V.
Um den Handelsplatz Danzig
Als Motto könnte man über dieses
Kapitel - wie auch vor die ganze Arbeit - den Satz setzen, mit dem
de Lannoy seinen schon mehrfach zitierten Aufsatz beginnt: "In der
heutigen Welt kann ein Staat nicht vollkommen souverän und
unabhängig sein, wenn er keinen Ausgang zum Meer hat." Dieser eine
Satz - der als typische politische Fiktion zu bewerten
ist - gibt den Schlüssel zum Verständnis des polnischen
Wollens. Wie der Art. 104 des Versailler Vertrages zeigt, sind die
hauptsächlichsten der Polen zugesprochenen Rechte wirtschaftlicher Natur.
Diese Rechte Polens betreffen erstens den Danziger Hafen, zweitens die
Überwachung und Verwaltung des gesamten
Eisenbahn- [87] netzes im Gebiet der Freien Stadt und drittens
die Einfügung Danzigs in das polnische Zollgebiet.
1. Die in Kapitel III des Pariser Vertrages getroffene Regelung der Rechte Polens
im Danziger Hafen sieht die Schaffung eines "Ausschusses für den Hafen
und die Wasserwege von Danzig"1 vor. Makowski(1a) berichtet, daß die polnische Regierung nur
unter stärkstem Druck der Alliierten2 ihre Zustimmung zur Schaffung eines
solchen Ausschusses gegeben hätte. Die Schlappen des polnischen Heeres
und der Vormarsch der Bolschewisten bis vor Warschau hätte die polnische
Regierung Anfang Juli 1920 gezwungen, Ladislas Grabski zur Konferenz der
Alliierten nach Spa zu schicken, um militärische Hilfe zu erbitten. Gegen
die Zusage militärischer und diplomatischer Unterstützung
hätte Polen sich mit der Schaffung des Hafenausschusses in Danzig
einverstanden erklären müssen. Am 10. Juli 1920 hätte
Grabski unterzeichnen müssen: "The Polish Government agrees... to
accept the treaty to be negociated between Danzig and Poland." Am
folgenden Tage schon wäre dem polnischen Delegierten eine Resolution
des Obersten Rates übermittelt worden, in der kategorisch und als conditio
sine qua non für den Abschluß einer Konvention die Schaffung eines
"Conseil du port et des Communications d'eau" auferlegt wurde.
Später versuchte Polen, von dieser Verpflichtung unter dem Vorgeben
wieder freizukommen, daß die Alliierten ihr Hilfeversprechen nicht
gehalten hätten. Die polnische Regierung ließ auch auf
diplomatischem Wege eine dahingehende Erklärung abgeben. Aber der
englischen Regierung wurde es infolge der Erschöpfung Polens
leicht - wie Makowski sich ausdrückte -, "de faire valoir le
droit du plus fort en passant outre aux réclamations de la Pologne..."
Mit welchem inneren Widerstreben die polnische Regierung den Pariser Vertrag
unterzeichnet hat, zeigt die Äußerung des polnischen Vertreters in
Danzig in einem Interview, das er nach [88] der Unterzeichnung durch die Danziger, aber vor
der Unterzeichnung durch die polnische Regierung gegeben hat: "In Wirklichkeit
sind unsere Wünsche, die den Hafen betreffen, nicht erfüllt
worden".(2) Im gleichen Sinne faßte Makowski
fünf Jahre später sein Urteil zusammen:(3) "Bis jetzt ist der Hafenausschuß nur ein
embryonales Staatsorgan, sehr kostspielig für Polen und Danzig und ohne
irgendwelchen praktischen Nutzen. Es ist zu fürchten, daß der
offenbare Mißerfolg dieser Institution bald zu seiner endgültigen
Abschaffung führen wird."
Es kann unter diesen Umständen nicht wundernehmen, daß die
Einrichtung des Danziger Hafenausschusses zu einer ständigen Quelle von
Konflikten zwischen Danzig und Polen und sogar zwischen dem
Hafenausschuß selbst und Polen geworden ist. Das Bemühen der
polnischen Regierung war von Anfang an darauf gerichtet, die
Selbständigkeit des Hafenausschusses zu beschneiden und den
Ausschuß möglichst in ein Verhältnis der Abhängigkeit
von sich zu bringen. Bereits am 24. Januar 1921 warf die polnische Delegation in
Paris in einem Schreiben die Frage auf, ob der Hafenausschuß berechtigt
wäre, internationale Übereinkommen und Verträge
abzuschließen,3 eine Frage, die die polnische
Delegation selbst glaubte verneinen zu sollen. Der Rat lehnte jedoch am 28.
Februar 1921(6) eine allgemeine Stellungnahme ab und behielt sich
die Entscheidung im Einzelfall [89] vor, falls ein Streitfall dem
Völkerbundkommissar zur Entscheidung vorgelegt werden
würde.
Charakteristisch für dieses Bemühen der polnischen Regierung ist
der Streitfall über die Finanzierung des Hafenausschusses von Anfang
1923. Im Jahre 1921 war zwischen dem Hafenausschuß und der polnischen
Regierung eine vorläufige Vereinbarung zustande gekommen, wonach
für die laufenden Ausgaben des Hafenausschusses, soweit sie nicht durch
Einnahmen gedeckt worden waren, vorbehaltlich der endgültigen
Abrechnung, von den beiden Regierungen zu gleichen Teilen Vorschüsse
geleistet werden sollten. Polen aber war mehr als einmal in Rückstand
gekommen und hatte seit Februar 1923 seine Zahlungen überhaupt
eingestellt, so daß die Kosten für die Inbetriebhaltung des
Hafenausschusses der Freien Stadt vollständig zugefallen waren. Der von
Polen vertretene Standpunkt war der folgende: Sowohl die Aufforderung des
Hafenausschusses an die polnische Regierung, die vereinbarten Zahlungen zu
leisten, als auch das Ersuchen des Senats an den Völkerbundkommissar,
über die Zahlungsverpflichtung der polnischen Regierung eine
Entscheidung abzugeben, wären Eingriffe in die
Souveränitätsrechte Polens. Einzig Polen hätte Rechte auf
Danziger Grund und Boden und nicht umgekehrt. Da der Hafenausschuß
durch den Pariser Vertrag deshalb geschaffen worden wäre, um den Polen
im Vertrag von Versailles zuerkannten Rechten Geltung zu verschaffen,
hätte der Hafenausschuß nicht und könnte der Ausschuß
nicht gegenüber Danzig die gleichen Verpflichtungen haben wie
gegenüber Polen. Polen könnte daher auch in finanzieller Hinsicht
entscheiden, ob es den Betrieb des Hafens vergrößern,
aufrechterhalten, einschränken, oder "zwecklose" Ausgaben herabsetzen
wollte. Die polnische Regierung ging noch über die Forderung nach
Entscheidung über die Höhe seiner eigenen Zuschüsse hinaus
und verlangte, daß der Hafenausschuß mit Hilfe Polens jede Ausgabe
der Freien Stadt auferlegen könnte, da Danzig als freie Stadt durch den
Vertrag von Versailles nur
geschaffen worden wäre, um Polen Zugang zum Meere zu
gewähren. - Der Völkerbundkommissar MacDonnell
entschied am 29. April 1923, daß das Finanzabkommen vom Jahre 1921
von Polen ausgeführt werden müßte.
