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Versailles 1871

Der Krieg von 1870 war im Gegensatz zu den beiden vorausgehenden nicht vom Sieger herbeigeführt; aber er war erwartet und nicht nur militärisch vorbereitet. Die intimen Beziehungen zu Rußland, die Bismarck schon vier Jahre früher eingeleitet hatte, bürgten dafür, daß Österreich nicht sogleich eingriff, und für das Weitere sorgten die deutschen Waffen. Man hatte den Gegner im Kampfe isoliert und besaß damit die erste Voraussetzung für den erfolgreichen Friedensschluß. Dieser Vorteil ist auch weiterhin nicht verloren gegangen. Den Frieden von Versailles hat der Sieger anders als 1866 ohne jede fremde Einmischung abschließen können.

Was er fordern würde, war in großen Umrissen vom ersten Tage an kein Geheimnis. Das Kriegsziel brauchte man diesmal nicht erst zu suchen, es ergab sich aus der Geschichte. Um was handelte es sich denn? In letzter Linie um das Übergewicht, das Frankreich seit Jahrhunderten über Deutschland ausgeübt, mit dem es seine inneren und äußeren Geschicke beeinflußt hatte und jetzt die Vollendung seiner Einheit zu hindern suchte. Dieses Übergewicht bestand seit den Tagen des Westfälischen Friedens und Ludwigs XIV., es beruhte auf der Eroberung des Elsaß und Lothringens durch Frankreich, das von Metz aus das Rheinland, von Straßburg aus den Oberrhein und ganz Süddeutschland in Schach hielt. Seit diese beherrschenden Punkte in den Händen Frankreichs waren, lag der Westen und Süden Deutschlands beständig unter den französischen Kanonen. Insbesondere waren die süddeutschen Staaten durch diese stete Bedrohung in ihrer freien Entschließung auch in nationalen Fragen behindert. "Der Keil" – so hat es Bismarck am 2. Mai 1871 im deutschen Reichstag anschaulich gemacht – "der Keil, den die Ecke des Elsaß bei Weißenburg in Deutschland hineinschob, trennte Süddeutschland wirksamer als die politische Mainlinie von Norddeutschland." Wenn dieser Zustand ein Ende nehmen und Deutschland seine Freiheit wieder gewinnen sollte, mußte Frankreich die bisher eingenommenen Stellungen verlieren. In geistvoller Prägnanz sprach Leopold Ranke [68] den Sinn des Kampfes aus, als er zu Thiers sagte: "Wir kämpfen gegen Ludwig XIV."

Der öffentlichen Meinung Deutschlands war diese reale Notwendigkeit nicht ebenso klar; sie beurteilte die Frage vielfach mehr gefühlsmäßig. Das Elsaß, die Heimat von soviel großen deutschen Erinnerungen und Taten, Straßburg, die Stadt Erwins von Steinbach und Jakob Sturms, die Stadt, wo der junge Goethe studiert hatte, galten noch immer für Eigentum des deutschen Volkes, das unter der Ungunst der Zeiten nur vorübergehend verloren gegangen war. Man hielt sie für deutsch von Rechts wegen und übersah geflissentlich, daß sie es nicht mehr sein wollten, daß das Elsaß wohl noch deutsch sprach, aber französisch dachte und fühlte. Daß die Wiedererwerbung nach dem Sturze Napoleons I. unterblieben war, betrachtete man als eine der empfindlichsten Verkürzungen, die dem opfermutigen und siegreichen Deutschland durch ausländische Ränke auf dem Wiener Kongreß zugefügt worden waren. Wenn das Schicksal den deutschen Waffen einen zweiten Sieg über Frankreich beschied, mußte dieses Versäumnis vor allem gutgemacht werden.

In diesem Sinne hat die deutsche Nation gleich bei Kriegsbeginn ihre Stimme laut erhoben. Ja, noch ehe die Kriegserklärung ausgesprochen war, als man das Herannahen des Sturmes eben spürte, ist bereits das Schlagwort "Elsaß-Lothringen" gefallen. Am 13. Juli, dem Tage der Emser Depesche, schrieb die Berliner Börsenzeitung: "Noch hat kein deutsches Blatt die Kriegseventualitäten erwogen, noch ist der Name von Elsaß und Lothringen nicht ausgesprochen, während es doch sicher nach einem siegreichen Feldzug gegen Frankreich keinem Deutschen als möglich erscheinen würde, Straßburg noch eine französische Stadt bleiben zu lassen." Solche Äußerungen wiederholten sich in den folgenden Tagen und Wochen, während die deutschen Waffen von Sieg zu Sieg schritten, in zunehmender Stärke und Zahl. Ohne Unterschied des Stammes und der Partei, in Nord und Süd, in liberalen und konservativen, protestantischen und katholischen Kreisen war die ungeheure Masse der Nation einig in dieser einen Forderung: Elsaß und Lothringen müssen wieder deutsch werden. Sie sollten der Siegespreis, ihre Erwerbung der Rechtstitel auf die deutsche Kaiserkrone sein. "Der, welcher diesen Krieg siegreich zu Ende und Elsaß-Lothringen wieder zu Deutschland bringt, soll deutscher Kaiser sein," – so faßte eine Münchener Korrespondenz des Schwäbischen Merkur vom 10./13. August die allgemeine Anschauung zusammen. Besonders bestimmt und scharf geformt erscheint die Forderung in einem Aufsatz der Augsburger Allgemeinen Zeitung vom 19. August: "Das Blut unserer Heldenbrüder, [69] die Opfer des Vaterlandes, das Bedürfnis endlicher Ruhe vor dem unersättlichen Übermut unseres Nachbarn fordern seine Schwächung in dem Grade, daß er uns nie mehr zu ähnlichen Opfern zwingt. Nur mit den Garantien des Friedens in der Hand, mit Straßburg, Elsaß und Lothringen wird Deutschland die siegreichen Waffen ruhen lassen und dem Feind in seiner eigenen Hauptstadt den Frieden bewilligen." Der Nationalverein nahm sich bald der Sache an. In Volksversammlungen in Berlin, Stuttgart, München usw. wurden in diesem Sinne Beschlüsse gefaßt, Adressen angenommen. Heinrich von Treitschke und Adolf Wagner, die gleichzeitig (in den ersten Septembertagen) mit ihren noch heute interessanten Schriften hervortraten, sprachen denn auch nur aus, was alle Welt längst dachte.

Es versteht sich von selbst, daß Bismarck diese Bewegung gern sah und mit ihr vollkommen einig war. Mehr noch als das. Er ließ ihr nicht nur freien Lauf, wo er sie hätte hindern, hemmen, auch ersticken können; er hat sie, wie sicher nachzuweisen ist, energisch gefördert und dem rennenden Pferde noch die Sporen gegeben. Die Tagebuchblätter seines Preßadjutanten Moritz Busch berichten häufig von Artikeln für die Zeitungen über die Notwendigkeit, Elsaß und Lothringen zu behalten. Am 28. August notiert Busch: "Ich erfuhr und durfte andere erfahren lassen, daß der Entschluß, von Frankreich Landabtretungen zu erzwingen, noch vollkommen feststand, und daß man unter keinen anderen Bedingungen Frieden schließen würde." Noch am gleichen Tage verfaßte er einen längeren Aufsatz, der am 31. August in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung erschien, über die Frage, "unter welchen Bedingungen Deutschland mit Frankreich Frieden schließen kann". Die Antwort lautet: Frankreichs Angriffskraft muß geschwächt, Deutschlands Verteidigungskraft gestärkt werden. "Die Frucht unserer Siege kann nur in einer faktischen Verbesserung unseres Grenzschutzes gegen diesen friedlosen Nachbarn sein. Insbesondere Süddeutschland durch haltbare Grenzen sicherzustellen, ist unsere jetzige Aufgabe. Sie erfüllen, heißt Deutschland ganz befreien, heißt den Befreiungskrieg von 1813 und 1814 vollenden. Das Mindeste also, was wir fordern müssen, das Mindeste, womit die deutsche Nation in allen ihren Teilen, vorzüglich aber unsere Stamm- und Kampfgenossen jenseits des Mains sich befriedigt erklären können, ist die Abtretung der Ausfallspforten Frankreichs nach der deutschen Seite hin, die Eroberung von Straßburg und Metz für Deutschland.... Was wir brauchen, ist Erhöhung der Sicherheit deutscher Grenzen. Letztere aber ist nur erreichbar durch Verwandlung der beiden uns bedrohenden Festungen in Bollwerke zu unserem Schutze: Straßburg und Metz müssen aus französischen Aggressivfestungen deutsche Defensivplätze werden."

[70] Es bedürfte gar nicht erst der Mitteilung, daß der Aufsatz "vom Chef sanktioniert" worden; jeder Satz in ihm ist Bismarckisches Geistesgut. Um so bemerkenswerter, daß darin ein Gedanke völlig fehlt, der sonst in der deutschen Öffentlichkeit voranzustehen pflegte: vom deutschen Elsaß, dem alten Reichsland, ist mit keinem Wort die Rede. Davon hat Bismarck auch sonst nie gesprochen. Den herrschenden Irrtum, das Elsaß als deutsch anzusprechen und für Deutschland in Anspruch zu nehmen, weil es einmal zum Deutschen Reich gehört hatte, hat Bismarck nicht geteilt. Er sah lediglich die militärpolitische Seite, diese aber in aller Klarheit, und betonte sie stets mit größter Schärfe, damals und später.

Er hatte nicht immer so gedacht. In der Jugend hatte auch er, wie er in seinen Erinnerungen erzählt, beim Blick auf die Landkarte sich über den französischen Besitz von Straßburg geärgert und gelegentlich in Straßburg selbst zu einem Franzosen gesagt: "Dieses Land war unser und muß wieder unser werden." Es war wohl auch nur der Ausdruck dieses allgemeinen nationalen Empfindens, wenn er nach 1848 schrieb: "Ich hätte es erklärlich gefunden, wenn der erste Aufschwung von Kraft und Einheit sich damit Luft gemacht hätte, Frankreich das Elsaß abzufordern und die deutsche Fahne auf den Dom von Straßburg zu pflanzen." Seitdem hatte er anders urteilen gelernt. Man geht wohl nicht fehl, wenn man einer Unterredung, die er im Jahre 1855 mit dem König Wilhelm I. von Württemberg hatte, einen entscheidenden Einfluß auf sein Urteil in dieser Frage zuschreibt. Er hat sie wiederholt öffentlich erwähnt, so daß man erkennt, welchen Eindruck sie ihm hinterlassen hatte.1 Da hatte ihm der König gesagt: "Geben Sie uns Straßburg, und wir werden einig sein für alle Eventualitäten; solange Straßburg aber ein Ausfallstor ist für eine stets bewaffnete Macht, muß ich befürchten, daß mein Land überschwemmt wird von fremden Truppen, bevor mir der deutsche Bund zu Hilfe kommen kann... Der Knotenpunkt liegt in Straßburg, denn solange das nicht deutsch ist, wird es immer ein Hindernis für Süddeutschland bilden, sich der deutschen Einheit, einer deutsch-nationalen Politik ohne Rückhalt hinzugeben."

