Bd. 8: Die Organisationen der Kriegführung,
Dritter Teil:
Die Organisationen für das geistige Leben im
Heere
Kapitel 1: Die deutsche
Verwaltung
des Generalgouvernements in Belgien
1914-1918 (Forts.)
Generalleutnant Hans v. Winterfeld
[101] 7. Die wirtschaftlichen Beziehungen des
Generalgouvernements zu Holland.
Bereits im Frieden waren die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Holland und
Belgien sehr eng. Schon der Umstand, daß der große Seehafen
Antwerpen erst durch holländisches Gebiet mit dem freien Meere in
Verbindung stand, brachte zahllose Vereinigungspunkte, aber auch
Reibungsflächen.
Nicht anders war es im Kriege; aber die Beziehungen wurden wesentlich anders.
Im Interesse der Verhinderung feindlicher Spionage lag es der deutschen
Verwaltung natürlich daran, den Verkehr über die Grenze
möglichst zu überwachen, ja sogar am besten ganz zu sperren. Aber
auf der anderen Seite war es mindestens ebenso wichtig, viele Dinge
verschiedenster Art, die in Belgien oder an der deutschen Front notwendig
gebraucht wurden, aus Holland oder mit Durchfuhr durch Holland zu erhalten,
und andere zum Austausch nach Holland zu bringen, an denen in Belgien
Überschuß herrschte.
So mußte ein fortwährendes Verhandeln und Feilschen stattfinden,
wobei auf holländischer wie auf deutscher Seite immer dem Gesichtspunkt
Rechnung getragen werden mußte, daß Holland ja neutral und auch
besonders gezwungen war, seine Neutralität recht durchsichtig zu erhalten,
um vor Repressalien seitens der Entente, besonders Englands, geschützt zu
sein.
Denn auch Holland war, wie Belgien, ein Land, dessen Einfuhr gegenüber
der Ausfuhr an Menge einen großen Überschuß aufwies, da es
für seine Volksernährung und Rohstoffzufuhr für seine
Fabrikation in weitem Umfange auf das Ausland, und zwar besonders von
Übersee, angewiesen war. Vor der eventuellen Anwendung der
äußersten Repressalie, nämlich der Lebensmittelblockade auch
gegen Holland, herrschte im Vereinigten Königreich von
Großbritannien und Irland nicht die geringste Scheu, so
völkerrechtswidrig sie gewesen wäre. Darüber bestand
überall, auch in Holland, nicht der leiseste Zweifel.
Aber auch auf die Einfuhr aus Deutschland war Holland angewiesen; namentlich
fehlten ihm fast gänzlich die Kohlen; und da andererseits wieder England
im Kriege nicht genügend Kohlen liefern wollte oder konnte, aber auch
holländische Erzeugnisse, z. B. Vieh und Butter, brauchte, so kamen
schließlich sogar mit englischer Zustimmung Vereinbarungen zustande,
nach denen Deutschland an Holland Kohlen, Eisen usw., und Holland
umgekehrt Vieh und andere Dinge lieferte. Genaue Kontingente waren
natürlich festgesetzt, und England kontrollierte sie durch eine ausgedehnte
Handelsspionage auf das schärfste.
Außer diesen Dingen, die Deutschland nach Holland einführte,
brauchte es aber zur Entlastung seiner Eisenbahnen, auch in Belgien, die freie
Durchfuhr durch Holland auf dem sehr leistungsfähigen Wasserwege. Dem
stand an sich infolge der alten bestehenden Verträge über die
Rheinschiffahrt nichts im Wege, [102] aber es war klar,
daß die Wahrung der Neutralität im Kriege die Durchfuhr wenigstens
von offensichtlichem Kriegsmaterial nicht erlaubte.
