihren strafrechtlichen Beziehungen, den Personenkreis der Nichtsoldaten und die Normen des Militärstrafgesetzbuchs im Kriege.


1. Die Quellen des Militärstrafrechts.

Der deutsche Soldat "trug sein deutsches Strafrecht im Tornister". Es war gleichgültig, ob eine Straftat im Inlande oder Auslande begangen war. Der gleiche Grundsatz galt für alle Personen, die, ohne Soldat zu sein, dem Militärstrafgesetzbuch (M.St.G.B.) unterworfen waren. Im Machtbereich der deutschen Wehrmacht galten im Kriege zunächst das Militärstrafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 20. Juni 1872, das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15. Juni 1871 (R.St.G.B.), daneben auch die sonstigen Strafgesetze des Reiches (beachtenswert: Gesetz gegen den Verrat militärischer Geheimnisse vom 3. Juni 1914) und der Bundesstaaten. Das gemeine (bürgerliche) Strafrecht war grundsätzlich auf den Soldaten anwendbar. Aber das militärische Sonderstrafrecht ging vor und ergänzte auch die Bestimmungen des gemeinen Strafrechts; es wurde andererseits auch wieder aus dem gemeinen Strafrecht erklärt und ergänzt. Als strafrechtliche Ergänzungen sind zu nennen:

a) die Zweite Kaiserliche Verordnung vom 28. Dezember 1899 (Marine: vom 21. August 1900) über das außerordentliche kriegsrechtliche Verfahren gegen Ausländer und die Ausübung der Strafgerichtsbarkeit gegen Kriegsgefangene; sie wurde während des Krieges durch zahlreiche Verordnungen und Erlasse erläutert und ergänzt. Diese, hauptsächlich dem Verfahren dienende sog. Ausländerverordnung enthielt einige neue Strafrechtssätze, verlieh den Militärbefehlshabern ein besonderes Verordnungsrecht und machte den Kriegsgebrauch, der zunächst nur als reine Kriegshandlung erschien, zur materiellen Rechtsquelle. Sie wird unten S. 135 besonders behandelt.

b) Das ausländische Strafrecht, das, oft abgeändert oder ergänzt, neben deutschen Strafrechtsnormen gegen die Bewohner der besetzten Gebiete anzuwenden war. Findung, Auslegung und Handhabung des Strafrechts waren durch völkerrechtliche Vereinbarungen wesentlich beeinflußt. Hierher gehören vor allem das Haager Abkommen über die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs vom 18. Oktober 1907 (Landkriegsordnung), die seekriegsrechtlichen Abkommen vom gleichen Tage und das Genfer Abkommen vom 6. Juli 1906. Die Landkriegsordnung war als Anhang II in die Felddienstordnung, auch in [127] die Zusammenstellung wichtiger Abkommen (Dienstvorschriftenetat Nr. 231) aufgenommen. Sie war innerstaatlich als Verhaltungsmaßregel nach Artikel 1 des Abkommens bestätigt und als Dienstvorschrift erklärt, "die der Armee zur Richtschnur zu dienen habe".