Dieser Gedanke kehrt in allen Äußerungen Bismarcks über die Annexion von Elsaß-Lothringen wieder. Sehr deutlich heißt es schon in dem Aufsatz der Provinzial-Korrespondenz vom 31. August 1870, der sich im übrigen die von der Nation so lebhaft geäußerten Wünsche ganz aneignete: "So tief der deutsche Patriotismus allezeit den Verlust jener alten Reichslande empfunden hatte, so würde doch ohne Frank- [71] reichs erneute übermütige Herausforderung niemand in Deutschland auch bei der zuversichtlichsten Erhebung des nationalen Strebens daran gedacht haben, auf jene Frage zurückzukommen. Der jüngste Friedensbruch allein und die bei demselben hervorgetretene schwere Gefährdung der süddeutschen Grenzen haben den Blick ganz Deutschlands unwillkürlich von neuem auf Elsaß und Lothringen richten müssen... Aber jetzt ist es nicht Lust an Eroberung oder der Wunsch nach Ausdehnung der deutschen Grenzen..., was jenen einmütigen Kundgebungen zugrunde liegt: Dieselben beruhen vielmehr... vorzugsweise auf dem festen Willen, durch Wiederherstellung der wirklichen natürlichen Grenzen die Verteidigung Süddeutschlands gegen die Wiederkehr französischer Anfälle besser als bisher sicherzustellen." Die Notwendigkeit, Deutschland gegen französische Angriffe zu schützen, ist auch der einzige Grund, mit dem Bismarck vor dem deutschen Reichstag am 2. Mai 1871 die Annexion rechtfertigte. Damals war es, daß er sich – übrigens nicht zum ersten Male – auf die Äußerungen König Wilhelms von Württemberg berief. Zwei Jahre später, am 16. Mai 1873, sagt er: "Lediglich die Rücksicht auf unsere Sicherheit hat uns geleitet"; und am 30. November desselben Jahres: "Wir haben die Länder genommen, damit die Franzosen bei ihrem nächsten Angriff... die Spitze von Weißenburg nicht zu ihrem Ausgangspunkt nehmen, sondern damit wir ein Glacis haben, auf dem wir uns wehren können, bevor sie an den Rhein kommen." Noch im hohen Alter, nach dem Abschied vom Amt, spricht er ebenso, wenn er etwa am 24. Juli 1892 zu den ihn besuchenden Württembergern sagt, wiederum unter Berufung auf ihren alten König: "Solange Frankreich das Elsaß besaß, war Straßburg mit seiner starken französischen Besatzung stets eine drohende Gefahr, gegen die wir uns militärisch nicht genug wehren konnten." Oder am 17. April zu den Darmstädtern: "Die Elsässer irren sich immer in der Ansicht, daß wir aus unerwiderter Liebe zu ihnen sie hätten haben wollen. Wir brauchten das Glacis vor uns und die weitere Entfernung der Einbruchsstationen. Wir mußten das haben, wenn wir nicht unter demselben Druck bleiben wollten, wie wir es Jahrhunderte hindurch gewesen sind, daß die Ecke von Weißenburg bis nach Stuttgart und Darmstadt hin drohte." Ebenso zu den Kölnern am 24. April 1895: "Die ganze Erwerbung des Elsaß und Lothringens geschah ja nicht aus Liebe..., sondern sie war für uns ein rein geographisches Bedürfnis, den Ausgangspunkt der französischen Angriffe weiter wegzurücken, daß man sich wenigstens ausrüsten kann, ehe sie bis Stuttgart vordringen."

In diesen wiederholten und bei großem Zeitabstand sich so auffallend gleich bleibenden Äußerungen darf man so etwas wie ein politisches Axiom erblicken, das höchst bezeichnend ist für die Bismarck eigentüm- [72] liche Art, politische Fragen vor allem geographisch zu betrachten. Wir dürfen also ohne weiteres annehmen, daß er 1870 in den Krieg gezogen ist in der festen Absicht, daß der Sieg dem deutschen Volk zugleich mit der Einheit den Besitz von Elsaß und Lothringen bringen müsse. Wenn er am 20. Dezember 1866 im Abgeordnetenhaus gesagt hatte: "Wir haben bei einem Kriege mit Frankreich, selbst bei einem glücklichen, nichts zu gewinnen," so weiß man, was man davon zu halten hat.



In Deutschland für die Eroberung von Elsaß und Lothringen Stimmung zu machen, war überflüssig. Wenn Bismarck das trotzdem unterstützte, wenn er auch die englischen Zeitungen in gleichem Sinne beeinflussen ließ – in den Daily News vom 20. August stand z. B. eine Betrachtung, die unverkennbar auf Bismarck zurückgeht, daß die einzige Sicherheit gegen französische Rheingelüste die Wegnahme des Elsaß sei – so war die Absicht dabei, seine diplomatische Arbeit zu unterstützen, die schon überraschend früh eingesetzt hatte. Seinem König hatte er den Gedanken, die deutsche Grenze nach Westen vorzuschieben, amtlich zuerst am 14. August vorgetragen, also schon zu einer Zeit, wo auf dem Schlachtfeld noch keine Entscheidung gefallen war. Drei Tage nach der Schlacht bei Gravelotte, am 21. August, brachte er dem Kronprinzen von Sachsen den Gedanken in klug berechneter Fassung nahe. Der Krieg, sagte er, müsse positive Resultate ergeben, sonst würde das monarchische Prinzip geschädigt. Als solche bezeichnete er Abtretung von Elsaß und Deutsch-Lothringen. Diese Länder sollen im Besitz von Gesamtdeutschland verbleiben; dadurch werde sich ein näheres Verhältnis von Nord und Süd am natürlichsten herstellen lassen. Noch früher hatte er begonnen, das Ausland auf seine Pläne vorzubereiten. Recht schonend und vorsichtig geht er dabei zu Werke. Am 11. August schon hatte Busch eine chiffrierte Depesche zu diktieren – er sagt nicht, wohin, aber man errät, daß Petersburg die Adresse ist –, "man werde sich unsererseits mit dem etwaigen Sturze Napoleons nicht begnügen können". Am 15. August wurde er deutlicher. Da sah Busch "ein nach Osten bestimmtes Telegramm, in welchem es hieß, daß wir, 'wenn es Gottes Wille', das Elsaß behalten würden". Am 30. August schrieb der König selbst darüber an den Zaren.

Dann kam die Schlacht bei Sedan, die Gefangennahme Napoleons, der völlige Zusammenbruch des bonapartistischen Kaisertums. Nun wurde es Zeit, offen mit den geforderten Friedensbedingungen hervorzutreten. Am 6. September sagte Bismarck zu Keudell: "Wir werden nun bald daran denken müssen, die Mächte darauf vorzubereiten, daß wir ohne Straßburg und Metz nicht Frieden machen können. Nicht um Elsaß und [73] Lothringen wieder an Deutschland zu bringen, sondern nur, um den Franzosen einen neuen Angriffskrieg zu erschweren, müssen wir die beiden Festungen besitzen... Der König hat auch schon... in diesem Sinne an den Kaiser von Rußland geschrieben, um ihn vertraulich vorzubereiten; wir werden aber bald auch amtlich an Rußland und die anderen Mächte herangehen müssen." Daraufhin entwarf Keudell zwei Rundschreiben an die preußischen Vertreter im Ausland "über die unerläßlichen Basen des Friedens". Nachdem Bismarck sie durchgesehen, gingen sie am 13. und 16. September ab. Im ersten hieß es, man sei "gezwungen, materielle Bürgschaften für die Sicherheit Deutschlands gegen Frankreichs künftige Angriffe zu erstreben, Bürgschaften zugleich für den europäischen Frieden, der von Deutschland eine Störung nicht zu befürchten hat... Wir können deshalb unsere Forderungen für den Frieden lediglich darauf richten, für Frankreich den nächsten Angriff auf die deutsche und namentlich die bisher schutzlose süddeutsche Grenze dadurch zu erschweren, daß wir diese Grenze und damit den Ausgangspunkt französischer Angriffe weiter zurücklegen und die Festungen, mit denen Frankreich uns bedroht, als defensive Bollwerke in die Gewalt Deutschlands zu bringen suchen." Im zweiten Rundschreiben wurde das deutlicher gemacht: "Solange Frankreich im Besitz von Straßburg und Metz bleibt, ist seine Offensive strategisch stärker als unsere Defensive bezüglich des ganzen Südens und des linksrheinischen Nordens von Deutschland. Straßburg ist im Besitze Frankreichs eine stets offene Einfallspforte gegen Süddeutschland. In deutschem Besitz gewinnen Straßburg und Metz dagegen einen defensiven Charakter."

Die Welt war schon gut vorbereitet, als sie am 6. September die erste Willensäußerung der neuen republikanischen Regierung Frankreichs erfuhr: "Nicht einen Zollbreit von unserem Lande, nicht einen Stein von unseren Festungen treten wir ab!" Die Antwort gab das europäische Orakel von damals, die Times, in einem Leitartikel vom 8. September. Sie erklärte, die Abtretung von Elsaß und Lothringen und die Zahlung von 40 Millionen Pfund Sterling wären maßvolle Friedensbedingungen, denen Frankreich gut täte sich zu unterwerfen. Die provisorische "Regierung der nationalen Verteidigung" in Paris glaubte selbst auch nicht, was sie sagte. Sie meinte nur, dem französischen Empfinden diese Pose schuldig zu sein. Ihre Erklärung vom 6. September sollte der Prolog zu der heroischen Notwehr sein, die sie zu – spielen gedachte. Denn etwas anderes haben die Klügeren unter den Regenten von damals nicht bezweckt, als sie ihr geschlagenes Land noch einmal in einen Kampf, einen militärisch vollkommen aussichtslosen Kampf peitschten. Zeit wollten sie gewinnen, in der Hoff- [74] nung, daß schließlich doch das Ausland sich einmischen und sie retten werde.

Sie richteten dabei ihre Blicke nach verschiedenen Seiten. Jules Favre und sein Gehilfe Chaudordy, wohl der fähigste diplomatische Kopf unter ihnen, schauten nach England, Thiers rechnete auf Rußland. Dieser siegte und setzte es durch, daß die Aktion, die er in persönlicher Rundreise an die Höfe Europas unternahm, wesentlich auf das Eingreifen Rußlands abzielte. Es ist heute müßig, darüber nachzusinnen, ob das umgekehrte Verfahren nicht richtiger gewesen wäre. Es wäre aller Wahrscheinlichkeit nach ebenso erfolglos geblieben wie das Unternehmen von Thiers. Denn nur ein geeintes Europa hätte sich erlauben können, dem Sieger in den Arm zu fallen, die Großmächte aber waren nichts weniger als einig. Nur Österreich unter Beust und in Italien die geschworenen Franzosenfreunde, wie König Victor Emanuel, waren bereit, Frankreich zu helfen. In London empfand man eine stille Genugtuung, den alten Rivalen und verdächtigen Freund so gründlich geschwächt zu sehen, und in Petersburg ersah man alsbald die glänzende Gelegenheit, das eigene Interesse zu fördern, indem man den Pariser Frieden von 1856, den England und Frankreich gemeinsam diktiert hatten, zerriß. In dem Augenblick, wo Fürst Gortschakow am 29. Oktober den Mächten ankündigte, daß Rußland sich unter den veränderten Verhältnissen nicht mehr an den Vertrag gebunden fühle, der ihm das Halten von Kriegsschiffen auf dem Schwarzen Meere verbot, war zwischen Rußland und England die offene Spaltung da und die Gefahr eines Dazwischentretens neutraler Mächte in der deutsch-französischen Auseinandersetzung bis auf weiteres gehoben.

Die Schwierigkeit bestand jetzt darin, den Partner zu finden, mit dem man Frieden schließen konnte, oder vielmehr, der auf die geforderten Bedingungen den Frieden schließen wollte. Bismarck wäre am liebsten mit Napoleon handelseinig geworden. Er hat ihm gleich bei der Gefangennahme eine Andeutung darüber gemacht, und als Napoleon ablehnte, nicht aufgehört, im geheimen und in unverbindlicher Weise mit der Kaiserin und ihrem Anhang zu verhandeln. Noch Ende Januar war er nicht abgeneigt, Napoleon in Frankreich wieder zur Macht zu verhelfen, ja er hielt seine Rückkehr damals einen Augenblick sogar für wahrscheinlich.2 In jedem Falle leistete ihm der Kaiser den unschätzbaren Dienst, gegenüber den republikanischen Machthabern als Schreckmittel zu wirken. Allemal wenn sie mit ihm unterhandelten, erschien [75] gleichzeitig auch ein Abgesandter von Chislehurst oder Wilhelmshöhe auf der Bildfläche. Schließlich aber mußte man sich doch mit den Republikanern abfinden, die nun einmal in Frankreich tatsächlich regierten.

Wir können hier die Verhandlungen übergehen, die nach zwei vergeblichen Anläufen im September und Anfang November, nach Belagerung und Beschießung von Paris, am 28. Januar 1871 zur Übergabe der Hauptstadt und zum Abschluß eines Waffenstillstands von drei Wochen führten. Der Waffenstillstand sollte die Möglichkeit zur Wahl einer Volksvertretung in Frankreich und Bildung einer regelmäßigen Regierung geben, mit der man abschließen konnte. Die bisherige Regierung war ja nur provisorisch und hatte keinerlei nachweisbaren Auftrag; sie hatte sich beim Umsturz der Kaiserlichen Gewalt im September sozusagen selbst ernannt. Sie war außerdem in der Frage, auf die es ankam, gespalten: Favre und Genossen, die alle Leiden der Belagerung in Paris gekostet hatten, erkannten die Dinge, wie sie waren, und waren bereit zur Unterwerfung unter das Schicksal. Hinter ihnen stand der bedeutendste staatsmännische Geist, den Frankreich damals hatte, der greise Thiers, der den Krieg schon im September für hoffnungslos und töricht gehalten hatte. Gambetta dagegen und die Seinen in Bordeaux, die "Delegation", zeigten sich noch jetzt entschlossen, den Krieg bis zum Äußersten fortzusetzen, um die Abtretung zu vermeiden. Es war zugleich und im Grunde wohl noch mehr eine Frage der zukünftigen inneren Politik: mit Gambetta hätte die radikale Republik gesiegt, mit Thiers die gemäßigte Richtung, und es blieb in diesem Falle noch unentschieden, ob Frankreich nicht in irgendeiner Form zur Monarchie zurückkehren würde.

