Bd. 5: Der österreichisch-ungarische
Krieg
Kapitel 25: Der Zusammenbruch
(Forts.)
Staatsarchivar Oberstleutnant Edmund
Glaise-Horstenau
4. Wilsons Antwort an
Österreich-Ungarn.
Die politischen Kreise Wiens ließen sich durch die entnervenden,
hinterhältigen Kundgebungen Amerikas gegenüber Deutschland in
ihrem Vertrauen auf die politische Einsicht und Verläßlichkeit
Wilsons nur wenig beirren. Weder aus den 14 Punkten, noch aus den späteren
Kommentaren dazu, noch gar aus dem Briefe, den der Präsident im
Frühjahr 1918 an den Kaiser Karl gerichtet hatte, war etwas wie die Absicht
herauszulesen gewesen, das Donaureich dem Untergang zu weihen. Man
erwartete auf dem Ballplatz einen Frieden mit Opfern, war aber doch
überzeugt, mit einem blauen Auge davonzukommen. Niemand ahnte,
daß Wilson seit dem Frühjahr 1918 seine Anschauungen über
das österreichische Problem und dessen zweckmäßigste
Lösung von Grund auf geändert hatte unter dem Einfluß und
der Überredungskunst eines Mannes, dessen für den Kriegsausgang
überaus wichtige, wenn nicht [610] ausschlaggebende
Rolle bisher viel zu wenig beachtet wurde: des tschechischen Professors Thomas
Garrigue Masaryk.
Masaryk wurde 1850 zu Göding als Sohn armer Leute geboren. Er begann
als Schlosserlehrling, konnte aber dann dank der Fürsorge wohlhabender
Gönner das Gymnasium zu Wien und die philosophische Fakultät
der Wiener hohen Schule besuchen. Er erwarb 1876 den Doktorhut. Sechs Jahre
später verlieh die Universität Prag dem ganz in deutschem Geiste
erzogenen, jungen Gelehrten eine Lehrkanzel. Als kurz darauf die berühmte
Königinhofer Handschrift, die die Tschechen
seit Jahrzehnten als wertvolles Kulturgut ihres Volkes betrachtet hatten, als
Fälschung erkannt wurde, fand sich Masaryk, unbekümmert um den
Aufschrei der Nation, unter den Wahrheitsfanatikern. Zu Anfang der 90er Jahre
trat er dann ins politische Leben ein. Auch da vermied er es, ausgetretene Pfade zu
verfolgen. Er wandte sich gegen die Partei der "Staatsrechtler", die die
böhmischen Kronländer nach der Art Ungarns organisieren wollten,
und trat für einen Ausgleich mit den Deutschböhmen auf der
Grundlage lokaler Autonomie ein. In Fragen der Gesamtmonarchie bekannte er
sich zum Österreichertum Palackys; er wollte ein Habsburgerreich unter
slawischer Führung. Folgerichtig bekämpfte er das deutsche
Bündnis und die Wiener Orientpolitik, die sich die Erhaltung des Status
quo auf dem Balkan zum Ziele gesetzt und demnach zu gewissen slawischen
Plänen im Widerspruch stand.
