Die Bewertung der Kolonien (Teil
3)
Vergleich mit älteren
Kolonien
Ein so aussichtsreiches Gebiet, wie es Deutsch-Ostafrika auch abgesehen von den
Goldlagern zweifellos war, läßt sich in seinem Zukunftswert
vielleicht am ehesten vergleichen mit dem Gegenwartswert von Algerien, jener
von Frankreich am meisten gepflegten Kolonie, die schon im Jahre 1830
begründet [46] wurde und heute
staatsrechtlich nicht mehr eine Kolonie, sondern ein Bestandteil des
französischen Staates unter der Verwaltung des Innenministeriums ist. Die
unter der inneren Verwaltung stehenden Nordbezirke des eigentlichen Algerien
umfassen 208 000 qkm mit 4,4 Millionen eingeborener Bevölkerung. Von
dem gegenwärtigen Handelsverkehr zwischen Algerien und Frankreich
wollen wir ganz absehen, da die französische Inflationsperiode den
Vergleich der Handelswerte mit früheren Zeiten im Jahresdurchschnitt
einigermaßen illusorisch macht. Greifen wir aber selbst zurück auf
das Jahr 1910, so läßt sich feststellen, daß damals die Einfuhr
und Ausfuhr Algeriens mit rund je 515 Millionen Franken balanzierte, der
Außenhandel also eine Milliarde Franken überstieg. Von diesem
algerischen Gesamthandel entfielen auf den Verkehr mit dem Mutterlande rund
850 Millionen.
Deutsch-Ostafrika braucht ganz bestimmt den Vergleich mit Algerien nicht zu
scheuen, denn wenn Algerien Wein, Getreide, Tiere, Südfrüchte,
Eisenerze, Tabak, Zink, Kork usw. produziert, so verfügt
Deutsch-Ostafrika über Gold, Baumwolle, Kaffee, Sisalhanf, Kopra,
Kautschuk, Häute, Wachs usw. Dazu gehört ein großer
Teil der französischen Kolonie bereits zum Wüstengebiet. An
Umfang ist
Deutsch-Ostafrika mit seinen 995 000 qkm dem Umfang Algeriens um ein
Vielfaches überlegen; die Zahl der Eingeborenen mit 7,6 Millionen stand
gleichfalls hoch über der Algeriens.
Daß der Außenhandel Deutsch-Ostafrikas erst
einen Bruchteil vom Außenhandel Algeriens
erreicht hatte, erklärt sich nicht etwa aus geringerer
Produktionsfähigkeit, sondern lediglich [47] aus dem ganz
verschiedenen wirtschaftlichen Entwicklungsstadium. Wenn man die
Maßstäbe der oben angeführten Berechnungsmethode
für den Wert der deutschen Kolonialgebiete auf die Grundlage des
algerisch-französischen Handels in der Zeit vor dem Kriege anwendet, so
kommt man zu einer Bewertung Algeriens, die uns in ihrer kapitalisierten
Höhe phantastisch erscheinen mag, die aber doch als Maßstab
für den Zukunftswert
Deutsch-Ostafrikas nicht von der Hand gewiesen werden kann, und es ist sehr zu
bezweifeln, ob Algerien heute den Franzosen für einen noch so hoch
erscheinenden Preis überhaupt feil wäre; es sei denn, daß sie
die unausweisliche Aussicht vor Augen sähen, das Land unter den
Auswirkungen des Schlagwortes vom Selbstbestimmungsrecht der Völker
aus ihrer Hand gleiten zu sehen.
Wertmesser aus dem Verkauf von
Kolonien
Jedenfalls wird man sagen können, daß der Wertmesser einer
Kolonie, die seit Jahrzehnten wirtschaftlich pfleglich behandelt worden ist, einen
besseren Anhaltspunkt gibt als etwa die Bewertung der Karolinen beim Verkauf
an Deutschland; denn für Spanien war der pazifische Inselbesitz zur Zeit
der Abtretung wirtschaftlich tatsächlich so gut wie wertlos. Über den
Ankauf der spanischen Südseeinseln als Wertmaßstab für den
übrigen deutschen Kolonialbesitz urteilte die mehrfach erwähnte
Denkschrift des Kolonialamts folgendermaßen:
"Durch die 'Erklärung vom 12. Februar 1899' trat Spanien an Deutschland
die Karolinen-Inseln mit den Palau und den [48] Marianen, Guam
ausgeschlossen, gegen eine Geldentschädigung von 25 Millionen Peseten
ab."