Daher war es nicht möglich, Waren, welche in Belgien für die
deutsche Kriegswirtschaft beschlagnahmt worden waren, also z. B.
künstlichen Dünger, andere Kriegsrohstoffe oder Maschinen, oder
etwa gar Beutemunition durch Holland zu fahren. In einigen Fällen
ließ sich die Schwierigkeit dadurch umgehen, z. B. bei
Kohlenlieferungen, daß bescheinigt werden konnte, die Waren seien nicht
beschlagnahmt, sondern frei gekauft worden. Dies war nur dann möglich,
wenn die betreffenden Zechenbesitzer von ihrem gewöhnlichen
Standpunkt, die Kohlen nur beschlagnahmen zu lassen, aber nicht frei verkaufen
zu wollen, ausnahmsweise abgingen. Das Risiko der befürchteten
Vergeltung seitens ihrer fernen Regierung nach dem Kriege mußte dann
durch höhere Verkaufspreise gemildert werden.
Ebenso konnte die Durchfuhr der riesigen Massen von Schotter, Kies und Bauholz
von Deutschland nach Belgien nur dadurch erreicht werden, daß
große Mengen dieser Stoffe für Zwecke der Zivilbevölkerung
in Belgien, Eisenbahnen, Chausseen, Häuserbau, bestimmt waren.
Kommissionen von holländischen Offizieren, die zeitweise nach Belgien
kamen, waren mit entsprechender Kontrolle beauftragt. Man kann von ihnen
rühmend hervorheben, daß sie ihres Amtes mit voller
Objektivität walteten und niemals unangenehme Störungen
hervorriefen.
Trotzdem mußte immer mit der Vermutung gerechnet werden, daß
eines Tages die Holländer unter englischem Druck die Durchfuhr verbieten
würden. Daher wurde mit aller Kraft diese Durchfuhr nicht nur nach dem
augenblicklichen Bedarf geregelt, sondern im großen Umfange auf Vorrat
gestapelt. Wer die ungeheuren Kiesberge und endlosen
Balken- und Bretterstapel auf den viele Kilometer langen Hafenquais in
Antwerpen sah, konnte überzeugt sein, daß die deutsche Front auf
lange Zeit gut versorgt werden würde.
Zeitweise lagerten viele Hunderttausende von Tonnen dort, da an diesem Platz der
Umschlag von den großen Rheinschiffen auf die kleineren
Kanalkähne stattfand.
Die Hafenkommandantur und das Hafenamt in Antwerpen hatten stets
ausreichend zu tun. Zur Wahrnehmung seiner Interessen unterhielt der
Generalgouverneur bei der deutschen Gesandtschaft im Haag einen besonderen
Agenten, dessen politischer und wirtschaftlicher Gewandtheit die
Überwindung vieler auftretender Schwierigkeiten gelang. Mehrfach war
seinem Rate der günstige Abschluß von Verhandlungen, die auch
für Deutschland wichtig waren, zu verdanken.
Der Ausfuhr von Belgien nach Holland wurden natürlich weder von
letzterem Lande noch von England irgendwelche Schranken gesetzt. Hier war es
nun wieder das deutsche Interesse, welches die Begrenzung der Ausfuhr [103] nach Holland
verlangte. Nur solche Güter, welche schon im Frieden in großen
Mengen nach Holland gingen und weder in Belgien selbst, noch für
deutsche Zwecke gebraucht wurden, konnten freigegeben werden. Dies bezog sich
besonders auf die Erzeugnisse der in der Gegend von Charleroi blühenden
Glasindustrie, die zu Kriegsbeginn ganz stillgelegt war, dann aber infolge dieser
gestatteten Ausfuhr wieder arbeiten konnte.
Alle die loyalen Grenzbeziehungen zwischen Holland und Belgien konnten aber
dem deutschen Interesse nicht genügen. Bei der über Deutschland
und Belgien verhängten Blockade konnte fast alles, Rohstoffe und
Fabrikate, gebraucht werden, was im Auslande zu haben war; besonders
natürlich Lebensmittel.
So entwickelte sich denn bald an der ganzen holländisch-belgischen Grenze
ein reger Verkehr, den man ohne weiteres mit Schmuggel bezeichnen kann, da
für die betreffenden Waren auf beiden Seiten Ausfuhrverbote
bestanden.