2. Die Kriegsgesetze.

Von altersher wurde der Soldat beim Unterricht über die militärische Pflichtenlehre (Kriegsartikel) darüber aufgeklärt, daß im Kriege gewisse Strafgesetze verschärft sind. So lernte er, jedenfalls teilweise, die "Kriegsgesetze" kennen. Der Begriff kam nur im Militärstrafgesetzbuch vor und bezog sich auf die Bestimmungen dieses Gesetzes, die für die "im Felde" begangenen Straftaten gegeben sind (Näheres § 9). Als Kriegsgesetze waren aber auch zahlreiche Bestimmungen des Militärstrafgesetzbuchs und des Reichsstrafgesetzbuchs anzusprechen, die von "im Kriege, auf dem Kriegsschauplatz, vor dem Feinde, im Gefecht" u. dgl. begangenen Straftaten handeln. Durch die Kriegsgesetze wurde das Friedensstrafrecht erweitert oder verschärft; erweitert in sachlicher Hinsicht durch Tatbestände, die nur im Kriege begrifflich möglich waren (sog. eigentliche Kriegsgesetze, z. B. Gefährdung der Kriegsmacht im Felde, Übergehen zum Feinde, Fahnenflucht oder Feigheit während des Gefechts, eigenmächtiges Beutemachen, Plünderung, Verheerung oder Verwüstung, Beraubung Gefallener oder Verwundeter); in räumlicher Hinsicht dadurch, daß die Verfolgung bestimmter Straftaten im Auslande zwingend vorgeschrieben war (z. B. §§ 160, 161 des Militärstrafgesetzbuchs, betr. Straftaten auf dem Kriegsschauplatz und im besetzten Gebiet); in persönlicher Hinsicht dadurch, daß gewisse Strafvorschriften, die im Frieden nur für Soldaten galten, auf andere Personengruppen, wie Militärbeamte, bürgerliche Personen, besonders Heeresgefolge, ausländische Offiziere, erstreckt wurden. Verschärft wurden Friedensstrafgesetze durch die Erhöhung des Strafmaßes oder Herabsetzung der Bedingungen, die für die Höhe der Strafe oder für die Verfolgbarkeit im Frieden galten (wichtiges Beispiel: Diebstahl, Unterschlagung, Körperverletzung, Sittlichkeitsvergehen und -verbrechen wurden im Felde grundsätzlich ohne Strafantrag verfolgt, § 127 des Militärstrafgesetzbuchs). Auf die Kriegsgesetze des Reichsstrafgesetzbuchs - vgl. §§ 87 - 91, 329, § 4 Einführungsgesetz zum Reichsstrafgesetzbuch - ist hier nur zu verweisen. Die Kriegsgesetze des Militärstrafgesetzbuchs galten nach der Mobilmachung allgemein für alle Militärpersonen (Soldaten des aktiven Dienststandes, des Beurlaubtenstandes, Militärbeamte) vom Tage ihrer Mobilmachung bis zum Tage ihrer Demobilmachung, ferner überall da, wo der Belagerungszustand (auch Kriegszustand genannt) verhängt worden war. Durch Verordnung vom 31. Juli 1914 war das ganze Reich in Kriegszustand erklärt worden; es galten daher überall die Kriegsgesetze. Dieser Zustand wurde durch Reichsgesetz vom 25. April 1917 gemildert. Die auf Grund [128] dieses Gesetzes ergangenen Anordnungen beschränkten die Anwendbarkeit der Kriegsgesetze auf heimatlichem Boden im allgemeinen auf das Operations- und Etappengebiet, ferner auf das Meeres- und Küstengebiet.


3. Nichtsoldaten.

Das Militärstrafgesetzbuch war in erster Linie für deutsche Soldaten erlassen. Im Kriege waren ihm aber auch a) das Heeresgefolge (Armeetroß), zum Heer zugelassene ausländische Offiziere, Kriegsgefangene; b) die Militärbeamten, ferner Ausländer und Deutsche auf dem Kriegsschauplatz unterworfen (die letzten beiden Gruppen mit Einschränkungen auf bestimmte Strafgesetze). Eine reine Anwendung des Militärstrafgesetzbuchs auf die Personenkreise unter a) war ausgeschlossen, vielmehr nur eine entsprechende, sinngemäße Anwendung möglich. Es war stets zu prüfen, ob im Einzelfalle die allgemeinen oder besonderen Vorschriften paßten; z. B. konnten Personen des Heeresgefolges, soweit sie in keinem Dienstverhältnis zum Heere standen, keine Straftat begehen, die, wie Fahnenflucht, unerlaubte Entfernung oder Gefährdung der Kriegsmacht, die Verletzung einer Dienstpflicht voraussetzen; militärische Ehrenstrafen waren gegen sie nicht zu verhängen.

