Süddeutschland - Eberhard Lutze
Rund um Odenwald und
Spessart
Fruchtbare, dichtbesiedelte Ebene, darauf ausgedehnte Fabrikanlagen ihre Schlote
zum Himmel strecken, deren Weite abwechselnd donnernde
Fernschnellzüge und langsam daherkeuchende Güterzüge
durch ein dichtes Eisenbahnnetz passieren
läßt - Steilabfall rundlicher Bergkuppen mit festen Burgen,
saftgrüne, in der Ferne bläulich wogende Laubwälder, von
spärlichen Siedlungen durchsetzt, das ist der Gegensatz, den die Achse der
obstreichen Bergstraße am Westabfall des Odenwaldes gegen die
Rheinebene markiert. Und solch Gegensatz bietet sich auch dem Wanderer oder
Paddler, wenn er die mächtige Mainschleife von Lohr über Wertheim
und Miltenberg begleitet hat und bei Aschaffenburg die Umschreibung des
Mainviereckes beendet, das von dem Waldgebirge des Spessart ausgefüllt
ist. Die Eisenbahn
Lohr–Aschaffenburg meidet den Durchbruch des Mains. Sie
führt geraden Weges über die Höhe und bietet prachtvolle
Ausblicke. Der Main zerschneidet die Einheit des teils kristallinen, teils aus
Buntsandstein gebildeten Gebirges in die Zweiheit
Odenwald-Spessart. Miltenberg, am südlichsten Knick der Mainschleife
gelegen, ist einer der ge- [720] gebenen
Ausgangspunkte für beide Waldgebirge. "Es steht ein Baum im Odenwald,
der hat viel grüne Äst!" Grüner, feierlich dunkelgrüner,
auf schwarzem, weichen Humus gewachsener Buchenwald nimmt den Wanderer
auf, der eben noch die unregelmäßig zum "Schnatterloch"
emporsteigenden fränkischen Fachwerkhäuser bewundert hat. Er ist
im Odenwald. Von Heidelberg, die Bergstraße entlang bis
hinüber zum Engelsberg überm lachenden Maintal, von der trutzig
das Neckartal sperrenden,
zinnen- und mauerbewehrten Kaiserpfalz Wimpfen bis hinauf nach
Aschaffenburg und Darmstadt zieht sich dieses liebliche Waldgebirge, um dessen
Bäume und Täler und Höhen Geschichte und Sage raunen von
altersher, da Siegfried zur Bärenjagd ritt von Worms aus und vom grimmen
Hagen erschlagen ward am Lindenquell im Odenwald. Geschichtlich reiches Land
breitet sich vor dem Blick von der Höhe: riesige "Heunensäulen"
liegen zwischen den mächtigen Felsblöcken, Zeugen
römischer Provinzialkunst. Als mächtige Stützen eines
römischen Tempels oder Palastes ausersehen mag die Arbeit der
Steinmetzen Hals über Kopf im Stich gelassen worden sein, als siegreiche
Germanenvorstöße die römische Linie sprengten. In Steinbach
im Odenwald baute Einhard, Karls des Großen Vertrauter und
Geschichtsschreiber, eine noch heute stehende steinerne Basilika. Michelstadts
laubendurchbrochenes Fachwerkrathaus, Erbachs berühmte Sammlungen
der Fürsten Erbach, Fürstenaus zauberhaftes Wasserschloß der
gräflichen Linie
Erbach-Fürstenau, Beerfeldens auf ragender Höhe düster
dräuender steinerner Galgen, der Abtei Amorbachs festlich beschwingter
Barock - das sind Wahrzeichen der Geschichte im Odenwald und
Denkmäler der Stände, die sie machten.
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Amorbach (Odenwald).
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Amorbach (Odenwald).
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Die Haufen-, Straßen- und Waldhufendörfer des Gebirges folgen den in
Nord-Südrichtung strömenden, reizvolle Tälchen bildenden
Bächen und Flüßchen. Die wanderlustige Zeit der Epoche der
Romantik hat eine Vorliebe für die Burgen des Landes gehabt, deren
meistbesungener, sagenhafter Held der nächtlich ausreitende Rodensteiner
ist. Die Rittersitze auf Bergeshöhe, sie gehören zu dem Bilde der
sanft geschwungenen Odenwaldhöhen, deren Reize am
verschiedenartigsten von der Höhe des von Felsenmeeren umlagerten
granitenen Malchen (Melibokus) und der aus der Buntsandsteintafel
emporragenden Basaltkuppe des Katzenbuckels erlebt werden.