Über die Höhe des Erwerbspreises führte der Staatssekretär von
Bülow bei der ersten Lesung im Reichstag folgendes aus:
"Ich komme zum Kostenpunkt. Umsonst waren die Inseln wirklich nicht zu
haben. Das kommt selbst unter den besten Freunden nicht vor, daß man sich
gegenseitig ohne weiteres Inseln oder Inselgruppen schenkt. Auch gibt es bisher
für die
Südsee-Inseln noch keinen Preiskurant, es wird auch schwerlich je einen
geben, denn da spielen Imponderabilien mit. Als gewissenhafter Mann glaube ich
Sie aber versichern zu können, daß der für die Inseln
bemessene Preis ein angemessener ist, auch vom Standpunkt der Gerechtigkeit,
die bei solchen Transaktionen nicht ganz außer acht gelassen werden
darf."
Die Beschaffung der 25 000 000 Peseten kostete der deutschen Regierung
16 598 373,14 Mark. Der Flächeninhalt des erworbenen Inselgebietes
beträgt 2476 qkm. Der Flächeninhalt der deutschen Kolonien im
ganzen beträgt 2 952 372 qkm. Berechnet man hiernach ihren
Abtretungswert, so kommt man auf den Betrag von 19 794 000 000 oder rund
20 Milliarden Mark.
Es steht außer Zweifel, daß der Abtretungswert unserer Kolonien mit
diesem Betrage viel zu niedrig berechnet wäre. 25 000 000 Peseten war der
Preis der Karolinen und Marianen im Jahre 1899. Seitdem haben sich die Dinge
wesentlich entwickelt. Wenn man lediglich auf Grund des Preises, den wir 1899
für das Inselgebiet bezahlt haben, den Abtretungswert unseres gesamten
Kolonialbesitzes be- [49] rechnet, so muß
man demnach zu einer zu niedrigen Summe gelangen.
Zum Vergleich sei noch ein anderer Kolonientausch auf dem Verkaufswege
angeführt.
1916 haben die Vereinigten Staaten von Amerika die dänischen Antillen
für den Preis von 25 000 000 Dollar erworben. 25 000 000 Dollar sind nach
der Goldparität 105 000 000 Mark. Die Bodenfläche der von
Dänemark abgetretenen Inseln beträgt 359 qkm. Wollte man auf
dieser Grundlage den Abtretungswert unserer Schutzgebiete feststellen, so
käme man zu der ungeheuerlichen Summe von 863,5 Milliarden Mark.
Daß es durchaus unrichtig wäre, den Wert der deutschen Kolonien
auch nur entfernt so hoch einschätzen zu wollen, ist
selbstverständlich. Ein rund 3 000 000 qkm großes, in seinen
einzelnen Teilen ganz verschiedenartiges und verschiedenwertiges Kolonialreich
kann nicht nach dem Werte einer für den Verkehr besonders günstig
gelegenen, zumal gegenüber dem Panamakanal, und
dichtbevölkerten Inselgruppe mit guten Häfen beurteilt werden. Soviel
zeigt der Vergleich sicher, daß die Bewertung unseres Kolonialbesitzes mit
20 Milliarden Mark auf Grund des Kaufpreises für die
Karolinen-, Palau- und Marianen-Inseln sehr niedrig ist. Wenn man, um der Entwicklung der
Weltwirtschaft seit 1899 und dem angesichts der Entwicklung seiner
Volkswirtschaft seit 1899 für Deutschland noch viel dringender gewordenen
Bedürfnis nach dem Besitz eigener Kolonien Rechnung zu tragen, zu dem
für 1899 berechneten Abtretungswert nur die Hälfte zuschlägt,
so käme man auf 30 Milliarden, also auf die sicherlich zu niedrige,
ersterwähnte Schätzung auf Seite 34.
[50] Was die ehemals
spanischen Südseeinseln anbetrifft, so wurde schon weiter oben darauf
hingewiesen, daß deren wirtschaftlicher
Wert erst längere Zeit nach
dem Kaufgeschäft erkannt worden ist. Politisch wie wirtschaftlich waren
nach der Abtretung der Philippinen und des Verkehrsknotenpunktes Guam an die
Vereinigten Staaten die übrigen spanischen Südseeinseln für
das Mutterland wertlos und nur Schlucker zweckloser Verwaltungskosten. Nach
der Entdeckung der Phosphatlager und nach der Wertsteigerung der Kopra
würde Spanien aber sicherlich nicht in eine Abtretung für die Summe
von 25 Millionen Peseten eingewilligt haben. Weder reicht also der nach dem
damaligen Verkaufspreis errechnete Durchschnittswert des Quadratkilometers
für die früheren spanischen Südseeinseln aus noch ist er
irgendwie übertragbar auf die früheren deutschen Schutzgebiete in
Afrika. Die deutschen Schutzgebiete verfügen nicht nur über
erheblich größere Bodenschätze und hochwertige Produkte als
sie im Jahre 1899 auf den Karolinen vermutet werden konnten, sondern es hat sich
auch die Intensität der weltwirtschaftlichen und weltpolitischen
Beziehungen seitdem so bedeutend gesteigert, daß dieselben Territorien
heute einen um ein Vielfaches höheren Wert darstellen als vor einem
Vierteljahrhundert.