Tatsächlich machte Gambetta auch den Versuch, sich die Macht zu sichern, indem er in einem Dekret vom 31. Januar eigenmächtig von dem Recht der Wahl zur Nationalversammlung alle Personen ausschloß, die unter dem Kaiserreich irgendeine staatliche Funktion ausgeübt hatten. Wenn es dabei blieb, war die Aussicht auf den Frieden gestört. Darum griff Bismarck ein. Gestützt auf den Wortlaut des Waffenstillstandsvertrags erklärte er, eine Versammlung, die nach dem Dekret Gambettas gewählt wäre, würde er nicht als Vertretung Frankreichs anerkennen. Damit war der Sturz des Tribunen erzwungen. Am 4. Februar legte er sein Amt nieder und überließ den Gemäßigten das Feld. Die Wahlen ergaben eine große Mehrheit für den Frieden, wie ihn der Sieger gebot. Thiers trat an die Spitze der Regierung und erhielt von der Nationalversammlung unbegrenzte Vollmacht. Am 20. Februar abends traf er in Paris ein, am 21. begannen im deutschen Hauptquartier zu Versailles die Verhandlungen, an denen als zweiter Delegierter Jules Favre teilnahm. Auf deutscher Seite erschien Bismarck allein.

[76] Er befand sich in einer Stellung, wie sie nur ganz selten in der Geschichte einem Staatsmann beschieden ist. Die Gründung des Deutschen Reiches war vollzogen, das Kaisertum verkündigt, eines wie das andere vom Ausland ohne jedes Besinnen sofort anerkannt worden. Indem die Regierung Frankreichs mit der Regierung des deutschen Kaisers vorbehaltlos zu verhandeln bereit war, vollzog auch sie die Anerkennung stillschweigend. Der Erbfeind selbst, der Hauptgegner der deutschen Einheit, unterwarf sich als Besiegter. Über Ludwig XIV. und Napoleon I. hatte Bismarck triumphiert. Er stand auf dem Gipfel der Erfolge, als er die Verhandlungen über den Frieden begann. Es sah aus, als könnte er die Bedingungen buchstäblich diktieren.

Es kam anders. Bismarck hat den Frieden nicht diktiert; so, wie er ihn am 26. Februar unterzeichnete, hat er die deutschen Forderungen nicht erfüllt. Wir brauchen sie nicht zu wiederholen: sie lauteten auf Elsaß und Deutsch-Lothringen mit Metz. So waren sie von Anfang an formuliert worden, nicht das mindeste Schwanken läßt sich in den öffentlichen Äußerungen Bismarcks bemerken,3 auch nicht die mindeste Andeutung, daß unter dem Elsaß etwas anderes zu verstehen sei als das ganze Gebiet, das in der Geschichte und im gleichzeitigen Sprachgebrauch des französischen Staates diesen Namen führte, also mit Einschluß der Stadt und Festung Belfort. Um jeden Zweifel an der Absicht zu heben, genügt die Karte, die bei den Friedensverhandlungen zugrunde gelegt wurde. Sie war seit dem September fertig und zeigte die künftige Grenzlinie, so wie man sie auf deutscher Seite verlangte, mit grüner Farbe eingezeichnet. Diese Linie umfaßte die beiden französischen Departements Oberrhein und Niederrhein (Oberelsaß und Unterelsaß) und die (lothringischen) Kreise Metz, Diedenhofen, Saargemünd, Chateau-Salins und Saarburg. Die Linie ist im Friedensschluß von Versailles nicht verwirklicht worden; ein kleines Mehr, das in Lothringen erworben wurde – es handelte sich um die Friedhöfe der Schlachten von Metz – hatte keine politische Bedeutung. Dafür wurde Belfort ausdrücklich von der Abtretung ausgenommen. Der Wortlaut der Urkunde läßt keinen Zweifel darüber, daß es sich hier um ein Zugeständnis, ein Zurückweichen Deutschlands handelt. Es heißt in Artikel I nach einer genauen Beschreibung des künftigen Grenzzuges: "Die Grenze ist, so wie sie vorstehend festgesetzt ist, mit grüner Farbe auf zwei gleichen Exemplaren der Karte von den 'Gebietsteilen, welche das Generalgouvernement des Elsaß bilden', vermerkt, die im [77] September 1870 in Berlin durch die geographische und statistische Abteilung des Großen Generalstabes veröffentlicht worden ist... Die angegebene Grenzlinie hat indessen mit Übereinstimmung beider kontrahierenden Teile folgende Abänderungen erfahren: im ehemaligen Mosel-Departement werden die Dörfer Marie aux Chênes bei St. Privat la Montagne und Vionville, westlich von Rezonville, an Deutschland abgetreten. Dagegen werden die Stadt und die Festungswerke von Belfort mit einem später festzusetzenden Rayon bei Frankreich verbleiben."

Über den Verlauf der Verhandlungen, die dieses Ergebnis zeitigten, besitzen wir, da sie durchweg mündlich geführt wurden, nur die späteren Erzählungen der Beteiligten. Bismarck hat sich darüber in einer Rede im deutschen Reichstag am 11. Januar 1887 geäußert, und es ist begreiflich, daß seine Worte die in Deutschland herrschende Vorstellung vorzugsweise beeinflußt haben. Sie lauten:

"Es war Herr Thiers, der mir sagte: 'Eines können wir nur geben, entweder Belfort oder Metz; wenn Sie beide haben wollen, dann wollen wir jetzt nicht Frieden schließen.' Ich war damals sehr in Sorge vor der Einmischung der Neutralen und hatte mich schon seit Monaten gewundert, daß wir nicht einen Brief von diesen bekamen. Ich wünschte dringend, daß Thiers nicht genötigt werden sollte, nach Bordeaux zurückzugehen, um vielleicht den Frieden wieder rückgängig zu machen. Ich habe mich darauf mit unseren militärischen Autoritäten und namentlich mit meinem vor mir sitzenden Freunde (gemeint ist Moltke) besprochen: Können wir darauf eingehen, eins von beiden zu missen? – und habe darauf die Antwort erhalten: Belfort ja! Metz ist 100 000 Mann wert; die Frage ist die, ob wir 100 000 Mann schwächer sein wollen gegen die Franzosen, wenn der Krieg wieder ausbricht, oder nicht. Darauf habe ich gesagt: Nehmen wir Metz!" Diese Darstellung hält keine Prüfung aus, sie ist im wesentlichen unrichtig. Bismarck hat sie zwar später sehr lebhaft verteidigt und sich darauf berufen, daß der vor ihm sitzende Feldmarschall Moltke ihm zweifellos "in irgendeiner, wenn auch schonenden und höflichen Form entgegengetreten sein würde", wenn er etwas Falsches gesagt hätte.4 Aber das kann nicht überzeugen. Moltke konnte mehr als einen Grund haben, die Darstellung Bismarcks hingehen zu lassen, selbst wenn er ihre Unrichtigkeit sofort durchschaute. Er konnte ebensowohl sich seiner eigenen Erinnerung – nach 16 Jahren, in einem Alter von 86 Jahren! – nicht mehr sicher genug fühlen, um öffentlich zu widersprechen. Sein Schweigen [78] deutet also durchaus keine Bestätigung der Darstellung Bismarcks. Dagegen erweisen Bismarcks Angaben sich als vollkommen unvereinbar mit dem, was wir von französischer Seite erfahren.5

Von dieser Seite besitzen wir die Darstellung, die Jules Favre in seiner Geschichte der "Nationalen Verteidigung" gegeben hat,6 nebst den Aufzeichnungen von Thiers, die nach allem, was man erkennen kann, überarbeitete Tagebuchnotizen sind.7 Beide Zeugen stimmen in allem Wesentlichen durchaus überein, nur schmückt Favre die Dinge rhetorisch stärker aus als der im ganzen sachlichere Thiers. Danach ist es ausgeschlossen, daß der Hergang so gewesen sei, wie Bismarck ihn 16 Jahre später dargestellt hat. In keinem Augenblick der Verhandlungen hat Thiers die Alternative "Metz oder Belfort" gestellt, niemals hat Bismarck sich gezwungen gesehen, unter beiden Plätzen einen zu wählen, da er beide nicht bekommen konnte. Deswegen mögen Einzelheiten, wie z. B. Moltkes Äußerung, Metz sei im Kriegsfalle 100 000 Mann wert, immerhin richtig sein.8 In der Hauptsache aber ist das Bild nicht richtig, in der Hauptsache ist Bismarck das Opfer einer höchst natürlichen Gedächtnistäuschung geworden, als er erzählen wollte, wie er dazu gekommen war, auf Belfort zu verzichten und Metz zu behalten.

Der wirkliche Verlauf der Verhandlungen war in Kürze folgender. Am 21. Februar hat Thiers die erste Besprechung mit Bismarck, der ihm mitteilt, was Deutschland fordert: Abtretung von Elsaß und Lothringen, Zahlung von 6 Milliarden Franken, Besetzung von Paris durch die deutschen Truppen, bis der Vertrag durch die Nationalversammlung in Bordeaux ratifiziert wäre. Thiers wehrt sich in allgemeinem Gespräch gegen diese Bedingungen; er hofft beim König persönlich ihre Milderung zu erwirken, wird auch am 22. Februar empfangen, aber ohne jeden Erfolg. Der König lehnt es ab, Geschäfte [79] mit ihm zu verhandeln. Etwas günstiger ist der Eindruck beim Kronprinzen, den Thiers ebenfalls aufsucht. Darauf geht er zu Bismarck, um die Besprechung fortzusetzen. Es handelt sich dabei zunächst um Metz und die 6 Milliarden. Thiers will Deutsch-Lothringen hergeben, aber Metz sucht er als ganz französische Stadt zu retten, und 6 Milliarden zu zahlen erklärt er für vollkommen unmöglich. Der Einmarsch der deutschen Truppen in Paris scheint bereits zugestanden; davon ist nicht mehr die Rede, so sehr die Franzosen ihm anfangs widerstrebt hatten. Der 24. endlich ist der entscheidende Tag. In der Geldfrage gibt jetzt Bismarck gleich zu Anfang nach: aus den sechs Milliarden werden fünf, und diese werden bewilligt. Auch Metz ist von den Franzosen innerlich schon aufgegeben, Thiers liefert in diesem Punkte nur noch ein Rückzugsgefecht. Dafür aber setzt er nun alle Kraft ein, um wenigstens Belfort für Frankreich zu erhalten. Zweieinhalb Stunden hat er darum gekämpft mit dem Aufgebot seiner ganzen Beredsamkeit. Im stillen gibt er sich keiner Täuschung darüber hin, daß er sich werde unterwerfen müssen, wenn der Gegner fest bleibe. Aber er versteht es, sich nichts davon merken zu lassen, indem er wiederholt erklärt, er werde einen Frieden, der die Abtretung von Belfort enthalte, nicht unterzeichnen. Er droht keineswegs mit Fortsetzung des Krieges, denn er weiß selbst, daß sie unmöglich ist, und verspricht sich deshalb von dieser Aussicht keine Wirkung. Aber er droht mit passivem Widerstand: "Ihr wollt Frankreich zugrunde richten, in seinen Finanzen, in seinen Festungen! Gut, so nehmt es lieber, verwaltet es, erhebt die Steuern! Wir ziehen uns zurück, und ihr werdet es zu regieren haben im Angesicht Europas, wenn Europa es erlaubt." Und nachher: "Ich unterzeichne sofort, wenn ihr mir Belfort zugesteht. Wenn nicht, so bleibt nichts übrig, nichts als die letzten und äußersten Konsequenzen, welcher Art sie auch seien." Da hat denn Bismarck schließlich nachgegeben. Er erklärt sich bereit, beim König für den Verzicht auf Belfort zu wirken.