Im Spessart fehlen derartige Ausblicke. Er ist ein Waldgebirge; man
muß unter den dämmrig-einsamen Baumdomen, die nur
gedämpft den Schall der Kulturlandschaft durchlassen, die
schwachwelligen Höhenlinien "buchstäblich im Walde suchen", und
man ahnt ein vielleicht ganz nahegelegenes Dorf nicht einmal. Das ist das Gebirge
der großen Einsamkeit, in dessen bayerischem Teil Deutschlands
wertvollste und riesigste Eichen ragen, die durch 3 bis 600 Jahre
Stürmen und Wintern und Kahlschlägen getrotzt haben. Buchenwald
mit Alteichen in lichter Stellung - der natürliche Bewuchs des
Buntsandsteins - macht noch heute den Hauptbestand des Spessart aus.
Nachweislich sind erst 1772 die ersten 5 Hektar mit Nadelhölzern
bepflanzt worden. Von 1796 bis 1922 ist dann in den bayerischen
Staatswaldungen des Spessart der Anteil der Kiefer von 0,4 auf 38 Prozent
in die Höhe gegangen. Der Tatsache, daß [721-728=Fotos] [729] etwa
seit dem 11. Jahrhundert die riesigen Waldungen mit ihrem ungeheuren
Wildreichtum als großgrundherrlicher Besitz und jagdbarer Wald bis zum
15. Jahrhundert ein für die Besiedlung verschlossenes Gebiet war, ist
die Erhaltung der Spessartnatur in erster Linie zu danken. Das edle Weidwerk war
ein Herrenhandwerk. Dem Bauern blieb der Wald versperrt. Heute noch in Resten
festzustellende Feldmauern schützten seine von den Talsohlen aus in die
dichten Forste hineingerodeten Gewanne. Kurmainzisches Jagdgebiet ist der
Spessart gewesen. Die Bischöfe belehnten adlige Geschlechter mit etwa 20
sogenannten
Forst- und Bachhuben, denen die Verwaltung und der Schutz des Waldgebietes
unterstand. Mit Vorliebe wurden derartige Jagdschlösser in "obersten
Talenden oberhalb der Waldhufendörfer" angelegt. Märchenhaft, im
stillen Weiher sich spiegelnd, an bewaldete Hänge geschmiegt,
träumt Schloß Mespelbrunn, die Geburtsstätte des
großen gegenreformatorischen Würzburger Bischofs Julius Echter
und jetziger Ingelheimer Besitz, von dem Halali jener alten höfischen
Jagdfeste. Nachdem um die Wende zum vorigen Jahrhundert unter der Regierung
des Fürstprimas von Dalberg auf Veranlassung der über Wildschaden
klagenden Bauern, die die Feldmauern hatten verkommen lassen,
rücksichtslos das Wild hatte abgeschossen werden dürfen, ist die
Hege des Mittelalters in der Neuzeit mit Glück wieder aufgenommen
worden. Der Spessarter Wildpark, in dessen etwa 6000 Hektar
umfassendem Bereich die berühmten Saujagden des Prinzregenten Luitpold
stattfanden, und der etwa 3300 Hektar große Wildpark des
Fürsten Löwenstein-Wertheim-Rosenberg, weidgerechte Hege und
Winterfütterung, planmäßige Durchforstung und Pflege der
Wildwiesen, Wildäcker und Salzlecken sorgen dafür, daß nach
wie vor Schwarzwild, Hirsch und Reh durch die herrlichsten Laubhochwaldungen
des Spessart ihre Fährte ziehen.
Das lichtscheue Räubergesindel, das einst in den Wäldern sich barg
und noch in Wilhelm Hauffs unheimlichem Wirtshaus im Spessart spukte,
ist längst verschwunden. Forsthäusern, Waldarbeitern und
Waldhufendörfern begegnet der Wanderer, den auf glatten
Autostraßen Kraftwagen bis in den Hochspessart, bis nach Rohrbrunn
fahren. Wie im Odenwald so herrscht auch im Spessart das Einhaus vor, eine Art
Schrumpfform des fränkischen Gehöftes: hoher Sandsteinsockel, der
den Stall aufnimmt, an dem eine gedeckte Freitreppe zu dem Wohnhaus
emporführt, über dessen Fachwerk ein steiles Dach abschließt.
Diese "Stallwohnhäuschen" sind häufig recht primitiv, hat doch die
Landwirtschaft die Dorfbewohner nicht mehr ernähren können und
einen erheblichen Teil zu Wanderarbeitern werden lassen.
Die Armut hört auf und das behäbig-bäuerliche
fränkische Gehöft bestimmt die ausgedehnten Dörfer, wo die
städtchenreiche Bergstraße, das fruchtbare Bett des Mains und das
tiefe Tal des Neckars beginnt. Da ist Geschäftigkeit, Handel und Wandel.
Da ist der Frankfurter Stadtraum, die Spessartstadt Aschaffenburg, die hessische
Landeshauptstadt Darmstadt (das südliche Stadtzentrum Heidelberg bleibe
in diesem Zusammenhang einmal beiseite).
Der Umschlaghafen an der 1914-1921 kanalisierten Mainstrecke von
Offen- [730] bach bis
Aschaffenburg ist das Herz des modernen Aschaffenburger
Wirtschaftslebens, das vielfach mit dem Spessart verbunden ist; das Bergland ist
das gegebene Hinterland der Spessartstadt. Die arbeitsarme Bevölkerung ist
oftmals in die Buntpapier, Kleider und Metallwaren erzeugende Aschaffenburger
Industrie abgewandert. Vor dem Anschluß an Bayern (1814) herrschte
über Aschaffenburg der Mainzer Krummstab. Georg Ridingers machtvoll
trutziger, mit vier Türmen bewehrter Schloßbau der Johannisburg ist
das zeitlose Denkmal der weltlichen Herren, die malerische Stiftskirche das nicht
minder bedeutsame ihres geistlichen Regimentes. Die magische
Künstlerpersönlichkeit Matthias Grünewald, der
mainfränkische visionäre Deuter mittelalterlicher Legenden, malte
seinen Maria-Schnee-Altar für diese Kirche, dessen ergreifend stilles
Beweinungsbild noch in Aschaffenburg gezeigt wird. Ein Werk Cranachs,
Arbeiten aus der Nürnberger Vischerwerkstatt deuten noch die
Kunstfreudigkeit der Mainzer Herren an, obwohl die meisten Aschaffenburger
Kunstschätze verschleppt worden sind.
Die natürliche Lebensader Aschaffenburgs ist der Main, dessen Ausgang
das rheinische Mainz, dessen lebendigste, modernste und zugleich historisch
reichste Stadt Frankfurt ist. Preisen wir mit Rudolf G. Binding die
Schönheit Frankfurts! "Hingelagert in den breiten Thron deiner Ebene, die
feine Linie eines Gebirges nicht zu nahe hinter dich gezogen, den Fluß, der
dir zugehört, dicht an deiner
Seite - so steht dein Bild, schöne Stadt Frankfurt, in der Seele derer,
die dich lieben. Wie zur Schau hast du dich hingebreitet, und kaum eine andere
Stadt gleicher Größe empfängt den sich über die
Brücken des Stromes Nahenden mit gleicher Gunst. Mühelos, vom
Fluß hinan, hinab geleitet, umfaßt der Blick dein Ganzes, dein Bestes,
dein Schönstes; die Anmut, die ewige Jugend deines Gesichtes. Sonderbar
unbetont verschwinden vor ihm die Teile geringerer Schönheit, geringeren
Ausdrucks. Vorstädte sind unsichtbar und werden dennoch geahnt;
Lagerbauten, steinerne Leiber, Kranen und Eisengefüge des Hafens liegen
mainaufwärts gebannt, und die schweren dunklen, hochrippigen Raupen der
Eisenbahnbrücken spannen sich fernab von deinem Antlitz oben und unten
über den Fluß. Nirgends drängt sich Gewalt und Beleidigung
bis in dein Herz. Wo sie sich breitmacht, siegst du durch Freiheit, durch Grazie,
durch Reize des Alters, und mit dem jugendlich Neuen bist du niemals im
Streit."
Die altbewährte Gunst der Lage an hochwasserfreien Ufern des Mains, der
hier den letzten Odenwaldausläufer durchsägt, eine Furtlage, die Karl
den Großen auf der Flucht vor den Sachsen mit seinem Heere gerettet haben
soll - gegenüber von Frankfurt liegt
Sachsenhausen! - diese Lage hat Frankfurt in neuester Zeit zum
bedeutendsten Eisenbahnknotenpunkt werden lassen. Man verliert die
Orientierung, wenn man die zahllosen Gleise der breiten Frankfurter
Bahnkörper überfährt.
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Frankfurt am Main. Der Römer, das alte Rathaus.