Die Wirren, die im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts über Europa
kamen, drängten Masaryk jedoch von seiner ursprünglichen Stellung
zur österreichischen Frage ab. War er früher des Glaubens, daß
seinem Volke im Rahmen der Donaumonarchie eine glückliche Zukunft
erblühen werde, so gab er diese Hoffnung jetzt auf. Hielt er es früher
mit dem einen der berühmten Aussprüche Palackys, der da lautete,
daß Österreich, wenn es nicht da wäre, geschaffen werden
müßte - so wählte er jetzt den zweiten zum Leitsatz
seines Tuns: "Wir Tschechen waren vor Österreich und werden auch nach
ihm sein." Er sah den Weltkrieg herankommen und lebte nur mehr dem einen
Ziele, auf den Trümmern des habsburgischen Kaiserreiches ein
selbständiges tschechisches Vaterland aufrichten zu helfen. Sowohl beim
Agramer Hochverratsprozeß 1908, wie beim Friedjungprozeß 1909
stellte er sich mit seinen Sympathien unzweifelhaft an die Seite der Gegner
Österreichs. Für sein Denken war es bezeichnend, daß er als
Zeuge einmal erklärte, der Begriff des Hochverrates habe angesichts der
modernen staatsrechtlichen Anschauungen jede praktische Bedeutung verloren.12
Als der Krieg ausbrach, stand Masaryks Überzeugung fest, daß den
Tschechen nur ein Sieg der Entente nützen könne, indessen ein
durchschlagender Erfolg [611] der Mittelmächte
das tschechische Volkstum schwer bedrohen müsse. Um in seinem Sinne
arbeiten zu können, begab er sich im Dezember 1914 in die Schweiz, wo
mehrere Vereinigungen ansässiger Tschechen schon eine lebhafte
Propaganda gegen Österreich-Ungarn entwickelten. Im Juli 1915, als man
den 500. Todestag des Reformators Huß feierte, trat Masaryk zum
erstenmal mit seinen Ideen und Plänen vor eine breitere
Öffentlichkeit. In den Ententestaaten, in Rußland und in Amerika
wohnten Millionen von Tschechen; die im Zarenreich lebenden erhielten noch
durch ungezählte Kriegsgefangene aus den österreichischen Reihen
fortwährend beträchtlichen Zufluß. Sie alle wollte Masaryk zu
einheitlichem Wirken zusammenfassen, und zwar nicht bloß auf dem
Gebiete der Politik und der Werbearbeit. Die Hauptsache war seiner Ansicht nach,
daß die Tschechen aus aller Herren Länder ehestens
Truppenverbände aufstellten, die als tschechische Armee an die Seite der
Alliierten treten konnten. Dadurch sollten diese bewogen werden, die
Tschechoslowaken als verbündete kriegführende Nation
anzuerkennen, und sich so für den Friedensschluß auf eine den Ideen
Masaryks entsprechende Lösung des tschechischen Problems festlegen zu
müssen.
Masaryk weihte diesen Zielen nunmehr alle seine geistigen und
körperlichen Kräfte. Mächtige Hindernisse türmten sich
auf, nicht zuletzt im eigenen Lager. Es gab Russophile, Anglophile,
Franzosenfreunde; es gab Monarchisten und Republikaner, Konservative und
Demokraten, Orthodoxe und Freisinnige. Sie alle unter einen Hut zu bringen, war
um so schwerer, als auch das Persönliche eine große Rolle
spielte.
Im Sommer 1915 begab sich Masaryk nach Paris, um zunächst dort unter
seinen hadernden Landsleuten Frieden zu stiften. Es gelang ihm dies dank dem
überragenden Ansehen, das er genoß. Zu einheitlicher Leitung der
tschechischen Bewegung in allen alliierten Ländern wurde ein
Zentralkomitee aufgestellt, an dessen Spitze Masaryk und der gleichfalls aus
Österreich entwichene Reichsratsabgeordnete Dürich traten. Das
Zentralkomitee wurde dem von Trumbitsch geschaffenen südslawischen
nachgebildet, gewann aber weit größere politische Bedeutung als
dieses. Es erließ Mitte November 1915 einen flammenden Aufruf, der die
Absetzung der "zu Dienern der Hohenzollern" gewordenen Habsburger
verkündete und die Gründung eines "unabhängigen, alle seine
Söhne um sich versammelnden Böhmens" verhieß.
Verschiedene Zeitungen in verschiedenen Sprachen standen dem Zentralkomitee
und den Landesleitungen für ihre Werbearbeit zur Verfügung.
Im Herbst 1915 verlegt Masaryk sein Hauptquartier nach London, wo er an der
Universität die Leitung des neugegründeten slawischen Instituts
übernimmt. Die angelsächsische Welt steht ihm durch seine Heirat
besonders nahe; seine Frau ist eine geborene Amerikanerin. Er widmet schon jetzt
seine stärkste [612] Aufmerksamkeit der
nationalen Bewegung in den Vereinigten Staaten. Des öfteren wird er 1916
jenseits des Atlantischen Ozeans erwartet. Ob er schon in diesem Jahre
drüben war, ist aus der Literatur nicht ersichtlich. Der zwischen den
Tschechen und den Slowaken zu Pittsburg (Pennsylvanien) abgeschlossene
Vertrag, der den Slowaken im Rahmen des künftigen tschechoslowakischen
Staates vollste Autonomie versprach, kam jedenfalls unter seiner Patronanz
zustande.