Die Entscheidung hängt bei einer so rein militärischen Frage von Moltke ab. Sowohl dieser wie der König sind ausgegangen. Es vergehen Stunden, ehe sie zurückkehren.9 Bismarck hat unterdessen gespeist, die Franzosen haben seine Einladung abgelehnt und gewartet. Er kommt wieder; der König ist zurück, will aber ohne Moltke nichts entscheiden. Endlich wird Moltke gemeldet, und Bismarck hat mit ihm eine Besprechung unter vier Augen. Den Franzosen währt es lange, bis er erscheint, "mit befriedigter Miene": Moltke ist gewonnen, er [80] will auch den König herumkriegen. Nochmals drei Viertelstunden Wartens. Moltke kehrt zurück, Bismarck geht hinaus und bespricht sich ziemlich lange mit ihm. Dann erscheint er in der Tür: "Was ziehen Sie vor, den Einzug der deutschen Truppen in Paris, oder Belfort?" Ohne mehr als einen Blick mit Favre zu wechseln, ruft Thiers: "Belfort, Belfort!" Bismarck geht wieder zu Moltke hinaus, kommt zurück und teilt mit, daß der König auf Belfort verzichtet, wenn ihm dafür die Dörfer in Lothringen überlassen werden, in denen die Gefallenen aus den Schlachten bei Metz beerdigt sind. So ist man endlich um 9 Uhr abends einig.10 Für den folgenden Tag bleibt nur noch die Regelung von Nebenfragen und die Redaktion des Ganzen übrig. Wie gewöhnlich dauert das sehr lange, und wie gewöhnlich haben beide Teile sich über einander zu beschweren. Thiers sucht sehr begreiflicherweise noch im letzten Augenblick möglichst viel herauszuschlagen, und Bismarck, der schon tags zuvor leidend gewesen war, wird ungeduldig. Bei dieser Gelegenheit war es, daß er schließlich erklärte, er wolle lieber auf deutsch und durch einen Dolmetsch verhandeln. Abends ist der Vertrag vollendet, es fehlt nur noch die doppelte Ausfertigung, die bis zum nächsten Tage hergestellt wird. Am Sonntag, den 26. Februar, um 4 Uhr nachmittags, erfolgt die Unterzeichnung, an der neben Bismarck auch die Minister von Bayern, Württemberg und Baden teilnehmen.

Das ist die äußere Geschichte der Friedensverhandlungen von Versailles. Es ergibt sich aus ihr, daß die Preisgabe von Belfort erst ganz zuletzt erfolgte, als alle anderen Forderungen bereits zugestanden waren. Es ergibt sich weiter, daß der König und Moltke sich gegen sie gesträubt und Bismarck ihren Widerstand nicht ohne Mühe besiegt hat. In diesen Besprechungen unter vier Augen mag wohl auch erwogen worden sein, ob man nicht lieber Belfort behalten und auf Metz verzichten solle. Aber keine Spur deutet darauf, daß diese Möglichkeit den Franzosen gegenüber auch nur erwähnt worden ist. Dagegen scheint der König bereit gewesen zu sein, auf den Einzug der Truppen in Paris zu verzichten, wenn er Belfort bekäme; vielleicht daß ihm Bismarck diesen Gedanken, den er wohl von vornherein als aussichtslos erkannte, eingegeben hat, um ihm den allmählichen Verzicht auf Belfort zu erleichtern. Wie auch immer, Bismarck allein ist dafür verantwortlich, daß Belfort aufgegeben wurde. Er zuerst hat sich bestimmen lassen, diese Forderung fallen zu lassen, und er hat dann auch den König und Moltke dafür gewonnen. Beide haben unverkennbar widerstrebt. Wodurch es ihm gelungen ist, sie zu überzeugen, bleibt ein Geheimnis, da der Vorgang [81] sich unter vier Augen abgespielt und keiner der Beteiligten darüber Mitteilung gemacht hat. Aber wir sind doch in der Lage, den Gründen nachzugehen, die Bismarck selbst bewogen haben, zurückzuweichen und das Programm, das er seit einem halben Jahr festgehalten hatte, ganz zuletzt in einem wichtigen Punkte fallen zu lassen.



Dieses Programm war von allem Anfang an maßvoll gewesen, verglichen mit dem, was andere verlangten. General Gustav von Alvensleben z. B. wollte (am 23. August) ganz Nordfrankreich bis zur Marne behalten. Andere Generäle forderten noch bis zuletzt mehr, Roon z. B. zwei Drittel von Lothringen. Auch Bismarcks eigene Wünsche gingen im Anfang viel weiter als das, was er forderte. Im Gespräch mit Alvensleben gestand er: "Mein Ideal wäre eine Art Kolonie Deutschlands, ein neutraler Staat von 8–10 Millionen, wo es keine Konskription gibt, und dessen Steuern nach Deutschland fließen, soweit sie nicht im Innern gebraucht werden. Frankreich verlöre so die Gegenden, wo seine besten Soldaten herkommen, und würde unschädlich." Busch, der diese Äußerung überliefert, bemerkt gewiß richtig, Bismarck scheine die Verwirklichung seines Wunsches nicht für möglich zu halten. In der Tat rechnet der ganze Plan, der die französische Geschichte von mehr als 600 Jahren, die ganze Zeit seit Philipp II. August, dem Schöpfer der französischen Einheit und Großmacht, ausstreichen will, nicht mit einem unübersteiglichen Hindernis, dem Vorhandensein von Paris, das immer für alle Franzosen die Hauptstadt schlechthin bleiben würde. Und doch hören wir Bismarck noch am 30. Januar angesichts der Möglichkeit, daß Gambetta den Waffenstillstand verwerfe, die Bemerkung machen: "Auch gut! Eine kleine Mainlinie in Frankreich wäre mir nicht gerade unangenehm!" Aber er hat doch nicht das mindeste getan, um eine solche Spaltung herbeizuführen, und wenn er es auch nicht ungern sah, daß aus dem Volke heraus weitergehende Forderungen laut wurden, "damit man wenigstens was Ordentliches bekommt, wenn auch nicht alles, was man fordert", so ist er doch in seinen verantwortlichen Handlungen niemals auch nur um eines Fingers Breite über das hinausgegangen, was er als Notwendigkeit für Deutschland ansah: die Abtretung von Elsaß und Deutsch-Lothringen mit Metz.11 Wenn andere dafür eintraten, sich einen Teil der französischen Kolonien abtreten oder einige Kriegsschiffe ausliefern zu lassen, so hat er das keinen Augenblick in Erwägung gezogen. Er [82] durfte also schon der Wahrheit gemäß den französischen Unterhändlern versichern, daß er es für unpolitisch halte, Frankreich zur Verzweiflung zu treiben, daß er weitergehenden Forderungen in der Umgebung des Königs entgegengetreten sei und sich dadurch den Vorwurf zugezogen habe, er verliere die Schlachten, die Moltke gewonnen habe. Das erkannten schließlich auch die Franzosen an. Jules Favre stellt ihm das Zeugnis aus, er sei von allen Feinden Frankreichs vielleicht der am wenigsten feindselige. Was hat ihn nun bewogen, von dem Programm, das er für das Mindestmaß des Notwendigen gehalten und noch eben als maßvoll verteidigt hatte, im letzten Augenblick einen Schritt zurückzutreten?

Zunächst wird man nicht verkennen dürfen, daß ihm die Annexionen von Anfang an politisch keine Freude machten. Er hat sich dazu auch später bekannt. In der Reichstagsrede vom 11. Januar 1887 sagte er: "Ich bin schon – ich muß das aufrichtig sagen – 1871 nicht sehr geneigt gewesen, Metz zu nehmen, ich bin damals für die Sprachgrenze gewesen. Ich habe mich aber bei den militärischen Autoritäten erkundigt, bevor ich mich endgültig entschloß." Hier hat ihn seine Erinnerung nicht getäuscht. Keudell berichtet eine Äußerung von ihm vom 6. September 1870: "Mir ist zwar die Erwerbung von Lothringen politisch unerwünscht; aber die Generale halten Metz für unerläßlich, da es den Wert von wenigstens 120 000 Mann repräsentiert." Gegenüber Favre nannte er die gesamte Annexion eine peinliche Last, "une pénible corvée", aber notwendig für die Sicherheit des deutschen Landes. Von diesem Gedanken hat er sich so vollständig überzeugt, daß er nicht viel später (29. September) durch Busch gegen "die Torheit deutscher Zeitungen" schreiben läßt – gemeint war vor allem die Kölnische –, "vor der Beanspruchung von Metz und Umgegend deshalb zu warnen, weil man dort französisch spreche". Aber dann kamen doch auch für ihn Tage, an denen er geneigt war, anders zu urteilen. Der Krieg dauerte ihm zu lange, er wurde ungeduldig. Dazu kamen die Erfahrungen, die man mit der deutschen Verwaltung in den beanspruchten Gebieten schon während des Kriegszustandes gemacht hatte; es kamen die Wahlen zur Nationalversammlung, die jeden Zweifel darüber zerstreuten, daß die Bevölkerung dem Anschluß an Deutschland aufs heftigste widerstrebte. Da verstärkte sich auch bei Bismarck der Eindruck, daß diese Erwerbung "politisch unbequem" war, und ließ den Wunsch entstehen, sie wenigstens in möglichst engen Grenzen zu halten. Allgemein war damals die Vorstellung, und auch Bismarck hat sie geteilt, daß die zu überwindenden Schwierigkeiten in dem französisch redenden Lothringen größer sein würden als im deutschen Sprachgebiet. Das hat sich bald genug als Irrtum herausgestellt. Im Grunde begreiflich: [83] Franzosen lassen sich nun einmal leichter regieren als Deutsche. Aber das wußte man damals noch nicht, und so versteht es sich wohl, daß man, wenn es galt, die Forderungen zu ermäßigen, zunächst an das ganz französische Metz dachte.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß Bismarck kurz vor Beginn der Friedensverhandlungen sehr geneigt, ja, vielleicht darf man sagen, fast entschlossen gewesen ist, auf Metz zu verzichten. Er hat sich nach Bundesgenossen umgetan, die ihm helfen sollten, den Kaiser zu diesem Verzicht zu bestimmen, und hat dabei an den Kronprinzen und an den Großherzog von Baden appelliert. Am 10. Februar versicherte Abeken dem Großherzog, "Bismarck meine Metz nicht behaupten zu können. Er wolle die Gründe der Militärs für den Besitz der Festung nicht gelten lassen und sich mit der Schleifung der Werke begnügen, da man andere Orte als Grenzfestungen wählen könne." Der Kronprinz wird ihn dabei wohl unterstützt haben. Man hörte damals Worte von ihm, die annehmen lassen, er würde um eines schnellen Friedens willen zu jedem Zugeständnis bereit gewesen sein. Ob der Großherzog im gewünschten Sinne beim Kaiser gesprochen hat, ist nicht zu erkennen. Jedenfalls zog Bismarck in den Beratungen den kürzeren, die Ansicht der Generale, d. h. vor allem Moltkes, siegte, und er mußte die Verhandlung mit der Forderung von Metz eröffnen. Der Widerstand, auf den er dabei stieß, scheint ihn noch einmal auf seine früheren Gedanken zurückgebracht zu haben. Er dachte damals auf Metz zu verzichten, wenn Thiers etwa die geforderten 6 Milliarden bewilligte. Am Abend des 21. Februar äußerte er bei Tisch: "Wenn sie uns eine Milliarde mehr geben, könnte man ihnen Metz vielleicht lassen. Wir nähmen dann 800 Millionen und bauten uns eine Festung ein paar Meilen weiter zurück, etwa bei Falkenberg oder nach Saarbrücken hin – es muß dort noch einen geeigneten Platz geben. Da profitierten wir noch bare 200 Millionen. Ich mag gar nicht so viele Franzosen in unserem Hause, die nicht drin sein wollen. Es ist mit Belfort ebenso, auch dort ist alles französisch. Die Militärs aber werden Metz nicht missen wollen, und vielleicht haben sie recht." Natürlich hatten sie recht. Den "geeigneten Platz", den es dort außer Metz noch "geben muß", gibt es eben nicht, weder bei Falkenberg noch bei Saarbrücken, ganz abgesehen davon, daß eine noch so gute Festung an einer dieser Stellen den Weg die Mosel abwärts ins Rheinland offen lassen würde, den Metz versperrt. Auch der jetzt in elfter Stunde auftauchende Gedanke, vom Kaiser von Rußland angeregt, vom Großherzog von Baden nur schüchtern vertreten, daß man Luxemburg statt Metz nehmen könne, wurde nicht ernsthaft verfolgt. Es blieb bei Metz, am 23. Februar war es auch von den Franzosen zugestanden.