Dieser Handel mußte die beiderseitige Grenzbewachung passieren. Den
holländischen Behörden lag an der Hinderung des Schmuggels nichts
besonderes, da Holland ja Überfluß an den meisten dieser
Güter hatte, und für die gelieferten Waren Geld ins Land kam. So
ertönte nur selten einmal ein Schuß aus einem holländischen
Gewehr, der einem Schmuggler gegolten hätte, welcher seinen Handel zu
offen trieb. Auch auf der deutschen Seite empfing man diese Leute mit offenen
Armen; brachten sie doch Sachen in großen Mengen, die man im Deutschen
Reich während des Krieges häufig nur noch vom Hörensagen
kannte.
Dieser schwunghaft einsetzende "Handel auf gewundenem Wege" begann aber
bald einen fühlbaren Nachteil zu zeigen. Da er gänzlich ungeregelt
vor sich ging, konnte es nicht ausbleiben, daß von den hereinkommenden
Vorräten sehr große Mengen in die Hand von belgischen
Aufkäufern gelangten und so der belgischen und nicht der deutschen
Bevölkerung zugute kamen. Auch die am Grenzzaun stehenden
Landsturmtruppen waren stark beteiligt. Niemand konnte ihnen verargen, wenn
sie sich selbst oder ihre Angehörigen in der Heimat mit solchen
Schmuggelwaren versorgten. Aber im Unverstand oder auch aus strafbarem
Eigennutz wurden oft von deutschen Soldaten solche Vorräte an Belgier
verkauft und gingen dem deutschen Konsum verloren. Der Deutsche konnte dann
in Brüssel nur zu wesentlich höheren Preisen dieselben Dinge
kaufen, die viel billiger hätten erstanden werden können.
Es mußte daher seitens des Generalgouvernements eingegriffen werden. In
Antwerpen bestand schon eine Filiale der deutschen Ölzentrale, deren
Aufgabe bereits der Ankauf von Ölen und Fetten im Grenzzonengebiet und
auch in Holland gewesen war. Diese Filiale wurde nun von ihrer bisherigen
Hauptstelle abgelöst, auf eigene Füße gestellt und zu einer dem
Generalgouverneur unmittelbar unterstellten Behörde mit dem
wohlklingenden Namen "Grenzbewirtschaftung" umgestaltet. Da sie ihre Zwecke
nur mit Hilfe der militärischen [104] Dienststellen der
Grenzbewachung, andererseits aber mit vielem nichtmilitärischen
kaufmännischen Personal erfüllen konnte, wurde sie einem
Verwaltungsrat unterstellt, welcher sich aus Mitgliedern der militärischen
und der Zivilverwaltung in gleichem Maße zusammensetzte. Diese
Vermischung hat stets einwandfrei gearbeitet und zu keinerlei
Kompetenz- oder sonstigen Streitigkeiten geführt. Die Auswahl der
betreffenden Persönlichkeiten war von vornherein unter richtigen
Gesichtspunkten erfolgt. Der rein kaufmännisch geleitete Betrieb wurde
durch möglichst wenige fiskalische Beschränkungen eingeengt.
Um den Ankauf der greifbaren Güter tätigen zu können,
bedurfte es eines großen Kapitals. Da traf es sich gut, daß die
deutsche Finanzverwaltung sehr beträchtliche Betriebsvorschüsse
anweisen konnte, mit denen die Geschäfte bald im Großen getrieben
werden konnten. Als dem Generalintendanten des Feldheeres der Nutzen der
Organisation mitgeteilt wurde, konnte sehr bald auch von dieser Seite ein
bedeutender Zuschuß zum Betriebskapital geleistet werden.
Die Verteilung der so eingeführten Güter wurde in folgender Weise
geregelt. Um die Grenztruppen, auf deren Mithilfe in erster Linie gerechnet
werden mußte, an dem Aufblühen dieser Einfuhr besonders zu
interessieren und ihnen andererseits den Anreiz zu selbständigem Handel
zu nehmen, erhielten sie für ihre Kantinen und Kasinos einen bestimmten
Prozentsatz der eingeführten Waren; je tätiger sie waren, um so
höher war ihr Anteil. Ebenso waren die anderen Verpflegungsanstalten des
Generalgouvernements beteiligt. Streng wurde darauf gehalten, daß auf
diesem Wege nicht etwa Handel getrieben oder sonstige unerlaubte Vorteile
seitens einzelner Personen erzielt wurden.
