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Rückblick und Ausblick

Im Jahre 1910 gaben von den rund 65 Millionen Einwohnern des Deutschen Reichs fast 61 Millionen Deutsch als Muttersprache an. Dazu kamen noch etwa 10 Millionen Deutsche in Österreich, 2,6 Millionen in der Schweiz, 260 000 in Luxemburg, 10 000 in Lichtenstein und 3000 in Moresnet (zusammen also 73,9 Millionen), die nicht unter politischer Vorherrschaft eines anderen Volkes standen. Unter Fremdherrschaft lebten etwa 2 Millionen Deutsche in Ungarn, ebensoviele im Russischen Reich und 60 000 in Belgien. Dazu kamen noch die in Handelskolonien oder als Einzelpersonen in allen Staaten zerstreut lebenden Deutschen, die Angehörige ihres Stammlandes blieben und lediglich des Erwerbes wegen – wenn auch manchmal Jahrzehnte lang – in der Fremde lebten. Auf sie ist hier nicht Bezug genommen, schon aus dem Grunde nicht, weil die meisten dieser [46] Auslandsdeutschen infolge des Krieges freiwillig oder gezwungen in die Heimat zurückkehrten. Der größte Teil von ihnen wird wahrscheinlich, wegen der einschneidend geänderten wirtschaftlichen Verhältnisse, wie nicht minder wegen der im ehemals feindlichen Ausland noch herrschenden deutsch-gegnerischen Stimmung, in absehbarer Zeit nicht wieder in die Fremde hinausziehen. Zu diesen Rückkehrern kommen die Rückwanderer aus dem Baltenland und anderen Gebieten des früheren Russischen Reichs. Ihre Zahl ist gewiß nicht sehr groß.

Weit ausgiebiger ist dagegen der Bevölkerungszuwachs Deutschlands infolge von Rückwanderung deutscher Bewohner aus den Abtretungsgebieten. Wer ostländische Zeitungen liest, der findet darin auffallend viele Anzeigen zum Verkauf angebotener kleiner und großer Landgüter. Es ziehen nicht bloß die bei der fremdstämmigen Bevölkerung schlecht angeschriebenen Beamten ab, ferner Lohnarbeiter, die stets und überall verhältnismäßig leicht beweglich sind, sondern auch recht zahlreiche Angehörige der grundbesitzenden Klassen. Eine Statistik dieser Rückwanderung scheint nicht vorhanden zu sein, und es ist vorläufig unmöglich, ihren Umfang auch nur annähernd richtig abzuschätzen. Keineswegs aber gehen an die neugebildeten Staaten im Osten (mit Ausnahme von Danzig) so viele Deutsche verloren, als dort bei der Volkszählung von 1910 ansässig waren.

In den ohne Abstimmung an Polen fallenden Gebieten lebten damals ungefähr 1 230 000 Deutsche, im Danziger Staatsgebiet 310 000, im verlorenen Teil des Memelgaues 68 000 und in den östlichen Abstimmungsgebieten etwa 1 185 000, zusammen 2 793 000.

In den an Frankreich und Belgien gefallenen Gebieten gab es im Jahre 1910 ohne Militär rund 1 610 000 Personen mit deutscher Muttersprache, im schleswigischen Abstimmungsgebiet deren 125 000. Die Zahl der Deutschen in allen Abtretungs- und Abstimmungsgebieten beträgt somit rund 4½ Millionen.

Das Saarland dürfen wir einstweilen überhaupt noch nicht als Verlust buchen; und wenn sich seine Bevölkerung nach 15 Jahren über ihre staatliche Zugehörigkeit zu entscheiden haben wird, so ist der Anschluß an Frankreich doch nicht wahrscheinlich. Ob es dann zu dauernder Errichtung eines Saarstaates oder zum Anschluß an das Deutsche Reich kommt, wird in der Hauptsache von der Gestaltung der innerpolitischen und wirtschaftlichen Verhältnisse bei uns abhängen. Die Monarchie ebenso wie der Kommunistenstaat werden die Saarländer vom Wiederanschluß an Deutschland ganz gewiß abhalten.