Aber alle Gründe, die in Bismarcks Augen gegen Metz gesprochen [84] hatten, ließen sich ebenso auch gegen Belfort geltend machen. Auch hier war die Bevölkerung ganz französisch, auch hier sprach lediglich das militärische Bedürfnis für die Erwerbung. Und hier war der Widerstand der Franzosen scheinbar unüberwindlich, sie drohten die Friedensverhandlungen an Belfort scheitern zu lassen. Dieser Eindruck war falsch. Thiers sowohl wie Favre waren entschlossen, alles zu unterschreiben, was man ihnen diktieren würde. Sie waren sogar auf viel härtere Bedingungen gefaßt gewesen und atmeten heimlich auf, als ihnen weder ganz Lothringen noch eine Beschränkung der französischen Armee zugemutet wurde, wie sie gefürchtet hatten. Unter diesen Umständen bewies Thiers ein erstaunliches Maß von Charakterfestigkeit, Selbstbeherrschung und Geschicklichkeit, als er es verstand, zweieinhalb Stunden wie ein Verzweifelter für die Erhaltung von Belfort zu kämpfen, das er innerlich schon verloren gegeben hatte, und damit seinem Gegner die Vorstellung beizubringen, es handle sich wirklich um Sein oder Nichtsein.12 Daß ihm dies gelang, erscheint allerdings heute, da wir in aller Ruhe die Lage prüfen können, auffallend. Hatte er doch sein Amt in Bordeaux am 19. Februar mit einer Rede angetreten, in der er sagte, es gäbe zurzeit "nur eine einzige, notgedrungene, notwendige, dringliche Politik": sobald wie möglich dem Kriege ein Ende zu machen. Aber die Tatsache besteht: er wußte den Eindruck zu erwecken, daß er ohne Belfort nicht Frieden schließen werde. Unter diesem Eindruck hat Bismarck sich entschlossen, nachzugeben und erst Moltke, dann auch den Kaiser zum Verzicht willig zu machen. Nur so glaubte er den Frieden herbeiführen zu können, und der Friede war ihm wichtiger als der Besitz von Belfort.

In der augenblicklichen Kriegslage war dieser Entschluß nicht begründet. Frankreich war wehrlos, ernsthaften militärischen Widerstand konnte es nicht mehr leisten. Allerdings wäre eine Fortsetzung des Kampfes, besonders in den Formen, die er voraussichtlich angenommen haben würde, auch den deutschen Truppen nicht leicht geworden, bei denen sich schon hie und da eine gewisse Kriegsmüdigkeit zeigte. Aber um dessentwillen etwas zu opfern, was man für notwendig hielt, dazu lag doch kein Grund vor. Es fragte sich nur: [85] was ist notwendig? Daß militärische Rücksichten bei Bismarck nicht ganz so stark ins Gewicht fielen wie bei Moltke, läßt sich denken. Sein Urteil dem der militärischen Autoritäten unterzuordnen, war Bismarck überhaupt nicht geneigt. Er hat, wie man in engeren Kreisen weiß, zeitlebens geglaubt, daß an ihm ein Generalstabschef verloren gegangen sei, und vieles spricht dafür, daß er sich darin nicht täuschte. Das Zeug zu einem großen Feldherrn hatte er wohl. Dieses Gefühl machte ihn gegen die Aussprüche der Militärs vom Fach im allgemeinen skeptisch. Vollends wo die militärischen Entschließungen auf das politische Gebiet einwirkten, hat er sich doch nicht gescheut, den ganzen Feldzugsplan seit dem 2. September wiederholt in Gegenwart Moltkes auf das schärfste zu tadeln. Dazu kam die andauernde gereizte Spannung, in der er sich seit Beginn des Krieges gegenüber den Spitzen der Armee befunden hatte und die schon im Herbst, dann nochmals gerade kurz vor Beginn der Friedensverhandlungen zu heftigen und sehr unerquicklichen Zerwürfnissen mit dem Chef des Großen Generalstabs geführt hatten. Man dürfte sich nicht wundern, wenn er nach allem, was vorausgegangen war, den Besitz von Belfort im Gegensatz zu den Generälen nicht für so wichtig gehalten hätte, um seinetwegen die Friedensverhandlungen scheitern zu lassen.13 Hat er doch noch am 27. Februar an seine Frau geschrieben: Wir haben "mehr erreicht, als ich für meine persönliche politische Berechnung nützlich halte". Eigentlich entscheidend aber war doch etwas anderes. Bismarck hat es selbst in der schon einmal angeführten Rede vom 11. Januar 1887 angegeben. Er nennt es die große Sorge vor der Einmischung "der Neutralen". Genauer hätte er sagen sollen: vor der Einmischung Englands.



In England hatte die öffentliche Meinung von Anfang an stark für das besiegte Frankreich Partei genommen. Sie folgte darin einem Instinkt, der schärfer war als die Erwägungen der liberalen Regierung, an deren Spitze Gladstone stand. Diese Männer sahen in Frankreich den alten Erbfeind, für dessen Bekämpfung England so oft die größten Anstrengungen gemacht hatte, das Frankreich der Vergangenheit, über dessen Sturz man sich heimlich freuen dürfe. Was sie nicht sahen, war das Deutschland der Zukunft, das eines Tages ein noch gefähr- [86] licherer Rivale werden konnte. Mit gekreuzten Armen wohnten sie dem Kampfe bei und verhinderten durch ihre Zurückhaltung, daß aus den geschäftigen Verhandlungen der unbeteiligten Mächte etwas anderes entstand, als eine Liga zur Wahrung der Neutralität. Darum ist die Darstellung, die Albert Sorel von der diplomatischen Geschichte des Krieges vom französischen Standpunkte aus gegeben hat, in ganzen Kapiteln nur eine beredte Anklage gegen England, das mit seiner gleichgültigen Haltung den Untergang Frankreichs verschuldet habe. Diese Haltung erklärte sich allerdings auch, wie wir wissen, aus der heimlichen, später offenen Spaltung der Großmächte wegen der orientalischen Frage. Aber diese Spaltung war eben im Begriffe, sich zu schließen, als die Friedensverhandlungen in Versailles begannen. Am 7. Februar hatte die Botschafterkonferenz in London sich vertagt, nachdem sie zu einer Einigung gekommen war. Am 13. März sollte sie wieder zusammentreten, um das Protokoll zu vollziehen. Inzwischen hatte auch Frankreich, das bis dahin durch das Ungeschick Jules Favres, freilich auch nicht ganz ohne Zutun Bismarcks, in London nicht vertreten gewesen war, einen Botschafter in der Person des Herzogs von Broglie dahin entsandt. Es war mit Sicherheit zu erwarten, daß dieser die Gelegenheit wahrnehmen würde, um für Frankreich offen und insgeheim zu werben und womöglich ein Einschreiten der Neutralen herbeizuführen. Ob ihm das nicht gelingen würde, konnte man nicht wissen. Bereits liefen aus Petersburg allerhand unerbetene gute Ratschläge ein: man möchte doch den Frieden nicht an einer elenden Geldfrage scheitern lassen, und ob es nicht besser wäre, Metz mit Luxemburg zu vertauschen.14

Mitten in diese Tage nun fiel eine Debatte im englischen Unterhause über die Haltung der Regierung gegenüber dem deutsch-französischen Kriege. Die Sprache der Abgeordneten war zum Teil äußerst heftig, sowohl gegenüber ihrer eigenen Regierung wie gegenüber Deutschland. Man hörte dabei Töne, daß man sich ganz in unsere Tage versetzt glaubt. [87] Gladstone und sein Staatssekretär des Auswärtigen, Lord Granville, mußten sich alle Schande sagen lassen, weil sie mit ihrer "stoischen Gleichgültigkeit", ihrer Auffassung der Neutralität, wonach "die Regierung nicht einmal eine Meinung haben dürfe", bewirkt hätten, daß der Einfluß von "this country" absolut gleich null geworden sei. "Wenn England," sagte der Chorführer Auberon Herbert, "in solcher Lage nicht furchtlos sprechen kann, wie mächtig auch die andere Nation sei, an die es sich wendet, so wäre es besser, seine diplomatische Vertretung aufzulösen und es der Presse und den Volksrednern zu überlassen, das auszusprechen, was dieses Land fühlt."

Äußerst scharf sprach Sir Robert Peel. Er warf der Regierung vor, sie habe es dahin gebracht, daß die englische Politik überall verachtet sei. "Ich schäme mich bei dem Gedanken, daß bei der Lektüre dieses Blaubuchs jeder Leser den tiefsten Schmerz empfunden haben muß, wenn er sah, welches die Politik der Regierung war." Laut erhob er den Ruf nach einer Politik der starken Hand (resolute policy); er sehnte sich nach Palmerston. Hatte Herbert nur die deutschen Friedensbedingungen getadelt – er hasse die gegenwärtige deutsche Politik, habe aber zuviel Achtung vor dem deutschen Volk, um nicht zu wünschen, daß es vor dem Unrecht dieser Annexionen bewahrt bliebe, die kein Gewinn, sondern ein Danaergeschenk seien –, so machte Peel kein Hehl daraus, daß er die Einigung Deutschlands unter einer Militärdespotie für eine europäische Gefahr halte. "Sie kann für Europa nichts Gutes bringen! Ich glaube nicht, daß sie dauern wird; ich denke, die Zeit wird bald kommen, wo wir sie wieder weggefegt sehen werden." Ein dritter Redner, Sir Henry Hoare, meinte, das geeinte Deutschland sei in seiner despotischen Staatsform ebenso gefährlich, wie Frankreich jemals gewesen. Es wird eine ausgedehntere Küste erstreben, es wird Holland und Helgoland haben wollen. Wenn Frankreich vernichtet (annihilated) und Deutschland gestärkt würde, so wäre England in zehn Jahren gezwungen, ohne Bundesgenossen für seine freie Verfassung zu kämpfen. Ein vierter endlich, Cochrane, meinte wenigstens unter Berufung auf das Wort Talleyrands (1814) "Europa braucht zu seinem Glück ein großes und starkes Frankreich": Wenn Preußen (!) Frankreich zu sehr demütige, würde die Grundlage für eine künftige große Gefahr gelegt. Der Antrag, den der erste Redner gestellt hatte, besagte: "Die Regierung hat die Pflicht, in Übereinstimmung mit anderen neutralen Mächten maßvolle Friedensbedingungen zu erwirken und jeden Vertrag zu verhindern, der die Unabhängigkeit Frankreichs gefährden oder die künftige Ruhe Europas bedrohen könnte."

Gladstones Antwort war ruhig und überlegen. Sie zollte dem glänzenden Mut, der wunderbaren Organisation und dem großen [88] Führergenie der Deutschen alle Anerkennung, fand aber auch, je mehr Großmut der Sieger beweise, desto besser würde es nicht nur für Frankreich und Europa, sondern auch für ihn selbst sein. Für eine erfolgreiche Vermittlung könne der geeignete Augenblick plötzlich eintreten. Der Kern der Rede war wohl in folgendem andeutungsreichen Satz enthalten: "So weit unsere Kenntnis reicht, wünschen die Kriegführenden nicht, daß wir durch einen verfrühten Versuch ihnen aus der Hand nehmen, was sie, wie es scheint, und, wie mich dünkt, mit Recht, für ihr eigenes Vorrecht halten: nämlich ihre Absichten untereinander auszugleichen. Ich zweifle nicht, sie hegen die Hoffnung, daß, im Falle, daß ihre Absichten sich unvereinbar erweisen, für die guten Dienste der neutralen Mächte Raum sein wird; aber ich denke, es ist ihre Meinung, daß diese guten Dienste ihnen nicht vor der Zeit aufgedrungen, sondern für eine spätere Phase aufgespart werden sollten." Man erwarte wohl, Bestimmteres von ihm zu hören, aber in der gegebenen Lage scheine es ihm besser, zu wenig als zu viel zu sagen. Den Schluß der Rede bildete eine großartige Periode: "Es wäre eine große und edle Auszeichnung für dieses Land, wenn es, ohne sich durch sein menschliches Empfinden zu einer Überschreitung der Grenzen seines Rechtes hinreißen zu lassen, in die Urkunde seiner Großtaten schreiben könnte, daß es ihm gelungen sei, wo nötig, zur Milderung der notgedrungen schweren und strengen Bedingungen beizutragen, die am Ende des Krieges einem der edelsten Länder Europas auferlegt werden müssen." Das klang doch alles so, als sollte gesagt sein: die englische Regierung wolle zunächst abwarten, ob die Parteien sich einigten, wenn dies aber nicht der Fall sei, als Vermittlerin eingreifen und Deutschland zu einer Herabsetzung seiner Forderungen nötigen. Der gegen die Regierung gerichtete Antrag konnte also zurückgezogen werden, da die Regierung selbst in Aussicht stellte, ihm zu entsprechen.



