[107] VI.
Der Völkerbundkommissar als Richter
Der Versailler Vertrag weist dem Kommissar des Völkerbundes in Danzig
zwei Aufgaben zu. Erstens soll im Einvernehmen mit ihm von
ordnungsgemäß ernannten Vertretern der Freien Stadt die Verfassung
Danzigs ausgearbeitet werden. Zweitens soll er über alle Streitigkeiten
entscheiden, welche aus dem Versailler Vertrag oder den ergänzenden
Abmachungen und Vereinbarungen zwischen Danzig und Polen entstehen. (Art.
103.)
Da sich sowohl die Tendenz geltend macht, die Kompetenz des Kommissars zu
erweitern, aus der richterlichen eine "staatsmännische" Tätigkeit zu
machen, als auch die Kompetenz einzuschränken, seine Entscheidungen zu
bloßen Ratschlägen herabzudrücken, an die die Parteien in
keiner Weise gebunden wären,1 ist es nötig, die rechtliche
Stellung des Kommissars näher zu betrachten. Wir folgen hierbei Herbert
Kraus, der dieser Frage in der Deutschen Juristenzeitung(2)2 eine Spezialuntersuchung gewidmet
und das Ergebnis wie folgt formuliert hat:
"Der Kern der Betätigungen des Kommissars ist durchaus judiziellen
Charakters. In dem Bukett seiner Zuständigkeiten überwiegen
richterliche Funktionen nach Zahl und Bedeutung
voll- [108] ständig. Sie, und nur sie, sind seiner
Stellung wesentlich. Was sich später an Verwaltungsobliegenheiten
hinzugefunden hat, ist alles Beiwerk. Der Völkerbundkommissar ist ein
erstinstanzlicher, internationaler, in den Völkerbundsorganismus
eingegliederter in weitem Umfange abhängiger Einzelrichter (nicht nur
Schiedsrichter), dem dazu noch einzelne besondere Verwaltungsaufgaben
übertragen sind. Seine Benennung als Kommissar ist demnach höchst
unkorrekt und mindestens ebenso irreführend wie seine Bezeichnung als
'Ober'-Kommissar." Kraus weist in diesem Zusammenhang auf eine
Bemerkung im Gutachten des Ständigen Internationalen Gerichtshofs im
Poststreit. "Aus diesen Bestimmungen geht ganz klar hervor, daß die
Tätigkeit des Hohen Kommissars richterlichen Charakter hat." Die
nichtrichterlichen Funktionen sind nach Kraus nichts weiter als Bündel von
Einzelzuständigkeiten ohne inneren Zusammenhang. "Schon deshalb
besteht keine Berechtigung dafür, ihren Kreis im Wege der Interpretation
"abzurunden", d. h. zu erweitern. Dies ist um so weniger zulässig, als
eine jede solche Abrundung auf Kosten Danzigs oder Polens, zweier Staatswesen,
gehen würde und dadurch mit jenem Satze in Kollision geraten
würde, der in dem bekannten Kommentar zur Völkerbundsatzung
von Schücking und Wehberg, 2. Aufl., S. 122, in die Formel gebracht ist:
"daß ein Gemeinwesen als Staat auch im Falle seiner Abhängigkeit
alle diejenigen Kompetenzen hat, die ihm nicht ausdrücklich [109] entzogen sind"...3 Speziell eine allgemeine
Garantie- und Schutzfunktion des Kommissars ist mangels einer
rechtlichen Basis hierfür nicht gegeben. Soweit dem Völkerbund
Garantie- und Schutzfunktionen in bezug auf Danzig zustehen, hat sie der
Völkerbundrat in den Bereich seiner Tätigkeit gezogen. Nur
vereinzelte Splitter davon hat er durch die... Beschlüsse an den Kommissar
zur Ausübung delegiert. Wir unterlassen es hier, die völkerrechtliche
Berechtigung derartiger Delegationen eines internationalen Organs an ein anderes,
sei es im Wege der Unterdelegation, sei es als unmittelbare
Zuständigkeitszuteilung, einer Kritik zu unterziehen, und
beschränken uns auf die Feststellung, daß ein derartiges Verfahren
eine völkerrechtliche Abnormität darstellt. Jedenfalls hat der Rat
selbst nie daran gedacht, in irgendeinem beträchtlichen Umfange seine
Zuständigkeiten dem Kommissar zu übertragen. Alles, wozu er sich
bisher aus Gründen der Geschäftserleichterung veranlaßt
gesehen hat, ist, daß er den Hohen Kommissar mit vereinzelten,
vorläufigen und unselbständigen Hilfstätigkeiten zu seiner
Unterstützung begabt hat."
Mit der ersten der eingangs genannten Aufgaben wurde der Verwalter der
alliierten und assoziierten Hauptmächte in Danzig, Sir Reginald Tower, von
dem Rat des Völkerbundes am 13. Februar 1920, also bereits einen Monat
nach Inkrafttreten des Völkerbundvertrages, betraut.(4) Ihm wurde zugleich
aufgetragen - und damit beginnt die Reihe der
Kompetenzausweitungen -, darüber zu wachen, daß die
Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung "auf einer so breiten und
demokratischen Grundlage wie möglich" stattfinden. Der Versailler Vertrag
besagt allerdings nicht, daß der Kommissar irgendwelchen Einfluß
auf die Zusammensetzung der Verfassunggebenden Versammlung ausüben
sollte. Ein solcher Auftrag hätte, genau genommen, Tower [110] nur von den Alliierten als den Inhabern der
souveränen Gewalt in Danzig (Art. 100 V. V.) erteilt werden können.
Der von dem belgischen Vertreter Hymans als Berichterstatter dem Rat vorgelegte
Bericht sieht eine weitere Aufgabe des Kommissars vor, die ebenfalls im
Versailler Vertrag nicht Erwähnung gefunden hat. Er soll dem Rat
über die Gegenstände, die in das Bereich seiner
Entscheidungs-Gewalt fallen, Bericht erstatten. Hymans begründete diese
Kompetenzvergrößerung damit, daß es für den Rat
"augenscheinlich notwendig" wäre, "über das, was vor sich geht,
unterrichtet zu sein". In Anbetracht des zwischen dem Völkerbunde und
Danzig bestehenden Schutzverhältnisses wird man diese Begründung
gelten lassen können. Einen dritten Punkt dagegen wird man mit einigem
Bedenken betrachten müssen. Hymans sprach nämlich davon, die
Garantie der Danziger Verfassung durch den Völkerbund schlösse in
sich, daß der Verfassungsentwurf durch den Völkerbund
"geprüft und gebilligt" würde ("la Société devra en
étudier et en
approuver les articles" bzw. "involves the consideration and approval of its
provisions by the League"). Es wäre daher ratsam, wenn der Kommissar
dem Rat die Verfassung übermitteln würde, bevor er sie
förmlich genehmigte ("avant de l'approuver officiellement" bzw. "before
formally agreeing to it"). Aus demselben Grunde würde der Rat den
Vertretern der Freien Stadt wahrscheinlich vorschlagen, in die Verfassung
ausdrücklich die Bestimmung aufzunehmen, daß die Genehmigung
des Völkerbundes für jede künftige
Verfassungsänderung erforderlich wäre.4 Der Versailler Vertrag erklärt
jedoch die Danziger Verfassung weder durch den Kommissar noch durch den
Völkerbundrat für genehmigungspflichtig. Der Versailler Vertrag
setzt für die Ausarbeitung der Verfassung nur ein "Einvernehmen"
("d'accord avec un Haut Commissaire" bzw. "in agreement with a High
Commissioner") mit dem Kommissar voraus. Ein Einvernehmen bedingt die
Gleichwertigkeit der Faktoren. Nicht aber eine Überordnung und
Unterordnung, wie Hymans sie durch die Worte "Prüfung" und
"Genehmigung" vorsah. Wenn der Völkerbund durch seine Organe
trotzdem den von der Danziger Verfassunggebenden Versammlung
ausgearbeiteten Verfassungsentwurf einer sehr eingehenden Prüfung
unterziehen ließ und der
Kom- [111] missar erst nach Erfüllung aller vom Rat
erhobenen Forderungen nach zweijährigem Hin und Her am 11. Mai 1923
die Danziger Verfassung "genehmigte",(6) so ist dies ganz offensichtlich eine
Überschreitung der dem Völkerbunde vertraglich
eingeräumten Kompetenzen und wegen der etwaigen daraus entstehenden
Folgen und der daraus zu ziehenden Folgerungen eine Beschneidung der
Selbständigkeit der Freien Stadt.
Interventionen des Völkerbundes sind im wesentlichen in vier Fällen
festzustellen. Die vom Rat in bezug auf die Danziger Verfassung erhobenen
Forderungen betrafen: 1. Die Einfügung des bedingten Verbots für
Danzig, als
Militär- und Marinebasis zu dienen. Art. 5 der Verfassung.(7) (8) 2. Die Einfügung einer Klausel, durch die die
Vertretungs-Befugnis des Senats und die
Gesetzgebungs-Kompetenz des Volkstages ausdrücklich durch das Recht
Polens auf Führung der auswärtigen Angelegenheiten begrenzt
wird.(7) (8) (10) 3. Die Einfügung einer Klausel, daß
der Entwurf eines Gesetzes über den Erwerb und den Verlust der
Staatsangehörigkeit dem Völkerbund zur Prüfung vorzulegen
wäre.(7) 4. Die Verkürzung der Amtszeit der
Senatoren.(9) (11)
Alle vier Forderungen sind von Danzig erfüllt worden, bevor die
Genehmigung des Kommissars erteilt wurde. Die vom Völkerbunde
vorgenommenen Eingriffe in die Selbständigkeit der Freien Stadt sind nicht
von dem gleichen Ausmaße. Das Verbot, als
Militär- und Marinebasis zu dienen, könnte aus dem
Verantwortungsbewußtsein des Schützers entsprungen sein. Es ist
aber dann nicht recht verständlich, aus welchen Motiven der
Völkerbund sich die etwaige Genehmigung zur Benutzung Danzigs
für
Militär- und Marinezwecke vorbehalten hat. Es scheint, als ob es für
die Selbständigkeit eines so kleinen Staatswesens förderlicher ist,
wenn eine Neutralisierung ohne Einschränkung ausgesprochen wird.
Ebensowenig ist es mit den dem Völkerbunde durch den Versailler Vertrag
überwiesenen Aufgaben ("Schutz Danzigs" und "Garantie einer
Verfassung") in Einklang zu bringen, wenn der Völkerbund darauf bestand,
daß die Polen durch die Führung der auswärtigen
Angelegenheiten zukommenden Rechte ausdrücklich in der Verfassung
Erwähnung finden sollten. Es scheint hier die Ansicht wirksam gewesen zu
sein, die Polen später veranlaßte, an den Rat als Protektor des
"Régime spécial établi à Dantzig" zu appellieren,(12) womit es den Völkerbund wohl zugleich
zum Protektor der polnischen [112] Rechte und Ansprüche in Danzig
gemacht haben möchte.6 In ähnlicher Weise sprach sich
Bouchereau(14) aus: "Diese Gesamtheit der
Danzig-polnischen Beziehung wird indirekt garantiert durch den Schutz, den der
Völkerbund der Freien Stadt sichert." An anderer Stelle ging
Bouchereau(15) noch weiter, wenn er sagte, der
Völkerbundkommissar müßte darüber wachen,
"daß Polen die ihm durch die Konvention mit Danzig gewährten
Rechte genießt". Ja, derselbe Autor versteigt sich sogar zu der
Behauptung,(16) daß der Schutz Danzigs durch den
Völkerbund "tatsächlich von Polen ausgeübt wird". Hier zeigt
sich, welche Konsequenzen aus diesen Interventionen des Völkerbundes
gezogen werden und wie die Freiheit der Freien Stadt, die zu schirmen der
Völkerbund verpflichtet worden ist, dadurch gefährdet wird. Nach
den Verträgen hätte für den Völkerbund ebenfalls keine
Veranlassung vorgelegen, sich durch die Verfassung das Recht der Prüfung
und Genehmigung eines Gesetzes über den Erwerb und Verlust der
Staatsangehörigkeit zusichern zu lassen.7 Allgemein ist bei dieser Gelegenheit
festzustellen, daß der Völkerbund für nicht eine einzige seiner
Verfassungsinterventionen ein formelles Recht besaß. Der am meisten in
die Sphäre des staatlichen Lebens einschneidende Eingriff des
Völkerbundes war das Verlangen auf Verkürzung der Amtszeit der
Senatoren, um dem Volkstag einen größeren Einfluß zu
sichern. Zu der Frage, ob es zweckmäßig ist,
Regierungsmitglieder - denn das sind die Danziger
Senatoren - auf zwölf Jahre zu bestellen, mag man stehen, wie man
will. Aber vom Standpunkt demokratischer Anschauung aus, die der Rat hier zu
vertreten glaubte, hätte man einen solchen Beschluß der Danziger
Verfassunggebenden Versammlung achten müssen.8
[113] Mehr noch als die bisher genannten Fälle
vom Völkerbunde oktroyierter Verfassungsbestimmungen scheint in
Danzig ein ähnlicher Tatbestand, dessen Bedeutung aber sehr fraglich ist,
Widerspruch erfahren zu haben.9 Professor Attolico, der um die
Jahreswende 1921/22 auf kurze Zeit und interimistisch Kommissar in Danzig war,
hatte in einem an den Rat gerichteten Bericht die Ansicht vertreten, daß der
Völkerbund das Recht hätte, Änderungen auch bei der in Kraft
getretenen Verfassung zu verlangen. Diese Ansicht zitierte der Rat in einer
Instruktion an den Kommissar über die Frage der Amtszeit der
hauptamtlichen Senatoren.10 Ob der Rat sich damit diese Ansicht
zu eigen machen wollte, bleibt durchaus ungewiß. Man wird vielleicht nicht
fehlgehen in der Annahme, daß der Rat sich nicht festlegen, aber doch
für alle Fälle für die Zukunft die Postulierung eines solchen
Rechtes vorbehalten wollte. Am Schlusse des vom [114] Rate genehmigten Berichtes wurde im
übrigen diese Frage nochmals berührt.11
Es mag verwunderlich erscheinen, daß die Freie Stadt diese
Kompetenzüberschreitungen ohne Widerspruch hingenommen hat. Es ist
dies nur daraus verständlich, daß die leitenden
Persönlichkeiten sich damals in der Welt der internationalen Politik noch
nicht auskannten. Dann aber war damals der Völkerbund noch mehr oder
minder Organ der Alliierten, die auch gegenüber Deutschland in diesen
Jahren immer erneut Kompetenzausweitungen vorgenommen haben. Unter dem
Gesichtspunkt der
Völkerbund-Ideologie muß es trotzdem als bedenklich erscheinen,
daß sich der Rat und in seinem Auftrag die Kommissare sich nicht peinlich
genau an die Einzelheiten der Verträge gehalten haben.12
Welche Rolle die Völkerbundkommissare für das Schicksal der
Freien Stadt bis zu ihrer Konstituierung und von da an bis auf den heutigen Tag
gespielt haben, darüber wird man wohl erst in späterer Zeit ein
vollständiges Urteil besitzen. Es mag auch Gegenstand anderweitiger
Erörterung bleiben, was England dazu bewogen hat, das ganz offenbare
Interesse an
Danzig - Großbritannien hatte, abgesehen von dem kurzen
Interregnum Attolicos, bisher regelmäßig die
Völkerbundkommissare gestellt: Tower, Strutt, Haking und
MacDonnell - allmählich so weit abflauen zu lassen, daß
Chamberlain am 11. Dezember 1924 vor dem Rat erklärte,(23) er würde im nächsten Jahr weder die
Verlängerung der Amtszeit von MacDonnell noch die Ernennung eines
anderen britischen Staatsangehörigen in Vorschlag bringen. Es erscheint
dies als eine Frage allgemeiner britischer Politik in Osteuropa und nicht nur aus
der Tatsache erklärbar, daß der letzte Kommissar britischer
Nationalität in langer kolonialer
Lauf- [115] bahn keine Gelegenheit zum Anknüpfen
guter persönlicher Beziehungen zum Foreign Office gefunden hatte, und
daß er daher auch nicht das britische Interesse an Danzig immer von neuem
zu wecken wußte, wie seine Vorgänger es sichtlich vermocht hatten.
Während MacDonnell die regelmäßigen Verhandlungen in
Genf laufen ließ, wie sie mochten, und sich in seinen Entscheidungen, wie
im Falle des Postkastenstreits, ruhig desavouieren ließ, hatten Tower und
Haking sich sehr energisch für ihre Überzeugungen eingesetzt,
mochten diese nun gegen13 oder für14 Danzig sein. Aus ihrer Haltung sprach
interessierte Unabhängigkeit.15
[116] Am 22. Februar 1926 hat dann der jetzige
Völkerbundkommissar van Hamel sein Amt angetreten. Er erfreut sich in
Danzig nicht der gleichen Wertschätzung wie seine Amtsvorgänger.
Es muß in der Tat befremden, daß der Rat van Hamel trotz seiner
politischen
Vergangenheit - er hatte während des Krieges eine maßlose
Propaganda gegen Deutschland entfaltet und alles Deutsche mit Haß
überschüttet(33) - zum Richter in Danzig-polnischen
Streitigkeiten und dazu noch entgegen der bisherigen Gepflogenheit gleich auf
drei Jahre ernannt hat.16(34)
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