Bd. 8: Die Organisationen der Kriegführung,
Dritter Teil:
Die Organisationen für das geistige Leben im
Heere
Kapitel 1: Die deutsche
Verwaltung
des Generalgouvernements in Belgien
1914-1918 (Forts.)
Generalleutnant Hans v. Winterfeld
6. Die Organisation der
Volksernährung.
Wie in allen kriegführenden Ländern, besonders in denen der
Mittelmächte, spielte die Ernährungsfrage auch in Belgien eine
besonders große Rolle.
Schon im Frieden war Belgien nicht in der Lage gewesen, seine
Bevölkerung zu ernähren. Besonders die Versorgung mit Brot,
welches für die Bevölkerung viel mehr wie z. B. in
Deutschland ein Hauptlebensmittel ist, war bei einer Mittelernte nur für
etwa 2 - 3 Monate gesichert. Das übrige mußte
eingeführt werden und kam zum größten Teil von
Übersee nach Antwerpen. Auch Kolonialwaren,
Hülsenfrüchte, Futtermittel mußten in großen Mengen
eingeführt werden, und selbst Vieh war nicht in genügendem
Maße vorhanden, obgleich sogar eine Ausfuhr stattfand; nur an
Gemüse und Obst war Überfluß, besonders in den feineren
Sorten, so daß hierin eine starke Versorgung der Nachbarländer, auch
besonders Deutschlands, Englands und Frankreichs, stattgefunden hatte.
Zu dieser Bevölkerung kamen die deutschen Truppen hinzu,
zunächst die Invasionsarmeen, dann die Besatzungstruppen, die
natürlich das Bestreben hatten, sich aus dem Lande zu ernähren. Der
schnelle Vormarsch durch Belgien wäre gar nicht möglich gewesen
ohne die großen Bestände des reichen Landes, besonders im Herbst
nach der Ernte. Niemand hinderte damals die Ausnutzung des Landes für
die deutschen Truppen.
Jeder Einsichtige mußte sich aber bald sagen, daß dieser Zustand
nicht dauern könnte, ohne zu schweren Unannehmlichkeiten zu
führen.
Die Ernährung der deutschen Heere konnte zwar, besonders als die
Operationen zum Stillstand gekommen waren, durch Zufuhr aus Deutschland
gesichert werden. Was sollte aber aus den 7½ Millionen Belgiern werden,
wenn ihre eigenen Vorräte aufgezehrt sein würden?
Ganz abgesehen von rein menschlichen Rücksichten wäre es
untunlich gewesen, diese Bevölkerungsmassen im Rücken der
kämpfenden Front mit unzureichenden Subsistenzmitteln
zurückzulassen. Die im Fall einer Hungersnot unausbleiblichen Unruhen
und ausbrechenden Seuchen hätten die allerübelsten Folgen
für die deutsche Kriegführung haben müssen, wobei noch
nicht einmal in Betracht gezogen ist, daß Hunderttausende von Belgiern
unmittelbar oder mittelbar, z. B. in den Kohlenbergwerken, für
deutsche Zwecke arbeiten sollten.
[94] Die Möglichkeit,
aus deutschen Vorräten Aushilfen an Belgien zu liefern, wurde zwar
erwogen, mußte aber mit Rücksicht auf die Knappheit im eigenen
Lande von vornherein ausscheiden.
Zwar bildete sich sehr schnell in Belgien ein Hilfswerk, das Comité de
Secours et d'alimentation, dessen Bestreben es war, mit allen Mitteln,
z. B. durch Ankauf in Holland, die Ernährung der
Bevölkerung sicherzustellen; aber in Ermangelung vorhandener
genügender Vorräte hätte es auch nicht das Nötige
leisten können.
Da kamen äußere Umstände der Abhilfe dieser
Lebensmittelkrise zugute.