Das war am 17. Februar geschehen. Man kann sich leicht denken, daß Bismarck noch einigermaßen unter dem Eindruck der Londoner Reden stand, als er vier Tage später die Verhandlungen mit Thiers begann. Scheiterten sie, so durfte er erwarten, daß England seine guten Dienste anbieten, vielleicht im Verein mit einer oder mehreren anderen Mächten sie aufdrängen werde. Der übliche europäische Kongreß war dann die leicht vorauszusehende Folge. Das mußte vermieden werden. Es galt also, wenn möglich, mit den Franzosen zu einer Einigung zu gelangen. Mißriet sie, kehrte Thiers unverrichteter Dinge nach Bordeaux zurück, so war die Lage des Siegers voraussichtlich übler als vorher. Diese Erwägung dürfte den Ausschlag gegeben haben; man kann sich denken, daß sie auch bei Moltke und dem König entscheidend [89] wirkte. Sie schien eine volle Bestätigung zu erhalten, als am 25. Februar die Nachricht eintraf, daß die englische Regierung auf Veranlassung des französischen Botschafters Vorstellungen wegen der übertriebenen Höhe der Kriegsentschädigung mache. Das war fürs erste noch harmlos, aber es konnte der Anfang einer ernsthafteren Intervention sein. Es war entschieden glücklich, daß Bismarck sofort antworten konnte, die ursprünglich geforderte Summe sei bereits herabgesetzt und bewilligt worden.

Daß man in London überhaupt weiter zu gehen gesonnen sei, war nicht sehr wahrscheinlich. Seitdem haben wir aus der Biographie Gladstones erfahren, daß er persönlich schon seit dem Herbst gegen die Annexion von Elsaß und Lothringen hatte einschreiten wollen, daß er aber damit bei seinen Kollegen zweimal vollständig abgefahren war.15 Das konnte man damals so genau nicht wissen, und es wäre begreiflich, wenn man sich in Versailles gesagt hätte: lieber den Frieden ohne Belfort, ehe die Engländer sich ernstlich einmischen! Wir würden das auch heute als richtig anerkennen, wüßten wir nicht durch das eigene Geständnis der Franzosen, daß sie gar nicht gewillt waren, das Friedensgeschäft an der Abtretung von Belfort scheitern zu lassen. Da wir aber dies wissen, können wir nicht anders als urteilen, daß Bismarck, objektiv betrachtet, einen Fehler gemacht hat, als er den Franzosen Belfort beließ. Er war durch Thiers' persönliche Haltung getäuscht worden wie ein Kartenspieler, der nach der Miene seines Gegners einen Trumpf fürchtet, den jener gar nicht hat. Es ist schlechterdings nicht zu leugnen: der kleine Thiers, der nach Bismarcks Urteil "kein Diplomat" war, hat den großen Diplomaten Bismarck in einer Einzelheit besiegt.16



Daß mit der Preisgabe von Belfort ein Fehler gemacht worden sei, hat man in der ersten Zeit nach dem Kriege in unterrichteten Kreisen, keineswegs bloß in militärischen, oft hören können. In die Presse ist diese Kritik erst gedrungen im Jahre 1892 aus Anlaß der Caprivischen Militärvorlage. Gegen die offenen oder versteckten Vor- [90] würfe, daß er im Gegensatz zu Moltke die Reichsgrenze geschwächt habe, Vorwürfe, die jedenfalls starke Übertreibungen enthielten, hat Bismarck sich damals in gereiztem Ton verteidigt. Freilich ist er dabei nicht immer in Einklang mit den Tatsachen.17 Er hat bei dieser Gelegenheit unter anderem als "zweifellose Tatsache" behauptet, Moltke habe 1871 "auf Anfrage des Auswärtigen Amtes" Belfort "als ein unbedeutendes Hindernis" bezeichnet, "vor welchem man unter Umständen eine Division und selbst weniger stehen lassen könne, um es unschädlich zu machen". Das wird sich heute kaum mehr nachprüfen lassen.18 Sollte der Feldmarschall wirklich so geurteilt haben – man kann es sich schwer denken und müßte vor allem den Zusammenhang seiner Äußerung kennen, um sie richtig zu würdigen –, so haben die Ereignisse inzwischen gelehrt, daß er nicht unter allen Umständen recht hatte. Belfort ist, wie sich seit dem August 1914 gezeigt hat, keineswegs "ein unbedeutendes Hindernis", das man mit einer Division oder weniger im Schach halten kann, sondern ein gewaltiges Ausfalltor, von dem aus das Elsaß jeden Augenblick mit feindlichen Truppen überschwemmt und der Oberrhein bedroht werden kann, wenn nicht eine Armee zur Abwehr bereit ist. Bismarck ist also gründlich Lügen gestraft worden, wenn er 1893, als Caprivi diese Möglichkeit leise angedeutet hatte, ihm "Windbeutelei" vorwarf. Eine große feindliche Festung unmittelbar an der Grenze, in einer so unvergleichlich begünstigten Lage, durch starken Bergwall auf der einen, neutrale Staatsgrenze auf der anderen Seite vor Umgehung geschützt, ist unter allen Umständen nicht nur ein schwer überwindliches Hindernis, sondern eine unmittelbare Bedrohung. Wie schwer diese Bedrohung im Laufe des gegenwärtigen Krieges zeitweilig gewesen ist, wird die Öffentlichkeit erst künftig erfahren. Was schon heute jeder- [91] mann weiß, ist, daß es kaum möglich ist, den Krieg ganz vom Boden des Reiches fernzuhalten, solange Belfort eine französische Festung ist.

Es handelt sich aber nicht einmal nur darum, die Grenzen des Reiches gegen feindliche Überschreitung zu schützen, sondern auch darum, nach Bedarf dem Angriff durch einen Gegenangriff wirksam zu begegnen oder zuvorzukommen. Das hat Graf Caprivi im Dezember 1892 im Reichstag kurz, aber einleuchtend ausgeführt: "Wir haben nicht das Bedürfnis und werden es niemals tun, einen Krieg mit einer politischen Offensive zu beginnen... Aber wir haben, unserer Tradition entsprechend, das Bedürfnis, in der Lage zu sein, einen Krieg strategisch offensiv zu beginnen, also mit anderen Worten, nicht zu warten, bis man den Krieg auf unseren Boden trägt, sondern, soweit wir es können, den Schauplatz auf feindlichen Boden zu verlegen." Bismarck hat darauf nur erwidert: "Daß eine defensive19 Kriegführung Deutschlands gegen Frankreich, solange wir im Besitz von Metz und Straßburg sind und solange die Deckung durch das neutrale belgische und luxemburgische Gebiet besteht, nicht... das linke Rheinufer, sondern allein ein Teil des Elsaß den Schutz der deutschen Truppen entbehren würde." Damit ist eigentlich alles zugegeben, was die Kritiker des Friedensschlusses von 1871 vom militärpolitischen Standpunkt aus geltend machen. Es kommt nach Bismarcks eigenen Worten darauf heraus, daß Frankreich im Besitze von Belfort und nach Ausbau seiner Festungslinie an der Maas gegen einen deutschen Angriff geschützt, selbst aber in der Lage ist, deutsches Gebiet, und zwar gerade das Gebiet, das es erobern will, zu besetzen. Und selbst das gilt nur, solange für Deutschland die Deckung durch das neutrale belgische und luxemburgische Gebiet besteht. Die Folgen dieser Lage kennt heute jedes Kind: die neutrale Flankendeckung hat nicht ewig standgehalten, und Deutschland hat sich nicht nur, wenn es im Kriege mit Frankreich überhaupt die Möglichkeit eines Sieges haben wollte, sondern schon zu seinem eigenen Schutz, eines Tages genötigt gesehen, die formalen Rechte neutraler Nachbarländer beiseite zu setzen und das ganze Odium eines scheinbaren Rechtsbruchs auf sich zu laden. Es hat auch so noch immer nicht die beste der strategischen Möglichkeiten gewonnen. Denn es liegt auf der Hand, daß eine deutsche Offensive, die ihren Ausgang von Belfort nehmen kann, erheblich leichtere und sicherere Aussichten bietet, als eine solche von Belgien her. Während man bei siegreichem Vordringen von Norden den Gegner auf seine rückwärtigen Verbindungen zurückdrängt und den Quellen seiner Widerstandskraft nur näher bringt, würde man ihm beides durch einen ge- [92] lungenen Vorstoß von Belfort auf Dijon und Paris abschneiden und die Hauptstadt auf dem geradesten und bequemsten Wege bedrohen können.

Es mag wohl sein, daß man im Jahre 1871 auch an militärischen Stellen diese Gedanken noch nicht bis ans Ende verfolgt hat. Sie lagen damals gewiß nicht so an der Straße wie heute, wo wir es leicht haben, klüger zu sein, weil wir in die Schule herber Erfahrungen gegangen sind. Damals sah man sich noch nicht der schier unzerreißbaren Kette französischer Festungen und Sperrforts an der Mosel und Maas gegenüber. Toul und Verdun waren damals Plätze dritter Ordnung, Toul war schon nach einer halbtägigen Beschießung gefallen, Verdun, das man unterschätzt hatte, wehrte sich zuerst erfolgreich, kapitulierte aber freiwillig, als Vorbereitungen zu energischem Angriff getroffen waren. Daß der Schutz, den die Neutralität Belgiens dem Rheinland bot, einmal versagen könnte, das ahnte damals gewiß noch niemand, da hinter Belgien England stand, das man sich als tätigen Feind der Deutschen noch nicht vorzustellen gewohnt war. Und endlich ist es mehr als zweifelhaft, ob die verantwortlichen Stellen, Politiker wie Militärs, im Jahre 1871 mit der Möglichkeit, daß Deutschland, weil gleichzeitig im Osten angegriffen, bei einem Kriege mit Frankreich nicht seine volle Kraft werde einsetzen können, schon so weit rechneten, daß sie die Rüstung des Reiches darauf einrichteten. So erklärt es sich wohl, daß die berufenen Vertreter des Heeres nicht unbedingt auf dem Besitz einer Festung bestanden, die man allenfalls dem Gegner lassen konnte. So wird es sich auch erklären, daß bei der Umwandlung des Vorfriedens von Versailles in den definitiven Frankfurter Frieden die Bannmeile von Belfort auf das Drängen der Franzosen in einer Weise erweitert wurde, die den Fehler noch vergrößerte.20

Dennoch ist es nicht ungerecht und nicht ein billiger Treppenwitz, wenn man heute diese Gedanken geltend macht. Sie hätten auch damals schon auf deutscher Seite erwogen werden können, denn bei der Gegenpartei war wenigstens ihr Keim vom ersten Augenblick an vorhanden. Thiers wußte sehr wohl, warum er für Belfort kämpfte wie die Löwin für ihr Junges. "Belfort, c'est notre frontière de l'Est", schreibt er in seinen Aufzeichnungen, oder "Belfort, le point le plus important de cette frontière." Allen Ernstes fürchtete er, die Deutschen könnten es mit Belfort machen, wie es einst die Engländer mit Malta gemacht hatten, nämlich die Auslieferung unter Vorwänden verweigern, und er ruhte nicht, bis er erreicht hatte, daß Belfort nicht [93] der letzte Platz war, der geräumt wurde. Über die Bedeutung des Erfolges, der Thiers zu verdanken war, läßt sich Jules Favre in sehr bezeichnender Weise aus: "Außer dem unschätzbaren Gewinn, der preußischen Eroberung einige Meilen unseres Bodens und die Stadt entrissen zu haben, die sich durch eine ruhmreich ertragene Belagerung ausgezeichnet hat, gewannen wir eine kostbare Grenzlinie wieder; ein Schimmer des Trostes und der Hoffnung leuchtete in unserem Unglück." Der Sinn dieser Worte ist nicht mißzuverstehen: in dem Besitz von Belfort lag eine Möglichkeit, das Geschehene irgend einmal rückgängig zu machen, das Elsaß wiederzugewinnen.