Bei der strafrechtlichen Behandlung der Kriegsgefangenen war die Einwirkung völkerrechtlicher Grundsätze besonders fühlbar. Die Kriegsgefangenschaft war als militärische Einrichtung aufzufassen, die sich nach militärischen Grundsätzen und in militärischen Formen vollzog. Die Kriegsgefangenen, Sicherheitsgefangene, nicht Strafgefangene, galten als Soldaten. Sie konnten vor allem strafbare Handlungen gegen die Pflichten der militärischen Unterordnung begehen. Ihr Militärrang war strafrechtlich bedeutungslos; er wurde nur hinsichtlich der Grade des Arrestes berücksichtigt. Militärische Ehrenstrafen gegen Kriegsgefangene galten als unzulässig. Die völkerrechtswidrige Art der feindlichen Kriegführung brachte es mit sich, daß nicht dem kriegführenden Heere angehörende Bürger der feindlichen Staaten in Verwahrung genommen wurden, die sogenannten Zivilgefangenen. Man hat sie ähnlich wie Kriegsgefangene behandelt. Dem Militärstrafgesetzbuch unterstanden sie nicht. Von ihnen zu unterscheiden sind die "Zivilarbeiter", die man erstmals in diesem Kriege in militärisch gestaltete Gruppen (Zivilarbeiterbataillone) zusammengefaßt, der militärischen Disziplin unterworfen und entsprechend den Vorschriften für Kriegsgefangene behandelt hat; ihre Verwendung zu Dienstleistungen gründete sich auf besondere Vorschriften der Landkriegsordnung. - Die Militärbeamten, die im Frieden keine militärischen Straftaten begehen konnten, waren wegen strafbarer Handlungen im Felde wichtigen Abschnitten des Militärstrafgesetzbuchs unterworfen. Leitender Gedanke dabei war, daß der Militärbeamte im Frieden Beamter, im Kriege Soldat sei. Das ist jedoch nicht wörtlich zu nehmen. Die Beamteneigenschaft [129] und der staatsrechtlich begründete Pflichtenkreis blieben unberührt. Vor allem brachte die Unterwerfung unter die Strafvorschriften über Ungehorsam gegen Befehle in Dienstsachen keinen unbedingten militärischen Gehorsam mit sich, weder den militärischen noch den Verwaltungsvorgesetzten gegenüber. Durch Allerhöchste Kabinettsorder vom 14. Mai 1917 wurden die Zivilbeamten der Militärverwaltung bei den Kriegsformationen in Militärbeamte umgewandelt.


4. Kriegsgemeinschaft.

Der große Krieg hatte auch auf deutscher Seite mehrere Staaten zur gemeinsamen Kriegführung verbunden. Daraus entwickelte sich eine Fülle strafrechtlicher und auch strafprozessualer Fragen, deren Lösung oft sehr schwierig, teilweise sehr unbefriedigend war. Es erwies sich als eine empfindliche Lücke des deutschen Militärstrafgesetzbuchs, daß die Wehrmacht der Bundesgenossen und ihre einzelnen Truppenverbände und Angehörigen strafrechtlich nicht den eigenen gleichbehandelt werden konnten. Von unzulänglichen Ausnahmen abgesehen, hatte das Militärstrafgesetzbuch (vgl. § 4 Abs. 2) nur das deutsche Heer, die deutsche Marine und die ihnen Eingegliederten im Auge. Durch eine staatsrechtliche Vereinbarung mit Österreich-Ungarn, bekanntgegeben durch das preußische Kriegsministerium unterm 14. Mai 1917, die an § 8 des Militärstrafgesetzbuchs anknüpfte, wurde die gegenseitige Bestrafung militärischer Verbrechen und Vergehen im gemeinsamen Dienstverhältnis erreicht, soweit die Straftaten gegen Vorgesetzte und Höhere im Dienstrange begangen waren. Ein kleiner Teil der Unzuträglichkeiten war damit beseitigt.


5. Die Normen des Militärstrafgesetzbuchs im Kriege.

Das Militärstrafgesetzbuch war auf einen Angriffskrieg zugeschnitten. Der Weltkrieg brachte bald einen, in seinen Formen bisher ganz unbekannten Stellungskrieg als dauernde Erscheinung, die nur gelegentlich durch weit ausholende Angriffe mit bestimmten Zielen unterbrochen war. Die Normen des Militärstrafgesetzbuchs haben sich gleichwohl unverändert erhalten und den neuen Erscheinungsformen des Krieges angepaßt. Es ist dies ein sprechender Beleg dafür, daß das auf den Erfahrungen eines siegreichen Feldzugs aufgebaute Militärstrafgesetzbuch besser als sein Ruf war, und daß seine Normen noch immer mit der Rechtsüberzeugung der Mehrheit der Volksgenossen ethisch verwurzelt waren - vielleicht mit einer Ausnahme, die sich auf die Beurteilung der Verbrechen der Feigheit bezieht (plötzliches Versagen, Zusammenbruch, besonders in der Übermaterialschlacht, sog. Erschöpfungspsychosen).