Am 5. Januar 1917 wissen die Prager Narodni Listy zu melden, daß
Thomas Masaryk in Petersburg weilt. Die Art, wie das sonst sehr scharf nationale
Blatt dieser Tatsache gedenkt, ist übrigens für Masaryk nichts
weniger als schmeichelhaft. Die tschechische Nation bedanke sich für
solche Vertreter, sie bedürfe ihrer nicht. Es ist klar: Die tschechische Politik
hat noch nicht alles auf eine Karte gesetzt.13 Es ist
noch die Zeit der Loyalitätserklärungen für den jungen Kaiser.
Auch stehen die Anhänger des Dr. Kramarsch Masaryk abgeneigt
gegenüber. Dessenungeachtet führen von den Emigranten hunderte
von geheimen Fäden in die Heimat. Die Pariser und Petersburger wissen
alles, was in Böhmen vorgeht, und auf der anderen Seite kommen in den
Reden, die die österreichischen Tschechen im Wiener Parlament halten,
Sätze vor, die mit gewissen Kundgebungen des Zentralkomitees in Paris
fast wortwörtlich übereinstimmen.
Die Stellung Masaryks in der tschechischen Bewegung und zu den
Weltproblemen wurde durch die russische Revolution eher erleichtert, denn
erschwert. Der ultrademokratische, mit den Sozialisten sympathisierende
Republikaner hatte, so sehr er sich aus taktischen Gründen
Zurückhaltung auferlegte, für die zaristische Autokratie nie etwas
übrig gehabt. Er hätte es höchstens als das geringere
Übel betrachtet, die deutsch gerichtete, österreichische Herrschaft
mit der immerhin slawischen des Zaren vertauschen zu können. Aus diesem
Geiste heraus begrüßte er den Sturz des Zarentums durch die
Demokraten um so freudiger, als damit auch innerhalb der Tschechenbewegung
die russisch-monarchistische Richtung jede Daseinsberechtigung verloren hatte
und eine wesentliche Ursache der starken Gegensätze zwischen den in
Rußland bestehenden Tschechenvereinigungen wegfiel.
Unter dem Regime Kerenskis erlebte die Tschechenbewegung in Rußland in
der Tat einen großen Aufschwung. In zahlreichen, eindrucksvollen
Versammlungen wurde Masaryk als der künftige Präsident der
tschechoslowakischen Republik gefeiert. An der Front erschienen zum erstenmal
stärkere tschechische Truppenverbände, drei Regimenter, die zu
einer Brigade vereinigt waren. Masaryk hatte sie vor der Offensive in ihren
Lagern besucht und als den Grund- [613] stock der
tschechoslowakischen Armee gefeiert.14 Die
tschechoslowakische Brigade erwies sich beim Angriff von Zborow und bei dem
durch den deutschen Gegenstoß erzwungenen Rückzug der in
Auflösung flüchtenden Russen als kampftüchtige Truppe, die
starke Verluste zu ertragen vermochte. Masaryk war mit Erfolg bemüht, die
tschechischen Abteilungen vor der in Rußland neuerlich um sich greifenden
Zersetzung und vor sozialen Kämpfen zu bewahren, was ihm auch ziemlich
gelang. Als Ende 1917 die Bolschewiken an den Brester Friedenstisch traten, war
die inzwischen auf 60 000 - 70 000 Mann
angewachsene "tschechoslowakische Armee" der einzige kampftüchtige
Heereskörper auf russischem Boden.