Damit aber ist zugleich gesagt, daß der Verzicht auf Belfort auch im Sinne des Gedankens, der Bismarck bei dem Friedensschluß geleitet hatte, ein Fehler war. Bismarck hat sich oft und in mannigfachen Formen darüber ausgesprochen, warum er in Versailles nichts von der "Mäßigung" bewies, die man wegen Nikolsburg so sehr an ihm gerühmt hat; warum er auf der Ausnutzung des Sieges und den Annexionen unerbittlich bestand und alle Mahnungen zur Großmut kalt abwies. Es fehlte schon damals nicht an Leuten, die der Annexion widersprachen. Abgesehen von den Politikern der deutschen äußersten Linken, einem Jacoby, einem Bebel, die jede "Eroberung" verurteilten, abgesehen von den Engländern, die mit dem üblichen Augenverdrehen von einem "harten" Friedensschluß eine dauernde Gefährdung des europäischen Friedens befürchteten, und von den Dogmatikern, die sich vor jedem französisch redenden Reichseinwohner bekreuzten: eine Stimme wenigstens hat sich, erhoben, die den Mut hatte, sich von dem allgemeinen Chor der öffentlichen Meinung zu trennen, nicht aus Vorurteil oder Ängstlichkeit, sondern in klarer Erkenntnis der schweren Konsequenzen, die diese Erwerbung für die europäische Stellung Deutschlands haben mußte. Im Hamburgischen Korrespondenten veröffentlichte der Livländer Julius Eckardt im Oktober 1870 eine Aufsatzreihe "Für und wider das elsaß-lothringische Projekt". Klarer als andere wies er nach, daß es sich hier um eine Annexion handle, die Deutschland mit Notwendigkeit in die gehässige Politik gewaltsamer Germanisierung drängen und vor allem den latenten Kriegszustand zwischen Deutschland und Frankreich, die furchtbare Gefahr einer feindlichen Verbindung zwischen Frankreich und Rußland und damit die Abhängigkeit Deutschlands von Rußland zur unvermeidlichen Folge haben würde.

Daß die Stimme dieses Predigers in der Wüste zu Bismarcks Ohren gedrungen sei, ist kaum anzunehmen. Aber daß er nicht von selbst auf die gleichen Gedanken gekommen sein sollte, mochte auch sonst niemand sie auch nur begreifen, das be- [94] haupten, hieße ihm zu nahe treten. Er wird sich ebensowenig wie sein baltischer Kritiker – der übrigens seinem Standpunkt sein Leben lang treu geblieben ist – darüber getäuscht haben, daß der Schritt, den er vorhatte, Deutschland auf unabsehbare Zeit zwischen zwei Feuer stellte: brannte auf der einen Seite offen der französische Rachewunsch, so schwelte auf der andern im geheimen die russische Eroberungsgier. Wollte man dem französischen Feuer ausweichen, lief man die höchste Gefahr, dem russischen zu nahe zu kommen. Es war kaum zu vermeiden, daß in dieser Lage die Rücksicht auf Rußland stets in der ersten Reihe aller politischen Erwägungen des Deutschen Reiches würde stehen müssen, und daß es selbst bei der äußersten Aufmerksamkeit vielleicht nicht immer gelingen würde, die volle Freiheit in der Wahrung der eigenen Interessen zu behalten.

Daß dieser Zustand für Bismarck nicht verlockend gewesen sein kann, versteht sich von selbst. Aber er wich ihm nicht aus, und wir werden ihm auch heute, da wir die letzten blutigen Konsequenzen auszukosten haben, immer noch recht geben müssen. Was er so oft entwickelt hat, daß Frankreich in jedem Falle nach "Revanche" verlangen werde, ob es nun zu Abtretungen gezwungen würde oder nicht, und daß es sich folglich nur darum handeln könne, ihm die Erfüllung dieses Gelüstes so schwer wie irgend möglich zu machen, das wird heute noch mehr als vor 45 Jahren allgemein als richtig anerkannt.

Gewiß ist nicht zu leugnen, daß durch die Wegnahme von zwei wertvollen Provinzen das Rachebedürfnis ungeheuer gesteigert wurde. Aber ebenso sicher ist auch, daß durch diese Maßregel Deutschland stärker wurde als Frankreich, während es im umgekehrten Falle, so wie die Verhältnisse damals lagen, der schwächere Teil war, sobald Frankreich sich nur entsprechend anstrengte. Bismarck hat freilich, um die Annexionen im Ausland zu verteidigen, Elsaß und Lothringen gelegentlich als geringfügige und unwesentliche Provinzen hingestellt. Wenn Gegner übertreibend davon sprachen, Frankreich dürfe seinen Rang als unabhängige Großmacht nicht infolge einer so starken Verkürzung seines Gebietes verlieren, so machte er geltend, daß es ja durch die Einverleibung von Nizza und Savoyen 1860 um ebenso viel größer geworden sei, wie es jetzt aufgebe. Aber das kann er selbst nicht ernst gemeint haben. Er wußte am besten, daß man den Wert von Elsaß und Lothringen nicht nach dem Flächenraum und der Zahl seiner Bewohner bemessen durfte, daß dieses Land schon statistisch genommen das Zünglein an der Wage zwischen Frankreich und Deutschland bildete, insofern erst durch seine Einverleibung Deutschland das numerische Übergewicht der Bevölkerung über Frankreich erhielt, wogegen Frankreich an ihm eines seiner wenigen Industriegebiete verlor. Entscheidend [95] aber war und blieb doch die geographische Lage mit ihrer strategischen Wirkung: vom Elsaß aus beherrschte Frankreich den Süden Deutschlands, von Metz aus bedrohte es das Rheinland, auf dem Elsaß und Metz beruhte sein historisches Übergewicht über Deutschland und damit seine Führerstellung unter den Festlandsmächten Europas. Alles das verlor es jetzt; es mußte entweder es zurückzugewinnen suchen, oder seine Vergangenheit, seine Überlieferungen, seinen nationalen Stolz verleugnen. Aber alles das mußte es eben auch verlieren, wenn Deutschland frei werden sollte. Das Deutsche Reich mußte die französische Revanche in ihrer ganzen Schärfe und mit allem, was die Folge sein konnte, auf sich nehmen, wenn die deutsche Nation ihren Rang in Europa erhalten sollte. Auch für die auswärtige Politik war die Erwerbung Elsaß-Lothringens eine pénible corvée, aber eine unvermeidliche: "es blieb nichts anderes übrig" – so hat Bismarck selbst am 2. Mai 1871 im Reichstag sich ausgedrückt. Denn über allen andern Rücksichten stand ihm auch hier, wie 1864 bei der Abgrenzung gegen Dänemark, die militärische Notwendigkeit.

Um dieser militärischen Notwendigkeit willen hat Bismarck auch alle vermittelnden Vorschläge standhaft und rund abgewiesen. Es fehlte nicht an solchen, die sich mit Erhebung des Elsaß zum neutralen Staat oder Schleifung der Festungen begnügen wollten. Besonders in England wurden diese Gedanken lebhaft vertreten, auch vom Ministerpräsidenten Gladstone. Man braucht die Gründe, die dagegen sprechen, heute nicht zu wiederholen. Bismarck hat sie eingehend und einleuchtend in der Reichstagsrede vom 2. Mai 1871 entwickelt, und die Erfahrung hat ihm vollauf recht gegeben. Ein neutrales Elsaß-Lothringen wäre nur ein französischer Trabant und als solcher fast gefährlicher gewesen als die französische Provinz. Die "Servitut" der Schleifung von Straßburg, Metz und Belfort aber hätte kaum anders als die Annexion des Landes für die deutsche Politik eine stets verwundbare Stelle bedeutet, zweifellos hätte sich Frankreich bei der ersten für Deutschland ungünstigen Konstellation in Europa von dieser Fessel losgemacht und das auch sehr viel leichter durchgesetzt als die Eroberung eines abgetretenen Landes. Ja, es blieb wirklich nichts anderes übrig, als zu annektieren!

Eben im Zusammenhang dieser Gedanken war der Verzicht auf Belfort eine Schädigung der deutschen Interessen, die sich mit der Zeit immer deutlicher fühlbar gemacht hat. Wenn es auch kühn wäre, bestimmt zu behaupten – eine große Wahrscheinlichkeit spricht allerdings dafür –, daß Frankreich ohne Belfort den Gedanken an Revanche aufgegeben haben würde, so ist doch nicht zu bestreiten, daß der Besitz eines solchen Ausfallstores nach dem Elsaß und die damit verbundene [96] fast völlige Sicherheit vor einer deutschen Offensive, der Revanchelust die denkbar kräftigste Nahrung gegeben hat. Der Hoffnungsschimmer, den Jules Favre sogleich aufleuchten sah, ist mit der Zeit zum magischen Licht geworden, das die Blicke der Franzosen mit hypnotischer Gewalt anzog, so daß sie bald nicht mehr anders konnten, als nach der trouée de Belfort starren, bis zu dem Tag, an den die Welt in allen künftigen Jahrhunderten nur mit Schauder wird denken können: wo dieses Irrlicht in einem Strom von Blut und Tränen erlosch.



Bismarck hat, wie 1864 und 1866, so auch 1871 die Überzeugung gehabt, daß ihm sein Werk gelungen sei. Er hat sich in diesem Sinne am 12. Mai im Reichstag ausgesprochen: "Ich glaube, daß hiermit dasjenige erreicht worden ist, was wir von Frankreich vernünftigerweise und nach den Traditionen, die anderen Friedensschlüssen zugrunde liegen, verlangen konnten. Wir haben unsere Grenzen durch die Landabtretung gesichert." Er knüpft daran den Ausdruck der Hoffnung, "daß dieser Friede ein dauerhafter und segensreicher sein, und daß wir die Bürgschaften, deren wir uns versichert haben, um gegen einen etwa wiederholten Angriff gesichert zu sein, auf lange Zeit nicht bedürfen mögen". Später hat er selbst skeptischer geurteilt. Als ihm Georg Beseler einmal (23. März 1887) im Herrenhaus die Frage stellte, ob der Friede, den er mit der Kurie zu schließen im Begriffe sei, auch ein dauerhafter Friede sein werde, da machte ihn Bismarck darauf aufmerksam, "daß nichts in der Welt dauernd ist, weder die Friedensschlüsse noch die Gesetze; sie kommen und gehen, sie wechseln – tempora mutantur, et nos mutamur in illis... Wir tun eben unsere Schuldigkeit in der Gegenwart, rebus sic stantibus... ob es dauert, das steht bei Gott. Also für die Dauer übernehme ich keine Verantwortlichkeit." Und als einen Monat später (22. April) ein Abgeordneter im Landtag denselben Zweifel vorbrachte, wies er ihn geradezu auf den deutsch-französischen Friedensschluß hin: "Die Frage, ob ein Friede ewig dauern werde oder nicht, hat noch nie jemand in der Welt abgehalten, einen Frieden zu schließen. Wenn wir mit dem Frankfurter Frieden 1871 der Welt die Sicherheit hätten gewähren müssen, daß zwischen uns und Frankreich nie wieder ein Krieg entstehe, dann hätten wir allerdings den Frieden nicht schließen dürfen." Das sind Sophismen, an denen vielleicht ein wenig die Resignation des Alters, vielleicht auch die Enttäuschung gerade in bezug auf die Dauerhaftigkeit des Frankfurter Friedens beteiligt ist. In Wahrheit wird doch niemand leugnen, daß der Wert eines Friedens in erster Linie nach seiner Dauer und Festigkeit beurteilt werden muß. "Ein Friedensschluß" – so hat Bismarck 1866 (am 22. Dezember im Landtag) gesagt – erfüllt niemals [97] alle Wünsche, wird niemals allen Berechtigungen21 gerecht –, ich kann sagen, selbst der glorreiche Friedensschluß, den uns die Vorsehung dieses Jahr hat machen lassen, läßt nach manchen Richtungen etwas zu wünschen übrig, was man als unerreicht bedauert. Nichtsdestoweniger ist es ein glorreicher Friedensschluß."

Ohne Zweifel; man darf eben eine geschichtliche Handlung von solcher Tragweite, wie es ein Friedensschluß ist, nicht danach beurteilen, was sie für den Augenblick leistet und wie sie im Augenblick empfunden wird. Ihr Wert und ihre Bedeutung zeigt sich in ihrer Wirkung. Als einen vollkommenen Friedensschluß wird man darum nur einen solchen gelten lassen dürfen, der das Problem, um dessentwillen der Krieg geführt wurde, so vollständig löst, wie unter den gegebenen Umständen möglich ist. Ein solcher ist Bismarck im Jahre 1866 gelungen. Die Trennung Österreichs von Deutschland, die damals vollzogen wurde, ist endgültig gewesen, Österreich hat nicht mehr ernstlich versucht, sie rückgängig zu machen. Zugleich aber ist damals in glücklichster Weise der Grund gelegt worden für eine spätere, anders geartete Verbindung Österreichs mit Deutschland. Der Besiegte hat das Geschehene anerkannt, nicht nur gezwungen und für den Augenblick, sondern aus Überzeugung und für immer. Darum darf Bismarcks damaliges Werk schlechthin unübertrefflich genannt werden, obwohl infolge einer Verkettung von Umständen im Punkte der preußischen Annexionen nicht alle Wünsche erfüllt wurden.