Um die gleiche Zeit hatte die polnische Regierung das Recht des
Hafenausschusses, selbständig Anleihen unter Verpfändung seines
Grundbesitzes aufzunehmen, zu bestreiten versucht. Der [90] Völkerbundkommissar MacDonnell
bestätigte in seiner Entscheidung vom 24. Mai 1923 dieses Recht des
Ausschusses.4
In einem weiteren Fall wurde Polen durch Entscheidung des Kommissars jedoch
ein Vorzugsrecht zugestanden. Gegen einen Beschluß des Hafenausschusses
vom 20. Januar 1922, welcher durch die entscheidende Stimme des Vorsitzenden
zustande gekommen war, und welcher besagte, daß die Polen in den Art. 26
und 28 des Pariser Vertrages zugebilligten Rechte kein Vorzugsrecht zugunsten
polnischer Gesellschaften bei Verpachtung von Geländen und Speichern
durch den Hafenausschuß in sich schlösse, hatte Polen Berufung
eingelegt. In seiner Entscheidung vom 27. Oktober 1922 stützte sich der
Völkerbundkommissar Haking besonders auf den Satz, "daß der
Hafenausschuß, wenn er diese Aufgaben der Überwachung,
Verwaltung und des Betriebes des Hafens ausübt, es auf eine solche Weise
tun muß, daß Polen die freie Benutzung und der freie Gebrauch des
Hafens ohne jede Einschränkung und in dem für den polnischen
Ein- und Ausfuhr-Verkehr notwendigen Maße gewährleistet wird",
und kam darauf zu dem Schluß, "daß der polnische
Ein-und Ausfuhrverkehr mehr Förderung benötigt als der Danziger
Ein- und Ausfuhrverkehr, teils weil der polnische Handel einen großen
Vorteil für die Freie Stadt bildet und teils, weil für den Danziger
Ein- und Ausfuhrverkehr bereits gut durch die Vermittlung von in Danzig
bestehenden und lange ansässigen Kaufleuten und Firmen gesorgt wird".
Bei Neuverpachtungen wäre daher unter der Voraussetzung gleicher
Qualifikation polnischen Bewerbern der Vorzug zu geben.5 Nachträglich gab sich auch
Danzig, das gegen diese Entscheidung Berufung an den Rat eingelegt hatte, in
einem in Genf am 16. April 1923 abgeschlossenen Abkommen(9) hiermit zufrieden. Nur der Begriff der
"Qualifikation" fand hier noch eine nähere Umschreibung. Der Sinn der
Einrichtung einer freien Stadt Danzig war gewesen, daß Danzig eine
Funktion für den polnischen Außenhandel, nicht aber, daß der
polnische Außenhandel seine Funktion in Danzig ausüben sollte.
Indem der Kommissar diesen entscheidenden und allein maßgebenden
Gesichtspunkt übersah, hat
er - unter [91] Überschreitung seiner
Kompetenz - die Entwicklungsmöglichkeiten der Danziger
Wirtschaft beschränkt. Die nachträgliche
Einverständnis-Erklärung der Danziger Regierung dürfte nur
unter dem Druck der damaligen politischen
Situation - es war die Zeit des Ruhrkampfes - erfolgt sein.
Ein Vorzugsrecht in ähnlichem Sinne ist den Polen durch eine
Entscheidung des Völkerbundkommissars van Hamel zugebilligt worden,
nach der, in Bestätigung der bisherigen Bestimmungen des
Präsidenten des Hafenausschusses, de Loës, der Hafenausschuß zur
Hälfte Arbeiter polnischer Nationalität und zur anderen Hälfte
Arbeiter Danziger Staatsangehörigkeit beschäftigen soll.(10) Diese Entscheidung, die in dem Augenblick
erging, als in Danzig annähernd 20 000 Erwerbslose vorhanden
waren, hat lebhafte Proteste in Danzig zur Folge gehabt. Das sozialdemokratische
Organ schrieb, die Arbeiterschaft stände auf dem Standpunkt, Danzig den
Danzigern!(11) Damit ist in anderer Fassung das gesagt, was wir
weiter oben in die Worte kleideten, daß Danzig für Polen, nicht aber
Polen in Danzig eine wirtschaftliche Funktion auszuüben hat. An diesem
entscheidenden Gesichtspunkt ging diese Entscheidung vorbei. Sie versuchte
lediglich, mechanisch auszugleichen.
In der Frage der Polizei des Hafenausschusses ging das polnische Bemühen
in gleicher Richtung. Die polnische Regierung vertrat die Ansicht, daß in
dem Maße, als der Senat durch seine Polizeitruppe eine unmittelbare Aufsicht
über den Hafenverkehr, unabhängig von dem Hafenausschuß,
ausübt, Polen Gefahr liefe, der ihm durch den Hafenausschuß
gewährleisteten Rechte verlustig zu gehen. Sie unterstützte damit den
durch die entscheidende Stimme des Vorsitzenden zustande gekommenen
Beschluß des Hafenausschusses, daß der Hafenausschuß die
ihm durch den Pariser Vertrag übertragenen Aufgaben nur erfüllen
könnte, wenn er die unmittelbare Verfügung über eine
Polizeitruppe besäße. In Würdigung des Danziger Einspruchs
gegen die Schaffung eines Staates im Staate entschied der
Völkerbundkommissar MacDonnell am 6. Juni 1923, daß der
Hafenausschuß sich wegen Stellung von Polizeikräften an den Senat
zu wenden hätte. Das zur Verfügung zu stellende Polizeipersonal
sollte zwar dem Hafenausschuß unmittelbar unterstellt werden, würde
aber von der Freien Stadt anzustellen, auszubilden und zu besolden sein. Auch
hinsichtlich der inneren Verwaltung und Disziplin sollte es ein Teil der Danziger
Polizei bleiben und [92] den Verordnungen der Freien Stadt unterworfen
sein. Fast zwei Jahre später, am 13. März 1925, billigte der Rat den
Vorschlag des
Ausschuß-Präsidenten, des Obersten de Reynier.(12) Dieser Vorschlag war auf der Entscheidung des
Völkerbundkommissars aufgebaut. Damit hatte der Rat den Danziger
Hoheitsrechten Geltung verschafft.
Ein Gleiches gilt auch von der Entscheidung des Völkerbundkommissars
van Hamel vom 12. November 1927, in der er die Errichtung einer polnischen
Seekammer in Danzig als unvereinbar mit dem bestehenden Recht erklärte.
Die von Polen beabsichtigte Seekammer hätte gewissermaßen
gerichtlichen Charakter und schlösse eine Ausübung
öffentlicher Amtsgewalt in sich. Die Seekammer griffe nicht nur
über die allgemeine
Zivil- und Strafgerichtsbarkeit hinaus, sondern sie hätte auch
ausdrücklich den Charakter eines Disziplinargerichts und einer amtlichen
Stelle zur fachmännischen Untersuchung. Stellen dieser Art wären
selbstverständlich, außer bei besonderen Abmachungen, auf das
Gebiet derjenigen Regierung beschränkt, der sie unterstehen.(13)
Neben einigen kleineren Streitfällen - betreffend die Amtssprache
des Hafenausschusses, beide Sprachen erklärte der
Völkerbundkommissar für
gleichberechtigt(14) - die besondere Flagge des
Hafenausschusses, die gebilligt wurde,(15) trotzdem die Flagge einer Behörde ein
Hoheitszeichen darstellt, dem Hafenausschuß aber unzweifelhaft keine
Hoheitsrechte
zukommen - die Unterhaltung der Mottlau und des Kaiserhafens, die
Ansprüche der Danziger Stadtverwaltung wurden
abgewiesen(16) - die Anschaffung einer Dampffähre,
die der polnischen Eisenbahnverwaltung auferlegt
wurde(17) - die Beteiligung der Stadtgemeinde Danzig
an den Hafeneinnahmen auf Grund alter Verträge mit Preußen, der
Kommissar wies einen Rechtsanspruch ab, erkannte Billigkeitsanspruch
an(18) - ist auch in diesem Zusammenhange der
Julivorstoß vom Jahre 1923 zu erwähnen, der sich zum erheblichen
Teil gegen die Existenz des Hafenausschusses überhaupt richtete.(19) Der Vorstoß
verlief - wie schon dargetan - ergebnislos. In den Verhandlungen, die
folgten, wurde als gemeinsamer Standpunkt Danzigs und Polens festgestellt,(20) daß der Hafenausschuß "den
gemeinsamen Interessen Polens und Danzigs dienen" soll. Also ein deutlicher
Rückzug Polens. In concreto wurde vereinbart: Erstens, daß beide
[93] Regierungen "weiterhin zu gleichen Teilen die
für die Erhaltung einer normalen Tätigkeit erforderlichen Summen
zu zahlen" hätten; "in Zweifelsfällen wird der Hafenausschuß
entscheiden, was zur normalen Tätigkeit des Hafens gehört";
zweitens, "daß in den Fällen, in denen der Hafenausschuß
Beklagter in einem Zivilprozeß ist, der Kläger den Fall entweder vor
ein Danziger Gericht in Danzig oder ein polnisches Gericht in Polen bringen
kann; in jedem Fall wird Danziger Recht zur Anwendung gelangen"; drittens,
daß die Frage, ob der Hafenausschuß zur Aufnahme von Anleihen
und zum Verkauf seines Grundbesitzes befugt wäre, zur Zeit kein
praktisches Interesse hätte; viertens, daß bei Neueinstellung von
Personal polnische Staatsangehörige so lange bevorzugt werden, bis das
Verhältnis der Nationalitäten gleich wäre; fünftens,
daß die Berufungen gegen die Entscheidung des Kommissars in der Frage
der Polizei des Hafenausschusses zurückgezogen werden sollten; sechstens,
daß in der
Flaggen-Frage die Verhandlungen fortgesetzt werden sollten. Nur über die
Frage der Verwaltung der Weichsel konnte keine Übereinstimmung erzielt
werden.6 Wenn auch besonders die Punkte drei
und vier ein gewisses Einlenken von Seiten Danzigs erkennen lassen, so waren
die Punkte eins und zwei doch, und dazu in ungleich wichtigeren Fragen, offenbar
polnische Mißerfolge, wenn man die Nachdrücklichkeit in Betracht
zieht, mit der die polnische Regierung ihren Standpunkt vorher vertreten
hatte.
Außer einer verstärkten Einflußnahme auf den
Hafenausschuß beanspruchte Polen auch eine Vorzugsbehandlung für
polnische Schiffe. Sie sollten behandelt werden, als ob sie sich in einem
polnischen Hafen befänden. Es erhob diese Forderung zugleich [94] mit seinem bereits erörterten Verlangen
nach Exterritorialrechten für polnischen Grundbesitz und für
polnische Beamte. Hiergegen wandte Danzig ein: "Wenn dieser Einspruch
anerkannt würde, so würde das einen Bruch der Konvention, eine
Einschränkung der Staatshoheit und eine ernstliche Schädigung der
Interessen der Freien Stadt, besonders was die Erledigung von
Privatansprüchen Danziger Bürger und die Durchführung der
Strafrechtspflege anbelangt, darstellen; jeder Verbrecher in Danzig würde
in der Lage sein, auf einem polnischen Schiff Zuflucht zu suchen, um sich dem
Richter zu entziehen".(25) Der Völkerbundkommissar Haking
entschied am 6. Dezember 1921, "daß polnische Schiffe, die Danzigs
Hafen und Wasserwege benutzen, den Verwaltungsmaßnahmen des
Hafenausschusses und den Danziger Gerichten und Behörden in derselben
Weise unterstellt sind, wie alle anderen Danziger oder fremden Schiffe, die diese
Gewässer benutzen". Der polnische Anspruch war damit abgewiesen.7
2. Über die Frage der Eisenbahnen auf Danziger Gebiet besagte der
Versailler Vertrag in Art. 104 Ziff. 3, daß, "abgesehen von den
Straßenbahnen und anderen Bahnen, die in erster Linie den
Bedürfnissen der Freien Stadt dienen," Polen die "Überwachung und
Verwaltung" des gesamten Eisenbahnnetzes gesichert werden sollte. Der Pariser
Vertrag bestätigt (in seinem Art. 20) diese Bestimmung mit der
Maßgabe, daß der Hafenausschuß "die Leitung, Verwaltung
und Ausnutzung" der "gesamten Eisenbahnen ausüben" sollte, "die
besonders den Zwecken des Hafens dienen... aber mit Ausschluß der
Einrichtungen, die dem allgemeinen Eisenbahnbetrieb dienen". Es wurde
ausdrücklich hinzugefügt, daß es Sache des Ausschusses sein
sollte, "diejenigen Eisenbahnen zu bestimmen, die als besonders im Dienste des
Hafens angesehen werden müssen". Und am 15. August 1921 entschied der
Völkerbundkommissar Haking: "Der Hafenausschuß wird unter
Beibehaltung des Eigentums der ihm... zugesprochenen Eisenbahnen die
bestehende polnische Eisenbahnverwaltung benutzen, um die Aufgabe des
Hafenausschusses in [95] bezug auf die Überwachung, Verwaltung
und Ausnutzung durchzuführen." Wenn auch durch diese Entscheidung
dem Hafenausschuß das Recht zugesprochen wurde, drei Vertreter zu
ernennen, "die der polnischen Eisenbahnverwaltung zugeteilt werden, um der
letzteren die Wünsche und Ersuchen des Hafenausschusses zu
übermitteln", so bedeutet diese Regelung doch offenbar eine
Verschlechterung der dem
Hafenausschuß - und damit der Freien Stadt, da sie am
Hafenausschuß als Halbpartner beteiligt
ist - nach den Verträgen zustehenden Rechte. Erkannten diese dem
Hafenausschuß doch die selbständige "Leitung, Verwaltung und
Ausnutzung" zu. Überlegungen verwaltungstechnischer und finanzieller
Natur, um "lediglich ein Verwaltungssystem für ein so kleines
Eisenbahnunternehmen wie das im Gebiete der Freien Stadt Danzig zu haben",
haben den Völkerbundkommissar zu dieser Entscheidung geführt. Es
fragt sich aber, ob er sich damit nicht schon von der Basis seiner
Entscheidungs-Befugnis, die auf Urteilsfällung in Rechtskonflikten, nicht
aber auf Kompromißfindung in Konflikten zwischen Erwägungen
praktischer Art und geltendem Recht geht, entfernt hat.8
Immerhin brachte diese Entscheidung auch Danzig ein wichtiges Recht, das wohl
als Schmerzensgeldzahlung dafür gedacht war, daß der Kommissar
das gesamte vollspurige Eisenbahnnetz im Gebiete der Freien Stadt der
polnischen Hand zuerkannt hatte. "Die Regierung der Freien Stadt Danzig",
hieß es in der Entscheidung, "wird das Recht haben, einen
Eisenbahnbeamten zu ernennen, der bei der polnischen Eisenbahnverwaltung
tätig sein soll, um diese Verwaltung über die Wünsche der
Freien Stadt und der Städte und Dörfer auf ihrem Gebiet unterrichtet
zu halten, besonders was den örtlichen Personenverkehr und die seitens der
Einwohner der Freien Stadt versandten oder
empfan- [96] genen Güter anbetrifft.9 Die polnische Eisenbahnverwaltung
wird sich verpflichten, diese Erfordernisse ebenso sorgfältig zu beachten,
wie sie dies bezüglich der Erfordernisse des eigenen Verkehrs tut."10 Ob der von der Danziger Regierung
der polnischen Eisenbahnverwaltung beigeordnete Beamte in seinen
Bemühungen um das Danziger Interesse stets Erfolg gehabt hat, kann nach
den dem Kommissar vorgelegten Streitfällen bezweifelt werden. Dennoch
aber ist die Institution für Danzig bedeutsam. Wird durch sie doch immer
von neuem zum Ausdruck gebracht, daß Polen in bezug auf seine
Eisenbahnrechte in Danzig an ganz bestimmte Schranken gebunden ist. Dieser
Gesichtspunkt wurde auch vom Völkerbundkommissar Haking in seiner
ausführlichen, die konkreten Fragen der Eisenbahn regelnden Entscheidung
vom 5. September 1921 deutlich hervorgehoben und erneut angewandt. "Es ist
daher", sagte er hier, "bei allen diesen Fragen notwendig, soweit das Gebiet von
Danzig in Betracht kommt, zwischen den
Verwaltungs- und Wirtschaftsrechten Polens und Staatshoheitsrechten der Freien
Stadt zu unterscheiden. Nachdem Polen seine eigenen Bedürfnisse
bezüglich freien Eisenbahnverkehrs zum Meere gesichert hat, ist es
Aufgabe der polnischen Eisenbahnverwaltung, alles nur Mögliche zu tun,
um die Interessen der Danziger Beamten, Angestellten und Arbeiter, die zwecks
