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Bd. 8: Die Organisationen der Kriegführung, Dritter Teil:
Die Organisationen für das geistige Leben im Heere

  Kapitel 8: Aufgaben und Arbeiten
des Kunstschutzes im Weltkriege
  (Forts.)

Paul Clemen

2. Die Westfront.

Schon in den ersten Wochen nach dem verhängnisvollen Einmarsch in Belgien war in den Kreisen der deutschen Kunsthistoriker und Denkmalpfleger die Empfindung gewachsen von der ihnen obliegenden moralischen Verpflich- [398] tung, sich hier für den Schutz der besetzten Gebiete, in denen die einheimischen Behörden nicht mehr fungieren konnten, einzusetzen, den belgischen Behörden selbst bei ihren Schutzbestrebungen den nötigen Beistand zu leisten und zugleich den Tatbestand der Zerstörungen auch gegenüber falschen Anklagen oder Übertreibungen festzustellen. Auf Veranlassung des damaligen Generaldirektors der preußischen Museen, Wilhelm von Bode, hatte sich das preußische Kultusministerium mit dem Generalgouverneur in Belgien wie dem für die Verwaltung zuständigen Reichsamt des Innern verständigt. Am 12. September 1914 wurde in der Person des damaligen Direktors des Kunstgewerbemuseums, des Geheimrat Dr. Otto von Falke (Berlin), ein ausgezeichneter und allseitig orientierter Kunstbeamter der Zivilverwaltung in Brüssel zugeteilt mit dem Auftrag, sich über den wirklichen Zustand aller Kunstdenkmäler zu vergewissern und für ihre Sicherung möglichst zu sorgen. Er hat dieses Amt bis zum Ende des Jahres umsichtig ausgeübt und ist sofort nach dem Abzug der belgischen Truppen auch in den belgischen Kunststädten tätig gewesen. Für die erste Revision von Bibliotheken und Archiven war im selben Herbst der Bibliotheksdirektor Prof. Milkau aus Breslau vom Kultusministerium nach Belgien entsandt worden. Die Fortsetzung des Krieges, vor allem das Unglück von Löwen, bei dem die Bibliothek unbeachtet und daher ungeschützt in Flammen aufging, gab die Lehre, daß der Kunstschutz sich auch auf die Baudenkmäler erstrecken müsse, um rechtzeitig zu warnen, auf die künstlerische Bedeutung bedrohter Bauwerke aufmerksam zu machen, nach Möglichkeit Schonung zu erwirken oder entstandene Schäden zu heilen. Für diese Seite des Kunstschutzes war am 20. Oktober 1914 auf Vorschlag des Kultusministeriums der Vorsitzende des Denkmälerrates der Rheinprovinz, Geheimrat Prof. Dr. Paul Clemen (Bonn), dem Generalgouvernement in Belgien beigegeben worden. Im nächsten Monat erhielt er den gleichen Auftrag für Frankreich. Auf Grund eines Kabinettschreibens des Kaisers vom 1. Januar 1915, das ihn ermächtigte, in jedem dringlichen Fall zur Front zu reisen, wurde er von der Obersten Heeresleitung beauftragt, das Operations- und Etappengebiet zu bereisen, um den Zustand der Baudenkmäler festzustellen und das Interesse der Denkmalpflege an ihnen wahrzunehmen. Der Auftrag wurde im Herbst 1915 auch auf den östlichen und unter dem 3. Januar 1917 auf die gesamten deutschen Kriegsschauplätze ausgedehnt. Der Generalquartiermeister bei der Obersten Heeresleitung hatte schon am 2. März 1915 generelle Bestimmungen für den Schutz der Kunstdenkmäler erlassen, nachdem vorher schon bei den einzelnen Armeen einzelne Grundsätze aufgestellt worden waren. Der Erlaß sah vor, denjenigen Kunstbesitz, der sich in zerstörten oder gänzlich verlassenen Baulichkeiten befand, zur Aufbewahrung an gesicherten Orten der nächsten Behörde des Landes oder, in Ermangelung einer solchen, einer Kommission angesehener und zuverlässiger Persönlichkeiten zu übergeben, Kircheneigentum in erster Linie den Geistlichen benachbarter Ort- [399] schaften. Grundsätzlich sei die Sicherung an Ort und Stelle anzustreben. In erster Linie seien die Landesbehörden oder, beim Fehlen solcher, zuverlässige Einwohner hierzu heranzuziehen. Eine weitere Sicherung könne durch geeignete polizeiliche Maßnahmen und die Androhung strenger Strafen wegen Zerstörung, Beraubung und Beschädigung geschaffen werden. Müssen solche Gegenstände im Interesse ihrer Erhaltung weggeführt werden, so werde auch dies grundsätzlich durch die nächste Behörde des Landes oder angesehene Landeseinwohner zu besorgen sein. Die Ortskommandanten werden am Schluß besonders auf ihre Pflicht der Erhaltung wertvollen Kunstbesitzes hingewiesen.

Auf eine Denkschrift Clemens vom 2. Oktober 1914, die damals bereits die Einsetzung einer geordneten Denkmalpflege in dem besetzten Gebiet von Frankreich anregte, hatte der Kaiser schon unter dem 8. Oktober 1914 sich grundsätzlich zustimmend ausgesprochen.

Im Laufe des Jahres 1915 ist in wiederholten Eingaben Clemens an die Oberste Heeresleitung und an den preußischen Kultusminister die Berufung von Sachverständigen an die Westfront erbeten worden, um Kunstwerke des öffentlichen und privaten Besitzes aus der Gefahrzone zu entfernen und sie dem Gewahrsam der französischen Museen im Etappenbereich zu überantworten. Die Angelegenheit wurde damals, als viel Kunstgut noch intakt war, das später Schaden nahm, leider noch aufgeschoben, weil die Einrichtung einer deutschen Verwaltungsbehörde in Frankreich abgewartet werden sollte. Am 7. Oktober 1916 wurde dann auf erneute Vorstellungen des Kultusministeriums der Museumsdirektor Dr. Theodor Demmler (Berlin) in das Hauptquartier West berufen, mit den Arbeiten des Schutzes und des Abtransportes der beweglichen Kunstschätze betraut; im nächsten Jahr wurde er zum ständigen Referenten für die Denkmalpflege beim Beauftragten des Generalquartiermeisters West bestellt. Es war damit endlich, freilich für vieles schon zu spät, die längst geforderte Instanz geschaffen.

Bei den einzelnen Armeen wurden gleichzeitig, und diesen direkt unterstellt, weitere Sachverständige aus den Kreisen der deutschen Kunsthistoriker als Kunstoffiziere eingestellt und mit den Obliegenheiten der Denkmalpflege im besonderen betraut. Von Norden nach Süden waren das: Dr. Feulner, Dr. Burg, Dr. Freiherr von Hadeln, Prof. Dr. Pinder, Dr. Weise und Dr. Reiners; ohne militärische Funktion wirkte von Anfang an daneben von seinem Sitz Metz aus in dem Bezirk der dortigen Armee der Direktor des Metzer Museums, Prof. Dr. Keune. Außerdem wurde die Arbeit unterstützt durch eine Reihe weiterer Kunstgelehrter und Architekten, die in den verschiedensten Stellungen mit Spezialaufträgen tätig waren. Auf Antrag des archäologischen Instituts bereiste im August 1918 Museumsdirektor Dr. Lehner (Bonn) den westlichen Kriegsschauplatz, um für den Schutz verschiedener archäologischer Denkmäler und Spezialsammlungen Vorschläge zu machen. In dem Gebiet des König- [400] reichs Belgien arbeitete bei den dort stehenden Armeen die deutsche Denkmalpflege in ständiger Fühlung mit der belgischen Commission Royale des monuments et des sites. Selbständig und unabhängig von der Organisation an der französischen Front waren tätig als Kunstsachverständiger für Brügge bei dem Generalkommando des Marinekorps schon seit 1916 der Architekt Dr. ing. Flesche, im südlichen Westflandern Freiherr von Schenk zu Schweinsberg. Für das ganze Gebiet des Generalgouvernements war von 1916 ab, zuletzt als ständiger Kunstreferent, der Museumsassistent Bersu (Stuttgart) tätig, der sowohl auf dem Gebiet des eigentlichen Kunstschutzes bei der Bergung von Kunstwerken mitwirkte, wie er umsichtig für die Bedürfnisse der belgischen Museen zu sorgen hatte.

In Belgien ist zur Unterstützung der dem Generalgouvernement pflichtmäßig zugefallenen Denkmalpflege in den Jahren 1917 und 1918 eine vollständige bildliche Inventarisation der belgischen Kunstdenkmäler durchgeführt worden, an der sich 38 deutsche Kunsthistoriker und Architekten beteiligt haben. Über zehntausend photographische Aufnahmen und eine große Zahl von zeichnerischen Aufmessungen sind in dieser Zeit hergestellt, ein außerordentlich wichtiges kunstgeschichtliches Material ist damit für die internationale Forschung gesichert worden. Die Arbeit erfolgte durch eine von dem Generalgouvernement wie von dem Reichsamt des Innern gleichermaßen geförderte Kommission, an deren Spitze Geheimrat Clemen stand, als Geschäftsführer war Dr. Hensler tätig. Ein Teil des Ergebisses dieser Sammelarbeit liegt in den 1923 von Paul Clemen herausgegebenen beiden Bänden der Belgischen Kunstdenkmäler (München, Verlag F. Bruckmann) vor, dem gemeinsamen Werk von 24 Kunsthistorikern deutscher Zunge. Drei der wichtigsten gotischen Bauten des Landes waren schon 1916 in einem stattlichen Folioband Die Klosterbauten der Cistercienser in Belgien (Berlin, Zirkel-Verlag) von Paul Clemen und Cornelius Gurlitt veröffentlicht worden. Das sind die wichtigsten organisatorischen Maßnahmen und Einrichtungen auf dem westlichen Kriegsschauplatz.

Was konnte seitens der deutschen Verwaltung überhaupt auf diesem Kriegsschauplatz und in den besetzten Gebieten geschehen? Worin konnte überhaupt eine Tätigkeit und eine Wirksamkeit der verschiedenen Denkmalpfleger und Sachverständigen bestehen? Es ist klar, daß es selbst bei der Voraussetzung des weitesten Interesses der Heeresleitung unmöglich war, die Baudenkmäler in der eigentlichen Kampfzone selbst während der Kampfhandlungen zu schützen und etwa eine unsichtbare, aber undurchdringliche Hülle über die hervorragendsten Kirchen und Schlösser zu legen. Die Denkmalpfleger mußten zunächst ihre Aufgabe darin erblicken, immer wieder generell und von Fall zu Fall bei den verantwortlichen Stellen ihre Plaidoyers für die Denkmäler vorzubringen, auf die höhere kunstgeschichtliche und kulturgeschichtliche Bedeutung dieser Werke, auf die Pflicht, sie auch als Monumente der allgemeinen europäischen Entwicklung zu schützen, auf die politische Bedeutung dieser Frage hinzuweisen und [401] wenigstens um eine Ausnahmestellung für die großen steinernen Denkmäler der eigenen oder der fremden Geschichte zu bitten, nach Möglichkeiten zu suchen, um eine rechtliche Bindung für alle Kriegführenden herbeizuführen, zum Zwecke der Freihaltung wenigstens der allerwichtigsten nationalen Monumente von militärischen Zwecken. Bei einer kürzeren Dauer des Krieges, bei der Annahme einer einzigen Kampagne hätte dieses Eintreten auch in vielen Fällen genutzt. Überzeugt hatten die einen Armee-Oberkommandos, zögernd die anderen den Befehl zur Schonung und zur Freihaltung einer Reihe von erlesenen Bauwerken gegeben; was in der einen Kampagne richtig oder möglich erschien, mußte bei der nächsten dann doch aufgegeben werden. Der aus militärischen Gründen von der Obersten Heeresleitung befohlene Rückzug auf die Siegfriedstellung, der ein weiteres Glacis ohne Stützpunkte für diese ganze Stellung schaffen mußte und die Anmarschmöglichkeit tunlichst erschweren wollte, hat dann eine Reihe von bis dahin sorgfältig geschonten Schlössern doch noch vernichten müssen, und der Rückzug selbst hat dann zu dem Aufgeben einer Reihe von Sicherungen gezwungen und hat die Kriegswelle nun auch langsam über ein Gebiet vorrücken lassen, das bislang fast ganz geschont schien. Selbst Mißerfolge, Widerstände und auch Zurückweisungen (von denen der Autor erzählen könnte) durften die Denkmalpfleger in ihrem Eintreten nicht irremachen. Es galt zuletzt auch die Ehre der deutschen Kunstwissenschaft und der deutschen Denkmalpflege zu wahren, die beide in den Fällen Löwen und Reims gewissermaßen vor der ganzen Kulturwelt angeschuldigt und beleidigt erschienen. Die Empfindung, daß es sich hier für die Gegenwart und die Zukunft um eine Frage der nationalen Ehre handle, deren Wahrung eben den Vertretern der Kunstwissenschaft in erster Linie zufiele, ist auch der Grund gewesen, daß die deutschen Kunsthistoriker und Denkmalpfleger mit solcher Hartnäckigkeit selbst ungerufen immer wieder Sturm gelaufen haben. Sie sahen vielleicht auch am frühesten und am klarsten die ungeheure Bedeutung, die im Kampf um die Seelen der Völker, um die Sympathie der Welt den ehrwürdigen Palladien einer fremden Kultur und der Sorge um diese zukam. Wenn die Ziffer der geopferten, der untergegangenen und zerstörten Bauten an den weiten Kampffronten auch riesig groß ist, so ist doch auch die Zahl der Denkmäler und der Städte nicht gering, die geschont werden konnten und denen die deutsche Verwaltung ihre Fürsorge zuwandte; und vor allem gegenüber einer großen Zahl von Schloßanlagen ist es möglich gewesen, oft erst, nachdem sie beim ersten Vormarsch hart angefaßt worden waren, und nachdem sie lange eine überreiche Belegung zu tragen hatten, eine schonende und pflegerische Behandlung durchzusetzen.

Voll tiefer Trauer und mit wehem Herzen stehen wir vor den Zerstörungen in Belgien, das durch die Tragik der Weltgeschichte in diesen Strudel hineingerissen wurde. Wenn man die Verlustliste aufstellt, so darf man dieser gegenüber betonen, daß zum Glück die Denkmäler der großen Städte Brüssel und [402] Antwerpen, der großen flandrischen Kunstzentren Gent, Brügge und Tournai die sämtlichen Monumente von Lüttich, dazu Courtrai, Hal, Nivelles, Mons, Tirlemont, Tongern unberührt aus jenen ersten Kämpfen herausgegangen sind. Nicht eine Liste und ein erläuterndes Verzeichnis der Kriegsverluste in der Reihe der architektonischen Denkmäler an der Westfront soll hier gegeben werden - das ist von deutscher Seite schon im Jahre 1916 geschehen in einem Bericht über den Zustand der Kunstdenkmäler auf dem westlichen Kriegsschauplatz und in der umfangreichen Darlegung von Joseph Sauer (Freiburg i. Br.) in einer Sonderveröffentlichung über die Zerstörung von Kirchen und Kunstdenkmälern an der Westfront und in einer Reihe von weiteren Berichten, vor allem in dem einen Kapitel des großen Kunstschutzwerkes.3 Dabei müssen wir immer wieder betonen, daß bei den Bauten in der Front unsere Autopsie in dem Augenblick aufhörte, wo die deutschen Truppen zurückgenommen wurden, daß wir die weiteren Schicksale vielfach erst später aus belgischen und französischen, englischen und amerikanischen Veröffentlichungen und Berichten kennengelernt haben. Bei den jenseits oder vor unserer Front gelegenen Bauwerken waren wir auf die einseitigen Aussagen unserer Gegner und auf fremde, zum Teil uns durch Neutrale zugehende Berichte angewiesen. Auch die Debatte und den Kampf um die großen Monumente, deren Namen damals wie ein Feldgeschrei um die Erde getragen ward, haben wir hier nicht aufzunehmen. Man wird die Übertreibungen vieler der erregten Berichte von damals heute, wo die Kriegspsychose hinter uns liegt, mit Ruhe einschätzen und auf das richtige Maß zurückführen. Der Historiker wie der Jurist hat die von beiden Seiten vorgebrachten Aussagen und Zeugnisse gegenüberzustellen gehabt; sie haben die Angaben erwogen, auch nach der Möglichkeit, die die angeblichen Zeugen hatten, wirklich zu sehen und zu beobachten. Beide Seiten haben manche Dinge in anderer Beleuchtung ansehen gelernt, haben Irrtümer geklärt.

Da es sich bei der Auseinandersetzung über die Zerstörung von Kunstdenkmälern, über die Frage der Möglichkeit und des Wertes eines Kunstschutzes um geistige Schlachten handelte, müssen auch die Debatten, die damals für die ganze Welt im Vordergrund des Interesses standen, hier als die wichtigsten noch einmal erwähnt werden. Im Herbst 1914 trugen die beiden Schlachten den Namen Löwen und Reims; das eine wie das andere stellt für die ganze Welt, für die beiden betroffenen Länder und nicht zum wenigsten für Deutschland ein großes folgenschweres Unglück dar. In dem Fall Löwen stehen die Berichte von deutscher und von belgischer Seite sich zum Teil vollkommen gegenüber. Aber alle von belgischer Seite vorgebrachten Einzelmitteilungen haben die [403] Tatsache nicht aus der Welt geschafft, daß in der Nacht vom 14. zum 15. August 1914 unsere Truppen einem von langer Hand vorbereiteten nächtlichen Überfall in Löwen zum Opfer fallen sollten. Der kommandierende General des IX. Reservearmeekorps von Boehn bekundet in seiner Aussage, daß bei dem nächtlichen Angriff der Gesamtverlust des Stabes 5 Offiziere, 2 Beamte, 23 Mann und 95 Pferde betrug. Die beschworenen Berichte von 50 Offizieren und Militärpersonen sagen dasselbe. Die während des Krieges entwickelte belgische Legende, die den Vorgang in Löwen als Folge einer unter den deutschen Truppen ausgebrochenen Panik hinstellen wollte, erscheint angesichts aller dieser Zeugnisse doch als eine ungeheuerliche Unmöglichkeit und ist ja auch von den Belgiern selbst wieder aufgegeben worden. Bei den sich an diesen Überfall anschließenden Kämpfen und bei dem von den deutschen Truppen verhängten Strafgericht ist nach Ausweis des amtlichen Planes ein Zehntel des Stadtbereichs und ein Achtel der Wohnstätten zerstört, und nur in der Gegend des Bahnhofes und in den beiden Parallelstraßen nach dem Zentrum der Stadt zu, das heißt überwiegend in dem moderneren Teil der Stadt, der weniger durch architektonische Denkmäler ausgezeichnet war. Die Verantwortung für alles, was hier geschehen ist, muß ausschließlich den militärischen Stellen überlassen bleiben. Es ist hier nicht der Platz, anzuklagen oder zu beschönigen. Das Rathaus, das viel bewunderte Werk des Matthäus de Layens, dessen baulicher Organismus durch den plastischen Schmuck so völlig überwuchert wird, daß es fast einem kostbaren Reliquienschrein gleicht, ist unversehrt erhalten geblieben, gerade dank der Umsicht des Kommandanten, der die brennenden Nachbarhäuser sprengen ließ, und noch während des Brandes sind, dank der Energie und Aufopferung deutscher Offiziere, die wertvollsten beweglichen Schätze aus der Peterskirche in das Rathaus gerettet worden, darunter die beiden bekannten Stücke des Dirk Bouts, vor allem sein Abendmahl.

Tief schmerzlich und in Deutschland wie überall so ernstlich beklagt und betrauert bleibt der Verlust der Bibliothek in Löwen, die mit dem ganzen Häuserblock, in den sie ohne alle schützende Brandmauern eingefügt war, in jener Feuersbrunst zugrunde ging. Es waren keine Diener, Hausleute oder Beamte anwesend, niemand, der die wertvollsten Schätze hätte retten wollen, niemand, der die deutsche Kommandobehörde auf die hier bestehende Gefahr aufmerksam machen konnte. In den wissenschaftlichen Kreisen Deutschlands ist der Untergang der Bibliothek wie ein persönlicher Schmerz empfunden worden. Es bleibt das bittere und bedrückende Gefühl zurück: "Konnte dies Unheil nicht wenigstens vermieden werden?"

Auch in Reims war es ein tragischer Unglücksfall, der damals den Brand des Daches und des großen an der Westfront der Kathedrale sich erhebenden Holzgerüstes und die dadurch verursachte schwere Beschädigung des Statuenschatzes an dem einen Teil der Front und seiner Nachbarschaft hervorgerufen [404] hatte. Was in den Zeiten der erregten Abwehrpropaganda in Abrede gestellt war, ist durch die französischen Veröffentlichungen selbst einwandfrei zugegeben worden, nämlich, daß auf dem nordwestlichen Turm der Kathedrale sich eine Anlage für einen Beobachtungsposten befunden hatte, eine Station für drahtlose Telegraphie, ein Projekteur, ein Gerüst, eine erhöhte, weithin sichtbare Plattform, wie auch, daß in nächster Nähe des Baues französische Truppen und französische Artillerie aufgestellt waren. Die Feststellung dieser Anlage für einen Beobachtungsposten auf dem einen Turm, die Notwendigkeit, ihn zu vertreiben, haben jedenfalls den äußeren Anlaß gegeben für den Schuß auf die Kathedrale an jenem unheilvollen Septembertage 1914. Die französische Regierung hat damals die Erklärung in die Welt geschickt: Ohne sich auch nur auf den Schein militärischer Notwendigkeit berufen zu können, einzig aus Zerstörungswut, hätten die deutschen Truppen die Kathedrale von Reims einer systematischen Beschießung unterzogen; zur gegenwärtigen Stunde sei die berühmte Kathedrale nur mehr ein Trümmerhaufen.

Diese voreilige Erklärung hatte die Regierung selbst schon in den nächsten Wochen zurücknehmen müssen. Die Zerstörung, die damals die Kathedrale erfahren hat, war keine andere, als was nach einem Dachbrand und Gerüstbrand mit allen Folgen einzutreten pflegt. Daß die Westseite so schwer litt, war durch den beklagenswerten Umstand verschuldet, daß an diesem Teil der Westfront sich ein riesenhaftes hölzernes Gerüst erhob, das für die Ausführung der Restaurationsarbeiten aufgeführt worden war, und das entgegen allen Vorsichtsmaßregeln, die verlangt hätten, die Kathedrale sofort tunlichst frei zu machen, an seinem Platze belassen war und nun bei der Beschießung Feuer fing. Der mächtige Haufen von zusammenstürzenden brennenden Balken hat damals fünf Stunden vor der Front gebrannt, ohne daß das geringste getan ward, diesen gefährlichen Feuerherd zu zerstören oder die brennenden Balken auseinanderzureißen oder das dieser ungeheuren Hitze ausgesetzte Seitenportal unter Wasser zu setzen. Erst im März 1915 sind die Portale der Kathedrale, und nun natürlich zu spät, durch Sandsackpackungen vor weiteren Beschädigungen geschützt worden. Für die deutschen Kunstfreunde und Kunstgelehrten, die nicht weniger als die Franzosen die einzige Schönheit dieser Skulpturen bewundert haben, war es ein tiefer Schmerz gewesen, daß jetzt ein Teil von ihnen so schwere Beschädigungen erlitten hatte. Immerhin nur Beschädigungen, und noch die verstümmelten Statuen zeigen wie die Torsen vom Parthenon die unsterbliche Schönheit und Würde dieser plastischen Wunderwerke. Über jenes Unglück des September 1914 dürfen die Akten als geschlossen gelten, und die Zustimmung französischer und englischer Zeitungen, die (gerade in den mit anderer Tendenz geschriebenen Berichten enthaltenen) positiven Zugeständnisse über die Tatsache der militärischen Benutzung der Kathedrale, lassen diese Frage als eine historisch klare und durchsichtige erscheinen.

[405] Mit diesem ersten Unheil war freilich die Passionsgeschichte der Kathedrale und der unglücklichen Stadt noch nicht abgeschlossen. Die Festung Reims bildete während der vier Kriegsjahre den einen Angelpunkt der langen französischen Südfront zwischen Verdun und Soissons, den Sammelpunkt der militärischen Kräfte und das große Ausfalltor für die gewaltige Champagneschlacht, wie wiederum das Zentrum für die Schlachten des letzten Sommers. Die dem kommandierenden General vor Reims erteilten Befehle, die Kathedrale tunlichst zu schonen, sind befolgt worden, solange überhaupt eine Schonung möglich war. Erst im letzten Jahr sind bei der immer geringer werdenden Sicherheit der Ziele auch durch Einschüsse noch erhebliche Verletzungen hinzugekommen. Vorher aber schon hatte die Kathedrale auf das schwerste gelitten durch den Mangel aller Schutzvorrichtungen, die das im Anfang völlig erhaltene Gewölbe geschützt hätten. Im Oktober 1916 hatte sich der Papst Benedikt XV. an den Kaiser gewandt, um die Möglichkeit von Schutzarbeiten an der Kathedrale zu erwägen. Der Kaiser erklärte in seiner Antwort vom 7. Dezember 1916, es würde ihm große Befriedigung gewähren, die großherzigen und edlen Absichten, die zu dem Vorschlag der Schonung geführt hatten, verwirklicht zu sehen, in diesem Sinne habe er die nötigen Anweisungen gegeben. Auf die Mitteilung der Bedingungen, unter denen die Zulassung von zivilen Arbeitern auf der Kathedrale geduldet werden sollte, und auf den Vorschlag für den hier zugesicherten beschränkten Waffenstillstand ist der deutschen Regierung aber überhaupt keine Antwort zugegangen! Was in den letzten Kämpfen die Kathedrale wie die Kirche St. Remi noch zu leiden gehabt haben, haben wir mit bitterer Verwunderung dann erst aus den französischen Berichten lange nach dem Zusammenbruch erfahren.

Beschießung von St. Quentin durch französische Artillerie.
Beginn der Beschießung von St. Quentin
durch französische Artillerie. Die ersten Einschläge
vor der Kathedrale.      [Vergrößern]

Aus: Der Weltkrieg in seiner
rauhen Wirklichkeit
, S. 151.

Auf dem Trümmerfeld des abgebrannten Daches der Kathedrale von St. Quentin.
Auf dem Trümmerfeld des abgebrannten Daches
der Kathedrale von St. Quentin.
Am 19. August 1917.      [Vergrößern]

Aus: Der Weltkrieg in seiner
rauhen Wirklichkeit
, S. 152.
Das dritte Denkmal, um das eine lange geistige Schlacht sich entspann, ist St. Quentin mit seiner Kathedrale, der ehemaligen Kollegiatkirche des hl. Quentinus, die seit 1876 den Titel der Basilika trägt. Die seltsame Vernachlässigung in der Gliederung des Außenbaues ließ das Bauwerk schon vor dem Krieg wie ein Paradigma zu der Anklageschrift des Maurice Barrès, La grande pitié des églises de France, erscheinen. Wir sahen, wie die Quentiner selbst mit großer Sorge auf "la grande délabrée" blickten. Auch hier ist die Zerstörung der Kathedrale auf das Schuldkonto der Deutschen gesetzt worden. Es muß demgegenüber noch einmal betont werden, daß St. Quentin seit dem 7. Oktober 1917 unter dem schweren Feuer der Alliierten, von Norden her der Engländer, von Süden her der Franzosen lag, daß am 15. August 1917 im Laufe der seit Ende Juli verstärkten Beschießung das Dach der Kathedrale in Flammen aufging, und daß unter dem Einfluß der Witterung und des fortschreitenden Bombardements das Gewölbe im Querschiff und im Chorhaus eingestürzt war. Im Januar 1918 brachte das Bombardement das ganze Gewölbe im Chorabschluß zum Zusammenbruch. Die erneut einsetzende Beschießung im Sep- [406] tember 1918 hat das Zerstörungswerk besiegelt. Bis dahin war aber nicht ein einziges Geschoß aus deutschen Geschützen auf die Stadt gefallen, da ja eben die Deutschen in St. Quentin saßen. Man kann auch heute bei dem Rückblick auf die Ereignisse des Krieges und auf das Verhalten der Öffentlichkeit die verschiedene Behandlung des Falles von St. Quentin und des Falles von Reims nicht begreifen. Während der Protest über die erste Beschädigung der Kathedrale von Reims um die ganze Erde lief, haben über die systematische Zerstörung der Kathedrale von St. Quentin sämtliche Zeitungen der Entente in Europa wie im Ausland mit einer eisernen Beharrlichkeit geschwiegen. Daß die wertvollsten Kunstwerke der Stadt vor den englischen und französischen Geschützen gerettet wurden, ist ausschließlich der umsichtigen Fürsorge des Oberkommandos der 2. Armee zu danken. Aus der Basilika sind unter der aufopfernden Leitung des von der dortigen Armee bestellten Kunstoffiziers Leutnant Freiherrn von Hadeln und später durch die dort postierten Pioniere die frühgotischen Glasfenster aus dem Chor und dem Querschiff, sowie die kostbarsten der spätgotischen und Renaissancefenster unter ständiger Lebensgefahr mit den größten Anstrengungen herausgenommen und nach Maubeuge in Sicherheit gebracht worden.

Es war für die Durchführung dauernder wirksamer Schutzmaßregeln an der Westfront und für den systematischen Abtransport von Kunstwerken aus dem gefährdeten Gebiet unheilvoll, daß die Einsetzung einer geordneten Denkmalpflege in dem besetzten Gebiet von Frankreich, der der Kaiser schon am 8. Oktober 1914 grundsätzlich zugestimmt hatte, immer weiter hinausgeschoben ward. Es wäre nicht unbedingt notwendig gewesen, die Einrichtung einer deutschen Verwaltungsbehörde in Frankreich, mit der jene Organisation in Verbindung gebracht werden sollte, abzuwarten. Auch die wiederholten Eingaben, die im Jahr 1915 an die Oberste Heeresleitung und an den preußischen Kultusminister gerichtet wurden, in denen die Berufung von Sachverständigen an die Westfront zu diesem Zweck dringlich erbeten war, fanden zunächst kein Gehör, man nahm an, daß der oben erwähnte Generalerlaß des Generalquartiermeisters vom 2. März 1915, der diese ganze Pflege regeln sollte, ausreichende Maßregeln angäbe. Es erwies sich aber, daß diese Fürsorge ohne ständige Kontrolle, ohne fortwährenden Hinweis auf die Bedeutung dieser Maßnahmen und ohne das Gefühl, daß sie nicht nur von der Obersten Heeresleitung, sondern auch von den Augen der Heimat voll gespannter Aufmerksamkeit verfolgt wurden, unzulänglich sein mußte. Die Ortskommandanten waren mit anderen militärischen Dringlichkeiten beschäftigt, und sie waren auch in den meisten Fällen gar nicht in der Lage, das Werturteil über die kunsthistorische Bedeutung der in ihrem Bereich befindlichen Objekte zu fällen. Die ersten Schutzoperationen auf diesem Gebiet waren daher auch mehr oder weniger halb privaten Charakters und aus der persönlichen Initiative der Betreffenden hervorgegangen.

[407] Die Arbeit der mit der Wahrnehmung der Denkmalpflege betrauten Personen bestand an der Westfront zunächst in einer Reihe von ausgedehnten, zum Teil viele Wochen umfassenden Besichtigungsreisen, bei denen sich die Aufgabe ergab, immer wieder den militärischen Stellen und Behörden an der Front und in der Etappe die Wichtigkeit einzelner Bauwerke, das Maß der Verantwortung ihnen gegenüber und die Möglichkeit eines Schutzes vorzustellen. Immer wieder mußte bei den unteren wie bei den oberen Kommandostellen Sturm gelaufen werden, um wenigstens vorläufige Maßregeln zur Schonung besonders hervorragender Bauwerke, zur Freihaltung der Schloßbauten von Belegung von Truppen und Trains, in einzelnen Fällen auch durch Rücktransport gefährdeter Kunstwerke aus der Kampfzone zu erreichen. An einer Reihe der Besichtigungsreisen im Frühjahr 1915 nahm der Reichsfreiherr von Kerkerinck zur Borg tätigen Anteil, der sein Interesse besonders den französischen Schloßbauten zuwandte. Bei der Ausdehnung des Feldzuges und bei der Notwendigkeit, immer mehr Truppen unterzubringen, ist der Erfolg der ersten Bemühungen dieser Jahre wieder zum großen Teil ausgelöscht worden. Die Schonung oder Freihaltung der Schloßbauten von Truppen ließ sich auf die Dauer nicht aufrechterhalten, und wenn ein solches Bauwerk dreißigmal die Besetzung wechselte, so konnten die dreißig verantwortlichen Kommandanten nicht gut in gleichem Maß die Verpflichtung und Erhaltung wahrnehmen, auch die Tradition der erlassenen Sonder- und Schutzvorschriften riß bei diesem Wechsel leicht ab.

An der lothringischen Front hatte sich schon im Dezember 1914 der Direktor des Metzer Museums, Dr. Keune, selbständig in vorbildlicher Weise des Schutzes der wichtigsten Denkmäler der Plastik aus den in der hiesigen Front liegenden Städten angenommen. Aus den Kirchen von Etain, Hattonchatel und St. Mihiel sind unter seiner persönlichen Aufsicht die wertvollen Schöpfungen der lothringischen Renaissance, vor allem die Werke des Bildhauers Ligier Richier abtransportiert worden. Auch aus dem kleinen Museum in St. Mihiel konnten einzelne Stücke in Sicherheit gebracht werden. So wurde aus der Abteikirche St. Michel in St. Mihiel die große Holzgruppe Pamoison de la vierge abgeführt, aus der Kirche zu Etain die ergreifende Pietà des Richier, aus der Kirche zu Hattonchatel der kostbare steinerne Wandaltar.

Die Kriegsarbeit des Museums in Metz hat auch weiter sich erfolgreich um die Bergung kostbaren Kunstbesitzes, vor allem auch von Tapisserien, aus den Schlössern und Kirchen an der lothringischen Front bemüht. Von dem Ergebnis dieser Bemühungen gab die 1917 veranstaltete Kriegsausstellung im Neubau der Metzer Oberrealschule Zeugnis; die Skulpturen waren in dem Bergungsmuseum in der alten Templerkapelle auf der Zitadelle zu Metz ausgestellt. In den beiden letzten Kriegsjahren ist daneben noch eine zweite Bergungsstelle beim Gouvernement Metz unter Dr. Burchard eingerichtet worden. Die mäch- [408] tigste Schöpfung des Richier, die große Grablegungsgruppe in der Kirche St. Etienne zu St. Mihiel, die aus fünfzehn lebensgroßen Figuren besteht und die schon durch die Sprengstücke der in der Kirche zerplatzenden Granaten beschädigt war, konnte nicht abtransportiert werden, sie wurde dafür nach den von den Vertretern der Denkmalpflege gegebenen Anleitungen durch Aufführung eines Bohlenverschlages und Sandsackpackungen von innen wie von außen geschützt. Diese Sandsackpackungen, wie sie die Italiener mit einer förmlichen Virtuosität auf Grund von vielfachen Erwägungen und Versuchen bei ihren Schutzmaßregeln, zumal in Venedig und der Lombardei, angewandt hatten, wie sie die Franzosen sehr viel später und leider zumeist zu spät bei den gefährdeten Denkmälern an der Kampffront, vor allem auch in Reims angewandt hatten, war das Schutzmittel, das zunächst an der ganzen Front angewandt werden konnte, und das natürlich in erster Linie für plastische Werke in Betracht kam. In einer Reihe von später zerstörten Kirchen an der französischen Nordwestfront sind solche Packungen von den deutschen militärischen Stellen im Laufe des Jahres 1915 angewandt worden, wie solche Vorsichtsmaßregeln auch in der Heimat bei der wachsenden Gefährdung durch Fliegerbomben in immer größerem Umfang Anwendung fanden.

Unter den wichtigsten Sicherungsarbeiten, die in dieser Weise in der Heimat vorgenommen wurden, sind die in Trier, in Straßburg, in Metz und Colmar, in Köln und Freiburg zu nennen. Von besonderer Bedeutung war vor allem überall die Sicherung der kostbaren Glasgemälde, die in der sorgfältigsten Weise herausgelöst und in Sicherheit gebracht werden mußten. Die Wiedereinsetzung der Glasgemälde im Kölner Dom ist erst im Winter 1922 auf 1923 vollendet worden. Wie notwendig der Schutz der wertvollsten Skulpturen und der sonstigen Objekte durch Sandsackpackungen war, bewies die Reihe der feindlichen Fliegerangriffe auf die friedlichen Städte Trier und Freiburg, in Verfolg deren die Liebfrauenkirche in Trier einen Volltreffer erhielt, der Neubau des Provinzialmuseums zu Trier durch eine französische Bombe mit seinen Schätzen zum Teil zerstört ward, das anatomische Museum zu Freiburg mit seinem unersetzlichen wissenschaftlichen Material völlig vernichtet ward. Es verstand sich von selbst, daß in den sämtlichen Museen an der Westfront und in Süddeutschland bis nach München hin gegenüber den sich in den letzten Kriegsjahren häufenden feindlichen Fliegerangriffen der kostbarste Kunstbesitz in Sicherheit gebracht ward, entweder durch Verbringung in bombensichere Depots oder durch Abtransport in weiter zurückliegende Städte. Dasselbe geschah mit den wichtigsten Kirchenschätzen aus den großen Domen des Westens. Die umfänglichste und verantwortungsvollste Rettungsarbeit galt dem unvergleichlichen Hauptwerk der deutschen Malerei, dem großen Isenheimer Altar des Matthias Grünewald im Museum Unterlinden zu Colmar, das vor den die Stadt bedrohenden französischen Geschossen und Fliegerangriffen gesichert werden mußte. Die durch den [409] kunstsinnigen Kronprinzen Rupprecht von Bayern ganz persönlich geförderte Bergungsaktion wurde durch den Generaldirektor der staatlichen Museen in München, Geheimrat Dr. Dörnhöffer, durchgeführt. Das Altarwerk wurde mit unendlicher Vorsicht nach München gebracht, um dort in der alten Pinakothek der längst notwendigen gründlichen Reinigung und Restauration unterzogen zu werden. Nach dem Zusammenbruch blieb das Werk noch eine Reihe von Monaten in München ausgestellt und Hunderttausende haben in dieser schmerzlichen Zeit tiefbewegt Abschied von dieser ergreifenden Schöpfung des deutschen Genius genommen.

In größerem Umfang und nach einem einheitlichen Plan konnte die Bergung des mobilen Kunstbesitzes in Nordfrankreich erst einsetzen, als unter dem 7. Oktober 1916 auf erneute Vorstellungen des preußischen Kultusministeriums (wie oben ausgeführt) der Museumsdirektor Dr. Theodor Demmler (Berlin) berufen wurde. Erst die dauernde Anwesenheit dieses hervorragenden Museumsbeamten und energischen Organisators ermöglichte ein einheitliches Vorgehen an der ganzen französischen Westfront. Die französische Front war in sechs Abschnitte geteilt, der erste zwischen Maas und Mosel mit dem Bergungsort Metz, der zweite umspann die Gegend von Verdun und die Argonnen mit dem Hauptbergungsort Montmédy, der dritte nördlich von Reims - Rethel - Vouziers mit dem Bergungsort Charleville, der vierte mit der Aisnefront und dem Bergungsort Fourmies, der fünfte die Front von Noyon bis St. Quentin mit dem Bergungsort Maubeuge, der sechste die Kampffront von Cambrai bis Lille umfassend mit dem Bergungsort Valenciennes. In diesen Abschnitten arbeiteten die Kunstoffiziere, deutsche Kunsthistoriker, die den Armee-Oberkommandos beigegeben und von diesen eingesetzt waren, die nun in erster Linie die Aufgabe hatten, den effektiven Kunstschutz auch durchzuführen, und die sich durch ihre aufopfernde und umsichtige Tätigkeit dauernden Verdienst um das französische Kunsterbe erworben haben. In den einzelnen Abschnitten waren neben dem schon genannten Museumsdirektor Keune, der allein seinen Sitz im deutschen Gebiet hatte, Dr. Reiners, Prof. Dr. Pinder, Dr. Weise, Dr. Freiherr von Hadeln, Dr. Burg und Dr. Feulner in dieser Weise tätig.

Über den ganzen Umfang der Aktion hat der Kunstreferent bei dem Vertreter des Generalquartiermeisters West, Dr. Demmler, in dem Kunstschutzwerk S. 75 - 110 ausführlich berichtet. Die Arbeit der einzelnen selbständigen Kunstoffiziere hatte schon im Jahre 1916 eingesetzt. Um eine Übersicht über die ganze Fülle der in den betreffenden Armeegebieten vorhandenen Kunstwerke zu erhalten, hatten die Sachverständigen mit weitgehender Förderung der militärischen Behörden zunächst eine Bestandsaufnahme und eine Art Inventarisation der unbeweglichen wie der beweglichen Kunstdenkmäler, zumal in und hinter der Kampfzone veranlaßt. Diese Arbeit berührte sich vielfach mit der gleichzeitigen unter der Förderung des Generalgouvernements in Belgien ein- [410] geleiteten photographischen Aufnahme und Inventarisation der wichtigsten dortigen Kunstdenkmäler. Leider ist das kostbare Material aus Frankreich, das zumal heute, wo viele der damals aufgenommenen Bauten in Trümmer liegen, von einer erhöhten Bedeutung sein würde, bei dem überstürzten Rückzug verlorengegangen oder in Feindesland geblieben. Das gilt vor allem für die Fülle der Aufnahmen und Zeichnungen, die im Gebiet der 5. Armee unter der energischen Leitung des dort seit 1916 wirkenden Dr. Reiners angefertigt worden waren. Nur ein Teil der Aufnahmen ist hier erhalten, soweit er für eine Sonderveröffentlichung in monumentaler Form, die im Verlag F. Bruckmann in München unter dem Titel Kunstdenkmäler zwischen Maas und Mosel erschien, in Betracht kam. In diesem reichillustrierten Werk haben Dr. Reiners und Dr. Ewald in einzelnen Kapiteln die wichtigsten Kunstdenkmäler dieses dem deutschen Gebiet unmittelbar benachbarten Bezirkes beschrieben und sie in die kunstgeschichtliche Betrachtung eingeführt, die Publikation ist zugleich für die umsichtige Tätigkeit des Armee-Oberkommandos ein rühmliches literarisches Denkmal. Eine ähnliche groß angelegte Veröffentlichung, die beim Oberkommando der 2. Armee angeregt war, kam leider nicht zustande, und das außerordentlich wichtige kunstgeschichtliche Material, das dafür gesammelt war, ist zum größeren Teil zugrunde gegangen. In dem nördlichen Teil löste die private Initiative einzelner hier tätiger Kunstgelehrter in einem kleineren Maßstab diese Aufgabe einer zusammenfassenden Darstellung; aus der Reihe der Sonderveröffentlichungen seien hier die beiden Bändchen von Prof. Dr. Rauch über Douai und Dr. Feulner über Lille genannt.

Im Gebiet der 5. Armee vor Verdun sind aus den zerstörten und im Feuerbereich gelegenen Kirchen eine große Anzahl von Kunstwerken zurückgeführt worden. Der größte Teil wurde nach Ecouviez gebracht, einzelne Objekte nach Montmédy und nach Stenay. Aus den Kirchen der weiter rückwärts gelegenen und von der zivilen Bevölkerung zum Teil geräumten Orte wurden die Wertgegenstände den französischen Pfarrern der nächstgelegenen Orte oder, wo dies nicht möglich war, der Orts- und Etappenkommandantur übergeben. Im Gebiet der 1. Armee an der Argonnen- und Champagnefront hatte Prof. Pinder aus 26 Orten, vornehmlich aus den Kirchen, Statuen und Bilder abgeführt, als Sammelpunkt dafür kam das Museum in Charleville in Betracht. Auf Grund einer genauen Bereisung des ganzen Armeegebietes war ein Plan aufgestellt, der aus 60 Orten die Sicherung der wichtigsten Kunstwerke, sowie aus den Schlössern die Sammlungen und einzelne Bibliotheken vorsah. Die Ausführung des Planes im ganzen Umfang ward durch die militärischen Operationen vereitelt. Aus dem Gebiet der 7. Armee an der Aisnefront wurden die Kunstwerke vor allem nach einem großen Depot in Fourmies gebracht. Aus einer großen Zahl von Orten konnten die Kunstwerke geborgen werden, vor allem auch wichtige Stücke mittelalterlicher Plastik. Eine Hauptsorge betraf [411] dann die Sicherung der in Laon befindlichen Kunstwerke, seitdem Ende Oktober 1917 die Kampffront näher gerückt war. Neben den Schätzen des Museums kamen die Bestände einer Reihe von privaten Sammlungen der Stadt in Betracht, dazu die Tapisserien in der Kathedrale, die, wie die Handschriften und Inkunabeln der Bibliothek, nach dem Museum in Valenciennes transportiert wurden. Alle diese Sicherungen erfolgten unter verständnisvoller Teilnahme der ehemaligen Behörden und Sachverständigen. In dem kleinen Museum zu La Fère war auf Anregung der Kommandantur schon vor der Räumung der Stadt, die durch den Rückzug auf die Siegfriedstellung notwendig geworden war, die Verpackung des wertvollen Kunstbesitzes, insbesondere der bedeutendsten Bilder, besorgt worden. Die Gemälde sind in das Depot nach Valenciennes eingeliefert worden.

Im Gebiet der 2. Armee lag die Verantwortung für den Rücktransport der Kunstdenkmäler in der Hand des Freiherrn von Hadeln unter der unmittelbaren Leitung des Armee-Oberkommandos. Hier handelte es sich um die ebenso wichtige und schwierige Aufgabe, bei der zu erwartenden Beschießung der Stadt durch die feindliche Artillerie frühzeitig Fürsorge für die am meisten gefährdeten Kunstwerke zu treffen und sie zu sichern. Das bedeutendste Kunstgut stellte hier die unvergleichliche Sammlung der Pastellbildnisse des berühmtesten Sohnes der Stadt St. Quentin, des Malers Quentin de la Tour, dar. Sie wurde mit der allergrößten Vorsicht nach dem Bergungsort Maubeuge überführt. Diese kleine Sammlung von erlesenen Kunstwerken des 18. Jahrhunderts hatte schon während der ganzen Zeit der deutschen Besetzung die besondere Aufmerksamkeit der deutschen Behörden sowie der deutschen Gelehrten hervorgerufen. Eine Kriegspublikation im Verlag von R. Piper, München, hatte sie dem deutschen Publikum näher gebracht, nachdem sie in Frankreich zuletzt in der Veröffentlichung von Henri Lapauze ihre Würdigung gefunden hatte. Auch von den kleineren Objekten des Museums Lécuyer, das die La Tour-Sammlung barg, wurde dreiviertel in Sicherheit gebracht. Aus dem städtischen Museum, dem Museum Fervaques im Justizpalast, wurden ein halbes Hundert der wichtigsten Gemälde verpackt, dazu eine große Anzahl von Fayencen und Gobelins und Möbeln, aus der Bibliothek eine Auswahl. Noch während die Bergungsarbeiten im Gange waren, erhielt am 3. April 1917 der Justizpalast seinen ersten Volltreffer, am Tage darauf das Museum Lécuyer. Über einen der wichtigsten Teile der Schutzoperation, die Rettung der unschätzbaren Glasfenster aus der Basilika, ist schon oben berichtet worden. Ohne diese hingebende Tätigkeit der deutschen Sachverständigen und Techniker, die unter ständiger Lebensgefahr diese Arbeiten durchführten, wäre nicht eines dieser Fenster der feindlichen Beschießung entgangen.

Es erschien notwendig, diese Kunstwerke, zumal die Pastelle von La Tour, die nicht lange in ihren Kisten von Luft und Licht abgeschlossen bleiben konnten, [412] an geeigneten sicheren Plätzen neu aufzustellen. In Maubeuge war hierfür das ehemalige Warenhaus "Au pauvre diable" zur Verfügung gestellt. Der Architekt Keller hatte hier in kürzester Zeit mit hohem Geschmack ein sehr reizvolles Museum geschaffen, in dem die Kunstwerke von St. Quentin mit anderen Schätzen, auch geretteten Möbeln, zumal aus dem Besitz des Herzogs von Vicenza aus dem Schlosse Caulaincourt, zusammengestellt waren.

An dem Nordabschnitt, in dem die drei wichtigen und volksreichen, mit Kunstwerken der verschiedensten Art gefüllten Städte Lille, Douai und Cambrai lagen, war die Gefährdung durch einen französischen Vorstoß dauernd am größten. Das Liller Museum hatte schon in den Kämpfen des Jahres 1914 etwas gelitten, die Bilder im Obergeschoß hatte der Direktor Théodore zum größten Teil rechtzeitig entfernt. Die Gefahr für dieses große Magazin wertvollsten Kunstbesitzes wuchs aber mit der Änderung in den kriegerischen Operationen. Nach sorgfältiger Erwägung aller Gefahren im vollen Gefühl der Deutschland obliegenden Verantwortung wurde im Frühjahr 1917 die Entscheidung gefällt, daß der wertvollste Teil des Museums in die nach rückwärts gelegenen Depots von Valenciennes, das man damals noch völlig gesichert glaubte, abgeführt werden sollte. Das waren über 400 Gemälde und der Schatz von Handzeichnungen aus der Sammlung Vicar, dazu eine Kollektion von Plastiken und Werken des alten Kunstgewerbes, die unter sorgfältiger Leitung nach Valenciennes gebracht wurden. In Douai hatten die Bewohner im Jahre 1917 das Angebot der Deutschen, allen künstlerisch wertvollen Privatbesitz nach Valenciennes zu bringen, leider mißtrauisch abgelehnt. Die Ereignisse des Jahres 1918 fanden deshalb die Kunstwerke der Stadt Douai noch in Douai selbst. Die Unterbringung in den Kellergewölben und den Magazinräumen des großen städtischen Museums in der von den Einwohnern geräumten Stadt erwies sich als eine sehr zweifelhafte Maßnahme, die nicht eine volle Sicherheit verbürgen konnte. Der bedeutendste kirchliche Kunstschatz der Stadt, der Altar des Jean Bellegambe, der in der Sakristei von Notre-Dame stand, und der im Museumskeller schwer gefährdet erschien, wurde im August 1914 nach Valenciennes in Sicherheit gebracht.

In Cambrai hatte seit 1916 als Kunstsachverständiger der 1. Armee Dr. Hermann Burg gewirkt und sich ganz das Vertrauen der Kunstfreunde wie der Behörden erworben, aber auch hier fanden die vielfachen Vorstellungen und Ratschläge, die von deutscher Seite in bezug auf die Sicherung des Kunstbesitzes der Stadt erteilt worden waren, keine günstige Aufnahme. Als dann plötzlich überraschend der Moment der Räumung der Stadt kam, war es für den systematischen Abtransport der beweglichen Kunstwerke schon zu spät. Trotzdem gelang es in dieser Zeit, wo die Transportmittel schon versagten, der Energie des Dr. Burg, noch eine Anzahl Lastwagen voll Privatbesitz nach Valenciennes und eine Kahnladung aus dem Museum in Douai nach Blaton zu bringen. Weiteres [413] zurückgebliebenes Kunstgut aus dem Museum in Douai bargen Dr. Stöcklein und Dr. Götz von der 7. Armee. Der Schutz der in der geräumten Stadt zurückgebliebenen Kunstwerke erwies sich auch angesichts der sinkenden Disziplin der Truppen vielfach als ungenügend.

Für diesen ganzen Abschnitt der Nordfront wurde nun Valenciennes der gegebene Bergungsort. Hier ist in großem Maßstab für kurze Zeit der Kunstbesitz eines der wichtigsten Gebiete Frankreichs zentralisiert worden. Wieder war es Dr. Burg, der seit 1917 in Valenciennes als Sachverständiger, als Verwalter des Museums wirkte, der dann auch bei dem nötig werdenden plötzlichen Abtransport aus der gefährdeten Stadt nach Brüssel die örtliche Leitung hatte. Seiner Tatkraft ist vor allem die Überführung der wichtigsten Schätze nach Brüssel zu danken. In diesem Sammelmuseum mit seinen ausgedehnten Kellern und in benachbarten Depots sind nun die Handschriften und Inkunabeln aus den Städten Laon, Cambrai, Douai, Valenciennes und St. Quentin geborgen worden, dazu eine Anzahl von Privatbibliotheken. In den größten Räumen des Museums konnte im Laufe des Jahres 1917 das Kostbarste der dort versammelten Bilder, Teppiche und Skulpturen vereinigt werden. Eine wunderbare Zusammenstellung von Kostbarkeiten hatte hier einen einzigartigen Überblick über eine große Periode der Kunstgeschichte Frankreichs gegeben. Neben den Schätzen der Museen waren aus Marchais, aus Arrancy, aus Bourlon und anderen Schlössern kostbare Tapisserien ausgestellt.

Im Sommer 1918 steigerten sich die Gefahren für Valenciennes, so daß Ende August die Vorbereitungen zur Verlegung getroffen werden mußten. Der Generalquartiermeister hatte auf eine Vorstellung der Berliner Akademie der Wissenschaften hin noch einmal betont, daß an eine Unterbringung des geretteten französischen Kunstgutes in Deutschland nie gedacht werden dürfe, da durchaus jede Mißdeutung vermieden werden müsse, daß diese Erhaltungsmaßregeln etwa in der Absicht des Faustpfandes oder der Aneignung geschahen. So kam, als die Räumung von ganz Frankreich bevorstand, nur Brüssel als Bergungsort in Betracht. Es sind in jenen Oktoberwochen unter den größten Schwierigkeiten, unter aufopfernder Arbeit deutscher Sachverständiger 796 Kisten mit Handschriften, Büchern und kleinen Museumsgegenständen, 753 Kisten mit Privatbesitz, 1992 Gemälde, 365 gerahmte Handzeichnungen, 327 Skulpturen und eine Menge sonstiger Einzelgegenstände abtransportiert worden. Die Fahrt mußte auf Lastkähnen vor sich gehen, da die Eisenbahnen schon verstopft waren. Am 14. November wurde der ganze Eingang der Brüsseler Stadtverwaltung übergeben, am 1. und 6. Februar 1919 unterzeichneten Dr. Demmler und Dr. Burg als Vertreter der deutschen Waffenstillstandskommission die Protokolle über den Zustand und die Anzahl der nach Brüssel transportierten Objekte, die französische Regierung erteilte daraufhin für alle diese Kunstwerke und Gegenstände Entlastung. Die übrigen Depots und Sammlungen in Maubeuge, [414] Fourmies, Charleville, Sedan und Metz sind den Franzosen an Ort und Stelle übergeben worden. Wie notwendig der Auszug aus dem Museum in Valenciennes war, beweist der Umstand, daß es bei dem Kampf so stark beschädigt wurde, daß das obere Stockwerk nicht zu benutzen war.

Vielleicht war die Sorge der deutschen Behörden um eine Mißdeutung ihrer reinen Absichten eine übertriebene; hätte man, was das Nächstliegende gewesen wäre, diese Kunstwerke sofort hinreichend weit zurückgebracht, etwa in die rheinischen Depots und Museen und dort unter die Aufsicht von Neutralen gestellt, so würden Verluste und Beschädigungen bei dem Hin und Her, vor allem der Verlust fast der sämtlichen in den ersten Jahren geretteten Kunstwerke in den später doch von der Kriegsfurie zerstörten Orten vermieden worden sein. Wie berechtigt aber diese Sorge war, beweist der Umstand, daß selbst diese Fürsorge, die sich im vollen Licht der Öffentlichkeit vollzog, die durch Erklärungen der Obersten Heeresleitung und Funksprüche der Öffentlichkeit mitgeteilt worden war, immer wieder Mißdeutung fand. Es gehört zu dem Betrüblichsten und Beschämendsten in der Geschichte all dieser Bestrebungen, daß von der ganzen Öffentlichkeit und auch in den offiziellen Äußerungen auf französischer Seite diese Bemühungen geflissentlich gegenüber besserem Wissen mißverstanden worden sind, daß die aufopfernde Tätigkeit der deutschen Sachverständigen übersehen und geleugnet und immer, wo das Wort sauver am Platz gewesen wäre, das Wort voler in beleidigender Form eingesetzt worden ist. Sicherlich ist diese ganze Tätigkeit eine beschränkte geblieben, und es liegen Versäumnisse und Verfehlungen vor. Sicherlich war die Wirkung des Kunstschutzes und war die Beachtung, die die Bemühungen der deutschen Denkmalpfleger fanden, nach der besonderen Art ihrer Persönlichkeit wie nach der Mentalität der militärischen Behörden, mit denen sie zu tun hatten, verschieden. Das Urteil, das dann von Einzelnen auf Grund der beschränkten Kenntnis eines einzelnen größeren oder geringeren Abschnittes gefällt werden mußte, war naturgemäß ebenso verschieden. Ein Gesamturteil über die Leistung ist nur möglich bei dem Überblick über alle Fronten. Bei der Schwierigkeit der ganzen Arbeit, bei den natürlichen Widerständen, vor allem bei dem ungeheuren Zusammendrängen der Truppen, dem tiefen Pflügen der Kriegswalzen, war das, was hier geleistet worden ist, doch etwas, was auf die ehrliche Anerkennung der gerecht denkenden Nachwelt Anspruch machen darf. Auf Dank der feindlichen Mitwelt haben die hier Beteiligten niemals gerechnet.

Wie ein Satyrspiel erscheint es, daß die französische Regierung Dr. Demmler, der sich das größte Verdienst um die Rettung des französischen Kunsterbes erworben hat, auf die Liste der auszuliefernden Kriegsverbrecher gesetzt hat und daß die französische Agentur Radio noch im Herbst 1922 die in der ganzen Ententepresse mit Behagen breitgetretene idiotische Mitteilung brachte, die Glasfenster von St. Quentin (die Maubeuge und den französischen Boden nie verlassen [415] hatten und über deren Rückerstattung die französische Regierung schon am 1. März 1919 in aller Form Entlastung erteilt hatte) seien in Bonn im Hause des Geheimrats Clemen aufgefunden worden, und daß weder in einem noch im anderen Fall die französischen Kunstgelehrten, von ihren vorgesetzten Behörden ganz zu schweigen, sich zu der primitivsten Anstandspflicht einer einfachen Richtigstellung aufschwingen konnten.


3 [1/402]Clemen, "Der Zustand der Kunstdenkmäler auf dem westlichen Kriegsschauplatz," in Zeitschrift für bildende Kunst 1919, und Sonderausgabe. - Sauer, Die Zerstörung von Kirchen und Denkmälern an der Westfront, Freiburg 1917. - Clemen, Zerstörte Kunstdenkmäler an der Westfront, Weimar 1917. - Grautoff, Kunstverwaltung in Frankreich und Deutschland, Bern 1915. ...zurück...


Der Weltkampf um Ehre und Recht.
Die Erforschung des Krieges in seiner wahren Begebenheit,
auf amtlichen Urkunden und Akten beruhend.
Hg. von Exzellenz Generalleutnant Max Schwarte