Vom Frieden von Versailles und Frankfurt kann man nicht ganz dasselbe sagen. Das Problem, das hier gestellt war, die Befreiung Deutschlands vom französischen Übergewicht durch Schaffung fester militärischer Grenzen, ist nicht endgültig gelöst worden. Frankreich hat sofort zu erkennen gegeben, daß es auf seine alten Ansprüche nicht verzichtet habe, und es ist auf sie je länger desto entschiedener zurückgekommen. Seit 1880 ward es immer deutlicher, und seit 1891 hat es niemand mehr bezweifelt, daß Frankreich den Frieden von Frankfurt nicht anerkannte und nur auf die Gelegenheit wartete, ihn rückgängig zu machen. Daß es anders gekommen wäre, hätte der Friede anders gelautet, wird man nicht schlechthin behaupten dürfen, aber daß die Friedensbedingungen nicht den vollen Schutz dagegen boten, der nach den Umständen zu erlangen gewesen wäre, wird man ebensowenig leugnen können. Und darum kann der Friede von 1871 nicht als vollkommen gelungen gelten.

Daß er dessenungeachtet eine große Leistung war, bleibt unbestritten. In der Beurteilung der politischen Situation und des Gegners, in der Wahl der Richtung, die zum Ziele führen mußte, hat Bismarck sich [98] auch hier als der Staatsmann gezeigt, der an Klarheit der Erkenntnis und Sicherheit des Wollens allen anderen überlegen war. Wie breit war doch das Feld der Irrtümer auf beiden Seiten neben dem Wege, den er einschlug! Wie leicht hätte sich ein anderer, sei es durch die Aussicht auf künftige innere Schwierigkeiten von den notwendigen Annexionen abschrecken und auf die schlüpfrige Bahn der Neutralisation des Grenzlandes hindrängen, sei es zu einer noch schwereren Belastung des neuen Reiches mit fremden Bestandteilen durch übertriebene Eroberungen hinreißen lassen können! Zwischen diesen Abwegen nach rechts und links hat Bismarck die allein richtige Linie von Anfang an gewählt, und es bleibt nur zu bedauern, daß er sie nicht bis ans Ende verfolgt hat.

Auch so hat er Großes erreicht. Es will doch wahrlich etwas sagen, daß Frankreich 43 Jahre hat warten müssen, ehe es wagte, ermutigt durch eine Gruppierung der europäischen Mächte, wie sie 1871 auch der kühnste Traum nicht ahnen konnte, ermutigt aber auch durch eine immer verkehrtere Behandlung des elsässischen Problems in der deutschen inneren Politik, die Hand an den Friedensvertrag von 1871 zu legen. Mit Recht durfte Bismarck an seinem 80. Geburtstag sagen: "Es ist – wenn ich auf irgend etwas stolz bin, so ist es dies – gelungen, den Frieden seit 25 Jahren zu erhalten, und es ist keine Aussicht, daß er in kurzer Zeit gestört werde." Aus den 25 Jahren sind 43 Jahre geworden, – eine lange Zeit fürwahr! Ohne den Frieden von Versailles wäre das nicht möglich gewesen. Er bildet die Voraussetzung einer Friedensepoche, wie sie das Abendland noch nie früher genossen hatte und vielleicht nie wieder genießen wird.

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1Zum ersten Mal, ohne den König zu nennen, am 22. Januar 1864 im Abgeordnetenhaus, zuletzt am 10. Juli 1892 in einer Ansprache an Besucher aus Württemberg. ...zurück...

2Freilich ließ er am 30. September an Bamberger schreiben, er habe ihm mehr politischen Scharfsinn zugetraut, als zu glauben, daß man wirklich Napoleon wieder auf den Thron setzen wolle (Busch, 30. Sept.). Diese Widersprüche zeigen sein Schwanken gegenüber der ungewissen Lage. ...zurück...

3Thiers hat freilich behauptet, bei einer früheren Begegnung am 4. November habe Bismarck ihm Aussichten gemacht, daß er den König bewegen werde, auf Metz zu verzichten. Ich bin mit Sorel der Meinung, daß dies nur eine unverbindliche Redensart gewesen sein kann, die Thiers falsch auffaßte. ...zurück...

4Hamburger Nachrichten 9. Januar 1893 (Hoffmann, Fürst Bismarck 1890 bis 1898, Bd. 2, S. 193). ...zurück...

5In der anonymen Schrift Bismarck in Versailles (1886) wird S. 263 eine angebliche Äußerung Bismarcks aus dem Jahre 1878 verwertet: "Damals war Frankreich in unsern Händen, Paris war niedergeworfen, die Kommune im Anzuge, alles war aus Rand und Band. Wäre ich ein Ignatjew gewesen, so hätte ich die Picardie und Champagne verlangt. Daran dachte aber niemand, und selbst als man in mich drang, mit Metz zugleich auch Belfort zu nehmen, widerstand ich und sagte: Nein, Belfort ist in den Händen der Franzosen geblieben, und darin muß es gelassen werden." Nicht ein Wort davon ist richtig. Die Äußerung kann nicht echt sein. ...zurück...

6Gouvernement de la défense nationale, Bd. 3 (1875), S. 89 ff. ...zurück...

7Notes et souvenirs (1903), S. 109ff. Wann diese Aufzeichnungen die Form erhalten haben, in der sie herausgegeben wurden, ist nicht angegeben und vermutlich nicht mehr festzustellen. Einzelheiten mögen ungenau sein, in der Hauptsache dürften sie Glauben verdienen, wie schon die allgemeine Übereinstimmung mit Favre zeigt. An einer Stelle werden sie überdies durch Abeken bestätigt. ...zurück...

8Der Verdacht liegt allerdings nahe, daß auch dieser Ausspruch nicht damals, sondern viel früher, spätestens in den ersten Septembertagen gefallen ist (vgl. unten S. 82). ...zurück...

9Hier ist es, wo die Berichte von Thiers und Favre durch Abekens Zeugnis gestützt werden, der den König aufzusuchen hatte. ...zurück...

10Diese Stunde gibt Abeken an, Favre dagegen 8 Uhr. Thiers sagt, man habe Versailles um ½10 verlassen. ...zurück...

11Über die Stimmen in der deutschen Presse, die bereits im Anfang des Krieges der "Mäßigung" das Wort redeten, war Bismarck recht ungehalten und ließ sie durch Busch bekämpfen. "Sie werden mich noch zwingen, die Maaslinie zu verlangen", sagte er (Busch zum 30. Sept.). ...zurück...

12Favre, Gouvernement de la défense nationale, Bd. 3 S. 93: Il fallait traiter ou se battre. Se battre était impossible, il ne restait plus qu'un parti: celui de la soumission aux arrêts du destin. Ils étaient cruels, ils auraient pu l'être davantage. Nous avions craint de perdre toute la Lorraine, nous en conservions la majeure partie. Contrairement aux versions les plus accréditées des feuilles étrangères, on ne nous avait menacés d'aucune réglementation intérieure du chiffre de notre armée, d'aucune diminution des not flottes. S. 103: Etait-il, en effet possible de rompre la négociation si, jusqu'au bout, Belfort nous avait été refusé? M. Thiers ne le pensait pas. Il agit cependant comme y étant décide. ...zurück...

13Marcks, Otto v. Bismarck, S. 135 sagt: "Er folgte den Offizieren". S. 136: "Der König und seine drei Großen hatten ihr Werk in wundervoller Gemeinsamkeit vollbracht." In dieser Fassung ist das schwerlich richtig. Liest man die gleichzeitigen Aufzeichnungen des Kronprinzen und vollends das noch nach 20 Jahren von Gift und Galle durchtränkte Kapitel "Versailles" in den Gedanken und Erinnerungen, so scheint es, daß Bismarck den Offizieren nur sehr bedingt folgte, und daß die Gemeinsamkeit der drei Großen nichts weniger als wundervoll war. ...zurück...

14Es kann an dieser Stelle ganz auf sich beruhen, ob die Besorgnis vor neutraler Einmischung in den vorausgehenden Monaten bei Bismarck wirklich so groß gewesen war, wie er sie später, etwa in den Gedanken und Erinnerungen, schildert. Diese Schilderung zeigt schon gegenüber der Bemerkung in der Rede von 1887 eine beträchtliche Steigerung. Bismarck war von Natur geneigt, derartige Gefahren ernster anzusehen, als sie verdienten. Die zunehmende Schwierigkeit der deutschen Auslandspolitik hat diese Neigung mit den Jahren immer stärker entwickelt, und in der Verbitterung nach dem Sturz wirkte das auch auf die Erinnerung trübend und entstellend zurück. Sein Verhalten im Herbst und Winter 1870 läßt von schweren Besorgnissen, soviel bis jetzt bekannt ist, wenig bemerken, und die Auffassung der Franzosen – man vergl. z. B. die aktenmäßige Darstellung von Sorel – würde sie denn auch als ganz unbegründet erscheinen lassen. Die Rolle, die Gortschakow dabei gespielt haben soll, ist ganz unverkennbar zurückdatiert, eine der bei Bismarck so gewöhnlichen rückwärtigen Spiegelungen. ...zurück...

15Gladstones Verhalten in dieser Frage ist typisch für die harmonische Mischung von Idealität und Egoismus, die ihn wie so viele Engländer kennzeichnet. Er sah in der Annektierung einer Bevölkerung gegen ihren Willen ein Unrecht und zugleich einen Präzedenzfall, der in Belgien oder im Orient den englischen Interessen schädlich wirken könnte! ...zurück...

16Es ist denn auch kaum richtig, wenn Marcks, Otto v. Bismarck, S. 136, angesichts der bekannten und feststehenden Tatsachen sagt: "Seine (Bismarcks) Überlegenheit gerade damals war riesengroß; was er wollte, errang er ganz". Die Franzosen hatten durchaus nicht diesen Eindruck, und sie müssen es gewußt haben. – Das geringschätzige Urteil, das Hanotaux, Histoire de la France contemporaine, Bd. 1, S. 108 über Thiers als Unterhändler fällt, ist sehr ungerecht. ...zurück...

17Hamburger Nachrichten vom 9. und 16. Januar 1893 (Hoffmann, Fürst Bismarck 1890–1898, Bd. 2, S. 192ff.). Es steht z. B. mit den Tatsachen in Widerspruch, wenn dort behauptet wird, zwischen Bismarck und Moltke habe nur einmal, wegen des Kaiser-Wilhelm-Kanals, dessen Bau Moltke verzögert haben soll, eine Meinungsverschiedenheit, aber nie eine persönliche Verstimmung bestanden. Jedermann weiß heute, daß die beiden Herren sich im Winter 1870/1 nicht einmal, sondern mehrfach völlig miteinander überworfen haben und daß die früheren guten Beziehungen zwischen ihnen infolgedessen nie wieder ganz hergestellt worden sind (vgl. Hans Delbrück, Bismarcks Erbe, S. 72). Daß dabei gerade auch die Frage nach Belfort eine Rolle gespielt hat, wurde damals in unterrichteten Kreisen bestimmt versichert und ist da, wo man unmittelbare Überlieferung hat, noch heute nicht vergessen. Abeken (S. 515) konstruiert wohl zu viel eigene Gedanken hinein. ...zurück...

18Im Großen Generalstab sind, wie ich mich dank dem gütigen Entgegenkommen Sr. Exzellenz des Herrn Generalobersten v. Moltke überzeugen durfte, keine Akten über die Frage vorhanden. Nach Mitteilung von Exzellenz v. Blume, der 1871 Bureauchef bei Moltke war, kann es überhaupt keine geben, da die Verhandlungen durchweg mündlich geführt wurden. ...zurück...

19So! Es muß wohl heißen: "Daß bei einer defensiven". ...zurück...

20Insbesondere der Kanton Giromagny, der eine der beherrschenden Stellungen der Gegend besitzt, ist erst damals an Frankreich überlassen worden. Bismarck führte in Frankfurt die Verhandlung ohne militärischen Beirat. ...zurück...

21So! Lies "Forderungen"? ...zurück...

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Bismarcks Friedensschlüsse
Dr. Johannes Haller