Von dem ganzen übrigen Warenstock erhielt der Generalintendant des
Feldheeres für seine Großmarketendereien alles, was er irgendwie
brauchen konnte, und der Rest wurde der deutschen
Zentral-Einkaufs-Gesellschaft, der Z. E. G., angeboten, so daß
die gesamte Einfuhr restlos der Heimat zugute kam. Daß natürlich
auch noch dauernd kleinere Nebenkanäle nicht gänzlich verstopft
werden konnten, war bei der Länge der Grenze und dem Warenhunger der
Deutschen und Belgier ganz natürlich; aber im Verhältnis zum
Gesamtnutzen war dieser Verlust nur geringfügig.
Durch das Ankaufsmonopol war es der Grenzbewirtschaftung möglich, die
Preise in erträglichen Grenzen zu halten und zu regulieren; natürlich
waren sie infolge der ungünstigen deutschen Valuta nicht gerade niedrig,
aber ganz wesentlich verschieden von den z. B. in Brüssel vielfach
geforderten Wucherpreisen.
Die hauptsächlichsten Einfuhrgüter waren Vieh, Fette,
Hülsenfrüchte, Kakao und Schokolade, Tabakfabrikate aller Art,
Leder und Schuhe, Textilien. An Vieh wurde so viel beschafft, daß der
Bedarf der nördlichen Armeen der deutschen Westfront allein hieraus
gedeckt werden konnte, an Zigarren wurden Abschlüsse getätigt, die
sich auf Hunderte von Millionen Stück beliefen. Gegen [105] Ende der deutschen
Besetzung, wo die Organisation immer besser arbeitete, betrug der Umsatz in
einzelnen Monaten bis 40 Millionen Franken.
Daß von seiten der Ententemächte diese Verhältnisse, soweit
sie dieselben übersehen konnten, mit scheelem Auge betrachtet wurden, ist
natürlich. Eine Handhabe zum Eingreifen war aber nicht vorhanden, da
Holland sich streng in den Grenzen seiner Neutralität hielt. Auch auf Grund
der amerikanisch-spanisch-holländischen Abmachungen konnte nichts
gegen den Verbrauch dieser Lebensmittel für deutsche Zwecke
eingewendet werden. Denn die Güter, welche aus Holland eingeführt
wurden, waren ja gar nicht für Belgien bestimmt, sondern für
Deutschland, waren also Transitgüter und unterlagen als solche nicht der
wegen der Vereinbarungen mit der Kommission zugegebenen
Beschlagnahmefreiheit, sondern konnten ohne weiteres von deutscher Seite
verwendet werden. Diesem Standpunkt mußten sich auch die neutralen
Gesandten anbequemen.
Wie verschieden Neutralität ausgelegt werden kann, ergibt sich aus den
Unterschieden der holländischen und nordamerikanischen Handhabung
dieses politischen Begriffes. Die holländische kam dem Deutschen Reiche
zugute, die amerikanische der belgischen Bevölkerung; aber
unbeabsichtigterweise auch den deutschen Interessen.
8. Die soziale
Fürsorge.
Wie schon an anderer Stelle auseinandergesetzt wurde, befanden sich die
Organisationen, die zum Schutz und zum Wohl der sozial tiefer stehenden
Bevölkerungsschichten dienen sollen, in Belgien noch auf recht niedriger
Stufe. Die in Deutschland und anderwärts festgewurzelte soziale
Gesetzgebung mußte hier zum größten Teil erst eingepflanzt
werden. Das Nötige über die Einführung des Gesetzes
über Frauen- und Kinderarbeit z. B. ist schon gesagt worden.
Darüber hinaus aber gab es noch zahlreiche Gebiete, auf welchen seitens
der Behörden eine starke Nachhilfe sich als nötig erwies, um die
souveränen, allmächtigen Gemeindeverwaltungen zur
Förderung gewisser sozialer Erfordernisse anzuhalten, an welcher sie es
durchaus fehlen ließen. Es war dies um so notwendiger, als es in Belgien,
z. B. in Brüssel im sogenannten Marollenviertel, wirtschaftliche und
soziale Notstände gab, wie sie in Deutschland ganz unbekannt waren.