Die Neugestaltung der Grenzen im Gebiete des ehemaligen Habsburger Reiches hatte keine bedeutenden nationalen Wanderungen zur Folge. Die Deutschen der Sudetenländer (Böhmen, Mähren und Böhmisch-Schlesien) sind seit langer Zeit an die politische und wirtschaftliche Gemeinschaft mit den Tschechen gewöhnt, landesfremde Beamte gab es dort praktisch nicht [47] und die jammervolle wirtschaftliche Lage Österreichs ist für die Sudetendeutschen kein an Wien anziehender Zustand. [Scriptorium merkt an: diese idealistische, auf Siegerversprechen gegründete Annahme hat sich bald hierauf grundlegend geändert – vgl. z. B hier!] – Die Deutschen im Oberetsch-Gebiet (Südtirol) sind allergrößtenteils Bauern, deren Vorfahren seit undenklicher Zeit im Lande waren. Sie verlassen den Heimatboden unter keinen Umständen. Die Bevölkerung des neuen Österreich beträgt, nach den Ergebnissen der Volkszählungen von 1910 berechnet, etwa 6 700 000. Sie besteht fast durchweg aus Deutschen, denen die eingedeutschten Slawen Wiens und anderer Städte zuzuzählen sind. In West-Ungarn wurden unbedeutende kroatische und madjarische Minderheiten Österreich einverleibt, im Süden bleiben kleine slowenische Minderheiten auf österreichischem Gebiet.

Nimmt man den nicht zu erwartenden günstigsten Fall an, daß sämtliche Abstimmungsgebiete bei Deutschland verbleiben und betrachtet man das Saarland, Luxemburg und Danzig als selbstverwaltende deutsche Staaten, so gäbe es künftig, ohne Bedachtnahme auf die Rückwanderung, in Europa 11¼ Millionen Deutsche unter fremder Staatshoheit; nämlich:

in Frankreich 1 500 000
in Belgien 115 000
in Italien 230 000
im serbo-kroatischen Staat 700 000
in Rumänien 900 000
in der böhm.-slow. Rep. 3 500 000
in Ungarn 250 000
in Polen 2 200 000
in den drei baltischen Staaten 270 000
in Rußland 1 600 000

Außer diesen 11¼ Millionen Deutschen unter fremder Staatshoheit in Europa gibt es in den Vereinigten Staaten von Amerika fast 9 Millionen Personen mit deutscher Muttersprache, in Kanada mindestens 100 000, in Brasilien 400 000, in Argentinien 100 000. Überall sonst ist deutsches Volkstum verhältnismäßig schwach vertreten.

Ob die in den nächsten Jahren zu erwartende Auswanderung sehr umfangreich sein wird, entzieht sich einstweilen der Beurteilung. Immerhin darf man annehmen, daß die südlichen Staaten Südamerikas eine erhebliche Zahl deutscher Zuwanderer aufnehmen werden, womit der Einfluß deutschen Wesens dort eine Verstärkung erfahren wird.

Wichtiger als das ist die Wahrung deutscher Kultur in jenen Staaten Europas, wo Deutsche eine ansehnliche Bevölkerungsminderheit bilden. Sie müssen eine geistige Einheit bilden mit uns und den Deutschen in den Kleinstaaten, die ausschließlich oder überwiegend deutsche Bevölkerung haben. Dann werden sie nicht verloren sein, nicht verloren gehen können. Ein weit festeres Band als jemals in der Vergangenheit soll in Zukunft uns alle umschließen. Zeigen wir den anderen Völkern einmal, daß politische Grenzen den inneren Zusammenhalt unseres Volkstums nicht lösen können und zeigen wir ihnen überdies den Weg, der zur Befreiung der Völker vom nationalistischen Irrtum führt, von dem Irrtum, der in der zentralisierten Staatsmacht eines Volkes dessen höchstes Ziel erblickt, wobei es nur allzuleicht [48] dazu kommt, den Blick von seinen allgemein kulturellen Aufgaben abzuwenden. Setzen wir in Zukunft nicht mehr Politik an die Stelle der Kultur, wie es in der jüngsten Vergangenheit in Nachahmung romanischer Auffassungen geschehen ist. Das auf viele Staaten verteilte deutsche Volk ist besser imstande als jedes andere, die Kulturmenschheit zu übernationalem Denken zu erziehen, ihr aus den Engen des Nationalismus heraus und zu den Höhen wahrer Menschlichkeit hinan zu helfen, zu einer Weltanschauung, die bei aller Wahrung völkischer Eigenart nicht mehr "fremd" und "feindlich" als gleichbedeutend gelten läßt. So legen wir die Grundlage zum kommenden wahren Völkerbund!






Deutsche in der Fremde.
Eine Übersicht nach Abschluß des Weltkrieges.

Hans Fehlinger