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Schon die alte Reichsstadt, die Stadt des alten Krönungsdomes der Kaiser,
die Stadt des anmutigen Römerberges zeigte ein Doppelgesicht. Frankfurt
war die Messestadt des Mittelalters. Und dies ist die "irdisch nährende
Quelle [731] der Größe
Frankfurts" als Handelsstadt gewesen. Hier traf sich zu Ostern und im Herbst
Angebot und Nachfrage, strömte aus allen Gauen die deutsche
Kaufmannschaft zusammen. Es müssen gebildete, großzügige
und lebenslustige Patrizier gewesen sein, die im blühenden Jahrhundert der
Reformation die Geschicke der Stadt lenkten. Allerdings hatte der Importhandel
und das mit der Messe verbundene Geldgeschäft auch schwarze
Schattenseiten. Luther klagte, die Frankfurter Messe sei das
Gold- und Silberloch, "dadurch aus deutschen Landen fließt, was nur quillt
und wächst bei uns und gemünzt und geschlagen wird". Schon aus
dem 13. Jahrhundert wissen wir, daß zahlreiche Juden den
Geldverkehr an sich gerissen hatten und niederträchtig mißbrauchten.
Während noch 1240 in Frankfurt 180 Juden deswegen "teils erschlagen,
teils verbrannt" wurden, sah man im 18. Jahrhundert untätig zu, wie
40 bis 50 Wechseljuden nichts anderes taten, als "gute Münze aufzukaufen
und schlechte in Umlauf zu bringen!" (R. Huch).
Mitten zwischen den aus dem Alten Reich in die geschäftige Frankfurter
Gegenwart hineinragenden Bauten steht am Großen Hirschgraben das
Geburtshaus Goethes, darin er die Welt mit dem Götz, dem Clavigo und
Werther beschenkte. Und neben dieses ehrwürdige Haus Frankfurter
Geistes stellt sich die Paulskirche, darin 1848 die klügsten und liberalsten
Geister vergebens um die Form eines Großdeutschland debattierten und in
solcher tatlosen Redetätigkeit allerdings nur die Erben der endlosen
Parlamente der alten Reichstage blieben! Eine der schönsten
Hinterlassenschaften Frankfurter Kulturbewußtseins aber ist das
Kunstinstitut, das nach dem Stifter Joh. Fr. Staedel seinen Namen
trägt. Ob die junge Frankfurter Universität, die die stolze Tradition
der entrissenen Straßburger Alma mater übernommen hat, eine
Zukunft haben wird? Fast möchte man glauben, Industrie und Handel
werden Frankfurts Zukunft bedeuten. "...Vorstädte sind unsichtbar und
werden dennoch geahnt." Der Vorort der chemischen
Industrie - Teerfarben und Heilmittel von
Weltruf - heißt Höchst. Die Verwaltung der
I. G. Farbenwerke sitzt in Frankfurt. Sie ist eine der Säulen
deutscher Weltgeltung. Der Vorort der Lederfabrikation heißt
Offenbach, der Diamantschleifern und Edelmetalle Hanau;
beides junge Gründungen, denen die Ansiedlung französischer
Hugenotten bzw. reformierter Flamen und Wallonen dank ihrer Spezialkenntnisse
gutes Gedeihen gebracht hat.
Schon sausen auf der Reichsautobahn Frankfurt–Darmstadt die meisterhaft
gebauten neuen Autobusse dahin, und sieht man auf der breiten Bahn die Modelle
der Opelwerke aus Rüsselheim ihre Probefahrten zurücklegen.
Darmstadt, die vornehm-stille Residenzstadt, deren
künstlerisch-musikalische Kultur, deren Ausstellungen und
Künstlerkolonie dank der begeisterten Förderung durch den
Großherzog Ernst Ludwig vor dem Kriege zu glänzender Blüte
gelangt war, Darmstadt wird durch die neue Schlagader der Autostraße
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Weltflughafen Frankfurt am Main.
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zweifellos Auftrieb durch die weltgewandtere nördliche Schwesterstadt
erfahren. Frankfurt wird in Zukunft im Schnittpunkt der Reichsautobahnen
Nord–Süd und Ost–West liegen. Von Frankfurt aus trägt der Zeppelin
den Ruhm [732] deutscher Technik und
Friedensliebe durch die Welt. Gleichzeitig mit der Frankfurter Zeppelinhalle
entstehen in Rio de Janeiro und in Sevilla Hallen, die mit einer Länge von
281, Höhe von 55 und Breite von 60 Metern Riesenluftschiffe, wie
sie für die Zukunft geplant sind, aufnehmen können. Aus der Gondel
des Luftschiffes, wo die irdischen Entfernungen zusammenrücken, hinter
dem Fenster des Autos, dessen Bahn die Landschaft zerschneidet, wird man den
Gegensatz von Kultur- und Naturlandschaft als Augenerlebnis vor sich haben, den
Gegensatz des aus Deutschlands Südwesten in die Welt hinausstrahlenden
Stadtraumes Frankfurt und der in sich gekehrten Bergwälder im Odenwald
und Spessart, die den Silberbändern des Main und Neckar ihr
immergrünes Lied singen.
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