Die großen
Schätzungsdifferenzen
Die erste ziffernmäßige Schätzung des Wertes unserer
Kolonien geht auf den Staatssekretär Dernburg zurück, der die
"Anlagewerte" der Kolonien berechnen ließ. Als solche Anlagewerte
wurden ermittelt:
[51] |
Kapitalanlage des Reichsfiskus |
70 |
Mill. |
Mark |
Private Kapitalanlage |
300 |
" |
" |
davon: |
|
Missionen |
8,0 |
" |
" |
|
Erwerbs- und Schiffahrts-Gesellschaften |
212,8 |
" |
" |
|
Kommunen |
1,9 |
" |
" |
|
Farmer |
76,5 |
" |
" |
|
|
Gesamt-Kapitalinvestion |
370 |
Mill. |
Mark |
Dazu kommt: |
|
der Wert der Eingeborenenproduktion |
616 |
Mill. |
Mark |
|
davon entfällt auf: |
|
|
Togo |
72 |
" |
" |
|
|
Kamerun |
232 |
" |
" |
|
|
Südwestafrika |
5 |
" |
" |
|
|
Ostafrika |
166 |
" |
" |
|
|
Samoa |
67 |
" |
" |
|
|
Neu-Guinea |
42 |
" |
" |
|
|
die übrigen Südseeinseln |
33 |
" |
" |
|
|
zusammen |
986 |
Mill. |
Mark |
[16a]
Blick auf den Hafen von Swakopmund (Südwestafrika).
[48b]
Lüderitzbucht zur Zeit des Beginnes der deutschen Kolonialwirtschaft (1884).
|
Die "Anlagewerte" in Höhe von rund einer Milliarde Mark geben
natürlich selbst für damalige Verhältnisse nicht entfernt ein
Bild von dem Erschließungswert der deutschen Schutzgebiete, die erst seit
jener Zeit in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung einen kräftigen
Aufschwung genommen haben und in denen schon bald nach jener Aufstellung
Bodenwerte festgestellt wurden, die bis dahin unbekannt waren. Die
in- und ausländischen Schätzungen der Folgezeit setzten ein mit
einem Minimum von
5 Mil- [52] liarden Mark und stiegen
bis auf das Hundertfache dieser Summe. Nach den Feststellungen des
Reichsentschädigungsamtes belief sich die private Kapitalanlage in den
Kolonien bereits auf reichlich das Dreifache der unter Dernburg ermittelten
Summe. Schon allein in
Deutsch-Ostafrika war damals mehr Privatkapital investiert als bei jener ersten
amtlichen Erhebung, die bei Kriegsausbruch doch erst wenige Jahre
zurücklag, in allen deutschen Kolonien zusammen.
Es liegen eine ganze Reihe englischer Äußerungen vor, die den Wert
der deutschen Schutzgebiete auf rund 100 Milliarden Mark und noch weit
darüber hinaus beziffern. Wenn wir uns der oben wiedergegebenen Daten
über die Bodenwerte
Deutsch-Südwestafrikas und an den Vergleich
Deutsch-Ostafrikas und Algeriens erinnern, so werden wir geneigt sein, die runde
Schätzung auf 100 Milliarden als nicht übertrieben zu betrachten.
Freilich müssen wir uns stets der Tatsache bewußt sein, daß es
eine absolute Lösung der Frage nach dem Werte kolonialer Territorien nicht
gibt. Die "Bonitierung" Afrikas wäre nichts als eine theoretische
Spielerei.
Ganz anders liegt es mit der Schätzung des heimischen
Volksvermögens. Als diese erstmals gegen Ende des vorigen Jahrhunderts
durch Prof. Gustav Schmoller
vorgenommen wurde und zu einem Gesamtbetrage
von 200 Milliarden führte, waren dabei mancherlei Faktoren außer
acht gelassen worden. Eine damals bald nach Schmoller von mir
veröffentlichte Schätzung ging auf 250 Milliarden und fand eine
indirekte Bestätigung, indem im Abstand von mehreren Jahren bei einer
ganz ungewöhnlich raschen Entwicklung der deutschen [53] Volkswirtschaft
zunächst Karl Helfferich
auf 300 Milliarden und dann noch später
Steinmann-Bucher auf 350 Milliarden kam. Die letztere Schätzung ist mir
allerdings reichlich hoch erschienen und war in ihrer Höhe wohl darauf
zurückzuführen, daß
Steinmann-Bucher mit der Tendenz vorging, das deutsche Volksvermögen
möglichst groß erscheinen zu lassen, um die leichte Tragbarkeit der
damals zur Debatte stehenden Steuern zu beweisen.