In Nordamerika, wo sich immer einige für humanitäre Zwecke
begeisterte Leute finden mögen, war das Mitleid für das
vergewaltigte "poor little Belgium" rege geworden. Diese Regung
benutzend, fand sich bald eine Organisation kluger und gewandter
Persönlichkeiten zusammen, die unter Leitung des Mr. Hoover mit
einem Hilfswerk für die belgische Bevölkerung
außerordentlich günstige kaufmännische Geschäfte zu
verbinden gedachten. Für die deutsche Bevölkerung hingegen gab es
in den theoretisch neutralen Vereinigten Staaten nichts annähernd
Gleichwertiges.
Das Verdienst, diese Hilfstätigkeit endgültig ins Werk gesetzt zu
haben, wird man etwa zu gleichen Teilen der amerikanischen Regierung, vertreten
durch ihren Gesandten in Brüssel, und der deutschen Verwaltung in der
Person des Leiters der Politischen Abteilung, zuerkennen müssen.
Mit großem Geschick wurden die sehr verwickelten Verhandlungen
begonnen und führten bald zu einem Abkommen unter Zustimmung der
Reichsleitung.
Die Grundzüge des amerikanischen Ernährungswerks waren
folgende. Mit dem Amtssitze in London wurde die Commission for relief in
Belgium gebildet, deren Seele Mr. Hoover bildete, welche die
für Belgien notwendigen Lebensmittel und sonstigen Waren in Amerika
zusammenbrachte, auf neutralen Schiffen nach Rotterdam schaffte und sie dort
dem belgischen Comité national auf Abruf zur Verfügung
stellte. Die Einfuhr nach Antwerpen erfolgte dann auf holländischen und
belgischen Schiffen.
Die in Amerika zum Ankauf nötigen Summen und die sonstigen
entstehenden Kosten wurden der belgischen Regierung in Le Havre
zunächst zur Last geschrieben und sollten später abgerechnet
werden.
Die belgische Regierung stellte sich günstig zu dieser
Ernährungsmöglichkeit. Sie mußte natürlich froh sein,
aus der Blockadeklemme
für ihre Landeskinder herauszukommen, wenn sie
auch nicht verkennen konnte, daß die eingeführten Vorräte
mittelbar oder sogar unmittelbar dem Landesfeinde zugute kommen
mußten.
Nun war es ja klar, daß die Mächte der Entente diese Zufuhr niemals
dulden konnten, wenn die deutsche Verwaltung in Belgien etwa die
Möglichkeit gehabt hätte, diese Vorräte ebenso zu
beschlagnahmen, wie sie es mit den [95] im Lande selbst
vorhandenen oder erzeugten selbstverständlich tun konnte. Das wäre
zweifellos eine direkte Unterstützung der deutschen Kriegswirtschaft
gewesen.
So weit konnte besonders die englische Regierung nicht gehen, der die ganze
Angelegenheit schon im höchsten Grade unangenehm war, und die sie nur
dulden mußte, um ihrem heimlichen amerikanischen Verbündeten
das Geschäft nicht zu verderben. Daß sie allerdings ihre erzwungene
Duldung dann mit dem Mäntelchen der christlichen Humanität
für die belgische Bevölkerung umkleidete, war von dem in solchen
Fällen stets gewahrten englischen praktischen Standpunkt sehr
natürlich.
Es mußte daher die deutsche Verwaltung die Verpflichtung
übernehmen, nicht nur die eingeführten Waren nicht zu
beschlagnahmen, sondern auch die einheimischen
Lebens- und Futtermittel, zu deren Ergänzung ja die amerikanische Einfuhr
diente, ebenso zu behandeln, sie auch nicht gegen Bezahlung anzukaufen. Dies
bezog sich natürlich nur auf die offiziellen deutschen Dienststellen. Es
konnte selbstverständlich dem einzelnen Deutschen nicht verwehrt werden,
sich die feilgehaltenen Lebensmittel zu kaufen oder sich in Gaststätten
gegen Bezahlung verpflegen zu lassen; niemand hätte dies
überwachen können. Auch die deutschen Kasinoeinrichtungen und
Lazarette waren aus demselben Grunde unbeschränkt.