Von der belgischen Regierung war hier nur wenig eingegriffen worden, um die
nun einmal herrschende Anschauung von der Freiheit der Selbstverwaltung
möglichst wenig zu stören.
Eine der brennendsten Fragen war in dieser Beziehung die Schaffung einer
wirklich brauchbaren Sittenpolizei; lag ihre Wirksamkeit doch auch besonders im
dringendsten Interesse der deutschen Besatzungstruppen.
Sobald die Verwaltungsverhältnisse im Generalgouvernement daher
einigermaßen gefestigt waren, nahm der Generaloberst Freiherr
v. Bissing [106] Veranlassung, auch auf
diesem Gebiet bessernd vorzugehen. In den größeren Städten
erwies sich die Fürsorge dieser Art natürlich am dringendsten.
Die Gemeindeverwaltungen wurden daher veranlaßt, ihre sehr
dürftigen sittenpolizeilichen Einrichtungen unter Anlehnung an deutsche
Muster auszubauen, wozu ihnen die Hilfe der deutschen Sanitätsoffiziere
zur Verfügung gestellt wurde. Die Beaufsichtigung des Angeordneten
wurde den Präsidenten der Zivilverwaltungen übertragen, welche in
erster Linie darauf zu achten hatten, daß die erlassenen Verordnungen auch
wirklich befolgt wurden, statt nach alter belgischer Gepflogenheit nur auf dem
Papier stehenzubleiben.
Der Hauptgesichtspunkt der sittenpolizeilichen Maßnahmen war neben der
Überwachung und Pflege erkrankter weiblicher Personen vor allem auch
die Gewöhnung an geregelte Arbeit durch Einrichtung von
Nähstuben, Waschanstalten und sonstiger Arbeitsgelegenheit.
Als eine wahre Musteranstalt erwies sich nach kurzer Zeit das große
Weiberkrankenhaus St. Gillis in Brüssel, in welchem alle
nötigen Einrichtungen in vorbildlicher Weise vereinigt waren.
Daß dieses Vorgehen schon während des Krieges seine Früchte
trug, beweist die allmähliche Abnahme der venerischen Erkrankungen unter
den Truppen des Generalgouvernements.
Der Generalgouverneur hatte natürlich zunächst versucht, für
das soziale Gebiet seines Wirkens eine Unterstützung bei dem (wie in allen
Ländern auch in Belgien bestehenden) Roten Kreuz zu finden. Er war dabei
auf eine vollständige Verständnislosigkeit gestoßen. Der
Vorstand weigerte sich durchaus, in der sozialen Fürsorge mitzuwirken, so
daß nichts übrigblieb, als schon im Jahre 1915 die Leitung der
Gesellschaft abzusetzen und deren Aufgaben mit ihren Mitteln unter Leitung eines
deutschen Kommissars fortzuführen. In erster Linie verblieb nun dem
belgischen Roten Kreuz die erste Fürsorge für belgische
Kriegsbeschädigte, die als untauglich aus deutschen Gefangenenlagern in
die Heimat entlassen waren, und für welche dann eine Anzahl belgischer
Vereine weitersorgten, sowie die Nachrichtenvermittlung über gefallene
oder vermißte belgische Soldaten.
Die Geldmittel des belgischen Roten Kreuzes waren nicht erheblich, der
Zufluß nur spärlich. Der Generalgouverneur brauchte aber für
seine weitreichenden Absichten mehr, und so entstand auf seine Anregung die
Deutsche Zentralstelle für soziale Fürsorge beim belgischen Roten
Kreuz, die, durchaus selbständig, dem Generalgouverneur unmittelbar
unterstand und auch materiell vollständig auf eigenen Füßen
stehen sollte.
In der Hauptsache sollte unter der durch Arbeitslosigkeit stark leidenden niederen
Bevölkerung die Hilfsbedürftigkeit festgestellt und dann durch
Arbeitsgewährung Unterstützung geschaffen werden. Die erste
Einrichtung wurde durch Mittel, welche von privater Seite aus der Heimat kamen,
bewirkt, dann sollte sich das Werk durch den Ertrag der Arbeit weiterhelfen.