Relativität der
Bewertung
Schwankten also die Schätzungen des deutschen Volksvermögens
nur in einem Grade, der durch die Zeitunterschiede in einer Periode
höchster Anspannung der wirtschaftlichen Kräfte einigermaßen
erklärt erscheint, so wird man sich doch vergegenwärtigen
müssen, daß auch diese Schätzungen des deutschen
Volksvermögens keine absolute Geltung beanspruchen konnten und
können, sondern daß sie eben nur Schätzungen des
"deutschen" Volksvermögens waren, d. h. ganz allgemein
gesprochen, des deutschen Bodens in deutscher Bearbeitung.
In dem Augenblick eines staatlichen Besitzwechsels ändert sich das Bild.
Wir brauchen nur an
Ost-Oberschlesien zu erinnern, das in der Abriegelung vom preußischen
Staatskörper unter polnischer Hand sofort an Wert einbüßte,
oder etwa an den Freistaat Danzig, dessen überaus fruchtbares Werder einer
Katastrophe mit Vernichtung von Milliardenwerten ausgesetzt ist, wenn die
Mißwirtschaft im Polnischen Korridor den Verfall der Weichselregulierung
trotz der Warnungssignale des Dammbruchs bei Graudenz im Juli 1925
fortdauern läßt und dadurch das Gebiet der Weichselmündung
mit einer Wieder-[54] kehr der
Überschwemmungen bedroht, die in jahrzehntelanger Arbeit und unter
großem Kostenaufwand durch den preußischen Staat abgewehrt
worden sind.
Wir kehren also zu dem Ausgangspunkt unserer Betrachtungen über die
Schätzung des Wertes der ehemaligen deutschen Kolonien zurück
mit der nochmaligen Betonung der Unmöglichkeit, einen absoluten Wert
des kolonialen Bodens ermitteln zu können. Es handelt sich für uns
nicht um die Frage, was wir etwa der Entente, und ja leider auch nur ganz und gar
theoretisch, dafür anrechnen könnten, daß ihre
Hauptaktionäre sich in den Besitz der deutschen Kolonien gesetzt haben,
sondern um die Frage, was Deutschland an seinen Kolonien verlor. Ob wir bei der
niedrigsten Schätzung von 30 Milliarden stehen bleiben, ob wir die
Schätzung auf 70 oder auf 100 Milliarden annehmen, nie werden die
nackten Ziffern ein farbenkräftiges Bild der Verarmung Deutschlands
wiedergeben, in die wir durch den Raub eigener überseeischer
Betätigungsfelder geraten sind.
Heute haben wir wieder überschüssige Menschenmassen, die zu
Zwanzigtausenden vierteljährlich in die Fremde auswandern und keinen
Boden in deutschen Siedlungsgebieten jenseits der Meere finden. Heute hallt
durch ganz Deutschland der Ruf nach Produktionsverbilligung; aber unsere
großen Werke haben keine Möglichkeit, aus deutschem
Kolonialboden Rohstoffe heranzuziehen, die ihnen billiger kämen als die
Einfuhr aus fremden Produktionsgebieten. Heute fehlen uns in all [55=Abb.] [56] unseren
wirtschaftlichen Schwierigkeiten noch viel mehr als zuvor die Baumwolle und der
Hanf, das Palmöl und die Kopra, der Tabak, Kaffee und Kakao, der
Kautschuk und das Wachs, das Elfenbein und die Häute, das Kupfer, das
Gold und die Diamanten, die wir aus deutschem Kolonialboden in immer
steigendem Maße hätten gewinnen können.
Setzen wir das europäische deutsche Volksvermögen aus der
Vorkriegszeit auf 300 Milliarden Mark und den Wert des kolonialen Besitzes
selbst nur auf 30 Milliarden, so hätten damals die Kolonien ein Elftel
unserer gesamten Wirtschaftskraft dargestellt; heute, nach der Halbierung unseres
europäischen Volksvermögens aber würden sie ein Sechstel
unserer ganzen Wirtschaftskraft, also relativ fast den doppelten Wert bedeuten.
Heute ist unser europäisches Volksvermögen durch alle Abtretungen
und Kriegsentschädigungen und sonstigen Nachkriegswirkungen
herabgesunken auf kaum mehr als die Hälfte des Vorkriegsstandes, und
heute würde unter diesen Umständen der deutsche Kolonialbesitz,
wie man ihn auch immer in Goldmark bewerten möge, einen sehr viel
wesentlicheren Anteil unseres gesamten Volksvermögens darstellen als zu
der Zeit, da wir in der hohen Blüte der heimischen Wirtschaft und in den
Anfängen einer außerordentlich vielversprechenden
Kolonialwirtschaft standen.
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