Diese Grundlagen der Vereinbarungen unterlagen im Lauf der Zeit dauernd
Veränderungen und Verbesserungen, letztere auch im deutschen Sinne. Auf
die Einzelheiten einzugehen, verbietet der Raum; um nur ein Beispiel
anzuführen, so wurde bald vereinbart, daß belgisches Obst und
Gemüse, dessen Erzeugung die Bedürfnisse der belgischen
Bevölkerung schon im Frieden überstiegen hatte, nach Deutschland
ausgeführt werden durften. Dies bezog sich zwar in erster Linie auf gewisse
Luxusgemüse und -obstsorten, kam aber doch schließlich der Heimat
zugute.
Um wie beträchtliche Mengen an Lebensmitteln es sich bei der
amerikanischen Einfuhr handelte, zeigt der Umstand, daß sie schon im
Januar 1915 sich auf 60 000 t belief und bald auf monatlich
100 000 t stieg und sich hielt.
In erster Linie kamen hier in Frage Weizen und Mais, Hülsenfrüchte,
Reis, Schmalz und andere Fette, Kakao, später auch
Bekleidungsstücke.
Erwähnt muß noch werden, daß dieses Ernährungswerk
später auch auf die besetzten Gebiete in Nordfrankreich ausgedehnt wurde,
deren Bevölkerung sich in ähnlicher Notlage befand wie die Belgier.
Die entsprechenden Vereinbarungen waren ähnliche, nur waren sie nicht
vom Generalgouverneur, der für diese Gebiete nicht zuständig war,
sondern vom Generalquartiermeister getätigt worden.
Die Arbeit der Kommission war für Deutschland von großem Wert.
Abgesehen davon, daß die Verwaltung der Sorge für die
Bevölkerung enthoben [96] war, kamen doch durch
allerlei unterirdische Kanäle auch große Mengen der Einfuhr dem
deutschen Verbrauch zugute. Trotz der sonst vorzüglich arbeitenden
belgischen Verteilungskommissionen kamen auch von ihrer Seite
Unregelmäßigkeiten vor, welche deutschen Aufkäufern
gestatteten, große Vorräte über die Grenze zu schaffen. Viele
große deutsche Industrieunternehmungen hatten ihre eigenen Agenten im
Lande, um ihre Arbeitermassen in Deutschland versorgen zu können. Auch
die Frontarmeen suchten sich mit
Nahrungs- und Genußmitteln für ihre Truppen und
Großmarketendereien zu versehen. Die Kontrolle zur Einhaltung der
eingegangenen Verpflichtungen war sehr schwierig. Es mußte jedem
Deutschen widerstreben, andere Deutsche an ihrer Versorgung aus Belgien zu
verhindern; es war verständlich, wenn deutsche Offiziere, welche für
ihre schwer entbehrende Truppe Lebensmittel in Belgien gekauft hatten, wo es ja
vieles in Hülle und Fülle gab, entrüstet über die
Anordnungen des Generalgouvernements waren, wenn ihnen an der Grenze
Belgiens die zu öffentlich beförderten guten Dinge abgenommen
wurden. Wenn auch in solchen Fällen die entstandenen Kosten
wiedererstattet wurden, so waren doch die über diese "Zustände"
geäußerten Anschauungen durchaus begreiflich.
Das Generalgouvernement mußte oft zu seinem eigenen Leidwesen so
handeln, um die Gefahr zu beschwören, die stets mit dem eventuellen
Aufhören der Einfuhr eintreten konnte, wenn die Vereinbarungen nicht
eingehalten wurden. Oft stand die Sache auf des Messers Schneide. Denn eine
Quelle des Mißverständnisses und Zerwürfnisses in den
Ausfuhrfragen bildete stets die auch in Belgien durchaus autonome deutsche
Militäreisenbahnverwaltung, die auf ihrem Gebiet souverän war und
sich an die ja nicht von ihr eingegangenen Vereinbarungen nur insoweit hielt, als
es ihr paßte.