[107] Zur weiteren
Durchführung der selbstgestellten Aufgaben waren von der Zentralstelle in
Brüssel Fürsorgestellen im ganzen Lande verteilt, welche die zur
Mithilfe herangezogenen Gemeindeverwaltungen in dieser Hinsicht
beaufsichtigen und Gelegenheiten zu Hilfeleistungen ermitteln sollten.
Die Unterstützung geschah in der Form von Arbeitsgewährung als
Heimarbeit oder in größeren fabrikartigen Unternehmungen. Bei
ersterer fand sich als ein bedeutendes Arbeitsfeld die Strickarbeit mit aus
Deutschland gelieferter Wolle.
Mehrere große Fabriken fertigten Säcke aller Art, besonders
Sandsäcke für den Stellungsbau und Tabaksfabrikate an, solange die
Rohstoffe ausreichten; alle diese Werke waren mit gemeinnützigen
Einrichtungen, wie Konsumanstalten, Kinderkrippen für die
Arbeiterinnen usw., versehen und bildeten einen beliebten
Besichtigungsgegenstand für deutsche und neutrale Besucher des
Kriegsschauplatzes.
Recht gut durchgeführt war die ärztliche Beratung und Hilfe, die im
Anschluß an diese Einrichtungen in Gestalt von Sprechstunden und
dergleichen geleistet wurde.
Zur Mitarbeit bei dieser auf einen recht bedeutenden Umfang angelegten
Organisation war eine große Zahl von Hilfskräften, besonders
weiblichen, aus Deutschland herangezogen worden.
In den weitesten Kreisen, auch unter den Deutschen in Belgien im besonderen,
wurde über das Ganze viel geredet. Ein objektiver Beobachter muß
anerkennen, daß die zweifellos vorhandenen Vorzüge der sozialen
Fürsorge von den Nachteilen überwogen wurden. Allerdings nicht
auf den ersten Blick und nicht dem voreingenommenen Auge sichtbar. Denn
zweifellos war die soziale Fürsorge sehr geschickt aufgebaut, und dauernd
wurde durch gewandte Hinweise, z. B. durch sehr gefällig
angeordnete Ausstellungen, auf ihre Vorzüge aufmerksam gemacht. Aber
sie verdiente nicht in dem Maße die große Beachtung, die sie sich
selbst zuerkannte und auch in vielen Kreisen zu erwecken verstand. Denn in
Wahrheit war ihre Leistungsfähigkeit nicht so bedeutend, wie es den
Anschein hatte, und dann waren häufig die Mittel, welche verwendet
wurden, zwar der selbstgestellten Aufgabe durchaus nützlich, aber dem
deutschen Interesse abträglich. Vor allem war die große Zahl aus
Deutschland herangezogener Helferinnen ein schweres Übel. Sie
überwog weitaus den Bedarf; die einzelne hatte in den meisten Fällen
nur sehr wenig zu tun. Von seiten der Leitung der sozialen Fürsorge wurde
die Heranziehung deutscher Frauen geradezu gefördert, z. B. durch
Einrichtung von allerlei Kursen für die Ausbildung in der Hilfsarbeit, die
eine erwünschte Gelegenheit zum längeren oder kürzeren
Aufenthalt in Belgien ergab und vielfach mehr als zuträglich war, auf
Berücksichtigung familiärer Interessen hinauslief. Es entwickelten
sich hieraus teilweise ganz friedensmäßige Zustände, die im
besetzten Gebiete dem deutschen Ansehen nur [108] Schaden tun konnten.
Es war, allerdings in sehr viel kleinerem Maßstab, dasselbe, was man mit
Recht in Deutschland an dem Verhalten der Franzosen im besetzten Rheinland
auszusetzen hat.
Auf viele andere Bemängelungen aller Art einzugehen, würde zu
weit führen.