Betrieb der Eisenbahn im Gebiet der Freien Stadt angestellt sind, sicherzustellen
und zu vermeiden, die Empfindlichkeit der Einwohner durch Erlaß von
Verordnungen zu verletzen, die nicht unbedingt für ein befriedigendes
Arbeiten der Verwaltung notwendig sind, oder die als ein Versuch, die Danziger
Eisenbahnen zu polonosieren, ausgelegt werden könnten." Als Grundsatz
stellte der Kommissar auf: "Es scheint mir, daß, wenn die Verwaltung der
Eisenbahnen in polnischen Händen liegt, mit der unbeschränkten
Macht, Verordnungen zu erlassen, daß dann Sicherheiten viel mehr
für die Danziger Einwohner als für die polnischen
Ein- [97] wohner nötig sind." Diese Sicherheiten
gab er den Danziger Einwohnern. Er entschied:11 Erstens in der
Sprachen-Frage, "daß die deutsche Sprache bei allen Dienstzweigen der
polnischen Eisenbahnverwaltung im Verkehr mit dem Danziger Publikum oder
mit den
Eisenbahnbeamten, -angestellten oder -arbeitern Danziger
Staatsangehörigkeit zur Anwendung kommen soll". Zweitens in der
Währungsfrage. Zahlungen hätten in deutscher Währung zu
erfolgen, solange diese in der Freien Stadt Geltung hätte. Drittens in der
Steuerfrage.12 Die polnische Eisenbahnverwaltung
erhielt Steuerfreiheit. Viertens in der Frage der anzuwendenden Gesetze und der
Polizei. "Alles, was mit der polnischen Eisenbahnverwaltung im Gebiete der
Freien Stadt Danzig zusammenhängt, ist der
Zivil- und Strafgerichtsbarkeit Danzigs unterworfen. Die polnische
Eisenbahnverwaltung hat keine souveränen Rechte im Gebiet der Freien
Stadt und kann daher auf ihrem Gebiet keine Gerichtshöfe errichten." "Die
Polizei, die durch die Danziger Regierung gestellt wird, um die Ordnung
aufrechtzuerhalten, wird unter der Leitung dieser Regierung bleiben, die allein den
Einwohnern der Freien Stadt und dem Völkerbunde für die
Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit, von Leben und Eigentum in
ihrem Gebiet verantwortlich ist." Fünftens in der Personalfrage. "Die
polnische Eisenbahnverwaltung muß bezüglich der bei ihr
tätigen Danziger Beamten, Angestellten und Arbeiter hinsichtlich
Versicherung, Krankheit, Unfall, Alter usw. dieselben Bestimmungen zur
Anwendung bringen, wie diese sie unter der Danziger Verwaltung genossen
haben, selbst wenn diese Bestimmungen günstiger sind als in Polen."
Über die Frage der Stellenbesetzung entschied der Kommissar, "daß
in allen Fällen, wo bei den Eisenbahnen Danzigs Stellen frei werden,
seitens Polens den Danziger Bürgern der Vorrang gegeben werden
muß". Aber eine Einschränkung wurde gemacht: "Diese
Entscheidung bezieht sich nur auf das Betriebspersonal und nicht auf die
höheren Beamten, die mit der allgemeinen Überwachung und
Verwaltung des gesamten Eisenbahnnetzes, die notwendigerweise völlig
der Entscheidung [98] der polnischen Eisenbahnverwaltung
überlassen sein muß, betraut sind." Sechstens in der Frage der
Erstattung der von der Danziger Regierung gemachten Aufwendungen. In einer in
Genf am 23. September 1921 abgeschlossenen
Danzig-polnischen Vereinbarung verpflichteten sich beide Parteien, gegen die
Entscheidungen des Völkerbundkommissars Haking vom 15. August und 5.
September 1921 keine Berufung an den Rat einzulegen.13 Im übrigen wurden
Ergänzungen und Ausführungsbestimmungen abgemacht. Es
verdient hier nur die Vereinbarung über die Eisenbahnwerkstätten
Erwähnung, welches Unternehmen in eine Aktiengesellschaft mit gleicher
Danziger und polnischer Beteiligung14 umgewandelt werden sollte. Damit
hatten die Entscheidungen des Kommissars, besonders diejenige vom 5.
September 1921, die Danzigs Rechte sichert, die direkte Anerkennung der
Parteien erfahren.15 Diese schloß jedoch weitere
Streitfälle nicht aus.
Der schwerwiegendste war der, ob Polen berechtigt war, in Danzig eine
Eisenbahndirektion zu errichten, der außer den Eisenbahnen auf Danziger
Gebiet auch Eisenbahnen auf polnischem Gebiet unterstellt waren. Polen berief
sich darauf, daß der Verteilungsausschuß ihm das
Direktionsgebäude, von dem aus in preußischer Zeit auch
Eisenbahnen auf jetzt polnischem Gebiet verwaltet wurden, zugesprochen worden
war. Der Völkerbundkommissar Haking entschied am 12. Dezember 1922,
"daß Polen kein Recht hat, auf Danziger Gebiet eine Eisenbahndirektion
einzurichten, die sich mit der Verwaltung anderer Eisenbahnen als der auf dem
Gebiete der Freien Stadt gelegenen beschäftigt, ausgenommen im Falle
einer Vereinbarung mit der Freien Stadt Danzig". In der Begründung hatte
er allerdings eingeräumt: "Die Zweckmäßigkeitsfrage ergibt
viele Gründe zugunsten der polnischen Forderung." In Genf bestand dann
auch
Neigung - Polen hatte Berufung an den Rat
eingelegt -, die Zweckmäßig- [99] keitsfrage als ausschlaggebend anzusehen und
über das Danziger Recht hinwegzugehen. Nachdem die Entscheidung lange
hinausgezögert worden war, faßte der Rat schließlich am 13.
März 1925 auf Grund eines
Sachverständigen-Gutachtens,16 das sich vorbehaltlos auf den Boden
der Entscheidung des Kommissars vom 12. Dezember 1922 gestellt hatte, den
Beschluß,(29) die
Kommissars-Entscheidung zu bestätigen. Nach der Beschlußfassung
erklärte der Völkerbundkommissar MacDonnell vor dem Rat, eine
Verlegung der Eisenbahndirektion wäre für Danzig
verhängnisvoll ("désastreux"). Später haben
Verhandlungen zwischen Danzig und Polen über ein eventuelles
Verbleiben der Eisenbahndirektion in Danzig stattgefunden. Diese Verhandlungen
sind aber bisher noch zu keinem Abschluß gekommen.
In einem zweiten Fall hatte die polnische Eisenbahnverwaltung den Danziger
Eisenbahndelegierten ignoriert und ihn nicht von der Einsetzung einer polnischen
Firma, des Reisebüros "Orbis", in die Funktion eines amtlichen
Reisebüros auf dem Danziger Hauptbahnhof unterrichtet, auch seinen
Einspruch gegen die Schließung des amtlichen Reisebüros in der
ursprünglichen Form unbeantwortet gelassen. Der
Völkerbundkommissar Haking entschied am 31. Dezember 1922, daß
Polen nicht das Recht hatte, ohne Fühlungnahme mit Danzig eine polnische
Firma als amtliches Reisebüro einzusetzen, und daß diese Frage
binnen drei Monaten durch Verhandlungen zwischen den Regierungen geregelt
werden
müßte. - Das Reisebüro "Orbis" wurde vom
Hauptbahnhof
fortverlegt. - Und endlich entstanden Streitfälle über das Recht
der Teilnahme der Freien Stadt an der Berner Eisenbahnkonferenz vom Mai 1923
und am oberschlesischen
Durchfuhr-Abkommen zwischen dem Deutschen Reich und Polen vom Juni 1922.
In beiden Fällen bejahte der Völkerbundkommissar MacDonnell das
Recht Danzigs auf Teilnahme. (Entscheidungen vom 8. Januar und 18. Oktober
1924.)
Ein dritter Fall betraf wiederum das in den Dienst der polnischen
Eisenbahnverwaltung übergetretene Personal. Mehrere Eisenbahnbeamte
hatten bei Danziger Gerichten Prozesse wegen Forderungen
vermögensrechtlicher Art gegen die polnische Eisenbahnverwaltung
anhängig gemacht. Sie stützten sich dabei [100] auf das zwischen Danzig und Polen am 22.
Oktober 1921 abgeschlossene Beamtenabkommen. Der diplomatische Vertreter
Polens übermittelte darauf dem Völkerbundkommissar van Hamel
eine Note,(30) in der erklärt wurde, daß die
polnische Regierung weder von den vor Danziger Gerichten schwebenden
Prozessen von Eisenbahnern, soweit sie sich auf die Bestimmungen des genannten
Abkommens stützten, Notiz nehmen, noch hier ergangene Urteile
ausführen würde. Der Senat bat darauf am 27. Mai 1926 den
Kommissar, zu versuchen, daß er auf dem Verhandlungswege die
Rücknahme der polnischen Erklärung erlange. Ein Einvernehmen
zwischen den Parteien konnte nicht erzielt werden, worauf am 12. Januar 1927 der
Senat den Völkerbundkommissar um Entscheidung bat. Diese
Entscheidung erging am 8. April 1927. Sie bejahte allgemein das Recht der
Eisenbahner, sich wegen vermögensrechtlicher Ansprüche aus dem
Dienstverhältnis zur polnischen Eisenbahnverwaltung an Danziger Gerichte
zu wenden. Nur könnten Forderungen nicht auf das Beamtenabkommen
vom 22. Oktober 1921 gestützt werden. Dieses Abkommen wäre ein
völkerrechtlicher Vertrag, der zwar gegebenenfalls die Danziger Regierung
zu Ansprüchen gegen die polnische Regierung berechtige, nicht aber
einzelne Danziger Staatsangehörige.17 Aus den Gegengründen
Danzigs, das gegen diese Entscheidung Berufung an den Rat einlegte,
müssen zwei hervorgehoben werden. Auf Grund des Abkommens von 1921
mußten die Eisenbahnbeamten eine Erklärung abgeben, daß sie bereit
wären, "vom 1. April 1922 angefangen im polnischen Eisenbahndienst im
Gebiet der Freien Stadt Danzig unter den in der am 22. Oktober 1921 zwischen
der Danziger und der polnischen Regierung abgeschlossenen Vereinbarung
festgesetzten Bedingungen zu verbleiben". Hieraus leitete die Danziger Regierung
einen Anspruch der einzelnen Eisenbahnbeamten auf alle im Abkommen von
1921 festgesetzten Rechte her. Weiter wies der Senat darauf hin, daß die
polnische Regierung nach ihrer eigenen These die Bestimmungen des
Abkommens in innerstaatliches Recht hätte umwandeln müssen.
Dadurch, daß die polnische Regierung die gesetzgeberischen Akte
unterlassen hätte, hätte sie eine
Ver- [101] pflichtung verletzt und könnte sich auf
das Nichtvorhandensein entsprechender polnischer Gesetze nicht gegen die
Beamten berufen. Am 22. September 1927 kam die Sache in Form eines von dem
chilenischen Vertreter Villegas vorgelegten Berichts vor den Rat.(32) Auf Antrag des Berichterstatters wurde
beschlossen, den Ständigen Internationalen Gerichtshof im Haag um ein
Gutachten zu bitten. Dieser Weg muß als zur Austragung des Streits besser
geeignet bezeichnet werden, als der gleichzeitig vorgebrachte Vorschlag des
Kommissars van Hamel auf erneute Verhandlungen in Danzig. Es handelt sich
hier um eine reine Rechtsfrage, deren Entscheidung am besten überhaupt
keiner politischen Instanz übergeben werden sollte.
Während der Drucklegung dieser Arbeit wird das vom Ständigen
Gerichtshof am 3. März verkündete Gutachten bekannt.(32a) In
diesem wird erklärt, daß das Beamtenabkommen von 1921 als ein
Teil des Dienstvertrages der in polnische Dienste übergetretenen Danziger
Eisenbahnbeamten anzusehen sei. Entgegen der Entscheidung des
Völkerbundkommissars van Hamel sei das Klagerecht der Danziger
Eisenbahner wegen vermögensrechtlicher Ansprüche aus dem
Danzig-polnischen Abkommen vom Oktober 1921 vor Danziger Gerichten nicht
zu bestreiten. Nur in ganz eng begrenztem Rahmen (bei Verletzung von
Bestimmungen des internationalen Rechts) läßt der Gerichtshof der
polnischen Regierung die Möglichkeit, die Danziger Regierung für
eventuelle Schäden, die der polnischen Eisenbahnverwaltung aus der
Urteilsvollstreckung erwachsen könnten, auf dem Wege der Anrufung des
Völkerbundkommissars haftbar zu machen.
Darauf vereinbarten die polnische und die Danziger Regierung am 6.
März,(32a) (32b) "daß sie das vom Haager Gerichtshof
erstattete Gutachten vom 3. März 1928 als authentische Auslegung des
polnisch-Danziger Abkommens vom 22. Oktober 1922 annehmen, und daß
daher die in diesem Gutachten niedergelegten Rechtsgrundsätze
gegenüber Rechtsstreitigkeiten von Danziger Eisenbahnbediensteten vor
den Danziger Gerichten maßgebend sein werden". Die von beiden
Regierungen beim Völkerbundrat eingelegten Berufungen wurden
für gegenstandslos erklärt.
Der Weg über die richterliche Instanz hat damit dem schwächeren
Staate sein Recht verschafft. Die politische Instanz würde nach dem
Vorschlag des Völkerbundkommissars van Hamel nach einem
Kompromiß gesucht haben, das ein Nachgeben Danzigs in irgendeiner
Beziehung zur Voraussetzung gehabt hätte.
3. Für das Wirtschaftsleben Danzigs und damit für seine
Bestands-Basis war unter den Polen in Paris verliehenen Rechten die
Einbeziehung der Freien Stadt in das polnische Zollgebiet(33) vielleicht das Einschneidendste, wenngleich die
Zahl der hieraus sich ergebenen und dem Völkerbundkommissar zur
Entscheidung vorgelegten Streitfälle am geringsten ist. Konflikte
entstanden dadurch, daß die Zollverwaltung der Freien Stadt erhalten blieb,
daß die Danziger Zollverwaltung aber der Kontrolle der polnischen
Zentral-Zollverwaltung und den polnischen
Zoll- [102] gesetzen und dem polnischen Zolltarif
unterstellt wurde.(34) Polen trachtete nun nach der Zollverwaltung in
Danzig, gegen welche sich auch der Julivorstoß vom Jahre 1923 nicht zum
geringsten Teile richtete.(35) Und Danzig fand die Wirksamkeit der ihm
für die Berücksichtigung seiner Interessen gemachten
Sicherungen(36) zu gering. In den nach Juli 1923 zwischen den
Parteien zustande gekommenen ausführlichen Vereinbarungen(37) wurden die Bestimmungen der Verträge
über die Selbständigkeit der Danziger Zollverwaltung
uneingeschränkt bestätigt. Eine gewisse Einschränkung der
Selbständigkeit seiner Zollverwaltung zuzugestehen, sah sich Danzig erst in
der in Genf am 20. September 1926 abgeschlossenen Vereinbarung über die
Zollverteilung(38) gezwungen, indem es in Art. 4 dieses Abkommens
der polnischen
Zentral-Zollverwaltung einen gewissen Einfluß auf
Organisations-Veränderungen einräumte und im Falle von
Meinungsverschiedenheiten diese Fragen der Entscheidung des
Völkerbundkommissars unterstellte. Dieses Zugeständnis, dem
grundsätzliche Bedeutung zukommt, erfolgte seitens Danzigs gegen die
vom Finanzkomitee empfohlene polnische Garantie eines Minimums an
Zollaufkommen von 14 Millionen Gulden für Danzig. Hierzu ist freilich zu
bemerken, daß infolge der polnischen Zollpolitik (Einfuhrdrosselung) und
infolge des polnischen Währungsverfalls der Danziger Anteil an den
polnischen Zolleinnahmen um 50% gegenüber dem Voranschlag
zurückgeblieben und dadurch im Danziger Budget ein entsprechendes
Defizit entstanden war. Nur aus dieser (durch Polen noch dazu veranlaßten)
Notlage heraus wird Danzig sich zu dieser Vermehrung polnischer Rechte
verstanden haben. Der andere Streitfall betraf ebenfalls die polnische Zollpolitik.
Polen hatte gemäß einem Gesetz vom 31. Juli 1924
Ausfuhrzölle eingeführt. Danzig hatte die Berechtigung hierzu
bestritten, da in den betreffenden Verträgen von diesen nicht expressis
verbis gesprochen worden wäre. Auch hatte die Freie Stadt geltend
gemacht, daß die polnische Regierung nicht "rechtzeitig den Vertretern der
Regierung der Freien Stadt Danzig sowie den von ihr ernannten Vertretern der
Interessenkreise Gelegenheit zur Äußerung"(39) gegeben hätte. Der
Völkerbundkommissar MacDonnell entschied am 6. November 1924,
daß das polnische Gesetz betr. Ausfuhrzölle für das Gebiet der
Freien Stadt Geltung hätte, daß aber die polnische Regierung die
geeigneten Vorkehrungen zur sofortigen Berücksichtigung jener ihr von der
Freien Stadt unterbreiteten Fälle, [103] "in denen die Anwendung des Zollgesetzes
vom 31. 7. 24 oder der aus ihm hervorgehenden Verordnungen
für ihre eigene Industrie, ihre eigene Landwirtschaft und ihr eigenes
Handwerk die Wirkungen eines Ausfuhrverbots hat", zu treffen hätte, und
daß über die Frage der Ausfuhrzölle zwischen Danzig und
Polen ein Abkommen abzuschließen wäre. Der Beschluß des
Rats, an den Danzig Berufung eingelegt hatte, bestätigte am 13. März
1925(40) die Entscheidung des Kommissars und
erklärte es für "wünschenswert", daß in Zukunft vor
Neueinführung von
Ausfuhr- und ähnlichen Abgaben Danzig Gelegenheit gegeben wird, seine
Ansicht zu äußern. Der Danziger Vertreter, Präsident des
Senats Sahm, hob bei dieser Gelegenheit die Verschiedenartigkeit der
wirtschaftlichen Interessen von Danzig und Polen hervor. Danzig wäre ein
Ausfuhr- und Durchfuhrstaat, Polen aber ein Agrarstaat. Da der Rat diesen