Welche Mengen an Gütern den deutschen
Ernährungsbehörden, aber leider auch Schiebern großen Stils
auf diese Weise zurollten, wird wohl ewig ein Rätsel bleiben. Denn es war
für das Generalgouvernement unmöglich festzustellen, ob
z. B. ein mit Zement beladener Waggon nicht zum größten
Teile Schweinefleisch für deutsche Rechnung enthielt.
Die Kontrolle, daß die Vereinbarungen seitens der deutschen Verwaltung
gehalten wurden, lag in den Händen der neutralen, in Brüssel
verbliebenen Gesandten, in erster Linie des Amerikaners. Von hier aus war eine
umfangreiche Organisation ins Werk gesetzt worden, die mit Genehmigung der
deutschen Behörden den Überwachungsdienst ausüben
mußte und durfte.
Die Kontrolle vollzog sich im allgemeinen in der Weise, daß die den
Gesandten unterstehenden Persönlichkeiten durch Reisen in den Bezirken,
welche den einzelnen zugewiesen waren, mit den Gemeindeverwaltungen in
Verbindung traten und von den in diesen Verwaltungen sitzenden Mitgliedern des
Comité national über die etwaigen Klagen wegen deutscher
Übergriffe in Kenntnis gesetzt wurden, auch sonst Beschwerden,
Anregungen usw. entgegen- [97] nahmen. Eine Kontrolle
deutscher Einrichtungen war selbstverständlich nicht gestattet. Für
ihren Verkehr waren diese Mitglieder der Kommission mit eigenen Kraftwagen
ausgerüstet, welche deutlich gekennzeichnet waren und auch nur auf
bestimmten Strecken benutzt werden durften. Die Betriebsmittel hierfür
mußten sie sich selbst aus dem Auslande einführen. Der Hauptteil der
Kontrolle über die Einhaltung der Verträge durch die deutschen
Behörden geschah natürlich durch Denunziationen, welche den
neutralen Gesandten zugingen; diese wurden dann dem Generalgouvernement
überreicht und mußten untersucht werden. Dieser Zustand
mußte geduldet werden, denn sonst hätte die Einfuhr sofort
aufgehört. Das Generalgouvernement war sich der dadurch
heraufbeschworenen Gefahr durchaus bewußt. Denn durch die zahlreichen
im Lande befindlichen Kontrollorgane, deren Bewegungsfreiheit nur wenig
beschränkt werden durfte, war die Gefahr der Spionage für
Ententerechnung sehr groß geworden. Sie konnten viel mehr sehen, als
ihnen nur durch ihren Dienst zugänglich wurde; sie waren zwar theoretisch
neutral, aber ihre Verbindungen gingen nun einmal über die Grenze, und
die Gefahr der Nachrichtenübermittlung war groß. Mehrfach wurde
seitens des Generalgouvernements die Frage angeschnitten, ob aus diesen
Gründen nicht eine Kündigung des ganzen Hilfswerks
möglich sei; stets wurde einmütig von allen deutschen
Heimatsbehörden, in erster Linie vom Kriegsernährungsamt, die
Unmöglichkeit betont, Belgien aus deutschen Vorräten zu
ernähren. So mußte es denn damit sein Bewenden haben; denn wenn
auch zahlreiche Berechnungen theoretisch ergaben, daß die belgische
Bevölkerung, wenn die Rationen auf ein Mindestmaß herabgesetzt
worden wären, aus dem Lande nicht ernährt, sondern
höchstens durchgehungert werden konnte, so hätte die Praxis, wie in
solchen Fällen ja stets, noch weniger ergeben.
Als mit dem Eintreten Amerikas in den Krieg der amerikanische Gesandte und
seine Leute naturgemäß Belgien verlassen mußten, wurde die
Kommission in das Comité
Hispano-Néerlandais umgebildet, welches unter denselben
Bedingungen unter Kontrolle der spanischen und holländischen
Gesandtschaft in Brüssel weiteramtierte. Die Unterorgane in Belgien
wurden spanischen, im besetzten Nordfrankreich holländischen
Staatsangehörigen entnommen. Im übrigen änderte sich nichts
Wesentliches.
Auch andere Gefahren drohten dem neutralen Hilfswerk. Der
U-Bootkrieg in seinen verschiedenen Phasen wirkte mehrfach störend ein.
Es kam vor, daß Schiffe der Kommission torpediert wurden, teils aus Irrtum
deutscher U-Bootkommandanten, aber zum überwiegenden Teil, weil die
englischen Behörden verlangten, daß auch diese Schiffe englische
Häfen zur Kontrolle anliefen, und weil oft die Kapitäne aus
Leichtsinn sich in die deutscherseits als Gefahrzone bezeichneten Gewässer
begaben. Obwohl dem Admiralstab die Abfahrt dieser Schiffe immer rechtzeitig
angezeigt wurde, kamen Mißgriffe vor. Die Folge waren immer erregte
Vorstellungen und Drohungen, die man nicht [98] einmal als unberechtigt
von der Hand weisen konnte, und manchmal langwierige Stockungen in der
Zufuhr. Die in Rotterdam lagernden Vorräte wurden zeitweise recht
knapp.
Die weitere Verteilung in Belgien gestaltete sich dann folgendermaßen:
In Belgien übernahm das schon genannte Comité national
die anlangenden Waren; und zwar wurde monatlich einmal bestimmt, wieviel von
den Vorräten, besonders an Brotgetreide, aus Rotterdam abgerufen werden
sollte.
Man muß ohne weiteres anerkennen, daß das Komitee mit
zielbewußter Energie und unterstützt durch die patriotische Mitarbeit
zahlreicher Belgier seine Aufgabe in vorbildlicher Weise löste. Bis in die
kleinsten Gemeinden, die feinsten Kanäle des wirtschaftlichen Lebens
erstreckte sich der Einfluß, man kann beinahe sagen, die Befehlsgewalt der
Leiter des Komitees, und sie fanden Gehorsam, weil überall schnell erkannt
wurde, wie nützlich die ganze Einrichtung für das wirtschaftliche
Leben des Landes und jedes Bewohners war. Für jede Art von
Hilfsbedürftigkeit, für Arbeitslose wurde gesorgt; die Verpflegung
wurde bereitgestellt, für Unbemittelte umsonst, für die anderen gegen
Bezahlung; überhaupt wurde im Sinne einer Regierung an der Stelle der im
Auslande befindlichen gehandelt.
In bezug auf die Regelung der Ernährung der Bevölkerung zeigte
sich sehr bald, daß die deutsche Verwaltung mit dem Komitee Hand in
Hand gehen müsse. Beide Parteien sahen dies ein, einigten sich auf einer
gemeinsamen Basis, und während der ganzen Besatzungsdauer haben beide
Gewalten mit Ausnahme weniger Gelegenheiten einträchtig und
nutzbringend zusammen gewirkt.
Die vom Generalgouverneur eingesetzte Zentralerntekommission
beschäftigte sich mit der Bewirtschaftung der Landesprodukte,
während durch Vermittelung des Komitees die zur vollen Ernährung
der Bevölkerung noch fehlenden Lebensmittel aus den Beständen der
"Commission" zugeschossen wurden.
Zum Unterschied von dem deutschen Verfahren unterlag im
Generalgouvernement nur das Brotgetreide der Beschlagnahme und
Ablieferungspflicht; es wurde in großen Magazinen verwaltet, und
bestimmte Rationen und die Preise in gemeinschaftlichen Sitzungen mit den
Delegierten des Komitees festgesetzt. Auch die Bewirtschaftung einiger anderer
Lebensmittel, z. B. Butter und Zucker, wurde einer gewissen Regelung
unterworfen, während z. B. das Fleisch gänzlich markenfrei
blieb. Der Erfolg war, daß alle die nicht bewirtschafteten Waren nicht vom
Markte verschwanden, wie in Deutschland, sondern dauernd im freien Verkehr zu
haben waren, natürlich zu entsprechend hohen Preisen. Diese letzteren
sollten zwar durch eine Wucherverordnung geregelt werden, die Wirkung trat aber
nur in sehr beschränktem Maße ein, wie dies vorauszusehen war.
So machten die Lebensmittelläden besonders in Brüssel für
den aus Deutschland Kommenden einen geradezu aufreizenden Eindruck durch
die Reichhaltigkeit [99] ihrer Auslagen. Es
wurde nicht in Rechnung gestellt, daß die bei weitem größte
Menge der Käufer dieser Waren aus den auf Urlaub fahrenden Kriegern
aller Grade von der Front bestand, für die Geld gar keine Rolle spielte; nur
wenige Belgier konnten die teuren Waren kaufen, und diese hätten auch,
wie in Deutschland, dieselben Dinge im Schleichhandel bekommen
können. Die Masse der belgischen Bevölkerung, mit Ausnahme der
Landleute, lebte im allgemeinen von einem nicht sehr großen, aber
vorzüglichen Stück Brot und den verschiedenen durch das Komitee
verteilten Suppen.
Aber die deutsche Öffentlichkeit nahm Anstoß an dem angeblichen,
in Belgien herrschenden Überfluß und Wohlleben, und von den
verschiedensten, auch offiziellen Seiten erging an den Generalgouverneur die
Aufforderung, die Rationierung wie in Deutschland durchzuführen. Es war
zwar den Betreffenden nicht klarzumachen, daß die Rationierung für
das Brot, um der Vergeudung vorzubeugen, durchgeführt, für alle
übrigen Dinge der hohen Preise halber und auch deswegen gar nicht
nötig sei, weil das Komitee ja alles Fehlende lieferte; aber der
Generalgouverneur ertrug die aus diesem Grunde gegen ihn gerichteten Angriffe
und ließ es bei den von ihm erlassenen Anordnungen.
Die Heimat bedachte auch gar nicht, welches Heer von zuverlässigen
Beamten die Durchführung der Rationierung erfordert hätte, die gar
nicht zu haben waren. Auch wären in erster Linie die deutschen
Besatzungstruppen geschädigt worden, deren Angehörige sich nach
Maßgabe ihrer Privatmittel unbeschränkt versorgen konnten.
Und diesen Leuten mußte die Möglichkeit bleiben, ihre oft karge
Kost zu verbessern. Trotz ihres oft sehr schweren Dienstes im Bahnschutz oder
am Grenzzaun standen ihnen nur die Garnisonverpflegung und nicht die Feldkost
zu, und diese war oft recht dürftig. Nach den Vereinbarungen mit der
Kommission mußte ja das Besatzungsheer aus Heimatbeständen
ernährt werden, die oft nicht ausreichend waren. Daß daher
Fälle von Schmuggel und unlauteren Machenschaften seitens deutscher
Heeresangehöriger vorkamen, ist nicht zu verwundern.
Daß ein übermäßiger Luxus in der Lebenshaltung nicht
aufkommen konnte, dafür sorgten viele Anordnungen des
Generalgouverneurs, wie Festsetzung von Polizeistunden, Beschränkung
der Beleuchtung in Lokalen, Einrichtung von fleischlosen Tagen und
ähnliches. Sie wurden meist auf Drängen der Heimat erlassen,
welcher die Verhältnisse in Belgien ein Greuel waren, da sie diese nicht zu
übersehen vermochte. Immer aber wurden dadurch die Frontkämpfer
geschädigt, denen nach den durchgemachten Beschwerden Erholung und
auch ein gelegentliches
Über-die-Stränge-Schlagen zu gönnen war. Kamen doch an
manchen Tagen bis 1200 Offiziere und 3000 Mann als Durchreisende bei der
Kommandantur in Brüssel für die Unterbringung zur
Anmeldung.