Genug, die berechtigte Stimmung gegen die soziale Fürsorge spitzte sich
allmählich derartig zu, daß der Generaloberst Freiherr
v. Falkenhausen bei seiner Berufung als Generalgouverneur im Jahre 1917
Gelegenheit nahm, die Leitung der sozialen Fürsorge aufzulösen und
die von ihr bearbeiteten Geschäftszweige, soweit sie von Wert waren, teils
den Zivilverwaltungen, teils den militärischen
Sanitätsbehörden zu unterstellen, wohin sie gehörten.
Noch einer anderen besonderen Einrichtung muß hier Erwähnung
geschehen, welche zwar äußerlich nur einen kleinen Umfang hatte,
aber doch im stillen eine recht rege Wirksamkeit ausübte und sehr vielen
deutschen Soldaten, die ihr Weg über Brüssel führte, in
angenehmer Erinnerung geblieben sein mag.
Von privater deutscher Seite wurde beim Generalgouverneur angeregt, daß
einer belgischen Sonderart von Arbeiterinnen, den in der Spitzenindustrie
beschäftigten, Arbeitsgelegenheit gegeben werden möchte. Mit
seiner Genehmigung wurde dann diese durch den Krieg ganz stillgelegte
Heimarbeit wieder belebt. Die für diese Industrie nötigen
Materialien, Garne und feine Stoffe, waren zwar für die Kriegswirtschaft
deutscherseits beschlagnahmt; diejenigen Mengen aber, welche zur Herstellung
der feinen Spitzengebilde dienten, waren so gering, daß durch ihre Freigabe
kein Schaden entstand. Auch gelang es, größere Mengen aus Holland
einzuführen.
Hierdurch konnten Tausende von Heimarbeiterinnen sich wieder ihr Brot
verdienen.
9. Rückblick.
Die vorstehenden Darlegungen bezwecken ein allgemeines Bild derjenigen
Arbeitsgebiete zu geben, auf welchen sich die zahlreichen Behörden des
Generalgouvernements in Belgien betätigen mußten.
Schon diese kurze Darstellung wird wohl erkennen lassen, daß die
geschaffene Organisation eine überaus verwickelte war, und daß es
sehr geschickter Hände bedurfte, um mit dieser Maschine ein
widerspenstiges Land, noch dazu in Kriegszeiten, über vier Jahre lang zu
regieren.
Eine Kritik dessen, was in dieser Zeit von der deutschen Verwaltung geleistet
worden ist, können und sollen diese Schilderungen nicht geben. Dazu
würde bei der Vielseitigkeit der geschaffenen Verhältnisse der
verfügbare Raum nicht annähernd ausreichen.
Nur soviel kann gesagt werden, daß selbstverständlich viele
Einrichtungen besser hätten gemacht werden können, wenn man
gewußt hätte, daß der Krieg [109] jahrelang dauern und
was für Aufgaben an die deutsche Verwaltung im Laufe der Zeit noch
herantreten würden.
Vom deutschen Standpunkt aus muß ohne weiteres zugegeben werden,
daß es den Generalgouverneuren und ihren Offizieren, Beamten, Soldaten
und Angestellten gelungen ist, ein großes Hinterland mit einer unruhigen
Bevölkerung derart im Zaum zu halten, daß die deutsche
Kriegführung nie die geringste Schwierigkeit fand, daß im Gegenteil
aus diesem Lande Hilfsmittel aller Art in ganz unerwartetem Ausmaße
herausgezogen werden konnten. Wohl keiner der Hunderttausende von
Deutschen, die längere oder kürzere Zeit auf belgischem Boden
weilen konnten, wird sich den Annehmlichkeiten entzogen haben, welche der
Aufenthalt in Belgien gegenüber dem Kampfgelände, aber auch
gegenüber der Heimat mit ihren Ernährungsnöten bot. Wenn
dabei ein gewisses Gefühl des Neides, ja der Entrüstung
darüber mitsprach, daß es sich im Deutschen Reich nicht ebenso
herrlich und in Freuden leben ließ, wie es in Belgien den Anschein hatte, so
muß dies auf die Unkenntnis der Gründe geschoben werden, auf
welchen dies angebliche, nur scheinbare Wohlleben beruhte. Es war nicht
möglich und auch nicht nötig, jedem deutschen Kritiker alle diese
Gründe im einzelnen auseinanderzusetzen.
Was nun die andere Seite betrifft, die Urteile, welche Belgiens Einwohner
über die deutsche Besetzung fällen mögen, so kann man nur
sagen, daß der belgische Patriotismus die Anwesenheit der Fremden im
Lande grollend ertrug, und daß die
Verwaltungs- und Ausnutzungsmaßregeln das Land oft schwer
bedrückten. Aber auch das bleibt unbestritten, daß die Mehrzahl der
Bevölkerung bald in ein erträgliches Verhältnis mit ihren
Bedrückern kam, welches manchmal so intim wurde, daß ein
Wechsel der Besatzungstruppen eintreten mußte, damit nicht etwa deutsche
Interessen Schaden litten.
Wie häufig hörte man von belgischer Seite, wenn irgendwelche
deutsche Anordnungen unbequem waren, nur immer wieder den Ausspruch:
C'est la guerre. Ganze Schichten der Bevölkerung, der Landmann
zumal, aber auch viele Industrielle, konnten mit ihrem materiellen Ergehen
zufrieden sein, und äußerten es auch, weil sie unter der deutschen
Verwaltung gut verdienen konnten.
Die oft vernommene Äußerung sachlich denkender Belgier: "Die
Deutschen mögen schnell wieder gehen, aber ihre Verwaltung sollen sie
uns zurücklassen", spricht Bände für die gerechte und
vernünftige Art, in welcher Belgien von seinen Generalgouverneuren
verwaltet wurde, wenn sie auch für manche auf extremem Standpunkt
stehende Deutsche der Beweis dafür sein mag, daß Belgien nicht, wie
es sich doch gehört hätte, mit Feuer und Schwert regiert worden
ist.
Dieses belgische Urteil kennzeichnet die Sachlichkeit und Pflichttreue, mit
welcher die Verwaltung arbeitete, auf Grund der überkommenen Tradition
und Erziehung des deutschen Offiziers und Beamten.
[110] Wenn man fragt, was
etwa durch die deutsche Besetzung an dauerndem Werte geschaffen sein mag, so
stehen zwei Dinge fest. Als beim deutschen Rückzug die belgische
Regierung wieder ins Land kam, war ihr erstes die Aufhebung der während
der Besetzungszeit ergangenen Gesetze und Verordnungen; nur eines sollte
vorläufig bestehen bleiben, die deutschen Finanzgesetze, betreffend
Vermögens-, Einkommen- und andere Steuern. Diese als
"Lex Bissing" bezeichnete Gesetzgebung bildet nun mit einigen
Abänderungen die Grundlage der belgischen Finanzgebarung.
Und die Flamenbewegung, welche nicht von den Deutschen entfacht, aber wohl
gefördert wurde, ist nun im neuen Belgien zum Angelpunkt der inneren
Politik geworden. Die Flamen sind zum Selbstbewußtsein erwacht, aus
ihrem völkischen Dahindämmern herausgerissen, ihre Führer
haben jetzt eine große und zielbewußte Gefolgschaft. Und sie wissen
sich auch schon zur Geltung zu bringen, ihre Sprache hat jetzt auch praktisch die
ihr gebührende Beachtung gefunden, und die Flamisierung der
Universität Gent nach kurzer Unterbrechung kann nur noch eine Frage ganz
kurzer Zeit sein.
Wenn nun durch deutschen Einfluß die Germanisierung des Landes
gefördert sein sollte, welches vor dem Kriege rettungslos dem Aufgehen in
die romanische Kulturwelt verfallen zu sein schien, dann hat die deutsche
Verwaltung des Generalgouvernements mehr erreicht, als wenn ganz Belgien mit
7½ Millionen fremdsprachiger Einwohner dem Deutschen Reiche
einverleibt worden wäre, wie viele Deutsche dies verlangt haben. Sie
hätten die Millionen der Polen, Lothringer und Dänen vermehrt,
deren Widerspenstigkeit und Unzuverlässigkeit wir im Weltkriege
schmerzlich genug haben empfinden müssen.
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