[130] Blieben die Normen selbst auch unberührt, so zeigte sich doch sehr bald, daß die Auslegung und Anwendung des Rechts oft neue Wege suchen mußte, die den veränderten Verhältnissen gerecht wurden. Die im Frieden, unter weitgehend gleichmäßigen Dienstverhältnissen angestrebte Einheitlichkeit der Militärstrafrechtspflege verlor unter der unabsehbaren Vielgestaltigkeit der Verhältnisse im Kriege an Bedeutung. Die allzu hohe Einschätzung des Ansehens der höchstrichterlichen Entscheidungen mußte verblassen. Dieselben militärischen Verstöße zeigten, je nach den begleitenden Umständen, häufig ein ganz anderes Gesicht. Die Feldjustiz, besonders an der Front, erforderte eine den Feldverhältnissen, vor allem der neuen Kriegstechnik angepaßte Rechtsanwendung. Sie wurde dadurch erleichtert, daß schon in Friedenszeiten die wissenschaftliche Auslegung der meisten allgemeinen und besonderen Bestimmungen des Militärstrafgesetzbuchs verschiedene Wege ging, und daß die Spruchpraxis der Feldgerichte dem Machtbereich des Reichsmilitärgerichts in der Hauptsache entzogen war.

Diese fesselnde Entwicklung sei durch einige Beispiele beleuchtet: Im "Waffendienst" befand sich der im Sinne der §§ 89 und 95 des Militärstrafgesetzbuchs (betrifft Achtungsverletzung und Gehorsamsverweigerung) "unter Gewehr" handelnde Soldat. Bei Kampftruppen bildete sich mit der Dauer des Krieges die, von der im Frieden anerkannten Lehre stark abweichende Auffassung, daß - vom Wacht- und Postendienst abgesehen - bei ihnen Waffendienst Kampfdienst, im Frieden dagegen und im Felde bei bis auf weiteres herausgezogenen Verbänden Dienst mit Waffen zur Schulung für den Kampf sei. - Den Feldbedürfnissen, vor allem dem Schützengrabenkrieg, mußte sich die Abgrenzung der bei Feigheitsfällen (§§ 84 - 87 des Militärstrafgesetzbuchs) vorkommenden Tatbestandsmerkmale "während des Gefechts", "Vormarsch zum Gefecht" anpassen. - Das aus der herrschenden Rechtslehre gewonnene Ergebnis, wonach bei Feigheit nach § 87 des Militärstrafgesetzbuchs in Tateinheit mit unerlaubter Entfernung nach §§ 64, 66 daselbst auf Versetzung in die zweite Klasse des Soldatenstand es erkannt werden könne, bei Tateinheit mit unerlaubter Entfernung im Felde nach § 67 daselbst, also bei erschwerter unerlaubter Entfernung, aber nicht, hat die Feldpraxis als widersinnig und völlig unbrauchbar abgelehnt. - Nach der Begriffsbestimmung der Fahnenflucht, an der das Reichsmilitärgericht festhielt, mußte jeder Soldat, der seine Truppe in der Absicht verließ, bei einer anderen Dienste zu tun, wegen Fahnenflucht bestraft werden. Die Feldpraxis sah sich außerstande, den Soldaten als fahnenflüchtig zu brandmarken, der einen in der Heimat stehenden Truppenverband verließ, um an der Front Dienste zu tun.

Die großen Verdienste des obersten Militärgerichtshofs um die Entwicklung und Auslegung des Kriegsstrafrechts - es liegen vier Bände Kriegsentscheidungen (Bd. 19 - 22) vor - werden durch die Feststellung, daß die Feldjustiz oft ihre eigenen Wege ging, in keiner Weise beeinträchtigt.

Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte