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Süddeutschland - Eberhard Lutze

Drei alte Reichsstädte

Der Dreiklang Rothenburg, Dinkelsbühl, Nördlingen besitzt auch für den Ausländer einen Reiz, mit dem sich ihm Idealvorstellungen von altdeutscher Lebenskultur verbinden. Obgleich das Gesicht der Städte die Züge einer etwa gleichen Entstehungszeit trägt, sind sie ihrem Wesen nach grundverschieden. Rothenburg: das ist das fränkische Jerusalem, ein Vergleich, der dem Kaspar Bruschius im 16. Jahrhundert bei dem Blick von der Engelsburg herab über das tief eingeschnittene Taubertal hinauf zur türmereichen "Stadt in Franken lobesam" in Erinnerung an die ähnliche Lage Jerusalems eingefallen ist. Dinkelsbühl: das ist die Stadt mit der Flußlage "im stillen Tale der dunklen Wörnitz". Dies und die Lage an dem natürlichen Kreuzungswege des Ost–West- und Nord–Südverkehrs hat wesentlichen Anteil an der Geschichte Dinkelsbühls gehabt und auch an der Gestalt der Stadt Nördlingen, der Stadt des Rieses. Ihr Grundriß wiederholt die rundliche Kesselform des vulkanischen Seegebietes, ihre fünf Haupttore nehmen die Hauptverkehrsstraßen des Rieses auf und sammeln sie im natürlichen Stadtmittelpunkt, dem Marktplatz.

Wie kommt es, daß die drei Städte, deren mittelalterliche Bedeutung durch den wohlerhaltenen Mauerring außer Frage steht, heute kleine Landstädte mit etwa 9000, 5700 und 8500 Einwohnern sind, daß ihre Entwicklung im wesentlichen abgeschlossen war, ehe entseelte Unternehmerbauten des Maschinenzeitalters den mittelalterlichen Bannkreis sprengen, ehe das Weichbild der wie ein Wunder in unserer Zeit stehenden Bürgerstädte einer dreimal überholten altdeutschen Kultur beeinträchtigt oder gar zerstört werden konnten, wie an so vielen Plätzen unseres Vaterlandes? Eine erste Erklärung gibt das Ende der - freilich bereits zur Bedeutungslosigkeit herabgesunkenen - reichsstädtischen Freiheit. 1802 bzw. 1803 fielen Rothenburg und Nördlingen der Mediatisierung zum Opfer. Sie wurden Landstädte der bayerischen Krone. Dinkelsbühl hatte bereits 1731 Beschränkungen des Stadtregimentes erfahren, hatte Erwerbsgelüste der Öttingischen Grafen und der Ansbacher Markgrafen [733] zurückzuweisen. Nachdem die schwer verschuldete Stadt 1804 an Preußen gefallen war, nahm 1806 endgültig Bayern von ihr Besitz. Die Verfassung einer versunkenen Zeit ging in der Ordnung einer größeren Einheit auf.

Ein zweiter nicht minder folgenschwerer Eingriff war die neue Grenzführung. Alle drei Städte liegen auf der Grenzlinie nach Württemberg. Rothenburg büßte auf dem Tauschwege die Hälfte seines einstigen Reichsgebietes an das westliche Nachbarland ein. Damit war den Städten die Grundlage ihrer wirtschaftlichen Existenz entzogen. Denn ein Ersatz wurde nicht geschaffen. Die Haupteisenbahnlinien meiden die Städte. Es ist noch heute langwierig, nach Rothenburg und Dinkelsbühl zu reisen, wenn die Sonderzüge der Hauptreisezeit weggefallen sind. An dem Beispiel der schönsten altdeutschen Reichsstädte wird eindringlich die Folge der Umwälzung deutlich, wie sie die "so allgemeine und so reißend schnell durchgeführte Umlegung aller großen Verkehrsstraßen" im Zeitalter der Kunststraßen und der Eisenbahnen heraufgeführt hat. Die Großstädte haben die Herrschaft über das Land angetreten; einst blühende kleine und mittlere Herrenstädte mußten verblühen. Das neuzeitliche Schienen- und Kunststraßennetz hat infolgedessen die umgekehrte Wirkung wie das mittelalterliche Straßensystem. Einst siedelten sich Städte und Dörfer an den umständlich geführten Straßen an, die bis in die entlegensten Winkel ausstrahlten und das Land individualisierten, heute wählen die Verbindungsstraßen den kürzesten Weg, sie zentralisieren das Land (Riehl). Wie eine Ironie des Schicksals wirkt es daher, wenn man hört, daß gerade Kleinstaaten es waren, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der Anlage von Kunststraßen begannen. Die erste moderne Chaussee soll im Ries, zwischen Öttingen-Spielberg und Nördlingen gebaut worden sein. W. H. Riehl, einer der Wiederentdecker vergessener altdeutscher Städteschönheiten, schreibt dazu: "Jene Staaten ahnten die gewaltige, staatlich zentralisierende Macht eines vollendeten Straßensystems nicht, sie ahnten nicht, daß sie doch eigentlich nur die Wege ebneten, damit ihre eigene Souveränität desto geschwinder auf denselben zum Land hinausfahre."

Ihre reichsstädtische Verfassung danken die drei Städte den Kaisern Friedrich II. und Rudolf von Habsburg. Nördlingen wurde unter dem Staufer freie, nur dem Kaiser untertane Stadt, dem Rat und Bürgerschaft den Huldigungseid zu leisten hatten; Dinkelsbühl 1273, Rothenburg 1274. Ihre große Zeit aber hatten die Städte erst im 14. und 15. Jahrhundert, als sie sich die Form schufen, in der wir sie bewundern, als seit 1489 die Reichsstädte zwar ihre gegen die Fürsten gerichteten Sonderbündnisse aufgeben mußten, aber dafür die Reichsstandschaft erwarben und als solche nicht anders wie die Landesherren Sitz und Stimme im Reichstage hatten. Unter der Regierung der städtefreundlichen Kaiser Karl IV. und Wenzel gelang es Rothenburgs genialem Bürgermeister Heinz Toppler, ein nur wenigen anderen Städten gewährtes Vorrecht durchzusetzen, nämlich das Recht, den Reichsvogt durch den Rat selbst wählen zu dürfen, den völligen Blutbann und die Befugnisse des kaiserlichen Landgerichtes zu erwerben. Der Rothenburger Reichstag von 1377 [734] machte den Anfang zu dem beispiellosen Aufstieg der Stadt, die ihrem größten Führer seine Taten schlecht gedankt hat. Im Verfolg einer von Rothenburg tapfer und mit Erfolg geführten Fehde mit dem Burggrafen von Nürnberg und dem Bischof von Würzburg war die Reichsacht verhängt und Toppler des Verrates angeklagt worden. 1408 endete er im Kerker. Das reizende "Topplerschlößchen" im Taubergrund und die erweiterte Stadtbefestigung sind die Denkmäler des tragischen "Königs von Rothenburg" in der von ihm zur Größe geführten Stadt.

Rothenburg ob der Tauber. Der Markus-Turm.
[666]      Rothenburg ob der Tauber. Der Markus-Turm.

Rothenburg ob der Tauber. Das Rathaus.
[665]      Rothenburg ob der Tauber. Das Rathaus.
Auf dem sanft geneigten rechteckigen Marktplatz, dem das majestätische Rathaus, der Ausblick in die wohlhabende patrizische Herrengasse, der reizende St. Georgsbrunnen, die hallende Weite des Platzraumes einen festlichen Zug wahrhaft hochgemuten Selbstbewußtseins verleiht, stehen wir im Kern der alten Stadt. Leicht kann man von der südlich gelegenen Johanneskirche aus, wenn man den konzentrisch geführten Gassen über den Markus- und Weißen Turm zum ehemaligen Dominikanerinnenkloster folgt, sich den Verlauf der ältesten Ummauerung klarmachen. Ein kleines Gebiet, denn im Westen gab der steile Tauberabfall eine natürliche Grenze und glänzende Befestigungsmöglichkeit. Die Herrengasse endete am Burgtor, dem Zugang zu der auf langgezogener Bergzunge beherrschend angelegten Burg, von der wir Kunde haben, längst bevor es eine Stadt Rothenburg gab. Seit dem 10. Jahrhundert saßen hier die Grafen von Rothenburg. Kaiser Heinrich V. verlieh sie 1116 seinem Neffen Konrad von Hohenstaufen, der die Vorderburg errichten ließ. Von dieser Reichsfeste aus erteilte 1172 Barbarossa der Siedlung das Weichbildrecht; die Anfänge zur Stadt waren damit gelegt. Schon 1204 war der erste abgesteckte Rahmen für sie zu eng geworden. Man konnte darangehen, nach Osten hin sich erstreckendes Gartenland in hufeisenförmiger Erweiterung zu ummauern. Die letzte Abrundung, wie schon erwähnt, gelang der Führung Topplers durch die Einbeziehung des südlichen Spitalviertels, unter meisterhafter Ausnutzung der Steillage über der Tauber. Die Stadt folgt der Schleife, die der Fluß zu ihren Füßen zieht. Die Außenbezirke ordnen sich bescheiden dem vornehmen Stadtkern unter. Die Häuser werden einfacher, die Bevölkerung handwerklich oder ackerbürgerlich. Noch heute erinnern die Straßennamen an die einst dort ansässigen Handwerke. Die Hauptstraßen selbst führen alle über den Marktplatz. Man lasse sich durch die malerischen, immer wieder begeisternden und zu beschaulichem Verweilen einladenden Straßenzeilen nicht täuschen: auch in dem scheinbar so regellosen, so wie ein natürliches Gebilde gewachsenen Rothenburg sind die Gassen nach einem vorbedachten Plan geführt. Dies ist das Gesetz, nach dem sich die in sechs Wachten eingeteilten Stadtteile um ihren natürlichen Mittelpunkt kristallisieren: das Gesetz der Wehrhaftigkeit. Im Angriffsfalle mußten die der allgemeinen Wehrpflicht unterliegenden Bürger schnell an die bedrohten Partien der Mauer, zu den schwer bewehrten Türmen geworfen werden können. Die Torwächter und die Wache auf dem Rathausturm hatten die Pflicht, bedenkliche Bewegungen im Felde sofort zu signalisieren. Der raschen Verbindung diente der Wehr- [735] gang, den abzuwandern zu den allerschönsten Erlebnissen in Rothenburg zählt. Immer wieder öffnen sich neue Blicke über die Dächer, deren in warmem Rot leuchtende Schrägen auf steil sich reckenden Fachwerkgiebeln bei jeder Mauerbiegung in immer neuen Überschneidungen und Gruppierungen von dem jäh emporschießenden Rathausturm, dem doppeltürmig flankierten gestreckten Schiff der Jakobskirche, den zierlich behelmten Tortürmen überragt werden. Alle 150 Meter, in dem Abstande eines Pfeilschusses, werden Mauer und Wehrgang von Türmen unterbrochen. Sie sitzen wie 35 Gelenke in dem steinernen Mantel der Mauer. In dem am meisten gefährdeten östlichen Zuge stehen noch 12 Streichwehren im Graben. Die Straßenköpfe schützen das Klingen-, Würzburger-, Röder-, Spital- und Koboltzeller Tor. Sie wurden aus Torburgen gegen Angriffe verteidigt. Es war keine Kleinigkeit für den Belagerer, eine solche kleine Festung zu nehmen. War ihm geglückt, das erste Torhaus mit Zugbrücke und Tor zu besetzen, so stand ihm ein deckungsloser geschlossener Hof bevor. Graben, wiederum ein Torhaus mit Fallgatter und Zugbrücke, der Zwinger und endlich der eigentliche Hauptturm. Erschwert wurde die Einnahme noch durch mehrfache Biegungen des Weges durch die Torburg, so daß der Gegner die Einfahrt nicht unter Strichfeuer nehmen konnte. Eine immerwährende Sorge mußte das gefährdet gelegene Spitaltor im Süden der Stadt bleiben. Die 1586 vollendete Bastei ist der modernste Rothenburger Verteidigungsbau. Der Stadtmeister Leonhard Weidenmann verwertet die Befestigungstheorie Albrecht Dürers. Zwei ovale Höfe, Streichwehren zum Auffahren schweren Geschützes, Kasematten zum Bestreichen des Grabens, prachtvolle Buckelquadern, deren Auskragung das Einhaken von Sturmleitern erschweren sollte. Vor der drohenden Bastion aber rauschen die Linden ihr altes Lied, träumen von der alten Reichsgröße, wie ihre Vorfahren, die den Einlaß Begehrenden, bevor noch Brücke und Tor geöffnet waren, einen ersten schützenden Willkomm der Stadt entboten. "Pax intrantibus, Salus exeuntibus" - Friede den Ankömmlingen, Heil den Scheidenden - grüßt ein Spruchband von der Bastei herab.

Zu der Herrschaft Rothenburg gehörten im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts 167 Ortschaften mit 20 000 Einwohnern. Seit den Hussitenkriegen wird dieses Umland durch die Landhege dem Verteidigungsnetz miteinbezogen. Noch heute stehen einsam, mitten in der Landschaft, sechs Landtürme des aus einer doppelten Umwallung mit Dornhecken zu einem bedeutenden Hindernis ausgebauten Schanzwerkes. Der Obhut der städtischen Hegereiter war die Anlage unterstellt. In dem reizend winkligen Hegereiterhaus im Spitalhof hatte der Beamte seine Dienstwohnung.

Diese Andeutungen über das "Rothenburg in Wehr und Waffen" mögen angesichts der Schönheit des Stadtbildes sehr nüchtern klingen. Aber man hat mit dem Wissen um die kriegerische Sendung ein leichtes Mittel bei der Hand, diese Schönheit nicht nur zu genießen, sondern auch zu verstehen. Denn darin ist der Sinn dieser Schönheit am herrlichsten erfüllt, daß er aus dem Bedürfnis der um ihr Rathaus und um ihre Stadtkirche gescharten Bürger- [736] gemeinde, aus der Lebensnotwendigkeit und Geschlossenheit einer Zeit gefunden wurde. In der Einheit liegt die Schönheit dieser verwunschenen Stadt. Vor dem vom Bahnhof kommenden Reisenden versinkt die Gegenwart, sobald die glatte Asphaltstraße aufhört, und er auf holprigem Pflaster die beiden Rödertore durchwandert; wer den Taubergrund entlangkommt, dem öffnet sich überraschend auf beherrschender Höhe der Anblick der Stadt, und man wandere im Tale weiter an dem Riemenschneiderkirchlein von Dettwang vorüber, um den ganzen wechselvollen Umriß zu genießen, von der Höhe der Engelsburg bei Abendsonnenschein oder im Mondenglanz das vieltürmige Bild zu schauen und über die doppelbogige Tauberbrücke - ein trotziges Denkmal aus Rothenburgs politisch großer Zeit - den Zugang durch das Koboltzeller Tor zu gewinnen. Die mähliche Steigung des Weges überwachend entfaltet das Plönlein alle Reize Rothenburger Stadtbaukunst: Durchblick auf zwei Türme, die als Blickfang sich zwischen die Giebelwände der Straßenzeile sperren, ein aus Fachwerkmuster und Durchfensterung bestehendes Haus, das schmal wie ein Schiffsleib die Straßengabel zu schöner Einheit zusammenschweißt. Giebel an Giebel, treppenförmig gestufte und gerade Schrägen, Schnecken in bunter Abfolge, jedes Einzelhaus sich einordnend in die "Schnur" der Gassenwand. Schnittige Steinmetzarbeiten wie die Schauseite des "Baumeisterhauses" setzen prunkende Akzente. Und ist nicht das Meisterwerk des Leonhard Weidenmann, sein Rathausneubau, den er mit dem älteren gotischen Turm- und Giebelbau zu einer jeder Symmetrie baren, einzigartigen Ecklösung, zu einem Gebieter über Platz und Stadt zusammenschloß, ist dieses schönste deutsche Rathaus nicht der reichere Bruder all der anderen kleinen Rothenburger Häuser? Die springende Unruhe des Umrisses, die Achsenvielzahl der Bogenfenster und Dachluken, der aus der Mitte gerückte Treppenturm, der übereck gestellte Erker: in jeder Einzelform zuckt und sprüht die Phantasie des fränkischen Rothenburg, durchsättigt der die Zeiten überdauernde Stammes- und Stadtcharakter die Stilformen der deutschen Renaissance, deren schattenwerfende Profile schwer und reif neben dem zarten Giebel des gotischen Nachbarn stehen.

Unbedingter als die Riemenschneiders Blutaltar umschließende Rothenburger St. Jakobskirche beherrscht die dem Ritter Georg geweihte Pfarrkirche zu Dinkelsbühl das Stadtbild. Gewaltig erhebt sich das riesige Dach der schönsten süddeutschen Hallenkirche über die niedrigen Giebel der behaglichen Bürgerhäuser. Die Flußlage hat dem Stadtplan größere Weiträumigkeit verstattet. Die Häuser dehnen sich wohliger an den breiten Straßenplätzen, die sie gestaffelt besetzt halten. Schwäbische Lust an Raum, sonnigen Plätzen und langfallenden Schatten ist das, die sich in Dinkelsbühl mit fränkischen Zügen begegnet.

Dinkelsbühl.
[668]      Dinkelsbühl.
Seit Jahrhunderten schwanken hochbeladene Ochsengespanne durch die Tore. Längst ist der Tuchmacherei und den Sensenschmieden anderswo Konkurrenz entstanden. Schwer hat die kleine Reichsstadt um ihre Selbständigkeit gegen die ständig fehdelustigen Grafen von Öttingen kämpfen müssen, schwer der Religionskampf um den Glauben der Dinkelsbühler getobt. Mit harter Hand hat Karl V. [737] die frühzeitig zum Protestantismus übergetretene Bürgerschaft zum alten Glauben zurückgeführt, dem noch heute die Mehrzahl anhängt und die Georgskirche dient. Hart aber hat auch die Bürgerschaft ihre eigene Macht behauptet, wie das Schicksal der Nachbarstadt Feuchtwangen dartut, die nicht zur Macht kam, weil es den reichen Dinkelsbühlern nicht gefiel. Immer wird die Stadt selbst das schönste Denkmal dieser stolzen und reichen Geschlechter bleiben. Ihre bald sich weitenden, bald sich verengernden Straßen, ihre schönen Durchblicke auf abgeklärt ruhig wirkende Türme scheinen zum langsamen, genießenden Verweilen geradezu geschaffen. Größe und Beschränkung: beides hielt zukünftiges Schicksal für die Bewohner dieser Stadt in der Hand. Die Nachfahren jener stolz-demütigen Generationen, die ihre letzte Kraft daransetzten, ein Gotteshaus zu bauen, das dreimal soviel Raum bot wie Einwohner bauten und beteten, die Nachfahren fielen der Beschränkung durch die Mauer zum Opfer. Wie seltsam klingt doch der Satz des liebenswerten Christoph von Schmid, eines Sohnes der Stadt, der den Brauch der St. Ulrichsprozession zur Kapelle vor der Stadt mit der Begründung begrüßt, weil dadurch die Bewohner, "die sonst nicht hinausgehen würden, hinausgeführt werden, damit sie den Segen Gottes auf Wiesen und Feldern auch einmal ansehen mögen".

Nördlingen. Wehrgang aus dem 14. Jahrhundert.
[667]   Nördlingen. Wehrgang aus dem 14. Jahrhundert.
Ob in Nördlingen ein solcher Geist der Enge je eingezogen ist? Fast möchte man glauben, daß der Schein der Weltgeschichte, der in den Nottagen des Jahres 1634 jäh über Nördlingen aufgezuckt war, als sich durch die Niederlage Bernhards von Weimar das dreißigjährige blutige Ringen zu entscheiden begann, noch später nachgeleuchtet hat. Der junge Kaiser Ferdinand II. ließ die Stadt ihren Trotz nicht entgelten. Sie durfte protestantisch bleiben. Damals haben von dem Wahrzeichen der Stadt, dem "Daniel" der Georgskirche, schwelende Pechkränze als Notzeichen der verzweifelten Bürger dem schwedischen Entsatzheer durch das nächtliche Ries entgegengeleuchtet. Die Beschießung hat nur geringen Schaden angerichtet. Im Jahre 1651 konnte Andreas Zeidler den intakt gebliebenen runden Grundriß zeichnen; unverändert bietet er sich dem heutigen Blick von der Höhe des Turmes. 18 Türme bewachen die Mauer, locker, zu einzelnen Blöcken regelmäßig geordnet liegen die Häuser, aus deren traulich-behäbiger Gemeinschaft sich allein das freistehende Rathaus mit der schönen gedeckten Freitreppe löst. Keine überraschenden Durchblicke, keine fränkische Romantik gibt es in der schwäbischen Stadt der Färber, Gerber und Lodweber; alles ist klar, alles ausgerichtet nach dem schlanken Mittelpunkt des Daniel. Düster, massig und drohend stehen die runden oder mit schweren Hauben abgedeckten Festungstürme Wolf Waldbergers († 1613) über der älteren Mauer: ein wehrhaftes Bild der Reichsstadt, die ihre Rechte gegen 15 Landes- und Grundherren im Ries zu behaupten wußte. Nördlingen blieb die "Königin des Rieses", die gar wohl Hof zu halten wußte. Sie brauchte sich keine fremden Meister, wie ihre Schwesterstädte, zu verschreiben: der Stadtmaler Friedrich Herlin, der Dürerschüler Hans Schäuffelein schufen für sie. Die Kreuzigungsgruppe in der Stadtkirche ist eines der ergreifendsten Schnitzwerke unserer altdeutschen Plastik. Im sehenswerten Rathausmuseum findet [738] man auf einem Altarflügel Herlins Nördlinger Bürger als Stifter solcher eigenständigen Kunst dargestellt: andächtig knien sie in einem Kirchengestühl. Ihr Blick ist klar, kühl und durchdringend. Wie diese frommen schwäbischen Männer blickt ihre Stadt: hart und geradsinnig, "nüchtern und ehrbar".

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Deutsches Land: Das Buch von Volk und Heimat, das Kapitel "Bayern".

Das Buch der deutschen Heimat
Hermann Goern, Georg Hoeltje, Eberhard Lutze und Max Wocke