Ein Genußmittel wenigstens stand dem Zugriff der deutschen Verwaltung
aber unbeschränkt zur Verfügung. Den Vereinbarungen mit der
Kommission [100] war der Wein nicht
unterworfen, weil er kein Landesprodukt war. In Belgien wurde kein Weinbau
getrieben, aber der allzeit genußfrohe Belgier barg in seinen umfangreichen
Kellern so bedeutende Vorräte an hochwertigen Weinen, besonders
Rotweinen, daß sie alle Vorstellung übertrafen. Die Erfassung dieses
Genußmittels für die Frontarmeen war Pflicht. So wurde
zunächst die Beschlagnahme der Weinbestände solcher Belgier
verfügt, welche das Land verlassen und der Aufforderung zur
Rückkehr keine Folge geleistet hatten. Viele Millionen von Flaschen
wurden so aufgefunden; es gab Privatkeller, die an 30 000 Flaschen
enthielten. Einen geringen Prozentsatz erhielten die Behörden und Truppen
des Generalgouvernements, alles übrige wurde dem Generalintendanten des
Feldheeres zur Verfügung gestellt und in ganzen Zügen den Armeen
zugeführt.
Bis zum Ende der Besetzung Belgiens waren die vorhandenen Bestände
nicht aufgebraucht, und Eingriffe in die Keller der nicht ausgewanderten Belgier
hatten noch nicht einmal stattgefunden.
Es mag nun die Frage kurz erörtert werden, wie die Maßnahmen
für die Ernährung der belgischen Bevölkerung sich ausgewirkt
haben, wie der Gesundheitszustand der Einwohner während der deutschen
Besetzung gewesen sei.
Im ganzen kann man sagen, daß die Ernährung der belgischen
Bevölkerung während des Krieges sich wohl auf derselben
durchschnittlichen Höhe befunden haben mag wie in Deutschland. Zwar
war die Brotportion etwas höher, weil der Belgier wie der Franzose an eine
ganz andere Menge von Brot gewöhnt war als der Deutsche. Aber die
sonstige Ernährung bestand für die unbemittelte Bevölkerung
auch nur aus einem Minimum, weil eine reichlichere Nahrungsmittelzufuhr der
belgischen Regierung, die schließlich dafür aufkommen mußte,
ganz unerschwingliche Kosten verursacht haben würde.
Auf dem Lande lebte man natürlich viel besser als in den
Industriestädten, ganz wie in Deutschland auch; nur wohlhabende
Städter konnten sich kaufen, was ihnen behagte.
Schwere Schädigungen der Gesundheit sind nicht festgestellt worden;
Seuchen traten nicht auf, wie ja auch in Deutschland nicht. Ob besonders eine
erhöhte Kindersterblichkeit stattgefunden hat, ist nicht erwiesen. Eine
Zunahme der Tuberkulose, die von belgischer Seite als Folge deutscher
Bedrückung hingestellt wurde, mag wohl nicht zu bezweifeln sein; nicht
aber deutsche Maßnahmen waren daran schuld, sondern die feindliche
Blockade, die mangelhaften sanitären Einrichtungen im Lande und die
Stumpfheit der Bevölkerung, welche an eine geregelte
Gesundheitsüberwachung wie in Deutschland nicht gewöhnt
war.
Zu irgendwelchen Konflikten aus Anlaß von
Ernährungsschwierigkeiten ist es im Generalgouvernement nicht
gekommen. Zeitweilige Streiks unter Schwerarbeitern, besonders im
Kohlenbergbau, waren durch Ernährungszulagen schnell ausgeglichen.
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