Interessengegensatz auf keine Weise wird beseitigen können, wird in
zollpolitischen Fragen schwerlich jemals Übereinstimmung in den
Wünschen erzielt werden können. Durch den Pariser Vertrag und das
Warschauer Abkommen hat aber Polen Handlungsfreiheit, Danzig kann nicht
einmal den Völkerbundkommissar anrufen. Hat dieser in seiner
Entscheidung vom 6. November 1924 doch selbst aussprechen müssen,
daß bei Unvereinbarkeit der Interessen die polnischen Interessen vorgehen
müssen.18
Diesem Kapitel sind noch einige Bemerkungen über die Behandlung der
Danziger Finanzfrage durch Völkerbund und Finanzkomitee
anzufügen.(42) Unter deren Auspizien ist im Jahre 1925 in
London eine Anleihe der Stadtgemeinde Danzig über 1,5 Millionen
£[19] auferlegt worden, nachdem die
übliche Prüfung auf Sicherheit und Verwendung durch das
Finanzkomitee voraufgegangen war, und Polen seine gemäß Art. 7
des Pariser [104] Vertrages notwendige
Nicht-Einspruch-Erklärung abgegeben hatte.20
Auch die Frage einer zweiten Anleihe wurde im Jahre 1926 auf Grund eines an
den Völkerbund Danzigs gerichteten Hilfeersuchens(44) in der erprobten Weise vom Finanzkomitee des
Völkerbundes einer Prüfung unterzogen.21 Im Juni 1926 unterrichtete der Senat
den Völkerbundkommissar van Hamel von der kritischen Lage der
Staatsfinanzen. Der Kommissar erbat darauf die Entsendung eines
Finanzsachverständigen nach Danzig. Dieser, es kam der Vorsitzende des
Finanzkomitees Janssen,(46) konnte dem Komitee noch auf seiner Julitagung
einen Bericht vorlegen. Das Finanzkomitee machte daraufhin die Empfehlung
einer Danziger Anleihe von der Erfüllung von drei Bedingungen
abhängig, nämlich, 1. Feststellung der Zahlungsverpflichtungen aus
dem Versailler Vertrag, 2. Abschluß eines Abkommens mit Polen
über die Neuverteilung des Zollaufkommens und 3. Einführung des
Tabakmonopols.(47) Punkt 1 setzte ein Übereinkommen mit
Organen der Alliierten, der Botschafterkonferenz und der Reparationskommission
voraus, Punkt 2 und 3 aber Übereinstimmung mit Polen. Diese letztere
erwies sich als recht schwierig zu erlangen. Und dabei waren die finanziellen
Schwierigkeiten im wesentlichen durch Polen verursacht worden. Durch Polens
Zollpolitik, die zur Werterhaltung der polnischen
Wäh- [105] rung die Einfuhr abgedrosselt hatte, waren die
Einnahmen Danzigs aus dem Zollaufkommen von 23 Millionen Gulden im Jahre
1924 auf 19 Millionen im Jahre 1925 zurückgegangen und mußten
Mitte 1926 auf nur 8,1 Millionen für das laufende Jahr geschätzt
werden.22 Gleichzeitig mit dieser
Einnahmeverminderung kam eine Vermehrung der Ausgaben durch Anwachsen
der Erwerbslosigkeit. Direkte Verhandlungen zwischen Danzig und Polen
führten nicht zum Ziel. Erst in Genf kam unter Mitwirkung des
Finanzkomitees am 20. September 1926 eine Vereinbarung über den
Zollverteilungsschlüssel(49) zustande, die vorläufig sofort in Kraft
gesetzt wurde. Die Höhe der von Polen zu leistenden Garantie wurde
bereits erwähnt.23 Gleichzeitig wurde durch
Ratsbeschluß Danzig die Verpflichtung auferlegt, seine schwebende Schuld nicht
zu erhöhen und sein Budget durch Ausgabeneinschränkung
(Gehälterherabsetzung und Beamtenabbau) ins Gleichgewicht zu
bringen.(50) Ebenfalls unter Mitwirkung des Finanzkomitees
kam es endlich am 31. März 1927 in Genf zu einer Vereinbarung
über die Einführung des Tabakmonopols in Danzig. Polen gestand
die zollfreie Einfuhr eines Tabakkontingents für das Danziger Monopol,
Danzig die Beteiligung polnischer Banken an der Monopolgesellschaft zu.(51) Die Schwierigkeiten24 waren auch auf der Junitagung 1927
des Rats noch nicht restlos beseitigt. Erst Ende Juni konnte die Anleihe in London
aufgelegt werden und wurde dann überzeichnet, da der Völkerbund
sie gutgeheißen hatte. Der Anleiheerlös von netto 40 Millionen
Gulden sollte Verwendung finden 1. für die Konsolidierung der
schwebenden Schuld (14 Mill.), für Zahlungen an [106] Botschafterkonferenz und
Reparationskommission (15 Mill.),25 3. für Wohnungsbauten (8.
Mill.) und 4. für Zinszahlungen an die Alliierten (3 Mill.). Als Sicherheit
wurden von Danzig die Roheinnahmen aus dem Tabakmonopol26 und aus der Verbrauchsabgabe auf
Alkohol und Essig verpfändet. Zum Treuhänder wurde vom
Völkerbundrat der holländische Bankier ter Meulen ernannt.
Es mag an dieser Stelle noch registriert werden, daß der
Hafenausschuß im August 1927 durch ein
amerikanisch-holländisches Konsortium eine Anleihe über 4,5
Millionen
U.S.A.-Dollar auf den Markt brachte. Der Hauptbetrag sollte für
Hafenerweiterungsbauten Verwendung finden.(54) Eine Mitwirkung des Völkerbundes und
seiner Organe wurde für die Auflegung dieser Anleihe nicht in Anspruch
genommen. Die Frage einer weiteren Anleihe der Stadtgemeinde Danzig
unterliegt seit September 1927 der Prüfung durch das Finanzkomitee.
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