Masaryk, der schon seit dem Jahre 1915 "Oberkommandant der
tschechoslowakischen Armee" war, setzte nun alles daran, seine Landsleute an
eine Ententefront zu bringen, an der ihr Anteil an den Kämpfen
eindrucksvoller wirken konnte, als in den russischen Wirren mit ihren
sozialpolitischen Gefahren. Er befahl allen in Rußland weilenden
Tschechoslowaken den Eintritt in die nationalen Truppen und ließ diesen
das Gelöbnis abnehmen, an der Seite der Alliierten auszuharren, bis
Freiheit und Selbständigkeit des Vaterlandes gesichert seien. Ein Vertrag
mit den Sowjets sah die Abbeförderung der Tschechoslowaken über
Wladiwostok vor. Aber der weitaus größte Teil des Korps blieb in
Südostrußland und an der sibirischen Bahn stecken und bildete dort
den Rahmen für jene antibolschewikische Armee,
die - von der Entente reichlichst unterstützt - das
Bolschewikenregime das ganze Jahr 1918 hindurch heftig und auch mit Erfolg
bekämpfte. Die gegenrevolutionären Truppen zählten mitunter
über 300 000 Mann. Das tschechoslowakische Kontingent schmolz
freilich stark zusammen. Viele Tschechen blieben in der Ukraina oder kehrten in
die Heimat zurück. Andere gingen in Sibirien bürgerlichem Erwerb
nach. Verhältnismäßig wenige traten in die Rote Armee ein.
Obgleich sonach die Tschechoslowaken stark in die Minderheit kamen, hieß
das antibolschewikische Heer doch auch weiterhin bei Freund und Feind "die
tschechoslowakische Front", was der nationalen Sache der Tschechen namentlich
in den Augen der gespannt nach Sibirien blickenden Engländer und
Amerikaner sehr zustatten kam.
Masaryk kehrte im März 1918 nach Frankreich zurück, um auch dort
die Organisation tschechoslowakischer Truppen zu betreiben. Frankreich hatte
schon [614] im Herbst 1914 eine
aus ansässigen Tschechen gebildete Legion in die Front gestellt. Von 400
Legionären sollen aus der Schlacht bei Arras nur 39 unverwundet
zurückgekehrt sein, so daß sich die Truppe auflöste. Nunmehr
ging Masaryk die Sache neuerlich an. Aus
österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen, die beim Zusammenbruch
Serbiens (1915) nach Frankreich geschafft worden waren, und aus im
Ententegebiet ansässigen Landsleuten wurden zwei tschechoslowakische
Regimenter aufgestellt, die sich gleich der Zborower Brigade als brauchbare
Kampftruppe erwiesen. Ebenso formte Italien aus österreichischen
Kriegsgefangenen eine tschechoslowakische Division zu etwa 8000 Mann,
die aber als geschlossener Heereskörper nicht mehr verwendet wurde.
Nach dem von der tschechoslowakischen Legion Anfang 1922 herausgegebenen
Jahresbericht hatten insgesamt 105 885 Legionäre im Dienst der
Entente gestanden. Hiervon sind auf russischer, französischer und
italienischer Seite 5012 gefallen und 1104 vermißt geblieben, also
6 v. H.
Der Kampf der Tschechen an der Seite der Entente, der sich trefflich in die gegen
Österreich gerichtete Northcliffe-Propaganda einfügte, blieb nicht
unbelohnt. Mitte August 1918, als bereits die Wendung an der Westfront
eingetreten war, gab die britische Regierung der Welt zu wissen, daß sie die
Tschechoslowaken als verbündete Nation und die tschechoslowakischen
Armeen als verbündetes Heer anerkenne und daß dem Pariser
tschechoslowakischen Nationalrat das Recht zustehe, im Namen der
künftigen tschechoslowakischen Regierung den Oberbefehl über das
verbündete tschechoslowakische Heer auszuüben.
In Wien war man von dieser Kundgebung überrascht, wenn man auch ihre
Tragweite für den künftigen Friedensschluß
unterschätzte. Die Regierung machte den Versuch, die
Tschechenführer des Inlandes zu einem Protest zu veranlassen. Sie fand
selbst bei den Geheimen Räten und ehemaligen Ministern tschechischen
Stammes taube Ohren.
Masaryk weilte zur Zeit der Londoner Erklärung längst nicht mehr in
Europa. Er hatte sich im Mai nach Amerika begeben, indessen in Paris die
Geschäfte im Nationalrat sein junger Freund Dr. Karl Benesch, vor
dem Kriege Professor an der Prager Handelsakademie, mit Geschick
weiterführte. Masaryk war sich dessen bewußt, daß bei der
künftigen Gestaltung der Welt kein Mensch der Erde ein so gewichtiges
Wort mitzureden haben werde wie der Präsident der Union. Dieser vor
allem mußte für die Ziele des Pariser tschechischen Nationalrates
gewonnen werden!
Da Wilson von den verworrenen ethnographischen und politischen
Verhältnissen Mitteleuropas nur wenig wußte, war es nicht schwer,
ihn den tschechischen Plänen vorzuspannen. Er ließ sich
überzeugen, daß in dem genannten Gebiete nur durch die
Zertrümmerung des Habsburgerreiches eine bessere Weltordnung
aufzurichten sein werde, und erklärte sich mit der Schaffung [615] eines tschechischen
Nationalstaates einverstanden, der an Fremdnationalen angeblich nur ein paar
hunderttausend zugewanderte Kolonisten in seinen Grenzen haben
werde, - indessen er seiner völkischen Vielfältigkeit nach
tatsächlich ein Abbild Altösterreichs werden mußte mit dem
einzigen Unterschied, daß er im Gegensatz zu diesem durch die
rücksichtslose Vorherrschaft des tschechischen Stammes das Trugbild
nationaler Einheitlichkeit vortäuschen sollte. Am 3. September konnte die
New Yorker Staatszeitung berichten, daß Professor Thomas Garrigue
Masaryk heute in seiner Eigenschaft als Präsident des
tschechoslowakischen Nationalrates in Paris und als Oberkommandierender der in
Rußland, Frankreich und Italien kämpfenden tschechoslowakischen
Armeen im Weißen Hause offiziell empfangen und aus den Händen
Lansings eine der Londoner Erklärung gleichlautende amerikanische
Kundgebung entgegennehmen werde. In diplomatischen Kreisen werde dem Akt
große Bedeutung beigemessen, die Tschechoslowaken seien nun
Verbündete Amerikas.
In der Tat besagte dieser Empfang Masaryks nichts Geringeres, als daß der
große Ideologe im Weißen Hause in aller Form die Ziele der
tschechoslowakischen Bewegung zu seinen eigenen gemacht habe. Das Schicksal
des Habsburgerreiches war, wenn nicht ein Wunder geschah, von dieser Stunde an
besiegelt.
Es war daher im Oktober 1918 ein schwerer Irrtum, das lange Ausbleiben der
amerikanischen Antwort zugunsten Österreichs auszulegen. Bei
Deutschland hielt Wilson es für zweckmäßig, das Gift seiner
Kundgebungen in mehrfacher Dosis nacheinander einzuträufeln; auf einmal
verabreicht, hätte es am Ende nicht die Auflösung, sondern ein neues
gefährliches Aufbäumen des nationalen Geistes hervorrufen
können. Dagegen wußte er, daß schon der erste Schluck des
für Österreich bestimmten Trankes ganz bestimmt tödlich
wirken werde.
Am 20. Oktober, einen Tag, nachdem in Paris Dr. Benesch in seiner Eigenschaft
als erster tschechischer Außenminister der französischen Regierung
die Bildung des Kabinetts Masaryks angezeigt hatte, wurde in Wien das
Todesurteil veröffentlicht, das der amerikanische Präsident
über das Reich der Habsburger sprach. Der Präsident könne,
hieß es in Lansings Note vom 19. - verklausuliert, wie
gewöhnlich - den zehnten seiner 14 Punkte nicht mehr als
uneingeschränkt zu Recht bestehend ansehen "wegen gewisser Ereignisse
von größter Bedeutung, die seit Abgabe seiner Adresse vom 8. Januar
sich zugetragen haben und notwendigerweise die Haltung der Regierung der
Vereinigten Staaten änderten". Diese habe inzwischen anerkannt,
"daß der Kriegszustand zwischen den Tschechoslowaken und den
Deutschen sowie dem österreichisch-ungarischen Staate besteht und
daß der tschechoslowakische Nationalrat eine de facto
kriegführende Regierung ist, um die militärischen und politischen
Angelegenheiten der Tschechoslowaken zu leiten". Sie habe außerdem
"auch in der weitgehendsten Weise die Gerechtigkeit der nationalen
Ansprüche der [616] Jugoslawen nach
Freiheit anerkannt". Am Schlusse wird gleisnerisch gesagt: "Der Präsident
verfügt deshalb nicht länger über die Freiheit, die bloße
Autonomie dieser Völkerschaften als eine Grundlage für den Frieden
anzuerkennen, sondern er ist gezwungen, darauf zu bestehen, daß diese
Völker und nicht er der Richter darüber sein sollen, welche
Maßnahme auf Seite der österreichisch-ungarischen Regierung
genügen wird, um ihre Ansprüche und ihre Auffassung von ihren
Rechten und ihrer Bestimmung als Mitglieder der Völkerfamilie zu
befriedigen."
Die Wiener Arbeiter-Zeitung faßte ihr Urteil über Wilsons
Antwort in die Bemerkung zusammen, daß für den Präsidenten
Österreich-Ungarn als Staat zu existieren aufgehört habe.
Ähnlich war der Jubel auszulegen, den die amerikanische Note in
Böhmen, wo es übrigens schon einige Tage vorher ein paar von
Arbeiterausständen begleitete republikanische Putschversuche gegeben
hatte, und in Jugoslawien entfesselte. Im Wiener Parlament erklärte am 25.
der Italiener Dr. Conci, daß sich seine Landsleute auf Grund der
Wilson-Note als nicht mehr zu Österreich gehörend betrachten und
daher an keinem Verfassungswerk mitwirken können.
Auch die deutschösterreichischen Abgeordneten standen stark unter dem
Eindruck der Antwort Wilsons, als sie am 21. Oktober nachmittags im
Niederösterreichischen Landhause zur ersten Sitzung der
deutschösterreichischen Nationalversammlung zusammentraten und die
Gründung des nach den nationalen Siedlungsgebieten abgegrenzten Staates
Deutschösterreich verkündeten. Wohl wurde die Frage des
Verhältnisses zu Dynastie und Reich noch keiner grundsätzlichen
Erörterung unterzogen, wohl bekannten sich mit Ausnahme der
Sozialdemokratie alle Parteien noch vorbehaltlos zur monarchischen
Staatsform - aber das Recht der Selbstbestimmung, der Regelung aller
staatlichen und internationalen Beziehungen wurde bereits, unter Ausschaltung
aller anderen Gewalten, in einer über das Kaisermanifest hinausgehenden
Art und Weise, ausschließlich dem deutschösterreichischen Volke
und seiner Vertretung vorbehalten. Auch die Deutschösterreicher hatten
damit die Bahn der revolutionären Entwicklung eingeschlagen. Schon drei
Tage später forderte der Vollzugsausschuß der Wiener
Nationalversammlung, daß - im Gegensatz zum Wortlaute des
Manifestes, in dem bloß gesetzgebende Körperschaften vorgesehen
waren - die Regierungsgewalt überall in aller Form den neuen
Nationalstaaten übertragen werde.
Am Gründungstage Deutschösterreichs hatte sich auch ein Kronrat
mit der Lage beschäftigt. Graf Burian gab noch immer die Hoffnung nicht
auf, Wilson auf dialektischem Wege beizukommen, forderte aber
ungesäumte Zustimmung der ungarischen Regierung zu einer vollen
Autonomie der Slowaken und zur trialistischen Lösung der
südslawischen Frage. Der Kaiser unterstützte seinen
Außenminister gegenüber Wekerle aufs nachdrücklichste.
Dieser aber [617] hielt die beiden
Probleme für gar nicht dringend, forderte jedoch um so eifriger die
Verkündung jener Gesetze, die, entsprechend dem Antrage der
Karolyi-Partei, der staatsrechtlichen Loslösung Ungarns von
Österreich galten. Nur auf die besonderen Bedenken hin, die Freiherr
v. Spitzmüller als beredter Anwalt der Gemeinsamkeit vorbrachte,
erklärte sich der ungarische Premier bereit, die Aufstellung eines eigenen
ungarischen Außenministeriums dilatorisch zu betreiben. Auch versprach
er, sich für die trialistische Lösung der südslawischen Frage
einzusetzen.
Am 22. Oktober fand im Budapester Parlament wieder eine turbulente Sitzung
statt. Karolyi führte bereits unbestritten das große Wort. Er verlangte
aufs neue ungesäumte Trennung von Österreich, Abschluß
eines Sonderfriedens, Ernennung eines eigenen ungarischen Außenministers
und sofortige Heimbeförderung aller ungarischen Truppen ohne
Rücksicht auf die Lage an den nichtungarischen Fronten. Wenn sich die
Regierung nicht gleich seinen Forderungen anschließe, fügte er unter
dem Jubel seiner Anhänger drohend bei, werde er selbst zu handeln wissen.
Wekerle gab in seiner Antwort zu verstehen, daß Kaiser und Heeresleitung
der Heimberufung der ungarischen Regimenter bereits zugestimmt hätten,
man möge sich nur noch etwas gedulden.
Tags darauf schlug dem so oft totgesagten Kabinett Wekerle wirklich die letzte
Stunde. Am Vormittag fand in der ungarischen Landstadt Debreczin in Beisein
des Königs und der Königin die Einweihung einer neuen
Universität statt. Die vielberufene "homagiale Treue" entflammte die
Magyaren ein letztes Mal zu jubelnden Huldigungen, die der Herrscher nach dem
Trübsal der vergangenen Wochen in vollen Zügen genoß. Es
gab nichts, was er in diesem Augenblick seinen Magyaren versagt hätte.
Aber auch in seiner Umgebung hieß es, Ungarn müsse
zufriedengestellt werden, es sei das "Refugium der Dynastie".
Unglücklicherweise hatte beim Empfang des Königspaares eine
Militärkapelle, den Dienstvorschriften gemäß, die in Zeiten
nationaler Erregung bei den Magyaren immer besonders unbeliebte
österreichische Volkshymne, das "Gott erhalte", gespielt. Diese
"Schreckensnachricht" rief im Parlament einen Sturm der Entrüstung
hervor. Noch hatte dieser sich nicht gelegt, da kam eine zweite Hiobsbotschaft: In
der von Italienern bewohnten königlich ungarischen Freistadt Fiume habe
meuternde Mannschaft des kroatischen Infanterieregiments Nr. 79
ungarische Honveds entwaffnet und wichtige Gebäude besetzt. Die Wellen
der Opposition im Reichstag gingen so hoch, daß die Sitzung unterbrochen
werden mußte. In den Wandelgängen wurde Wekerle von Rechts und
von Links zugesetzt, daß seine Person der so dringend nötigen
Zusammenfassung der Kräfte im Wege stehe. Habe nun Tisza dem von ihm
seit Jahrzehnten bekämpften allgemeinen Wahlrecht bedingungslos
zugestimmt, so müsse jetzt auch der Ministerpräsident seinen Platz
freigeben. Spät in der Nacht kündete dieser unter dem Beifall des
Hauses seinen Rücktritt an.
[618] Am 24. Oktober nahm
der unterdessen im Schlosse Gödöllö bei Budapest
eingetroffene Kaiser die Demission Wekerles an. Für Karolyi und seine
Leute war die Bahn frei. Die amtliche Mitteilung, daß Seine Majestät
nicht nur alle auf die Selbständigkeit und Unabhängigkeit Ungarns
hinzielenden Vorschläge der scheidenden Regierung genehmigt, sondern
auch ihre eheste Verwirklichung angeordnet habe, konnte die Entwicklung nicht
mehr aufhalten.
Am gleichen Tage wurde Graf Burian bei Verleihung des Goldenen Vließes
seines Amtes enthoben und Graf Julius Andrassy zu seinem Nachfolger bestellt.
Andrassy, dem Sohn, fiel die schmerzliche Aufgabe zu, das Werk seines Vaters,
das Bündnis der Kaisermächte, in Trümmer zu legen.
Im fernen Südwesten aber, in Venetien, entbrannte die große
Schlacht...
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